Fabrik. Blick auf das Fabrikgelände. Quelle: Adreßbuch 1908.

Die Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt

Kapitel 19: Darmstadts Historlker denken sich eine Geschichte aus.

Das seit 1837 als Buschbaum & Comp. bestehende und 1844 zur Maschinenfabrik und Eisengießerei in Darmstadt umfirmierte Unternehmen wurde mit Unterstützung der ebenfalls in Darmstadt ansässigen Bank für Handel und Industrie 1857 in eine Aktien­gesellschaft umgewandelt. Die Liquidation des Unternehmens wurde mit der General­versammlung am 21. Dezember 1878 eingeleitet.

Die Darmstädter Bank tat sich anfangs etwas schwer, das Gelände an der Blumentrhalstraße zu verwerten. Die Gebrüder Seck wollten es nur pachten und erst die daraus entstandene Mühlen­bauanstalt kaufte der Bank das Gelände ab. Die Darmstädter Filiale der nachfolgenden G. Luther AG überlebte den ersten Weltkrieg nicht. Statt dessen kauften drei Rothschild-Brüder ein Start-Up auf, wandelten es in eine Aktien­gesellschaft um und erhofften sich eine Nachkriegs­konjunktur in Sachen Bahnbedarf. Doch statt dessen kam die Weltwirtschafts­krise und als deren Manager die Nazis. Die anschließende „Arisierung“ des Unternehmens ist an Darmstadts Historikern vollkommen vorbeigegangen, denn sie haben sich eine eigene Geschichte ausgedacht.


Dieses Kapitel zur Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei ist die Fortsetzung von Kapitel 18 zur wechselvollen Geschichte eines Ausflugslokals.

19

Darmstadts Historiker denken sich eine Geschichte aus

Führend im Lokomotivbau

Die gewählte Überschrift für dieses Kapitel ist nicht reißerisch. Vielmehr wirft sie ein Schlaglicht auf das, was einer oder jemandem begegnen kann, wenn sie oder er genauer nachforscht. Historikerinnen und Historiker sind auch nur Menschen; und allzu menschlich ist die Versuchung, Lücken im Wissen oder Forschungs­stand durch plausibel klingende Annahmen zu füllen. Wenn dann jedoch derartige Ausschmückungen nicht vorhandenen Wissens bar jeglicher Grundlage vorgetragen werden, dann handelt es sich nicht mehr um Wissen­schaft, sondern um so etwas Ähnliches wie science fiction.

Als die in Liquidation befindliche Maschinenfabrik und Eisengießerei 1880 ihre letzte Lokomotive an den Bauunternehmer Carl Vering verkaufte, wurde ein Kapitel des deutschen Lokomotiv­baus abgeschlossen, das 1861 mit der durchaus innovativen Einführung kleiner schmalspuriger Tender­lokomotiven begonnen hatte. Zeitgleich mit der Maschinen­bau­gesellschaft in Heilbronn stellte das Unternehmen Dampf­maschinen auf Räder und eiserne Schienen und revolutionierte hierdurch den Eisenbahnbau. Nunmehr waren Bauunter­nehmer nicht mehr nur auf massenhaft eingesetzte Arbeitskraft und Pferde­fuhrwerke zum Transport der gewaltigen Erdmassen für immer aufwendiger gestaltete Eisenbahn­kunstbauten angewiesen. Die kleinen Lokomotiven konnten auf fliegend verlegbaren Gleisen schneller und rationeller den Verschub durch­führen. Diese Pioniertat aus Darmstädter und Heilbronner Produktion ist bis heute in der Literatur nicht angemessen gewürdigt worden. Dennoch waren diese beiden Lokomotiv­fabriken im Vergleich zu den Großen der Branche wie Borsig, Egestorff bzw. Hanomag oder Henschel kleine Fische.

In einem Vortragsmanuskript des Darmstädter Stadtarchivars Peter Engels liest sich das jedoch gänzlich anders; vermutlich wurde der Text mit Bruchstücken aus dem Gedächtnis versetzt und mit reichlich Imagination ausgeschmückt..

„Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts stand in Darmstadt ganz im Zeichen einer raschen Industrialisierung, dem Ausbau einer modernen städtischen Infrastruktur und der Entwicklung mancher technischer Innovationen. Der Maschinenbau war neben der Chemischen und der Möbel­industrie der bedeutendste Industriezweig. Markante Beispiele sind die Firmen Schenck (führend in der Wäge und Messtechnik) und die Herdfabrik Roeder. Die Maschinenfabrik Lutz und Co war führend im Lokomotivbau, und fand dafür günstige Voraussetzungen in der Eisen­bahner­stadt Darmstadt, in der rund 1700 Arbeiter in den Werk­stätten der Eisenbahn Waggons und Lokomotiven instand setzten. Seit der Eröffnung der ersten Bahnstrecke 1846 hatte sich Darmstadt zum Eisen­bahn­knoten­punkt entwickelt. Heinrich Emanuel Merck entwickelte in seiner Firma viele neue Medikamente, vor allem durch bahn­brechende Untersuchungen an Alkaloiden (Pflanzen­wirkstoffen), hierin unterstützt von dem Darmstädter Justus von Liebig, dem wohl bedeutend­sten Chemiker des 19. Jh.s.“ [1]

Daß das in dieser Form niemals existiert habende Unternehmen Lutz & Co. nicht Lokomotiven, sondern Lokomobile hergestellt hat, sei hier nur am Rande vermerkt. Natürlich meint Peter Engels mit diesem „führenden“ Unternehmen die Maschinenfabrik, die jedoch niemals auch nur ansatzweise mit jemandem namens Lutz verbandelt war. Wir ersehen aus dieser Episode, daß 125 Jahre nach der Liquidation des Unternehmens nur noch nebulös im Trüben gefischt wurde, weil eine Aufarbeitung der Unternehmens­geschichte sich als doch etwas aufwendiger gestalten würde. [2]

Doch nehmen wir den Faden wieder auf, den wir mit dem 17. Kapitel gespon­nen haben. Im Zuge der Liquidation des Unternehmens hatte sich 1879 die Bank für Handel und Industrie das an der Blumenthal­straße gelegene Gelände der „neuen Fabrik“ mitsamt Inventar über­schreiben lassen, um es anschlie­ßend weiter­verkaufen zu können. Dies war für die Bank der einzig realistische Weg, die auf rund 184.000 Mark aufge­laufenen Konto­korrent­forderungen auch wieder ein­treiben zu können. [3]

Ein erster Versuch, das Gelände im April 1879 zu versteigern, blieb erfolglos. Es soll zwar Interessenten gegeben haben, doch war diesen wohl eher an einem Schnäppchen gelegen. 1883 ersuchte die Darmstädter Direktion der Bank den Aufsichtsrat um die Genehmigung, das Gelände auch verpachten zu dürfen. Dennoch kam erst Anfang 1885 ein Pachtvertrag mit dem Unternehmen Gebrüder Seck aus Bockenheim bei Frankfurt zustande. [4]

Die Gebrüder Seck

Am 2. Januar 1886 verfaßte der Bockenheimer Notar Friedrich Becker den Schriftsatz, den er zur Anmeldung der nach Darmstadt verzogenen „Gebrüder Seck“ benötigte. [5]

Bekannrmachung.

Abbildung 19.01: Bekannt­machung des Amtsgerichts Darmstadt mit der Anmeldung des neuen Unternehmens. Gleichzeitig gingen Theodor Beck und Heinrich Rosenbaum „freund­schaftlich“ getrennte Wege. Quelle: Darmstädter Tagblatt vom 26. Januar 1886 [online ulb darmstadt].

