Das seit 1837 als Buschbaum & Comp. bestehende und 1844 zur Maschinenfabrik und Eisengießerei in Darmstadt umfirmierte Unternehmen wurde mit Unterstützung der ebenfalls in Darmstadt ansässigen Bank für Handel und Industrie 1857 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Die Liquidation des Unternehmens wurde mit der Generalversammlung am 21. Dezember 1878 eingeleitet.
Die Darmstädter Bank tat sich anfangs etwas schwer, das Gelände an der Blumentrhalstraße zu verwerten. Die Gebrüder Seck wollten es nur pachten und erst die daraus entstandene Mühlenbauanstalt kaufte der Bank das Gelände ab. Die Darmstädter Filiale der nachfolgenden G. Luther AG überlebte den ersten Weltkrieg nicht. Statt dessen kauften drei Rothschild-Brüder ein Start-Up auf, wandelten es in eine Aktiengesellschaft um und erhofften sich eine Nachkriegskonjunktur in Sachen Bahnbedarf. Doch statt dessen kam die Weltwirtschaftskrise und als deren Manager die Nazis. Die anschließende „Arisierung“ des Unternehmens ist an Darmstadts Historikern vollkommen vorbeigegangen, denn sie haben sich eine eigene Geschichte ausgedacht.
Dieses Kapitel zur Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei ist die Fortsetzung von Kapitel 18 zur wechselvollen Geschichte eines Ausflugslokals.
Die gewählte Überschrift für dieses Kapitel ist nicht reißerisch. Vielmehr wirft sie ein Schlaglicht auf das, was einer oder jemandem begegnen kann, wenn sie oder er genauer nachforscht. Historikerinnen und Historiker sind auch nur Menschen; und allzu menschlich ist die Versuchung, Lücken im Wissen oder Forschungsstand durch plausibel klingende Annahmen zu füllen. Wenn dann jedoch derartige Ausschmückungen nicht vorhandenen Wissens bar jeglicher Grundlage vorgetragen werden, dann handelt es sich nicht mehr um Wissenschaft, sondern um so etwas Ähnliches wie science fiction.
Als die in Liquidation befindliche Maschinenfabrik und Eisengießerei 1880 ihre letzte Lokomotive an den Bauunternehmer Carl Vering verkaufte, wurde ein Kapitel des deutschen Lokomotivbaus abgeschlossen, das 1861 mit der durchaus innovativen Einführung kleiner schmalspuriger Tenderlokomotiven begonnen hatte. Zeitgleich mit der Maschinenbaugesellschaft in Heilbronn stellte das Unternehmen Dampfmaschinen auf Räder und eiserne Schienen und revolutionierte hierdurch den Eisenbahnbau. Nunmehr waren Bauunternehmer nicht mehr nur auf massenhaft eingesetzte Arbeitskraft und Pferdefuhrwerke zum Transport der gewaltigen Erdmassen für immer aufwendiger gestaltete Eisenbahnkunstbauten angewiesen. Die kleinen Lokomotiven konnten auf fliegend verlegbaren Gleisen schneller und rationeller den Verschub durchführen. Diese Pioniertat aus Darmstädter und Heilbronner Produktion ist bis heute in der Literatur nicht angemessen gewürdigt worden. Dennoch waren diese beiden Lokomotivfabriken im Vergleich zu den Großen der Branche wie Borsig, Egestorff bzw. Hanomag oder Henschel kleine Fische.
In einem Vortragsmanuskript des Darmstädter Stadtarchivars Peter Engels liest sich das jedoch gänzlich anders; vermutlich wurde der Text mit Bruchstücken aus dem Gedächtnis versetzt und mit reichlich Imagination ausgeschmückt..
„Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts stand in Darmstadt ganz im Zeichen einer raschen Industrialisierung, dem Ausbau einer modernen städtischen Infrastruktur und der Entwicklung mancher technischer Innovationen. Der Maschinenbau war neben der Chemischen und der Möbelindustrie der bedeutendste Industriezweig. Markante Beispiele sind die Firmen Schenck (führend in der Wäge und Messtechnik) und die Herdfabrik Roeder. Die Maschinenfabrik Lutz und Co war führend im Lokomotivbau, und fand dafür günstige Voraussetzungen in der Eisenbahnerstadt Darmstadt, in der rund 1700 Arbeiter in den Werkstätten der Eisenbahn Waggons und Lokomotiven instand setzten. Seit der Eröffnung der ersten Bahnstrecke 1846 hatte sich Darmstadt zum Eisenbahnknotenpunkt entwickelt. Heinrich Emanuel Merck entwickelte in seiner Firma viele neue Medikamente, vor allem durch bahnbrechende Untersuchungen an Alkaloiden (Pflanzenwirkstoffen), hierin unterstützt von dem Darmstädter Justus von Liebig, dem wohl bedeutendsten Chemiker des 19. Jh.s.“ [1]
Daß das in dieser Form niemals existiert habende Unternehmen Lutz & Co. nicht Lokomotiven, sondern Lokomobile hergestellt hat, sei hier nur am Rande vermerkt. Natürlich meint Peter Engels mit diesem „führenden“ Unternehmen die Maschinenfabrik, die jedoch niemals auch nur ansatzweise mit jemandem namens Lutz verbandelt war. Wir ersehen aus dieser Episode, daß 125 Jahre nach der Liquidation des Unternehmens nur noch nebulös im Trüben gefischt wurde, weil eine Aufarbeitung der Unternehmensgeschichte sich als doch etwas aufwendiger gestalten würde. [2]
Doch nehmen wir den Faden wieder auf, den wir mit dem 17. Kapitel gesponnen haben. Im Zuge der Liquidation des Unternehmens hatte sich 1879 die Bank für Handel und Industrie das an der Blumenthalstraße gelegene Gelände der „neuen Fabrik“ mitsamt Inventar überschreiben lassen, um es anschließend weiterverkaufen zu können. Dies war für die Bank der einzig realistische Weg, die auf rund 184.000 Mark aufgelaufenen Kontokorrentforderungen auch wieder eintreiben zu können. [3]
Ein erster Versuch, das Gelände im April 1879 zu versteigern, blieb erfolglos. Es soll zwar Interessenten gegeben haben, doch war diesen wohl eher an einem Schnäppchen gelegen. 1883 ersuchte die Darmstädter Direktion der Bank den Aufsichtsrat um die Genehmigung, das Gelände auch verpachten zu dürfen. Dennoch kam erst Anfang 1885 ein Pachtvertrag mit dem Unternehmen Gebrüder Seck aus Bockenheim bei Frankfurt zustande. [4]
Am 2. Januar 1886 verfaßte der Bockenheimer Notar Friedrich Becker den Schriftsatz, den er zur Anmeldung der nach Darmstadt verzogenen „Gebrüder Seck“ benötigte. [5]
Abbildung 19.01: Bekanntmachung des Amtsgerichts Darmstadt mit der Anmeldung des neuen Unternehmens. Gleichzeitig gingen Theodor Beck und Heinrich Rosenbaum „freundschaftlich“ getrennte Wege. Quelle: Darmstädter Tagblatt vom 26. Januar 1886 [online ulb darmstadt].