Um 1860 herum betreiben die vier Brüder Wilhelm, Karl, Christian und Heinrich Seck eine kleine Mühlen­bauanstalt in Bockenheim, damals noch nicht zu Frank­furt gehörig. 1873 gründen Karl und Christian ihr eigenes Unternehmen in Dresden, Heinrich verbleibt in Bockenheim. 1882 geht auch Heinrich nach Dresden und übergibt das Unternehmen an seinen Schwager Oscar Derschow. 1883 kauft Wilhelm Seck das Gelände der Wiemersmühle in Oberursel und errichtet dort eine Eisengießerei und Maschinenfabrik. Als Oscar Derschow 1885 ebenfalls nach Dresden geht, verlegt Wilhelm Seck den Betrieb aus Bockenheim nach Darmstadt. So eine Chronik der Seck'schen Anfänge. [6]

Laut Helmut Hujer stellt sich der Sachverhalt jedoch ein wenig anders dar. In den 1860er Jahren lebte Wilhelm Seck in München und entwickelte dort zusammen mit Friedrich Henckel eine Getreide­schälmaschine. Beide gründeten 1866 in der Nähe der Bockenheimer Warte in Frankfurt eine Mühlenbau­anstalt. 1870 geht Seck ins benachbarte Bockenheim und begründet die Maschinen­fabrik und Eisengießerei „Gebrüder Seck“. Die anderen drei Brüder waren wohl mit eingebunden. Christian und Karl gehen dann 1873 nach Dresden, während Heinrich im selben Jahr seine eigene Firma „Heinrich Seck & Co.“ in Frankfurt errichtet. Auf dem Gelände in Frankfurt betreibt auch der Kaufmann Christian Emil Derschow ein Geschäft, dessen Tochter Heinrich heiratet. Christian Derschows Bruder Oscar wird Teilhaber in Heinrichs Betrieb, der sich aber 1884 den Dresdener Seck-Brüdern anschließt. Wilhelm verlegt 1885 seinen Betrieb nach Darmstadt. Dort wird 1888 die Produktion von Wasser­rädern und Turbinen ausgebaut. [7]

Nach einem Auszug aus dem Handelsregister Bockenheim hatten die Brüder Wilhelm, Karl und Christian ihr gemeinsames Unternehmen im März 1870 eintragen lassen. Im Juli 1873 schieden Karl und Christian aus, Wilhelm führte den Betrieb alleine weiter. Im März 1877 trat Johann Baptist Faßbender als Teilhaber ein, im April 1881 Elkan Henry Blumenthal. Im Januar 1884 wird Secks Ehegattin Adelgunde die Prokura erteilt, während Faßbender auf sein Zeich­nungs­recht verzichtet.

Die Aufnahme der Produktion in der Darmstädter Fabrik verzögerte sich um einige Monate, weil die zuständigen Behörden befanden, daß nach mehr als fünfjährigem Stillstand der Anlagen der ehemaligen Maschinenfabrik und Eisengießerei die Wieder­inbetrieb­nahme der Dampfkessel und der Gießerei wie eine Neuanlage zu konzessionieren sei. – Am 24. Dezember 1885 hatten die sich die vier in der Bekanntmachung des Amtsgerichts genannten Wilhelm Seck (1832–1896), seine Ehegattin Adelgunde, Elkan Henry Blumenthal und Max Falk (der mit Wilhelms Tochter Laura verheiratet war) beim Notar Becker eingefunden, um den Schriftsatz zur Anmeldung ihrer offenen Handels­gesell­schaft in Darmstadt vorzu­bereiten. Zusätz­lich anwesend war der Kaufmann Johann Baptist Faßbender, der bis zum 1. Juli 1885 Mit­inhaber der Bocken­heimer Fabrik „Gebrüder Seck“ gewesen war. Der Umzug nach Darmstadt war mit der Beibe­haltung des Oberurseler Zweig­werkes verknüpft.

Im Juli 1887 erlosch die Prokura von Adelgunde Seck, nachdem Adolf Auerbach als gleich­berechtigter Teilhaber in das Unternehmen eingetreten ist. Am 9. Oktober 1889 wurde das Unter­nehmen in eine Aktien­gesell­schaft umge­wandelt. Am 7. November 1890 wurde die Liquidation der ursprüng­lichen Firma „Gebrüder Seck“ eingeleitet – zunächst mit den Liquidatoren Blumenthal und Auerbach –, die aber erst 1920 abge­schlossen werden konnte. Haupt­hindernis war wohl eine nicht einbring­bare größere Forderung aus Marseille; und die ehe­maligen Teil­haber waren uneins, wie damit umge­gangen werden sollte. Die Angelegen­heit wurde dadurch ver­kompliziert, daß einer dieser Teil­haber, Adolf Auerbach, 1895 aus Frankfurt unbekannt verzogen (und evtl. verstorben) war. [8]

Die Mühlenbauanstalt

Das Unternehmen wurde als „Mühlenbau­anstalt, Maschinenfabrik und Eisen­gießerei vorm. Gebr. Seck in Darmstadt“ fortgeführt. [9]

Informationen zum Unternehmen.

Abbildung 19.02: Informationen zr Kapital­ausstattung des Unternehmens. Quelle: Jahr­buch der Berliner Börse 1895–1896, Seite 503 [online][10]

Mit einem am 9. Oktober 1889 abgeschlossenen Gesellschafts­vertrag wurde das Seck'sche Unternehmen mit einem Grundkapital von 1.150.000 Mark auf finanziell gesichertere Beine gestellt. Die Gesellschafter bestanden aus dem Fabrikanten Wilhelm Seck, dem Kaufmann Adolf (auch: Adolph) Auerbach aus Frank­furt, dem Ingenieur Elick (Elkan) Henry Blumenthal aus Frankfurt, dem Bankier Moritz Fuld „von da“, und dem Darmstädter Rechtsanwalt Dr. Daniel Löb. Zu Vorständen wurden zunächst Auerbach und Blumenthal berufen, Prokura besaßen der schon bekannte Max Falk und ein Adam Ober aus Darmstadt. Den Aufsichts­rat bildeten neben Wilhelm Seck die Bankiers Louis Bamberger und Adolf Abraham Ruß aus Berlin, der Direktor Leopold Jährling aus Dessau, der Kommerzien­rat Manfried Cahn aus Berlin und der Darm­städter Kaufmann Adolph Trier. Als Revisoren wurden der Kaufmann Ludwig Roll und der Fabrikant Albrecht Buschbaum aus dem benach­barten Blumen­thal­viertel bestimmt. [11]

Seck, Blumenthal und Auerbach scheinen das Unternehmen in den Folgejahren verlassen zu haben. Zeitgleich mit dem Erlöschen der Prokura Max Falks erscheint im Sommer 1890 als neuer Direktor ein Gustav Bernhard Wagner, Ingenieur aus Darmstadt, und als neuer Prokurist ein weiterer Ingenieur aus Darmstadt, nänlich Georg Wagner. Nachdem Blumenthal im November 1891 gegangen (worden) war, schied im Frühjar 1892 auch Wagner als Direktor aus. Die Geschäfte führte einige Wochen lang das Aufsichtsrats­mitglied Adolph Trier. Im Juni oder Juli 1892 wurden Hans Bittinger und Hermann Ebner als neue Direktoren eingestellt. Irgendwann zwischen den General­versammlungen im November 1891 und Dezember 1892 wechselte der Aufsichtsrats­vorsitz von Manfred Cahn zu Julius Klopstock, Bankier aus Berlin. Im April 1895 schied Bittinger wieder aus dem Vorstand aus. Georg Wagner stieg dadurch vom Prokuristen zum stellver­tretenden Direktor auf. Von Mai 1895 bis Ende 1896 finden wir zusätzlich den Techniker Louis Seelig als stell­vertretenden Direktor vor. [12]

Die Schiffsmühle auf dem Rhein.

Bild 19.03: Die Ginsheimer Schiffsmühle, aufgenommen im Oktober 2014.

Walzenstuhl.

Bild 19.04: Ein Walzenstuhl der Mühlen­bau­anstalt mit der Fabrik­nummer 5781 ist in der rekon­struierten Ginsheimer Schiffsmühle erhalten geblieben. [13]

Das Geschäft mit den Mühlwerken scheint für das Unternehmen eher verlust­behaftet gewesen zu sein.