Um 1860 herum betreiben die vier Brüder Wilhelm, Karl, Christian und Heinrich Seck eine kleine Mühlenbauanstalt in Bockenheim, damals noch nicht zu Frankfurt gehörig. 1873 gründen Karl und Christian ihr eigenes Unternehmen in Dresden, Heinrich verbleibt in Bockenheim. 1882 geht auch Heinrich nach Dresden und übergibt das Unternehmen an seinen Schwager Oscar Derschow. 1883 kauft Wilhelm Seck das Gelände der Wiemersmühle in Oberursel und errichtet dort eine Eisengießerei und Maschinenfabrik. Als Oscar Derschow 1885 ebenfalls nach Dresden geht, verlegt Wilhelm Seck den Betrieb aus Bockenheim nach Darmstadt. So eine Chronik der Seck'schen Anfänge. [6]
Laut Helmut Hujer stellt sich der Sachverhalt jedoch ein wenig anders dar. In den 1860er Jahren lebte Wilhelm Seck in München und entwickelte dort zusammen mit Friedrich Henckel eine Getreideschälmaschine. Beide gründeten 1866 in der Nähe der Bockenheimer Warte in Frankfurt eine Mühlenbauanstalt. 1870 geht Seck ins benachbarte Bockenheim und begründet die Maschinenfabrik und Eisengießerei „Gebrüder Seck“. Die anderen drei Brüder waren wohl mit eingebunden. Christian und Karl gehen dann 1873 nach Dresden, während Heinrich im selben Jahr seine eigene Firma „Heinrich Seck & Co.“ in Frankfurt errichtet. Auf dem Gelände in Frankfurt betreibt auch der Kaufmann Christian Emil Derschow ein Geschäft, dessen Tochter Heinrich heiratet. Christian Derschows Bruder Oscar wird Teilhaber in Heinrichs Betrieb, der sich aber 1884 den Dresdener Seck-Brüdern anschließt. Wilhelm verlegt 1885 seinen Betrieb nach Darmstadt. Dort wird 1888 die Produktion von Wasserrädern und Turbinen ausgebaut. [7]
Nach einem Auszug aus dem Handelsregister Bockenheim hatten die Brüder Wilhelm, Karl und Christian ihr gemeinsames Unternehmen im März 1870 eintragen lassen. Im Juli 1873 schieden Karl und Christian aus, Wilhelm führte den Betrieb alleine weiter. Im März 1877 trat Johann Baptist Faßbender als Teilhaber ein, im April 1881 Elkan Henry Blumenthal. Im Januar 1884 wird Secks Ehegattin Adelgunde die Prokura erteilt, während Faßbender auf sein Zeichnungsrecht verzichtet.
Die Aufnahme der Produktion in der Darmstädter Fabrik verzögerte sich um einige Monate, weil die zuständigen Behörden befanden, daß nach mehr als fünfjährigem Stillstand der Anlagen der ehemaligen Maschinenfabrik und Eisengießerei die Wiederinbetriebnahme der Dampfkessel und der Gießerei wie eine Neuanlage zu konzessionieren sei. – Am 24. Dezember 1885 hatten die sich die vier in der Bekanntmachung des Amtsgerichts genannten Wilhelm Seck (1832–1896), seine Ehegattin Adelgunde, Elkan Henry Blumenthal und Max Falk (der mit Wilhelms Tochter Laura verheiratet war) beim Notar Becker eingefunden, um den Schriftsatz zur Anmeldung ihrer offenen Handelsgesellschaft in Darmstadt vorzubereiten. Zusätzlich anwesend war der Kaufmann Johann Baptist Faßbender, der bis zum 1. Juli 1885 Mitinhaber der Bockenheimer Fabrik „Gebrüder Seck“ gewesen war. Der Umzug nach Darmstadt war mit der Beibehaltung des Oberurseler Zweigwerkes verknüpft.
Im Juli 1887 erlosch die Prokura von Adelgunde Seck, nachdem Adolf Auerbach als gleichberechtigter Teilhaber in das Unternehmen eingetreten ist. Am 9. Oktober 1889 wurde das Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Am 7. November 1890 wurde die Liquidation der ursprünglichen Firma „Gebrüder Seck“ eingeleitet – zunächst mit den Liquidatoren Blumenthal und Auerbach –, die aber erst 1920 abgeschlossen werden konnte. Haupthindernis war wohl eine nicht einbringbare größere Forderung aus Marseille; und die ehemaligen Teilhaber waren uneins, wie damit umgegangen werden sollte. Die Angelegenheit wurde dadurch verkompliziert, daß einer dieser Teilhaber, Adolf Auerbach, 1895 aus Frankfurt unbekannt verzogen (und evtl. verstorben) war. [8]
Das Unternehmen wurde als „Mühlenbauanstalt, Maschinenfabrik und Eisengießerei vorm. Gebr. Seck in Darmstadt“ fortgeführt. [9]
Abbildung 19.02: Informationen zr Kapitalausstattung des Unternehmens. Quelle: Jahrbuch der Berliner Börse 1895–1896, Seite 503 [online]. [10]
Mit einem am 9. Oktober 1889 abgeschlossenen Gesellschaftsvertrag wurde das Seck'sche Unternehmen mit einem Grundkapital von 1.150.000 Mark auf finanziell gesichertere Beine gestellt. Die Gesellschafter bestanden aus dem Fabrikanten Wilhelm Seck, dem Kaufmann Adolf (auch: Adolph) Auerbach aus Frankfurt, dem Ingenieur Elick (Elkan) Henry Blumenthal aus Frankfurt, dem Bankier Moritz Fuld „von da“, und dem Darmstädter Rechtsanwalt Dr. Daniel Löb. Zu Vorständen wurden zunächst Auerbach und Blumenthal berufen, Prokura besaßen der schon bekannte Max Falk und ein Adam Ober aus Darmstadt. Den Aufsichtsrat bildeten neben Wilhelm Seck die Bankiers Louis Bamberger und Adolf Abraham Ruß aus Berlin, der Direktor Leopold Jährling aus Dessau, der Kommerzienrat Manfried Cahn aus Berlin und der Darmstädter Kaufmann Adolph Trier. Als Revisoren wurden der Kaufmann Ludwig Roll und der Fabrikant Albrecht Buschbaum aus dem benachbarten Blumenthalviertel bestimmt. [11]
Seck, Blumenthal und Auerbach scheinen das Unternehmen in den Folgejahren verlassen zu haben. Zeitgleich mit dem Erlöschen der Prokura Max Falks erscheint im Sommer 1890 als neuer Direktor ein Gustav Bernhard Wagner, Ingenieur aus Darmstadt, und als neuer Prokurist ein weiterer Ingenieur aus Darmstadt, nänlich Georg Wagner. Nachdem Blumenthal im November 1891 gegangen (worden) war, schied im Frühjar 1892 auch Wagner als Direktor aus. Die Geschäfte führte einige Wochen lang das Aufsichtsratsmitglied Adolph Trier. Im Juni oder Juli 1892 wurden Hans Bittinger und Hermann Ebner als neue Direktoren eingestellt. Irgendwann zwischen den Generalversammlungen im November 1891 und Dezember 1892 wechselte der Aufsichtsratsvorsitz von Manfred Cahn zu Julius Klopstock, Bankier aus Berlin. Im April 1895 schied Bittinger wieder aus dem Vorstand aus. Georg Wagner stieg dadurch vom Prokuristen zum stellvertretenden Direktor auf. Von Mai 1895 bis Ende 1896 finden wir zusätzlich den Techniker Louis Seelig als stellvertretenden Direktor vor. [12]
Bild 19.03: Die Ginsheimer Schiffsmühle, aufgenommen im Oktober 2014.
Bild 19.04: Ein Walzenstuhl der Mühlenbauanstalt mit der Fabriknummer 5781 ist in der rekonstruierten Ginsheimer Schiffsmühle erhalten geblieben. [13]
Das Geschäft mit den Mühlwerken scheint für das Unternehmen eher verlustbehaftet gewesen zu sein.
Konto | 1889/90 | 1890/91 | 1891/92 | 1892/93 | 1893/94 | 1894/95 | 1895/96 |
Verlustvortrag | 253.344,52 | 231.765,70 | 171.170,54 | 320.000,00 | |||
Gehälter | 66.887,12 | 74.799,64 | 82.354,85 | 66.594,01 | 71.744,24 | 84.073,60 | 76.826,70 |
Handlungsunkosten | 27.660,03 | 47.221,56 | 51.953,17 | 34.456,34 | 21.673,50 | 32.293,21 | 28.667,15 |
Reisespesen | 27.197,94 | 28.884,03 | 37.183,40 | 25.856,65 | 27.614,57 | 35.740,70 | 38.105,53 |
Abschreibungen | 36.671,92 | 49.107,24 | 38.430,75 | 24.543,81 | 23.887,86 | 36.725,62 | 36.075,82 |
Gewinn aus Betrieb | 294.065,19 | 289.435,66 | 7.166,75 | 226.365,69 | 244.922,71 | 138.911,63 | 231.870,21 |
Verlustsaldo | 253.344,52 | 231.765,70 | 171.170,54 | 320.000,00 | (300.718,37) | ||
Summe Soll/Haben | 300.682,53 | 289.755,46 | 300.365,08 | 465.166,45 | 416.093,25 | 458.911,63 | 532.487,58 |
Konto | 1889/90 | 1890/91 | 1891/92 | 1892/93 |
Verlustvortrag | 253.344,52 | |||
Gehälter | 66.887,12 | 74.799,64 | 82.354,85 | 66.594,01 |
Handlungsunkosten | 27.660,03 | 47.221,56 | 51.953,17 | 34.456,34 |
Reisespesen | 27.197,94 | 28.884,03 | 37.183,40 | 25.856,65 |
Abschreibungen | 36.671,92 | 49.107,24 | 38.430,75 | 24.543,81 |
Gewinn aus Betrieb | 294.065,19 | 289.435,66 | 7.166,75 | 226.365,69 |
Verlustsaldo | 253.344,52 | 231.765,70 | ||
Summe Soll/Haben | 300.682,53 | 289.755,46 | 300.365,08 | 465.166,45 |
Konto | 1892/93 | 1893/94 | 1894/95 | 1895/96 |
Verlustvortrag | 253.344,52 | 231.765,70 | 171.170,54 | 320.000,00 |
Gehälter | 66.594,01 | 71.744,24 | 84.073,60 | 76.826,70 |
Handlungsunkosten | 34.456,34 | 21.673,50 | 32.293,21 | 28.667,15 |
Reisespesen | 25.856,65 | 27.614,57 | 35.740,70 | 38.105,53 |
Abschreibungen | 24.543,81 | 23.887,86 | 36.725,62 | 36.075,82 |
Gewinn aus Betrieb | 226.365,69 | 244.922,71 | 138.911,63 | 231.870,21 |
Verlustsaldo | 231.765,70 | 171.170,54 | 320.000,00 | (300.718,37) |
Summe Soll/Haben | 465.166,45 | 416.093,25 | 458.911,63 | 532.487,58 |
Ergänzung zur obigen Tabelle: Im ersten, auf den 1. Juli 1899 zurückdatierten, Betriebsjahr 1889/90 betrug der Reingewinn 125.792,43 ℳ. In der Übersicht zu 1890/91 werden als Handlungskosten Steuern, Verwaltungs- und Gerichtskosten, Drucksachen und Porti benannt. In der Jahresrechnung für 1891/92 sind aus dem außerordentlichen Reservefond 50.000 ℳ für zweifelhafte Debitoren bereitgestellt worden, 1892/93 weitere 28.000 ℳ. 1893/94 sind in den Gehältern auch Vergütungen an Agenten enthalten, sowie bei den Reisespesen auch Vertreterkosten; entweder wurde das grundsätzlich so gehandhabt (und hier auch angegeben) oder aber es ist eine einmalige derartige Ausweisung. Ebenso werden 1893/94 Abschreibungen auf Kontokorrentforderungen in Höhe von 63.075,52 ℳ aufgeführt; vielleicht sind das die in anderen Jahren als zweifelhaft angesehenen Debitoren. Beim letzten Jahresabschluß für 1895/96 werden die von mir in Klammern gesetzten 300.718,37 ℳ als „Erlös aus der Zuzahlung“ deklariert. [14]
Das Geschäftsjahr 1894/95 erwies sich als besonders verlustreich. Um die Liquidität des Unternehmens zu retten, wurde auf der Generalversammlung am 18. Dezember 1895 beschlossen, von Stammaktien auf Vorzugsaktien umzusteigen. Das Modell sah wohl vor, daß vorrangig oder gar ausschließlich nur noch die Vorzugsaktien dividendenberechtigt sein sollten. Es sollten exakt so viele Vorzugsaktien wie vorhandene Stammaktien ausgegeben werden, also 1.150 Stück zu 1.000 Mark. Mehr Geld in die Kasse kam dadurch herein, daß die Stammaktien mit 55% des Nominalwertes in Zahlung genommen wurden und der Restbetrag bar zu hinterlegen war. Dies hätte maximal 517.500 Mark erbracht. Die in Zahlung genommenen Aktien wurden nach einem Jahr vernichtet. Im ersten Anlauf konnten 1.007 neue Aktien untergebracht werden. Doch bald mußten sich die Aktionäre ohnehin nicht mehr um säumige Kunden kümmern. Am 24. Juli 1896 fand eine außerordentliche Generalversammlung statt. Auf der Tagesordnung stand: „Beschlußfassung über die Auflösung der Gesellschaft und die Modalitäten der Liquidation, insbesondere der Genehmigung einer vorliegenden Offerte über Verkauf der Gesellschaftsgrundstücke und des Inventars, sowie Wahl von Liquidatoren.“ Damit dürfte das Angebot des Mühlenbau-Konkurrenten G. Luther aus Braunschweig gemeint gewesen sein. [15]
In Kapitel 15 hatten wir gesehen, daß die Lieferliste der Lokomotiven der Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt auch nach deren Liquidation fortgeführt wurde; dort jedoch nur noch Dampfkessel für Lokomotiven aufgeführt waren. Nunmehr können wir genauer bestimmen, wer auf dem Gelände der früheren Maschinenfabrik das Geschäft übernommen hat. Mit den Fabriknummern 111 bis 117 wurden zwischen 1887 und 1890 sieben Ersatzkessel für die Main-Neckar-Eisenbahn geliefert, wobei unter Nummer 112 sogar eine Lokomotive der ehemaligen Maschinenfabrik neu ausgerüstet worden ist. Auch wenn die exakte Zuordnung wohl nicht mehr möglich ist, so wird deutlich, daß zunächst die Gebrüder Seck und daran anschließend die Mühlenbauansttalt die Dampfkessel geliefert haben.
Zu zwanzig weiteren Dampfkesseln liegen keine weiteren Angaben vor, bis 1900 der Dampfkessel Nummer 138 von der Luther A.-G. ebenfalls für die Main-Neckar-Eisenbahn gefertigt wurde. Einige dieser zwanzig Dampfkessel könnten demnach in der Mühlenbauanstalt hergestellt worden sein.