Tabelle 19.1: Einzelne Posten der Ausgaben und Einnahmen der Mühlen­bauan­stalt in den Geschäftsjahren 1889/90 bis 1895/96 in Reichsmark. Die genann­ten Abschreibungen umfassen Gebäude und Einrichtungen, nicht jedoch die Abschreibungen auf das Konto­korrentkonto oder für zweifelhafte Forderungen.
Konto1889/901890/911891/921892/931893/941894/951895/96
Verlustvortrag   253.344,52231.765,70171.170,54320.000,00
Gehälter66.887,1274.799,6482.354,8566.594,0171.744,2484.073,6076.826,70
Handlungsunkosten27.660,0347.221,5651.953,1734.456,3421.673,5032.293,2128.667,15
Reisespesen27.197,9428.884,0337.183,4025.856,6527.614,5735.740,7038.105,53
Abschreibungen36.671,9249.107,2438.430,7524.543,8123.887,8636.725,6236.075,82
Gewinn aus Betrieb294.065,19289.435,667.166,75226.365,69244.922,71138.911,63231.870,21
Verlustsaldo  253.344,52231.765,70171.170,54320.000,00(300.718,37)
Summe Soll/Haben300.682,53289.755,46300.365,08465.166,45416.093,25458.911,63532.487,58
Tabelle 19.1: Einzelne Posten der Ausgaben und Einnahmen der Mühlen­bauan­stalt in den Geschäftsjahren 1889/90 bis 1895/96 in Reichsmark. Die genann­ten Abschreibungen umfassen Gebäude und Einrichtungen, nicht jedoch die Abschreibungen auf das Konto­korrent­konto oder für zweifelhafte Forderungen.
Konto1889/901890/911891/921892/93
Verlustvortrag   253.344,52
Gehälter66.887,1274.799,6482.354,8566.594,01
Handlungsunkosten27.660,0347.221,5651.953,1734.456,34
Reisespesen27.197,9428.884,0337.183,4025.856,65
Abschreibungen36.671,9249.107,2438.430,7524.543,81
Gewinn aus Betrieb294.065,19289.435,667.166,75226.365,69
Verlustsaldo  253.344,52231.765,70
Summe Soll/Haben300.682,53289.755,46300.365,08465.166,45
 
Konto1892/931893/941894/951895/96
Verlustvortrag253.344,52231.765,70171.170,54320.000,00
Gehälter66.594,0171.744,2484.073,6076.826,70
Handlungsunkosten34.456,3421.673,5032.293,2128.667,15
Reisespesen25.856,6527.614,5735.740,7038.105,53
Abschreibungen24.543,8123.887,8636.725,6236.075,82
Gewinn aus Betrieb226.365,69244.922,71138.911,63231.870,21
Verlustsaldo231.765,70171.170,54320.000,00(300.718,37)
Summe Soll/Haben465.166,45416.093,25458.911,63532.487,58

Ergänzung zur obigen Tabelle: Im ersten, auf den 1. Juli 1899 zurück­datierten, Betriebsjahr 1889/90 betrug der Reingewinn 125.792,43 ℳ. In der Übersicht zu 1890/91 werden als Handlungs­kosten Steuern, Verwaltungs- und Gerichts­kosten, Drucksachen und Porti benannt. In der Jahres­rechnung für 1891/92 sind aus dem außer­ordent­lichen Reservefond 50.000 ℳ für zweifel­hafte Debitoren bereit­gestellt worden, 1892/93 weitere 28.000 ℳ. 1893/94 sind in den Gehäl­tern auch Vergütungen an Agenten enthalten, sowie bei den Reisespesen auch Vertreterkosten; entweder wurde das grund­sätzlich so gehand­habt (und hier auch angegeben) oder aber es ist eine einmalige derartige Ausweisung. Ebenso werden 1893/94 Abschreibungen auf Konto­korrent­forderungen in Höhe von 63.075,52 ℳ aufgeführt; vielleicht sind das die in anderen Jahren als zweifel­haft ange­sehenen Debitoren. Beim letzten Jahres­abschluß für 1895/96 werden die von mir in Klammern gesetzten 300.718,37 ℳ als „Erlös aus der Zuzahlung“ deklariert. [14]

Das Geschäftsjahr 1894/95 erwies sich als besonders verlustreich. Um die Liquidität des Unternehmens zu retten, wurde auf der General­versammlung am 18. Dezember 1895 beschlossen, von Stammaktien auf Vorzugsaktien umzu­steigen. Das Modell sah wohl vor, daß vorrangig oder gar ausschließ­lich nur noch die Vorzugs­aktien dividenden­berechtigt sein sollten. Es sollten exakt so viele Vorzugs­aktien wie vorhandene Stamm­aktien ausge­geben werden, also 1.150 Stück zu 1.000 Mark. Mehr Geld in die Kasse kam dadurch herein, daß die Stammaktien mit 55% des Nominal­wertes in Zahlung genommen wurden und der Restbetrag bar zu hinter­legen war. Dies hätte maximal 517.500 Mark erbracht. Die in Zahlung genommenen Aktien wurden nach einem Jahr ver­nichtet. Im ersten Anlauf konnten 1.007 neue Aktien unter­gebracht werden. Doch bald mußten sich die Aktionäre ohnehin nicht mehr um säumige Kunden kümmern. Am 24. Juli 1896 fand eine außer­ordent­liche General­versamm­lung statt. Auf der Tages­ordnung stand: „Beschluß­fassung über die Auflösung der Gesell­schaft und die Modalitäten der Liquidation, insbe­sondere der Geneh­migung einer vorlie­genden Offerte über Verkauf der Gesell­schafts­grund­stücke und des Inventars, sowie Wahl von Liquidatoren.“ Damit dürfte das Ange­bot des Mühlen­bau-Konkurrenten G. Luther aus Braun­schweig gemeint gewesen sein. [15]

In Kapitel 15 hatten wir gesehen, daß die Lieferliste der Lokomotiven der Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt auch nach deren Liquidation fortge­führt wurde; dort jedoch nur noch Dampf­kessel für Lokomotiven aufge­führt waren. Nunmehr können wir genauer bestimmen, wer auf dem Gelände der früheren Maschinen­fabrik das Geschäft über­nommen hat. Mit den Fabrik­nummern 111 bis 117 wurden zwischen 1887 und 1890 sieben Ersatz­kessel für die Main-Neckar-Eisenbahn geliefert, wobei unter Nummer 112 sogar eine Lokomotive der ehemaligen Maschinen­fabrik neu ausge­rüstet worden ist. Auch wenn die exakte Zuordnung wohl nicht mehr möglich ist, so wird deutlich, daß zunächst die Gebrüder Seck und daran anschließend die Mühlen­bau­ansttalt die Dampf­kessel geliefert haben.

Zu zwanzig weiteren Dampfkesseln liegen keine weiteren Angaben vor, bis 1900 der Dampfkessel Nummer 138 von der Luther A.-G. ebenfalls für die Main-Neckar-Eisenbahn gefertigt wurde. Einige dieser zwanzig Dampfkessel könnten demnach in der Mühlen­bauanstalt hergestellt worden sein.

Die Mühlenbauanstalt war während ihres Bestehens auch international tätig, so beispiels­weise in Alkmaar in den Niederlanden. [16]

Zeitschriftenseite. Zeitschriftenseite.

Abbildung 19.05 und 19.06: Text des Aufsatzes zur neuen Walzenmühle der Mühlen-Aktien­gesell­schaft in Alkmaar (Holland), in: Zeitschrift des Vereines Deutscher Ingenieure, Nummer 37, 12. September 1891.

Illustration. Illustration.

Abbildung 19.07 und 19.08: Zugehörige Illustrationen.