Die Mühlenbauanstalt war während ihres Bestehens auch international tätig, so beispielsweise in Alkmaar in den Niederlanden. [16]
Abbildung 19.05 und 19.06: Text des Aufsatzes zur neuen Walzenmühle der Mühlen-Aktiengesellschaft in Alkmaar (Holland), in: Zeitschrift des Vereines Deutscher Ingenieure, Nummer 37, 12. September 1891.
Abbildung 19.07 und 19.08: Zugehörige Illustrationen.
Nach dem Verkauf des Geländes, der Baulichkeiten und der Einrichtungen an das von Hugo Luther geführte Unternehmen in Braunschweig sollten zehn Jahre vergehen, bis der Verkaufspreis und das übrige Gesellschafsvermögen unter die Aktionäre der Mühlenbauanstalt verteilt war. Zu Liquidatoren waren Hermann Ebner (er starb im Dezember 1906 kurz vor der endgültigen Abwicklung des Unternehmens) und Emil Fränkel bestimmt worden. Am 28. Januar 1907 erklärte das Amtsgericht Darmstadt das Unternehmen für erloschen. Zuvor war auf der Generalversammlung am 25. Juli 1906 der noch zu verteilende Restbetrag zugunsten der Vorzugsaktien des Unternehmens beschlossen und anschließend die Liquidation für beendet erklärt worden. [17]
1896 erwarb das Braunschweiger Mühlenbauunternehmen G. Luther die Darmstädter Mühlenbauanstalt für 650.000 Mark. Nach dem Braunschweiger Handelsregister wurde am 22. Mai 1897 die Zweigniederlassung Luthers in Darmstadt errichtet, wobei hiermit der Eintrag im Handelsregister des Amtsgerichts Darmstadt gemeint ist. [18]
Abbildung 19.09: Fabrikanlagen der Luther AG in Braunschweig (vorne) und Darmstadt (links). Quelle: Darmstädter Adreßbuch für 1908 [online ulb darmstadt].
Im März 1898 wird das Unternehmen mit Hilfe der Diskonto-Bank in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Das Aktienkapital beläuft sich auf 5 Millionen Mark. Von diesem wurden im März 1900 zunächst 2.200.000 Millionen Mark zum Handel an die Börse gebracht [19]. Der Bericht über das Geschäftsjahr vom Juli 1899 bis zum Juni 1900 nennt für das Darmstädter Zweigwerk eine Lohnsumme von 269.739 Mark bei durchschnittlich 241 Arbeitern. Bis zum Geschäftsjahr 1902/03 sank die Belegschaft auf 157 Arbeiter und die Lohnsumme auf 154.527,49 Mark. Aufgrund erheblicher Verluste mußte das Aktienkapital von 5 auf 2 Millionen Mark eingedampft werden, im Anschluß wurden für 1,5 Millionen Mark neue Vorzugsaktien ausgegeben. Die Auswirkungen auf das Darmstädter Zweigwerk beschreibt der Geschäftsbericht für 1902/03 so:
„Zur möglichen Herabminderung des unvermeidlichen Betriebsverlustes in Darmstadt, wo die Ausführung eines Teiles der für die Abteilung Hartzerkleinerung benötigten Maschinen geschah, entschlossen wir uns, daselbst den Betrieb auf das geringst zulässige Mass zu beschränken und nutzten dieses Werk in der Hauptsache für Rohguss, Hartguss und Walzenfabrikation aus. Besonders in der Walzenfabrikation waren wir durch Erledigung eiliger Aufträge in der Abteilung Mühlenbau stark beschäftigt, so dass manche Monate hindurch Tag- und Nachtbetrieb in Darmstadt eingerichtet werden musste.
Die selbständig arbetenden kaufmännischen und technischen Bureaus in Darmstadt lösten wir auf und gliederten sie der Zentralverwaltung in Braunschweig an, wodurch die Geschäftsunkosten in Darmstadt eine erhebliche Herabminderung erfuhren.“
Weiterhin wurden die Werke in Braunschweig und Darmstadt mit schmalspurigen Transportgleisen ausgerüstet und in Darmstadt die Gießerei verbessert. Im Geschäftsjahr 1903/04 wurde in Darmstadt ein abnorm hoher Verbrauch der Dampfkraftanlage festgestellt, weshalb sie durch eine selbstgebaute Sauggasmotorenanlage ersetzt wurde. Mangels Aufträgen stand der größte Teil der mechanischen Werkstätte still, während die Gießerei vergrößert wurde. 1904/05 besserte sich das Geschäft; es wurden Neubauten in beiden Werken begonnen. In Darmstadt werden nunmehr auch Generatoren gebaut. 1905/06 sind die Neubauten in der Hauptsache beendet. In der Darmstädter Gießerei werden an Grauguß 2.126.000 kg und an Hartguß 580.000 kg verarbeitet. Im Januar 1907 wird auf einer eigenen Generalversammlung die Umstrukturierung des Aktienkapitals beschlossen: die Vorzugsaktien werden im Verhältnis 3:2 und die Stammaktien im Verhältnis 4:1 angepaßt; zudem werden neue Aktien im Nominalwert von 2,5 Millionen Mark ausgegeben. Das Aktienkapital beträgt demnach nunmehr 4 Millionen Mark.
Abbildung 19.10: Annonce der G. Luther Aktiengesellschaft im Darmstädter Adreßbuch für 1906 [online ulb darmstadt].
Im Geschäftsjahr 1906/07 verarbeitet die Gießerei in Darmstadt 2.219.537 kg Grauguß und 338.187 kg Hartguß. Die durchschnittliche Arbeiterzahl beträgt 196, die im November 1906 durch die Aufhebung der Maschinenfabrikation auf durchschnittlich 177 reduziert wird, die in der Gießerei und der Walzenfabrikation beschäftigt werden. Das Geschäftsjahr 1907/08 wird als befriedigend angesehen, es herrscht Vollbeschäftigung in beiden Werken. In Darmstadt werden an Grauguß 2.772.286 kg und an Hartguß 730.198 kg verarbeitet. In den Folgejahren laufen die Geschäfte gut. Allenfalls wird 1912 über den Niedergang der Preise gejammert, aber Jammern gehört nun einmal zum Geschäft jedes guten Kapitalisten dazu. 1914 wird aufgrund des Krieges von einer Gewinnausschüttung abgesehen, aber am Horizont locken Rüstungsaufträge. Diese sind derart profitabel, daß 1918 eine Dividende von 12% herausspringt; während dessen das Volk hungert. 1918 wird das Darmstädter Werk verkauft: „Auch über unser Darmstädter Fabrikwesen sind Verkaufsverhandlungen gepflogen, die inzwischen mit befriedigendem Erfolge zu Ende geführt sind.“ Die Löschung der Darmstädter Filiale aus dem Handelsregister wird im März 1920 beantragt.
Die nachfolgend aufgeführten Mühlenbaubetriebe sind allesamt nicht in der Nachfolge der Maschinenfabrik und Eisengießerei zu sehen. Sie werden hier nur deswegen vorgestellt, weil sie schon seinerzeit einiges zur Verwirrung beigetragen haben. Sie haben keine größere Bedeutung erlangt und sind recht bald wieder eingegangen.
Abbildung 19.11: Briefkopf der Darmstädter Mühlenbauanstalt G.m.b.H. am Bachgangweg. Quelle: HStAD G 28 Darmstadt Nr. R 445.