Nach dem Verkauf des Geländes, der Baulichkeiten und der Einrichtungen an das von Hugo Luther geführte Unternehmen in Braunschweig sollten zehn Jahre vergehen, bis der Verkaufs­preis und das übrige Gesell­schafs­vermögen unter die Aktionäre der Mühlen­bau­anstalt verteilt war. Zu Liquidatoren waren Hermann Ebner (er starb im Dezember 1906 kurz vor der end­gültigen Abwick­lung des Unter­nehmens) und Emil Fränkel bestimmt worden. Am 28. Januar 1907 erklärte das Amtsgericht Darmstadt das Unter­nehmen für erloschen. Zuvor war auf der General­versamm­lung am 25. Juli 1906 der noch zu vertei­lende Rest­betrag zugunsten der Vorzugs­aktien des Unter­nehmens beschlossen und anschließend die Liquidation für beendet erklärt worden. [17]

Luther aus Braunschweig

1896 erwarb das Braunschweiger Mühlenbau­unternehmen G. Luther die Darm­städter Mühlenbau­anstalt für 650.000 Mark. Nach dem Braun­schweiger Handels­register wurde am 22. Mai 1897 die Zweig­nieder­lassung Luthers in Darmstadt errichtet, wobei hiermit der Eintrag im Handels­register des Amts­gerichts Darmstadt gemeint ist. [18]

Die Fabrikanlagen.

Abbildung 19.09: Fabrikanlagen der Luther AG in Braunschweig (vorne) und Darmstadt (links). Quelle: Darmstädter Adreßbuch für 1908 [online ulb darmstadt].

Im März 1898 wird das Unternehmen mit Hilfe der Diskonto-Bank in eine Aktien­gesell­schaft umgewandelt. Das Aktienkapital beläuft sich auf 5 Millionen Mark. Von diesem wurden im März 1900 zunächst 2.200.000 Millionen Mark zum Handel an die Börse gebracht [19]. Der Bericht über das Geschäftsjahr vom Juli 1899 bis zum Juni 1900 nennt für das Darmstädter Zweigwerk eine Lohnsumme von 269.739 Mark bei durch­schnittlich 241 Arbeitern. Bis zum Geschäfts­jahr 1902/03 sank die Belegschaft auf 157 Arbeiter und die Lohn­summe auf 154.527,49 Mark. Aufgrund erheblicher Verluste mußte das Aktien­kapital von 5 auf 2 Millionen Mark eingedampft werden, im Anschluß wurden für 1,5 Millionen Mark neue Vorzugs­aktien ausgegeben. Die Aus­wirkungen auf das Darm­städter Zweig­werk beschreibt der Geschäfts­bericht für 1902/03 so:

„Zur möglichen Herabminderung des unvermeidlichen Betriebsver­lustes in Darmstadt, wo die Ausführung eines Teiles der für die Abtei­lung Hartzer­kleinerung benötigten Maschinen geschah, ent­schlossen wir uns, daselbst den Betrieb auf das geringst zulässige Mass zu beschränken und nutzten dieses Werk in der Haupt­sache für Rohguss, Hartguss und Walzen­fabrikation aus. Besonders in der Walzen­fabrikation waren wir durch Erledigung eiliger Aufträge in der Abteilung Mühlen­bau stark beschäftigt, so dass manche Monate hindurch Tag- und Nacht­betrieb in Darmstadt eingerichtet werden musste.

Die selbständig arbetenden kaufmännischen und technischen Bureaus in Darmstadt lösten wir auf und gliederten sie der Zentral­verwaltung in Braunschweig an, wodurch die Geschäfts­unkosten in Darmstadt eine erhebliche Herab­minderung erfuhren.“

Weiterhin wurden die Werke in Braunschweig und Darmstadt mit schmal­spurigen Transport­gleisen ausgerüstet und in Darmstadt die Gießerei verbessert. Im Geschäfts­jahr 1903/04 wurde in Darmstadt ein abnorm hoher Verbrauch der Dampf­kraft­anlage fest­gestellt, weshalb sie durch eine selbst­gebaute Sauggas­motoren­anlage ersetzt wurde. Mangels Aufträgen stand der größte Teil der mechanischen Werk­stätte still, während die Gießerei ver­größert wurde. 1904/05 besserte sich das Geschäft; es wurden Neu­bauten in beiden Werken begonnen. In Darmstadt werden nunmehr auch Generatoren gebaut. 1905/06 sind die Neubauten in der Haupt­sache beendet. In der Darm­städter Gießerei werden an Grauguß 2.126.000 kg und an Hartguß 580.000 kg verarbeitet. Im Januar 1907 wird auf einer eigenen General­versamm­lung die Umstruk­turierung des Aktien­kapitals beschlossen: die Vorzugs­aktien werden im Verhältnis 3:2 und die Stamm­aktien im Verhältnis 4:1 angepaßt; zudem werden neue Aktien im Nominal­wert von 2,5 Millionen Mark ausgegeben. Das Aktien­kapital beträgt demnach nunmehr 4 Millionen Mark.

Annonce.

Abbildung 19.10: Annonce der G. Luther Aktien­gesellschaft im Darmstädter Adreßbuch für 1906 [online ulb darmstadt].

Im Geschäftsjahr 1906/07 verarbeitet die Gießerei in Darmstadt 2.219.537 kg Grauguß und 338.187 kg Hartguß. Die durch­schnittliche Arbeiterzahl beträgt 196, die im November 1906 durch die Aufhebung der Maschinen­fabrikation auf durch­schnittlich 177 reduziert wird, die in der Gießerei und der Walzen­fabrika­tion beschäftigt werden. Das Geschäfts­jahr 1907/08 wird als befriedigend ange­sehen, es herrscht Voll­beschäfti­gung in beiden Werken. In Darmstadt werden an Grauguß 2.772.286 kg und an Hartguß 730.198 kg verarbeitet. In den Folge­jahren laufen die Geschäfte gut. Allenfalls wird 1912 über den Nieder­gang der Preise gejammert, aber Jammern gehört nun einmal zum Geschäft jedes guten Kapitalisten dazu. 1914 wird aufgrund des Krieges von einer Gewinn­aus­schüttung abgesehen, aber am Horizont locken Rüstungs­aufträge. Diese sind derart profitabel, daß 1918 eine Dividende von 12% herausspringt; während dessen das Volk hungert. 1918 wird das Darm­städter Werk verkauft: „Auch über unser Darm­städter Fabrik­wesen sind Verkaufs­verhand­lungen gepflogen, die inzwischen mit befrie­digendem Erfolge zu Ende geführt sind.“ Die Löschung der Darm­städter Filiale aus dem Handels­register wird im März 1920 beantragt.

Weitere Mühlenbauanstalten am Bachgang

Die nachfolgend aufgeführten Mühlenbau­betriebe sind allesamt nicht in der Nachfolge der Maschinenfabrik und Eisengießerei zu sehen. Sie werden hier nur deswegen vorgestellt, weil sie schon seinerzeit einiges zur Verwirrung beige­tragen haben. Sie haben keine größere Bedeutung erlangt und sind recht bald wieder eingegangen.

Briefkopf.

Abbildung 19.11: Briefkopf der Darmstädter Mühlen­bauanstalt G.m.b.H. am Bachgang­weg. Quelle: HStAD G 28 Darmstadt Nr. R 445.

Diese auf dem Briefkopf verbreitete Darstellung des Fabrikgeländes dürfte mit der Realität wenig gemein gehabt haben. Das Unternehmen residierte im Bachgang­weg Nummer 20. Diese Straße verlief zwischen der Feldberg­straße und der Kirschenallee. Heute verläuft dort eine inner­betriebliche Straße der Evonik bzw. Röhm. Das Darmstädter Adreßbuch für 1910 vermerkt unter dieser Anschrift die Darmstädter Eisengießerei mit dem Inhaber Nikolaus Knos und die Graef'sche Armaturen- und Maschinenfabrik des Theodor Brust. Im 1911er Adreßbuch tritt die Darmstädter Mühlen­bauanstalt G.m.b.H. hinzu, die noch im 1912er Adreßbuch enthalten ist. In der 1913er Ausgabe ist die Eisengießerei verschwunden; statt dessen haben wir nun die Darmstädter Eisengießerei, Maschinen­fabrik und Mühlen­bauanstalt G.m.b.H. und die Gummiwaren- und Treibriemen­fabrikation des Hermann Heinmüller. Da der Bachgang­weg nicht über die Kirschenallee hinaus bis zu den Anlagen des Güter­bahnhofs durch­geführt wurde, sind die hier direkt am Fabrikgelände dargestellten Gleise Fiktion des Grafikers bzw. des Auftraggebers. Diese Illustration har Carl Friedrich Müller für seinen Briefkopf beibehalten; nur die Rauchfahne weht nunmehr in die entgegen­gesetzte Richtung.