Diese auf dem Briefkopf verbreitete Darstellung des Fabrikgeländes dürfte mit der Realität wenig gemein gehabt haben. Das Unternehmen residierte im Bachgangweg Nummer 20. Diese Straße verlief zwischen der Feldbergstraße und der Kirschenallee. Heute verläuft dort eine innerbetriebliche Straße der Evonik bzw. Röhm. Das Darmstädter Adreßbuch für 1910 vermerkt unter dieser Anschrift die Darmstädter Eisengießerei mit dem Inhaber Nikolaus Knos und die Graef'sche Armaturen- und Maschinenfabrik des Theodor Brust. Im 1911er Adreßbuch tritt die Darmstädter Mühlenbauanstalt G.m.b.H. hinzu, die noch im 1912er Adreßbuch enthalten ist. In der 1913er Ausgabe ist die Eisengießerei verschwunden; statt dessen haben wir nun die Darmstädter Eisengießerei, Maschinenfabrik und Mühlenbauanstalt G.m.b.H. und die Gummiwaren- und Treibriemenfabrikation des Hermann Heinmüller. Da der Bachgangweg nicht über die Kirschenallee hinaus bis zu den Anlagen des Güterbahnhofs durchgeführt wurde, sind die hier direkt am Fabrikgelände dargestellten Gleise Fiktion des Grafikers bzw. des Auftraggebers. Diese Illustration har Carl Friedrich Müller für seinen Briefkopf beibehalten; nur die Rauchfahne weht nunmehr in die entgegengesetzte Richtung.
Der vom Hessischen Wortschaftsarchiv 2012 herausgegebene kleine Bildband „Rauchende Schlote“ über die Industrialisierung Südhessens im Spiegel historischer Briefköpfe meint als Begleittext zu einem solch gezeigten Briefkopf:
„Carl Friedrich Müller, Maschinenfabrik und Eisengießerei, Darmstadt. Hervorgegangen 1915 aus der seit ca. 30 Jahren bestehenden Darmstädter Eisengießerei, Maschinenfabrik und Mühlenbauanstalt GmbH vorm. Gebrüder Seck. Bau von Mühlen, landwirtschaftlichen Geräten und Maschinen. 1918/19 Betriebsaufgabe. Der ehemalige Betriebsstandort im Bachgang 20 gehört heute zum Werksgelände der Evonik Röhm GmbH.“ [20]
Das wird sicherlich nicht richtig sein können. Denn die erste Mühlenbauanstalt war ja 1896/97 von Hugo Luther aus Braunschweig übernommen worden und wurde bis 1918 als Niederlassung der Luther AG am Standort an der Blumenthalstraße fortgeführt. Carl Friedrich Müller wird im 1915er Adreßbuch als Inhaber eines Betriebs für Holzverarbeitungsmaschinen, Gas-, Benzin- und Petroleummotoren in der Kirschenallee 11 neben der Motorenfabrik geführt, bevor er ein Jahr später als Ingenieur die Darmstädter Eisengießerei, Maschinenfabrik und Mühlenbauanstalt G.m.b.H. im Bachgang 20 betreibt, die nach 1921 aus den Adreßbüchern verschwindet. [21]
Am 7. August 1908 wird beim Amtsgericht die Darmstädter Mühlenbauanstalt G.m.b.H. angemeldet. Die beiden Gesellschafter sind der Kaufmann Julius Stammler und der Ingenieur Georg Gieler. Der eine hat 5.000 Mark bar eingebracht, der andere seine Erfindungen, deren Wert auf 15.000 Mark taxiert wird. Der Zweck des Unternehmens besteht vorzugsweise im kommissionsweisen Vertrieb von Müllereimaschinen und Mühlenbedarfsartikeln. Der Betrieb wird zum 1. August 1908 aufgenommen. Die Einlage des Ingenieurs Gieler besteht in vier Erfindungen: einer Sichtmaschine, einer Getreide-Vorreinigungsmaschine, einer Mehlmischmaschine und einer Sackklammer, die zum Patent angemeldet wurden. Die Gesellschaft residiert zunächst in der Darmstädter Gartenstraße, der heutigen Schleiermacherstraße.
Die Namenswahl erregt alsbald den Unwillen der Mühlenbauanstalt der Luther AG. Diese wird deswegen im Dezember 1909 beim Amtsgericht in Darmstadt vorstellig. In einem für die Geschäftswelt bestimmten Zirkular stellt sie fest:
„Wie wir erfahren haben, wird in Fachkreisen mit offensichtlicher Berechnung das Gerücht in Umlauf gebracht, daß unsere Zweigfabrik in Darmstadt zu der kürzlich gegründeten Firma »Darmstädter Mühlenbauanstalt, G.m.b.H.«, in geschäftlichen Beziehungen stehe, oder gar mit ihr identisch sei. Im Zusammenhang damit gewinnt die ebenfalls verbreitete Behauptung an Glauben, wir beabsichtigten, unsere Zweigniederlassung aufzugeben und deren gesamten Betrieb nach dem Braunschweiger Hauptwerke zu verlegen.
Um diesen Ausstreuungen entgegenzutreten, sehen wir uns genötigt, unsere Geschäftsfreunde davon in Kenntnis zu setzen, daß wir weder den Betrieb unserer Zweigfabrik einzustellen gedenken, noch zu jener neu gegründeten Firma Beziehungen irgendwelcher Art unterhalten, was bei der Stellung, die wir als älteste Mühlenbauanstalt Deutschlands einnehmen, auch ohnehin als vollständig ausgeschlossen betrachtet werden muß.“
Der von der neuen Darmstädter Mühlenbauanstalt beauftragte Rechtsanwalt legte dem Gericht in einem mehrseitigen Schreiben dar, weshalb seine Klientin den Namen berechtigterweise führe. Dabei verwies er darauf, daß selbige seit dem 27. November 1909 eine kleine Reparaturwerkstätte im Bachgangweg Nr. 2 [gemeint ist 20, WK] auf dem Gelände der P. Gräff'schen Armaturenfabrik errichtet habe. Die Luther AG scheint sich mit ihrem Begehren auf Namensänderung nicht durchgesetzt zu haben. Im April 1910 wird das Stammkapital der Gesellschaft um 15.000 Mark erhöht, die Julius Stammler einbringt. Spätestens im Februar 1911 benutzt das kleine Unternehmen den obigen Briefkopf. Das Briefpapier nennt folgende Geschäftstätigkeiten: Neu- und Umbau kompletter Mühlenanlagen nach bewährtem System; Speicher- und Lagerhauseinrichtungen; Sägewerkanlagen; Einzellieferung aller Arten von Müllereimaschinen, Mühlsteinen, Mühlenbedarfsartikeln, Säge- und Holzbearbeitungsmaschinen und Sägeartikeln; Transmissionen; Turbinen und Wasserräder; Windmotore; Dampf- und Sauggasanlagen, Leuchtgas-, Benzin-, Benzol-, Ergin-, Spiritus-, Petroleum-, Rohöl- und Elektromotore; Reparaturen verschiedener Walzen. Darin ist sicherlich viel an Absichtserklärung enthalten, aber Abschriften einzelner Referenzen belegen, daß das kleine Unternehmen wirklich geliefert hat, wenn auch in wesentlich kleinerem Maßstab als die Luther-Fabrik an der Blumenthalstraße.
Im Juli 1911 tritt der aus Ragnit (Ostpreußen) kommende Ingenieur Fritz Blank der Gesellschaft mit weiteren 10.000 Mark bei. Im Januar 1912 sägen Stemmler und Blank ihren Kompagnon Gieler als Mitgeschäftsführer ab, wel dieser ungenau kalkuliert und beim Verkauf neuer Maschinen ältere zu überhöhten Preisen in Zahlung genommen habe. Dies könnte zu einer finanziellen Schieflage geführt haben, die erklärt, weshalb das Unternehmen im Juni 1912 aufgelöst wurde. Im Januar 1913 scheidet Fritz Blank als Liquidator aus, es verbleibt als solcher nur noch Julius Stammler. Die Liquidation zieht sich hin; im Februar 1914 waren noch nicht alle Außenstände eingezogen und noch vorhandene Maschinen verkauft worden. Erst im März 1924 zeigt Julius Stammler dem Amtsgericht an, daß die Liquidation beendet und damit die Firma erloschen sei. [22]
Fritz Blank ist im Juni 1912 an der Gründung der Darmstädter Eisengießerei, Maschinenfabrik und Mühlenbauanstalt G.m.b.H. beteiligt. Seine Kompagnons sind der Kaufmann Alexander Geppert, der sein Fabrikationsgeschäft einbringt, und der Kaufmann Nikolaus Knos, der seine Darmstädter Eisengießerei einbringt. Das Stammkapital beträgt 40.200 Mark, wovon Blank seinen Anteil von 10.000 Mark aus dem aufgelösten Unternehmen als Sacheinlage leistet. Nikolaus Knos stirbt jedoch im August 1912. Auf einer Gesellschafterversammlung im September 1912 tritt der Vertreter der Erben, der Kaufmann Hans Knos, diesen Anteil an den Kaufmann Gerhart Berninger aus Offenbach ab. Das Gesellschaftskapital wird zudem auf 52.600 Mark erhöht, aber im Januar 1913 auf runde 40.000 Mark vermindert. Statt der bisherigen drei Gesellschafter als Geschäftsführer gibt es mit Alexander Geppert nur noch einen. Doch schon im Juni 1913 muß das Konkursverfahren wegen Zahlungsunfähigkeit eröffnet werden. Hier rächt es sich, daß das Gesellschaftsvermögen weitgehend aus Sacheinlagen besteht und ausreichende liquide Mittel fehlen. Zwar wird festgestellt, daß die Gießerei Gewinne abwerfen würde, wenn sie erweitert wird, aber die erforderlichen 2.000 Mark kann oder will keiner der Gesellschafter aufbringen. Erst im September 1921 wird das Konkursverfahren eingestellt, da die Kosten des Verfahrens aus der Konkursmasse nicht gedeckt werden können.
Ob und gegebenenfalls auf welche Weise Carl Friedrich Müller die Geschäfte des aufgelösten Unternehmens in eigener Regie übernommen hat, ist den Akten nicht zu entnehmen. [23]
Das im Besitz der drei Rothschild-Brüder Albert, Max und Henry befindliche Frankfurter Unternehmen J. Adler jun. erwarb am 5. Juni 1919 das Gelände der ehemaligen Maschinenfabrik und Eisengießerei an der Pallaswiesen- und Blumenthalstraße und bereitete damit seinen Einstieg in das Eisenbahngeschäft vor. [24]
Am 19. Mai 1919 gründeten der Kaufmann Martin Mann und die Ingenieure Paul Paschke und Wilhelm Petzold die Bahnbedarf G.m.b.H. Ein Jahr später, am 28. Juni 1920, brachten diese drei Gesellschafter ihr Unternehmen in eine Aktiengesellschaft gleichen Namens ein. Mit Geld oder Sachwerten beteiligten sich: die drei Gesellschafter der Bahnbedarf G.m.b.H. mit 300.000 Mark, die 1899 gegründete offene Handelsgesellschaft J. Adler, junr., aus Frankfurt am Main mit 7.600.000 Mark, die Frankfurter Filiale der Bank für Handel und Industrie mit 45.000 Mark, das 1870 gegründete Bankhaus S. Merzbach aus Offenbach mit ebenfalls 45.000 Mark, sowie der Frankfurter Fabrikant Carl Flesch mit 10.000 Mark. Das Gesamtkapital betrug demnach 8.000.000 Mark, das auf 8.000 Aktien zum Kurs von 110% aufgebracht wurde. Der Geschäftssitz lag an der Blumenthalstraße mit der Hausnummer 24. [25]
Dem Aufsichtsrat des Unternehmens sollten die Brüder Albert und Max Rothschild, der Direktor der Frankfurter Filiale der Bank für Handel und Industrie Ludwig Deutsch, Wilhelm Merzbach und der Justizrat Alexander Berg angehören. Den Vorsitz übernahm Max Rothschild mit Albert Rothschild als seinem Stellvertreter. Den Vorstand bildeten die drei Gesellschafter der vorherigen G.m.b.H. Die Rothschilds sahen demnach die bisherigen Eigentümer als geeignet an, das operative Geschäft fortzuführen. Petzold schied im Herbst 1925 aus dem Vorstand aus, um in die Leitung des Verkaufsbüros Stuttgart einzutreten, Paschke kurz darauf Anfang 1926, während Mann bis 1927 als Vorstand tätig blieb.
Das Aktienkapital mußte aufgrund der extreme Ausmaße annehmenden Inflation mehrfach erhöht werden und betrug 1923 88 Millionen Mark. 1924 konnte es auf einen realistischen Wert von 1.608.000 Goldmark angepaßt werden. 1921 wurden die Eigentumsverhältnisse neu reguliert, indem nunmehr die als Holding gegründete Aquila A.-G. die Anteile von J. Adler jun. an der Bahnbedarf A.-G. übernahm. Der Name Aquila bedeutet Adler.
Das neugegründete Unternehmen spekulierte darauf, am Neuaufbau der Länderbahnen bzw. der nachfolgenden Reichsbahn mit Aufträgen beteiligt zu werden. Im Ersten Weltkrieg wurde auf den deutschen Eisenbahnstrecken auf Verschleiß gefahren und entsprechend marode waren Infrastruktur, Lokomotiv- und Wagenpark. Hinzu kam, daß viele vorhandene, und zwar meist die modernsten, Lokomotiven und Waggons als Reparationsleistungen an die Siegermächte abzuführen waren. Ein Neuanfang war unumgänglich. In Darmstadt war es nicht nur die Bahnbedarf A.-G., die auf eine Eisenbahnkonjunktur spekulierte. Auch die Möbelfabrik Alter in der Kirschenallee nutzte ihre Holzwerkstätten, um nunmehr Personenwaggons herzustellen. Ihr ursprünglicher Geschäftszweck, die Produktion und der Verkauf von hochwertigen Möbeln für Adel und Bürgertum, fiel mit der Novemberrevolution und der nachfolgenen Inflationszeit weg. Für derartigen Luxus war schlicht kein Geld mehr da. Doch die Nachfrage nach den hölzernen Wagen ließ bald nach, so daß die Möbelfabrik schon in den 1920er Jahren vor sich hindümpelte. Der Bahnbedarf ging es nicht viel besser, wenn sie auch versuchte, ein zusätzliches Betätigungsfeld bei Werks- und Feldbahnen zu finden. [26]
Abbildung 19.12: Die Bahnbedarf A.-G. führt 1921 die Verlegung der Straßenbahngleise auf der Rheinstraße aus. Quelle: Firmenbroschüre der Bahnbedarf A.-G. von 1921, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Gerhard Klatt († 2018).