Der vom Hessischen Wortschafts­archiv 2012 herausgegebene kleine Bildband „Rauchende Schlote“ über die Industrialisierung Südhessens im Spiegel historischer Briefköpfe meint als Begleittext zu einem solch gezeigten Briefkopf:

„Carl Friedrich Müller, Maschinenfabrik und Eisengießerei, Darmstadt. Hervorgegangen 1915 aus der seit ca. 30 Jahren bestehenden Darm­städter Eisen­gießerei, Maschinen­fabrik und Mühlen­bau­anstalt GmbH vorm. Gebrüder Seck. Bau von Mühlen, landwirt­schaft­lichen Geräten und Maschinen. 1918/19 Betriebs­aufgabe. Der ehemalige Betriebs­standort im Bachgang 20 gehört heute zum Werksgelände der Evonik Röhm GmbH.“ [20]

Das wird sicherlich nicht richtig sein können. Denn die erste Mühlen­bauanstalt war ja 1896/97 von Hugo Luther aus Braunschweig übernommen worden und wurde bis 1918 als Niederlassung der Luther AG am Standort an der Blumen­thal­straße fortgeführt. Carl Friedrich Müller wird im 1915er Adreßbuch als Inhaber eines Betriebs für Holzver­arbeitungs­maschinen, Gas-, Benzin- und Petroleum­motoren in der Kirschenallee 11 neben der Motorenfabrik geführt, bevor er ein Jahr später als Ingenieur die Darm­städter Eisen­gießerei, Maschinen­fabrik und Mühlen­bau­anstalt G.m.b.H. im Bachgang 20 betreibt, die nach 1921 aus den Adreßbüchern verschwindet. [21]

Am 7. August 1908 wird beim Amtsgericht die Darmstädter Mühlen­bauanstalt G.m.b.H. angemeldet. Die beiden Gesellschafter sind der Kaufmann Julius Stammler und der Ingenieur Georg Gieler. Der eine hat 5.000 Mark bar einge­bracht, der andere seine Erfindungen, deren Wert auf 15.000 Mark taxiert wird. Der Zweck des Unternehmens besteht vorzugsweise im kommissions­weisen Vertrieb von Müllerei­maschinen und Mühlenbedarfs­artikeln. Der Betrieb wird zum 1. August 1908 aufgenommen. Die Einlage des Ingenieurs Gieler besteht in vier Erfindungen: einer Sichtmaschine, einer Getreide-Vorreinigungs­maschine, einer Mehlmisch­maschine und einer Sackklammer, die zum Patent ange­meldet wurden. Die Gesellschaft residiert zunächst in der Darmstädter Garten­straße, der heutigen Schleiermacherstraße.

Die Namenswahl erregt alsbald den Unwillen der Mühlen­bauanstalt der Luther AG. Diese wird deswegen im Dezember 1909 beim Amtsgericht in Darmstadt vorstellig. In einem für die Geschäftswelt bestimmten Zirkular stellt sie fest:

„Wie wir erfahren haben, wird in Fachkreisen mit offensicht­licher Berechnung das Gerücht in Umlauf gebracht, daß unsere Zweigfabrik in Darmstadt zu der kürzlich gegründeten Firma »Darmstädter Mühlen­bau­anstalt, G.m.b.H.«, in geschäftlichen Beziehungen stehe, oder gar mit ihr identisch sei. Im Zusammen­hang damit gewinnt die eben­falls verbreitete Behauptung an Glauben, wir beabsichtigten, unsere Zweig­nieder­lassung aufzugeben und deren gesamten Betrieb nach dem Braun­schweiger Hauptwerke zu verlegen.

Um diesen Ausstreuungen entgegenzu­treten, sehen wir uns genötigt, unsere Geschäftsfreunde davon in Kenntnis zu setzen, daß wir weder den Betrieb unserer Zweigfabrik einzustellen gedenken, noch zu jener neu gegründeten Firma Beziehungen irgendwelcher Art unterhalten, was bei der Stellung, die wir als älteste Mühlenbau­anstalt Deutschlands einnehmen, auch ohnehin als vollständig ausgeschlossen betrachtet werden muß.“

Der von der neuen Darmstädter Mühlenbau­anstalt beauftragte Rechtsanwalt legte dem Gericht in einem mehrseitigen Schreiben dar, weshalb seine Klientin den Namen berechtigter­weise führe. Dabei verwies er darauf, daß selbige seit dem 27. November 1909 eine kleine Reparatur­werkstätte im Bachgangweg Nr. 2 [gemeint ist 20, WK] auf dem Gelände der P. Gräff'schen Armaturenfabrik errichtet habe. Die Luther AG scheint sich mit ihrem Begehren auf Namens­änderung nicht durchgesetzt zu haben. Im April 1910 wird das Stammkapital der Gesellschaft um 15.000 Mark erhöht, die Julius Stammler einbringt. Spätestens im Februar 1911 benutzt das kleine Unternehmen den obigen Briefkopf. Das Briefpapier nennt folgende Geschäfts­tätigkeiten: Neu- und Umbau kompletter Mühlen­anlagen nach bewährtem System; Speicher- und Lagerhaus­einrichtungen; Sägewerk­anlagen; Einzel­lieferung aller Arten von Müllerei­maschinen, Mühlsteinen, Mühlen­bedarfsartikeln, Säge- und Holz­bearbeitungs­maschinen und Säge­artikeln; Transmissionen; Turbinen und Wasserräder; Windmotore; Dampf- und Sauggas­anlagen, Leuchtgas-, Benzin-, Benzol-, Ergin-, Spiritus-, Petroleum-, Rohöl- und Elektromotore; Reparaturen verschiedener Walzen. Darin ist sicherlich viel an Absichts­erklärung enthalten, aber Abschriften einzelner Referenzen belegen, daß das kleine Unternehmen wirklich geliefert hat, wenn auch in wesentlich kleinerem Maßstab als die Luther-Fabrik an der Blumenthalstraße.

Im Juli 1911 tritt der aus Ragnit (Ostpreußen) kommende Ingenieur Fritz Blank der Gesellschaft mit weiteren 10.000 Mark bei. Im Januar 1912 sägen Stemmler und Blank ihren Kompagnon Gieler als Mitgeschäfts­führer ab, wel dieser ungenau kalkuliert und beim Verkauf neuer Maschinen ältere zu überhöhten Preisen in Zahlung genommen habe. Dies könnte zu einer finanziellen Schief­lage geführt haben, die erklärt, weshalb das Unternehmen im Juni 1912 aufge­löst wurde. Im Januar 1913 scheidet Fritz Blank als Liquidator aus, es ver­bleibt als solcher nur noch Julius Stammler. Die Liquidation zieht sich hin; im Februar 1914 waren noch nicht alle Außenstände eingezogen und noch vor­handene Maschinen verkauft worden. Erst im März 1924 zeigt Julius Stammler dem Amtsgericht an, daß die Liquidation beendet und damit die Firma erloschen sei. [22]

Fritz Blank ist im Juni 1912 an der Gründung der Darmstädter Eisengießerei, Maschinenfabrik und Mühlenbau­anstalt G.m.b.H. beteiligt. Seine Kompagnons sind der Kaufmann Alexander Geppert, der sein Fabrikations­geschäft einbringt, und der Kaufmann Nikolaus Knos, der seine Darmstädter Eisengießerei ein­bringt. Das Stamm­kapital beträgt 40.200 Mark, wovon Blank seinen Anteil von 10.000 Mark aus dem aufgelösten Unter­nehmen als Sacheinlage leistet. Niko­laus Knos stirbt jedoch im August 1912. Auf einer Gesell­schafter­versammlung im September 1912 tritt der Vertreter der Erben, der Kaufmann Hans Knos, diesen Anteil an den Kaufmann Gerhart Berninger aus Offenbach ab. Das Gesell­schafts­kapital wird zudem auf 52.600 Mark erhöht, aber im Januar 1913 auf runde 40.000 Mark vermindert. Statt der bisherigen drei Gesell­schafter als Geschäfts­führer gibt es mit Alexander Geppert nur noch einen. Doch schon im Juni 1913 muß das Konkurs­verfahren wegen Zahlungs­unfähig­keit eröffnet werden. Hier rächt es sich, daß das Gesell­schafts­vermögen weit­gehend aus Sacheinlagen besteht und ausreichende liquide Mittel fehlen. Zwar wird festgestellt, daß die Gießerei Gewinne abwerfen würde, wenn sie erwei­tert wird, aber die erforder­lichen 2.000 Mark kann oder will keiner der Gesell­schafter aufbringen. Erst im September 1921 wird das Konkurs­verfahren einge­stellt, da die Kosten des Verfahrens aus der Konkursmasse nicht gedeckt werden können.

Ob und gegebenenfalls auf welche Weise Carl Friedrich Müller die Geschäfte des aufgelösten Unternehmens in eigener Regie übernommen hat, ist den Akten nicht zu entnehmen. [23]

Die Bahnbedarf A.-G.

Das im Besitz der drei Rothschild-Brüder Albert, Max und Henry befindliche Frankfurter Unternehmen J. Adler jun. erwarb am 5. Juni 1919 das Gelände der ehemaligen Maschinen­fabrik und Eisengießerei an der Pallaswiesen- und Blumenthal­straße und bereitete damit seinen Einstieg in das Eisenbahn­geschäft vor. [24]

Am 19. Mai 1919 gründeten der Kaufmann Martin Mann und die Ingenieure Paul Paschke und Wilhelm Petzold die Bahnbedarf G.m.b.H. Ein Jahr später, am 28. Juni 1920, brachten diese drei Gesellschafter ihr Unternehmen in eine Aktien­gesellschaft gleichen Namens ein. Mit Geld oder Sachwerten beteiligten sich: die drei Gesellschafter der Bahnbedarf G.m.b.H. mit 300.000 Mark, die 1899 gegründete offene Handels­gesellschaft J. Adler, junr., aus Frankfurt am Main mit 7.600.000 Mark, die Frankfurter Filiale der Bank für Handel und Industrie mit 45.000 Mark, das 1870 gegründete Bankhaus S. Merzbach aus Offenbach mit ebenfalls 45.000 Mark, sowie der Frankfurter Fabrikant Carl Flesch mit 10.000 Mark. Das Gesamtkapital betrug demnach 8.000.000 Mark, das auf 8.000 Aktien zum Kurs von 110% aufgebracht wurde. Der Geschäftssitz lag an der Blumenthal­straße mit der Hausnummer 24. [25]

Dem Aufsichtsrat des Unternehmens sollten die Brüder Albert und Max Roth­schild, der Direktor der Frankfurter Filiale der Bank für Handel und Industrie Ludwig Deutsch, Wilhelm Merzbach und der Justizrat Alexander Berg ange­hören. Den Vorsitz übernahm Max Rothschild mit Albert Rothschild als seinem Stellvertreter. Den Vorstand bildeten die drei Gesell­schafter der vorherigen G.m.b.H. Die Rothschilds sahen demnach die bisherigen Eigen­tümer als geeig­net an, das operative Geschäft fortzuführen. Petzold schied im Herbst 1925 aus dem Vorstand aus, um in die Leitung des Verkaufs­büros Stuttgart einzu­treten, Paschke kurz darauf Anfang 1926, während Mann bis 1927 als Vorstand tätig blieb.

Das Aktienkapital mußte aufgrund der extreme Ausmaße annehmenden Inflation mehrfach erhöht werden und betrug 1923 88 Millionen Mark. 1924 konnte es auf einen realistischen Wert von 1.608.000 Goldmark angepaßt werden. 1921 wurden die Eigentums­verhältnisse neu reguliert, indem nunmehr die als Holding gegründete Aquila A.-G. die Anteile von J. Adler jun. an der Bahnbedarf A.-G. übernahm. Der Name Aquila bedeutet Adler.

Das neugegründete Unternehmen spekulierte darauf, am Neuaufbau der Länderbahnen bzw. der nach­folgenden Reichsbahn mit Aufträgen beteiligt zu werden. Im Ersten Weltkrieg wurde auf den deutschen Eisenbahn­strecken auf Verschleiß gefahren und entsprechend marode waren Infrastruktur, Lokomotiv- und Wagenpark. Hinzu kam, daß viele vorhandene, und zwar meist die modernsten, Lokomotiven und Waggons als Reparations­leistungen an die Siegermächte abzuführen waren. Ein Neuanfang war unumgänglich. In Darmstadt war es nicht nur die Bahnbedarf A.-G., die auf eine Eisenbahn­konjunktur spekulierte. Auch die Möbelfabrik Alter in der Kirschen­allee nutzte ihre Holzwerk­stätten, um nunmehr Personen­waggons herzustellen. Ihr ursprüng­licher Geschäfts­zweck, die Produktion und der Verkauf von hoch­wertigen Möbeln für Adel und Bürgertum, fiel mit der November­revolution und der nachfolgenen Inflationszeit weg. Für derartigen Luxus war schlicht kein Geld mehr da. Doch die Nachfrage nach den hölzernen Wagen ließ bald nach, so daß die Möbelfabrik schon in den 1920er Jahren vor sich hindümpelte. Der Bahn­bedarf ging es nicht viel besser, wenn sie auch versuchte, ein zusätz­liches Betätigungs­feld bei Werks- und Feldbahnen zu finden. [26]

Bauarbeiten auf der Rheinstraße.

Abbildung 19.12: Die Bahnbedarf A.-G. führt 1921 die Verlegung der Straßenbahn­gleise auf der Rheinstraße aus. Quelle: Firmenbroschüre der Bahnbedarf A.-G. von 1921, freundlicher­weise zur Verfügung gestellt von Gerhard Klatt († 2018).

1921 war man noch voller Optimismus und pries seine vielfältigen Möglich­keiten bei „der Herstellung, dem Vertriebe und der Vermietung von Bahn­material aller Art, sowie der Projektierung und dem Bau von Gleis- und Trans­port­anlagen und aller in das Fach einschlagenden Arbeiten“ an. Auch das rollende Material wurde berücksichtigt. Deshalb hatte das Unternehmen eine Reparatur­werkstatt für Lokomotiven aller Arten und Spurweiten eingerichtet. Weiterhin befaßte es sich mit der Projektierung und dem Bau von Anschluß­gleisen für Normal- und Schmalspur, womit als Dienstleistung gleich­zeitig das Einholung von Konzessionen, das Verhandeln mit Behörden, und der Umbau sowie die Instand­setzung von Gleisen nebst Ausführung sämtlicher Vorarbeiten verbunden war. Die Holding Aquila hatte sich die Mehrheit der Aktien der Dampf­kessel­fabrik vormals Arthur Rodberg A.-G. in der Landwehr­straße gesichert und konnte daher Güter- und Spezial­waggons für alle Industrie­zwecke anbieten. [27]

Die Geschäfte scheinen zunächst zur vollen Zufriedenheit gelaufen zu sein, denn bald konnte man sich neben der normalen auch noch eine Super­dividende von 11% gönnen. Kapitalisten lassen es sich eben so richtig gut gehen, wenn das gemeine Volk darbt. 1922/23 ließ das Unternehmen zwei neue Werkhallen an der Landwehr­straße errichten, deren Trag­konstruktion aus einer Luftschiffhalle beim ostpreußischen Dywity (damals Diwitten, nahe Olsztyn / Allenstein) stammte, die aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrages abgetragen werden mußte. Eine dieser beiden Hallen brannte im Oktober 1977 aus und wurde abgerissen, die andere dient derzeit [2021] als Parkdeck. Außerdem arbeitete man mit der Akademischen Fliegergruppe an der Technischen Hochschule Darmstadt beim Bau von Segel- und leichten Motorflugzeugen zusammen. Nachdem 1923 die durch den Versailler Vertrag auferlegte Beschränkung, keine Motorflug­zeuge zu entwickeln, fortgefallen war, schien dies ein geeigneter Zeitpunkt zu sein, ein neues Geschäftsfeld anzu­testen. Die von Albert Botsch 1924/25 durchgeführten Flüge auf der von der Bahnbedarf A.-G. gebauten BAG E I fanden ein geradezu über­schweng­liches Medienecho. Das Leichtmotor­flugzeug hätte durchaus das Potential gehabt, auf dem Flugzeug­markt zu bestehen. Warum dieser Weg nach­folgend nicht beschritten wurde, ist anhand der vorhandenen Quellenlage nicht ersichtlich. Möglicher­weise ging dem Unter­nehmen auch einfach nur das Geld aus. [28]

Notgeldschein.