1921 war man noch voller Optimismus und pries seine vielfältigen Möglichkeiten bei „der Herstellung, dem Vertriebe und der Vermietung von Bahnmaterial aller Art, sowie der Projektierung und dem Bau von Gleis- und Transportanlagen und aller in das Fach einschlagenden Arbeiten“ an. Auch das rollende Material wurde berücksichtigt. Deshalb hatte das Unternehmen eine Reparaturwerkstatt für Lokomotiven aller Arten und Spurweiten eingerichtet. Weiterhin befaßte es sich mit der Projektierung und dem Bau von Anschlußgleisen für Normal- und Schmalspur, womit als Dienstleistung gleichzeitig das Einholung von Konzessionen, das Verhandeln mit Behörden, und der Umbau sowie die Instandsetzung von Gleisen nebst Ausführung sämtlicher Vorarbeiten verbunden war. Die Holding Aquila hatte sich die Mehrheit der Aktien der Dampfkesselfabrik vormals Arthur Rodberg A.-G. in der Landwehrstraße gesichert und konnte daher Güter- und Spezialwaggons für alle Industriezwecke anbieten. [27]
Die Geschäfte scheinen zunächst zur vollen Zufriedenheit gelaufen zu sein, denn bald konnte man sich neben der normalen auch noch eine Superdividende von 11% gönnen. Kapitalisten lassen es sich eben so richtig gut gehen, wenn das gemeine Volk darbt. 1922/23 ließ das Unternehmen zwei neue Werkhallen an der Landwehrstraße errichten, deren Tragkonstruktion aus einer Luftschiffhalle beim ostpreußischen Dywity (damals Diwitten, nahe Olsztyn / Allenstein) stammte, die aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrages abgetragen werden mußte. Eine dieser beiden Hallen brannte im Oktober 1977 aus und wurde abgerissen, die andere dient derzeit [2021] als Parkdeck. Außerdem arbeitete man mit der Akademischen Fliegergruppe an der Technischen Hochschule Darmstadt beim Bau von Segel- und leichten Motorflugzeugen zusammen. Nachdem 1923 die durch den Versailler Vertrag auferlegte Beschränkung, keine Motorflugzeuge zu entwickeln, fortgefallen war, schien dies ein geeigneter Zeitpunkt zu sein, ein neues Geschäftsfeld anzutesten. Die von Albert Botsch 1924/25 durchgeführten Flüge auf der von der Bahnbedarf A.-G. gebauten BAG E I fanden ein geradezu überschwengliches Medienecho. Das Leichtmotorflugzeug hätte durchaus das Potential gehabt, auf dem Flugzeugmarkt zu bestehen. Warum dieser Weg nachfolgend nicht beschritten wurde, ist anhand der vorhandenen Quellenlage nicht ersichtlich. Möglicherweise ging dem Unternehmen auch einfach nur das Geld aus. [28]
Abbildung 19.13: Die Rückseite eines Notgeldscheins der Bahnbedarf A.-G. von 1923 über 20 Milliarden Mark zeigt ein von dieser miterbautes Segelflugzeug.
In einem Artikel der nur kurzlebigen Zeitschrift „Die Werkbahn“ wurden 1925 verschiedene Konstruktionen bei Werkbahnen vorgestellt, die für Gleisbögen mit geringem Halbmesser geeignet waren. Die Ausführung der Bahnbedarf A.-G. wurde hierbei überaus positiv besprochen. Ein solches Bogengleis wurde in einer Grubenbahn der Gewerkschaft Messel im Nordosten von Darmstadt eingebaut; weitere Exemplare sollten bald darauf bei der Firma Ed. Breitenbach in Weidenau (Sieg), den Heddesheimer Kupferwerken und den Süddeutschen Kabelwerken folgen. Besonders wurde auf eine an das Bogengleis anschließende Auflaufweiche hingewiesen, die ebenfalls in der Grubenbahn der Gewerkschaft Messel eingebaut worden war. [29]
Vom 1. Juni bis zum 12. Oktober 1925 präsentierte die Deutsche Verkehrsausstellung in München einem breiten Publikum den Stand der technischen Entwicklung im gesamten Verkehrswesen. Die Bahnbedarf A.-G. war dort gleich zweimal vertreten: einmal mit ihren Kleinflugzeugen in Halle VII an Stand 7, zudem in der Oberbauausstellung im Freigelände mit einer Auflaufweiche (dort Weiche 26), einem Auflaufgleis und einer Drehscheibe ohne Fundamente, jeweils in Normalspur ausgeführt.
„Den Abschluß des Bahnhofes nach Osten bildet eine Gleiskurve von 35 m Halbmesser, die zum Teil von der Vögele A.-G., Mannheim, zum Teil von der Maschinenfabrik Deutschland ausgeführt ist. Sie ist gerade noch in den engen Raum hineingezirkelt. Sie zeigt, wie man bei beengten Verhältnissen in Anschlußgleisen usw. auch noch bei Verwendung dieser scharfen Gleiskurve das Gelände aufschließen kann. Vor der Oberbauhalle ist ebenfalls eine 35-m-Kurve mit Bogenweiche angeordnet, die von der Bahnbedarf-A.-G., Darmstadt, geliefert wurde. Bemerkenswert ist eine fahrbare Drehscheibe derselben Firma auf demselben Gleisstutzen.“ [30]
Das Geschäftsjahr 1924/25 endete mit Verlusten in Höhe von 167.840,51 Reichsmark. Es sollte noch schlimmer kommen. Im folgenden Jahr wurde ein Verlust von 1.515.762,34 Reichsmark eingefahren. Dies zwingt die Aquila A.-G. dazu, mit der Bahnbedarf A.-G. zu fusionieren, und zwar rückwirkend zum 1. April 1925. Der Fusionsvertrag kommt am 8. Juli 1927 zustande. Für 800 Bahnbedarf-Aktien erhalten die Bahnbedarfs-Aktionäre nunmehr 200 Aquila-Aktien. Der Vertrag sieht zudem vor, daß die Aquila die Firma Bahnbedarf zukünftig als eigene Niederlassung betreibt. Dies alles dient der Bilanzbereinigung.
1927/28 beteiligte sich die Bahnbedarf A.-G. an der Demontage und der Verwertung der ehemaligen Waldbahn vom Bahnhof Buchschlag nach Klaraberg am Main. [31]
In den folgenden Jahren erholt sich die Darmstädter Bahnbedarf-Filiale der Aquila A.-G. Auf der ordentlichen Generalversammlung der Aquila A.-G. am 23. April 1932 wurde vermerkt, daß sich die Dampfkesselfabrik vormals Arthur Rodberg A.-G., an der die Aquila die Aktienmehrheit besitzt, „der Ungunst der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht entziehen“ konnte, während das Ergebnis der Bahnbedarf als befriedigend angesehen wurde: „Dieses Werk ist mit Aufträgen versehen und arbeitet mit Erfolg.“ Ein Jahr später, die Nazis sind schon an die Macht gebracht worden, was für einen jüdisch dominierten Betrieb fatale Folgen haben mußte, berichtete der Aquila-Vorstand auf der Generalversammlung am 12. Mai 1933 über das Geschäftsjahr 1931/32:
„Bei der Dampfkesselfabrik vorm. Arthur Rodberg A.-G., Darmstadt, haben sich die im letzten Bericht dargestellten Verhältnisse im Berichtsjahr nicht geändert. Die Unkosten sind auf das äusserste eingeschränkt worden.