Abbildung 19.13: Die Rückseite eines Notgeldscheins der Bahnbedarf A.-G. von 1923 über 20 Milliarden Mark zeigt ein von dieser miterbautes Segelflugzeug.

In einem Artikel der nur kurzlebigen Zeitschrift „Die Werkbahn“ wurden 1925 verschiedene Konstruktionen bei Werkbahnen vorgestellt, die für Gleisbögen mit geringem Halbmesser geeignet waren. Die Ausführung der Bahnbedarf A.-G. wurde hierbei überaus positiv besprochen. Ein solches Bogengleis wurde in einer Grubenbahn der Gewerkschaft Messel im Nordosten von Darmstadt eingebaut; weitere Exemplare sollten bald darauf bei der Firma Ed. Breitenbach in Weidenau (Sieg), den Heddesheimer Kupferwerken und den Süd­deutschen Kabelwerken folgen. Besonders wurde auf eine an das Bogengleis anschlie­ßende Auflauf­weiche hingewiesen, die ebenfalls in der Grubenbahn der Gewerk­schaft Messel eingebaut worden war. [29]

Vom 1. Juni bis zum 12. Oktober 1925 präsentierte die Deutsche Verkehrs­ausstellung in München einem breiten Publikum den Stand der technischen Entwicklung im gesamten Verkehrswesen. Die Bahnbedarf A.-G. war dort gleich zweimal vertreten: einmal mit ihren Klein­flugzeugen in Halle VII an Stand 7, zudem in der Oberbau­ausstellung im Freigelände mit einer Auflaufweiche (dort Weiche 26), einem Auflaufgleis und einer Drehscheibe ohne Fundamente, jeweils in Normalspur ausgeführt.

„Den Abschluß des Bahnhofes nach Osten bildet eine Gleiskurve von 35 m Halbmesser, die zum Teil von der Vögele A.-G., Mannheim, zum Teil von der Maschinenfabrik Deutschland ausgeführt ist. Sie ist gerade noch in den engen Raum hinein­gezirkelt. Sie zeigt, wie man bei beeng­ten Verhältnissen in Anschlußgleisen usw. auch noch bei Verwen­dung dieser scharfen Gleiskurve das Gelände aufschließen kann. Vor der Oberbauhalle ist ebenfalls eine 35-m-Kurve mit Bogen­weiche angeordnet, die von der Bahnbedarf-A.-G., Darmstadt, geliefert wurde. Bemerkens­wert ist eine fahrbare Drehscheibe derselben Firma auf demselben Gleisstutzen.“ [30]

Das Geschäftsjahr 1924/25 endete mit Verlusten in Höhe von 167.840,51 Reichsmark. Es sollte noch schlimmer kommen. Im folgenden Jahr wurde ein Verlust von 1.515.762,34 Reichsmark eingefahren. Dies zwingt die Aquila A.-G. dazu, mit der Bahnbedarf A.-G. zu fusionieren, und zwar rückwirkend zum 1. April 1925. Der Fusionsvertrag kommt am 8. Juli 1927 zustande. Für 800 Bahnbedarf-Aktien erhalten die Bahnbedarfs-Aktionäre nunmehr 200 Aquila-Aktien. Der Vertrag sieht zudem vor, daß die Aquila die Firma Bahnbedarf zukünftig als eigene Niederlassung betreibt. Dies alles dient der Bilanz­bereinigung.

1927/28 beteiligte sich die Bahnbedarf A.-G. an der Demontage und der Verwertung der ehemaligen Waldbahn vom Bahnhof Buchschlag nach Klaraberg am Main. [31]

In den folgenden Jahren erholt sich die Darmstädter Bahnbedarf-Filiale der Aquila A.-G. Auf der ordentlichen General­versammlung der Aquila A.-G. am 23. April 1932 wurde vermerkt, daß sich die Dampfkesselfabrik vormals Arthur Rodberg A.-G., an der die Aquila die Aktienmehrheit besitzt, „der Ungunst der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht entziehen“ konnte, während das Ergebnis der Bahnbedarf als befriedigend angesehen wurde: „Dieses Werk ist mit Aufträgen versehen und arbeitet mit Erfolg.“ Ein Jahr später, die Nazis sind schon an die Macht gebracht worden, was für einen jüdisch dominierten Betrieb fatale Folgen haben mußte, berichtete der Aquila-Vorstand auf der General­versammlung am 12. Mai 1933 über das Geschäftsjahr 1931/32:

„Bei der Dampfkesselfabrik vorm. Arthur Rodberg A.-G., Darmstadt, haben sich die im letzten Bericht dargestellten Verhältnisse im Berichtsjahr nicht geändert. Die Unkosten sind auf das äusserste eingeschränkt worden.

Unsere Abteilung Bahnbedarf Darmstadt war unter den heutigen Verhältnissen leidlich beschäftigt und hat über die Unkosten und Abschreibungen hinaus einen kleinen Betriebsgewinn erzielt.“

Fabrikschild der Bahnbedarf-Rodberg A.-G.
Bild 19.14: Fabrikschild Nr. 9567 eines Dampf­kessels der Bahnbedarf-Rodberg A.-G. von 1938, aufgestellt im Eisenbahn­museum Darmstadt-Kranich­stein. Aufnahme vom Juni 2018.

Mit den Nazis kamen 1933 für die gesamte jüdusche Adler jun. / Aquila / Bahnbedarf-Gruppe erheb­liche wirt­schaftliche Schwierig­keiten, denn Aufträge blieben nunmehr aus. Die Banken drängten auf eine für sie lukrative Umstruk­turierung des Gesell­schafts­kapitals. Dieses Vorgehen ist für den Kapitalismus typisch, doch die antijüdische Kompo­nente der Zerschlagung der Aquila-Gruppe macht daraus eine „Arisierung“. So wurde zunächst die Dampf­kessel­fabrik Rodberg mit der Bahnbedarf zusammen­gelegt, wobei die Aquila-Filiale Bahnbedarf der schwä­chelnden Dampf­kessel­fabrik finan­ziell unter die Arme greifen mußte. Alsdann wirde die so neu entstan­dene Bahnbedarf-Rodberg A.-G. aus dem Aquila-Konzern ausge­gliedert und den Gläubiger­banken ausge­liefert, bevor sie einem interessierten „arischen“ Unter­nehmen über­geben werden konnte. Und dies geschah folgender­maßen: Auf ihrer General­versamm­lung am 26. März 1935 beschlossen die Aktionäre der Dampf­kessel­fabrik vormals Arthur Rodberg A.-G., den Geschäfts­verlust der beiden Vorjahre in Höhe von 217.000 RM durch eine Neujustierung des Aktien­kapitals auszu­gleichen. Hierzu wurde das Grundkapital der Gesellschaft drastisch von 350.000 RM auf 50.000 RM herabgesetzt und nachfolgend wieder auf 500.000 RM herauf­gesetzt. Da die Banken kein frisches Geld einbringen wollten, wurde die Aquila A.-G. zur Ader gelassen. Sie hatte ihr Filial­unter­nehmen Bahnbedarf mit 720.000 RM Aktiva und 305.000 RM Passiva einzu­bringen. Noch gehörten von den Aktien des so neu aufgestellten Unter­nehmens 90% der Aquila und 10% dem „Markt“. Das so regenerierte Unter­nehmen erhielt die Firmierung Bahnbedarf-Rodberg A.-G. Aus dem Vermögen der Aquila bzw. Bahnbedarf nicht einge­bracht und somit für eine anderweitig lukrative Verwertung vorbehalten waren die Grund­stücke, Immobilien und Maschinen der Bahnbedarf. Diese konnten von der Bahnbedarf-Rodberg A.-G. gepachtet werden. Dies kann durchaus als eine Art Gewinn­abschöpfung eines noch „jüdischen“ Unter­nehmens betrachtet werden. Der Geschäfts­bericht vermerkt zudem, die Dampf­kessel­fabrikation habe eine gewisse Belebung erfahren und auch die Bahn­bedarf sei mit Aufträgen gut versehen.

Dem das Unternehmen kontrollierenden Aufsichtsrat gehörten nunmehr der Rechtsanwalt Schwörer aus Darmstadt, Max Rothschild aus Frankfurt, die Direktoren Bochow und Götz aus Darmstadt sowie der Rechtsanwalt und Notar Ernst Bösebeck aus Frankfurt an. Hier wäre noch zu herauszufinden, wessen Interessen die vier anderen, vermutlich „arischen“, Aufsichts­ratsmitglieder zu vertreten hatten.

1937 oder 1938 wurde das neu firmierte Unternehmen von der in Augustenthal bei Neuwied ansässigen Schraubenfabrik Friedrich Bösner GmbH übernommen. 1939 wurde die Darmstädter Aktien­gesellschaft in eine GmbH umgewandelt und existierte in dieser Form bis 1969.

Teile des Geländes der früheren Bahnbedarf gingen an neue aufstrebende Unternehmungen, wie etwa die Werkstatt Auto-Axt, die Zigarrenfabrik von Peter Stang, der aus der Akaflieg hervorgegangene Flugzeugbau von Albert Botsch und das schon 1930/31 errichtete Tanklager mitsamt Tankstelle der Deutsch-Amerikanischen Petroleum-Gesellschaft (ab 1950 Esso). 1940 verlegt der aus Trier stammende Peter Willems sein Spezialölwerk „Deutsche Cristalline-Werke“ in die freigewordenen Werkshallen der Bahnbedarf. Der weitere Fortgang nach dem Zweiten Weltkrieg soll hier nicht weiter verfolgt werden. [32]

Bahnbedarf und Rodberg.

In Darmstädter Publikationen wird das Verhältnis zwischen der Dampf­kessel­fabrik vormals Arthur Rodberg A.-G. und der Bahnbedarf A.-G. in immer neuen Variationen vorgetragen, die jedoch nichts mit der dama­ligen Realität gemein haben. Das jüngste Beispiel ist ein Zeitungs­artikel von Kerstin Schumacher in Darmstadts Lokalzeitung über die soge­nannte Zeppelinhalle in der Landwehrstraße, entnommen dem von ihr mitver­faßten Buch „Darmstädter Geheimnisse“. Sie schreibt:

„Weil die Alliierten keine Verwendung für die Allensteiner Halle hatten, wurde dieses Exemplar an die Bahnbedarf AG Rodberg verkauft. Und nun schließt sich der Kreis in Richtung Darmstadt. Denn diese AG war 1868 als Rodbergsche Kesselfabrik in Darmstadt gegründet worden, zu einer Zeit, als die industrielle Entwicklung der Stadt schon im Gange war: […].“

Nun gab es niemals eine Bahnbedarf AG Rodberg und nur vier Jahre lang eine Bahnbedarf-Rodberg A.-G. nach erfolgter „Arisierung“. Rodberg hat mit dem Bau der Zeppelinhalle nicht das geringste zu tun; und Kerstin Schumachers Gewährsfrau aus der Darmstädter Denkmalschutz­behörde kennt sicherlich die Fotografie der 1923 frisch erbauten beiden Hallen zwischen Landwehr- und Lagerhaus­straße, auf denen stolz das Firmen­signet Bahnbedarf A.-G. prangt. Sie ist jedenfalls nicht die einzige, die sich hier irrt.

Der schon erwähnte kleine Band aus dem Hessischen Wirtschafts­archiv „Rauchende Schlote“ kennt eine zu den „Darmstädter Geheimnissen“ nicht wirklich passende Variante zun Verhältnis von Bahnbedarf und Rodberg. Im Begleittext zu einem Briefkopf der Dampf­kessel­fabrik Rodberg heißt es: „1922 Umwandlung in ‚Bahnbedarf Aktien­gesell­schaft‘.“ Dies ist eine insofern bemerkenswerte Phantasterei, weil es erstens keinen Hinweis auf eine solche Umfirmierung gibt und zweitens diese Dampf­kessel­fabrik auch weiterhin munter vor sich her existiert, bis sie 1935 mit der Bahnbedarf verschmolzen wird. Warum dann 1922? Vielleicht hat der Autor nur ins Findbuch der zugehörigen Rodberg-Akte im Staatsarchiv Darmstadt geschaut und dort als Enddatum 1922 vermerkt vorgefunden. In die Akte selbst kann er nicht geschaut haben, denn dann hätte er festgestellt, daß es eine Folgeakte gegeben hat, die wohl 1944 verbrannt ist.

Außerdem hat er sich nicht mit seinem Chef, dem Herausgeber des Bändchens und Leiter des Hessischen Wirtschafts­archivs Ulrich Eisenbach abgesprochen. Der wiederum behauptet in einer Begleitserie zur zugehörigen Ausstellung „Rauchende Schlote“ im Darmstädter Echo:

„1928 wurde die Dampf­kessel­fabrik vorm. Arthur Rodberg AG mit der 1919 gegründeten Bahnbedarf AG zur Bahnbedarf Rodberg AG ver­schmolzen. Die Bahnbedarf AG stellte Eisenbahn­waggons, Schienen und Weichen sowie Kleinbahn­materialien her und repa­rierte Lokomo­tiven, sodass die neue Firma über ein ausge­sprochen breites Produktions­programm verfügte. 1939 wurde die Bahnbedarf Rodberg AG in eine GmbH umgewandelt. Alleiniger Gesell­schafter war seitdem die Friedrich Boesner GmbH in Augusten­thal bei Neuwied.“

Auch für eine 1928 durchgeführte Verschmelzung beider Unternehmen gibt es selbst­verständlich keinen Beleg; wie auch? Tatsächlich wurde kurz zuvor die Bahnbedarf A.-G. mit der Aquila A.-G. verschmolzen und die Bahnbedarf verlor ihre Eigen­ständig­keit. Das Findbuch läßt die Akte Bahnbedarf A.-G. folge­richtig 1927 enden, und vielleicht hat der Autor sich sodann ausgedacht, wie es 1928 weiter­gegangen sein könnte.

Zusammengefaßt: Darmstädter Historiker und nunmehr auch Historiker­innen denken sich gerne einmal eine Geschichte aus, wenn sie nicht ihrem Handwerk gemäß nachforschen und die durchaus verfügbaren Quellen befragen, sondern ihr Nichtwissen kunstvoll mit phan­tasie­vollen Annahmen ausschmücken. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier nach dem Motto gehandelt wird: merkt ja keiner, prüft ja niemals je eine nach. Und wenn derlei fehlerhafte Angaben so freimütig in Publikationen und Artikeln verteilt werden, dann stellt sich grund­sätzlich die Frage, welchen Angaben Darmstädter Historiker­innen und Historiker wir überhaupt vertrauen dürfen. [33]

Die Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei wird mit einer einer Zusammenfassung und einem Résumé, weshalb das Unternehmen letztlich scheitern mußte, fortgesetzt.

Quellen- und Literaturverzeichnis.


Anmerkungen

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Neunzehntes Kapitel zur Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt.

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Bearbeitungsstand: 16. Oktober 2021.
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