Unsere Abteilung Bahnbedarf Darmstadt war unter den heutigen Verhältnissen leidlich beschäftigt und hat über die Unkosten und Abschreibungen hinaus einen kleinen Betriebsgewinn erzielt.“
Mit den Nazis kamen 1933 für die gesamte jüdusche Adler jun. / Aquila / Bahnbedarf-Gruppe erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten, denn Aufträge blieben nunmehr aus. Die Banken drängten auf eine für sie lukrative Umstrukturierung des Gesellschaftskapitals. Dieses Vorgehen ist für den Kapitalismus typisch, doch die antijüdische Komponente der Zerschlagung der Aquila-Gruppe macht daraus eine „Arisierung“. So wurde zunächst die Dampfkesselfabrik Rodberg mit der Bahnbedarf zusammengelegt, wobei die Aquila-Filiale Bahnbedarf der schwächelnden Dampfkesselfabrik finanziell unter die Arme greifen mußte. Alsdann wirde die so neu entstandene Bahnbedarf-Rodberg A.-G. aus dem Aquila-Konzern ausgegliedert und den Gläubigerbanken ausgeliefert, bevor sie einem interessierten „arischen“ Unternehmen übergeben werden konnte. Und dies geschah folgendermaßen: Auf ihrer Generalversammlung am 26. März 1935 beschlossen die Aktionäre der Dampfkesselfabrik vormals Arthur Rodberg A.-G., den Geschäftsverlust der beiden Vorjahre in Höhe von 217.000 RM durch eine Neujustierung des Aktienkapitals auszugleichen. Hierzu wurde das Grundkapital der Gesellschaft drastisch von 350.000 RM auf 50.000 RM herabgesetzt und nachfolgend wieder auf 500.000 RM heraufgesetzt. Da die Banken kein frisches Geld einbringen wollten, wurde die Aquila A.-G. zur Ader gelassen. Sie hatte ihr Filialunternehmen Bahnbedarf mit 720.000 RM Aktiva und 305.000 RM Passiva einzubringen. Noch gehörten von den Aktien des so neu aufgestellten Unternehmens 90% der Aquila und 10% dem „Markt“. Das so regenerierte Unternehmen erhielt die Firmierung Bahnbedarf-Rodberg A.-G. Aus dem Vermögen der Aquila bzw. Bahnbedarf nicht eingebracht und somit für eine anderweitig lukrative Verwertung vorbehalten waren die Grundstücke, Immobilien und Maschinen der Bahnbedarf. Diese konnten von der Bahnbedarf-Rodberg A.-G. gepachtet werden. Dies kann durchaus als eine Art Gewinnabschöpfung eines noch „jüdischen“ Unternehmens betrachtet werden. Der Geschäftsbericht vermerkt zudem, die Dampfkesselfabrikation habe eine gewisse Belebung erfahren und auch die Bahnbedarf sei mit Aufträgen gut versehen.
Dem das Unternehmen kontrollierenden Aufsichtsrat gehörten nunmehr der Rechtsanwalt Schwörer aus Darmstadt, Max Rothschild aus Frankfurt, die Direktoren Bochow und Götz aus Darmstadt sowie der Rechtsanwalt und Notar Ernst Bösebeck aus Frankfurt an. Hier wäre noch zu herauszufinden, wessen Interessen die vier anderen, vermutlich „arischen“, Aufsichtsratsmitglieder zu vertreten hatten.
1937 oder 1938 wurde das neu firmierte Unternehmen von der in Augustenthal bei Neuwied ansässigen Schraubenfabrik Friedrich Bösner GmbH übernommen. 1939 wurde die Darmstädter Aktiengesellschaft in eine GmbH umgewandelt und existierte in dieser Form bis 1969.
Teile des Geländes der früheren Bahnbedarf gingen an neue aufstrebende Unternehmungen, wie etwa die Werkstatt Auto-Axt, die Zigarrenfabrik von Peter Stang, der aus der Akaflieg hervorgegangene Flugzeugbau von Albert Botsch und das schon 1930/31 errichtete Tanklager mitsamt Tankstelle der Deutsch-Amerikanischen Petroleum-Gesellschaft (ab 1950 Esso). 1940 verlegt der aus Trier stammende Peter Willems sein Spezialölwerk „Deutsche Cristalline-Werke“ in die freigewordenen Werkshallen der Bahnbedarf. Der weitere Fortgang nach dem Zweiten Weltkrieg soll hier nicht weiter verfolgt werden. [32]
In Darmstädter Publikationen wird das Verhältnis zwischen der Dampfkesselfabrik vormals Arthur Rodberg A.-G. und der Bahnbedarf A.-G. in immer neuen Variationen vorgetragen, die jedoch nichts mit der damaligen Realität gemein haben. Das jüngste Beispiel ist ein Zeitungsartikel von Kerstin Schumacher in Darmstadts Lokalzeitung über die sogenannte Zeppelinhalle in der Landwehrstraße, entnommen dem von ihr mitverfaßten Buch „Darmstädter Geheimnisse“. Sie schreibt:
„Weil die Alliierten keine Verwendung für die Allensteiner Halle hatten, wurde dieses Exemplar an die Bahnbedarf AG Rodberg verkauft. Und nun schließt sich der Kreis in Richtung Darmstadt. Denn diese AG war 1868 als Rodbergsche Kesselfabrik in Darmstadt gegründet worden, zu einer Zeit, als die industrielle Entwicklung der Stadt schon im Gange war: […].“
Nun gab es niemals eine Bahnbedarf AG Rodberg und nur vier Jahre lang eine Bahnbedarf-Rodberg A.-G. nach erfolgter „Arisierung“. Rodberg hat mit dem Bau der Zeppelinhalle nicht das geringste zu tun; und Kerstin Schumachers Gewährsfrau aus der Darmstädter Denkmalschutzbehörde kennt sicherlich die Fotografie der 1923 frisch erbauten beiden Hallen zwischen Landwehr- und Lagerhausstraße, auf denen stolz das Firmensignet Bahnbedarf A.-G. prangt. Sie ist jedenfalls nicht die einzige, die sich hier irrt.
Der schon erwähnte kleine Band aus dem Hessischen Wirtschaftsarchiv „Rauchende Schlote“ kennt eine zu den „Darmstädter Geheimnissen“ nicht wirklich passende Variante zun Verhältnis von Bahnbedarf und Rodberg. Im Begleittext zu einem Briefkopf der Dampfkesselfabrik Rodberg heißt es: „1922 Umwandlung in ‚Bahnbedarf Aktiengesellschaft‘.“ Dies ist eine insofern bemerkenswerte Phantasterei, weil es erstens keinen Hinweis auf eine solche Umfirmierung gibt und zweitens diese Dampfkesselfabrik auch weiterhin munter vor sich her existiert, bis sie 1935 mit der Bahnbedarf verschmolzen wird. Warum dann 1922? Vielleicht hat der Autor nur ins Findbuch der zugehörigen Rodberg-Akte im Staatsarchiv Darmstadt geschaut und dort als Enddatum 1922 vermerkt vorgefunden. In die Akte selbst kann er nicht geschaut haben, denn dann hätte er festgestellt, daß es eine Folgeakte gegeben hat, die wohl 1944 verbrannt ist.
Außerdem hat er sich nicht mit seinem Chef, dem Herausgeber des Bändchens und Leiter des Hessischen Wirtschaftsarchivs Ulrich Eisenbach abgesprochen. Der wiederum behauptet in einer Begleitserie zur zugehörigen Ausstellung „Rauchende Schlote“ im Darmstädter Echo:
„1928 wurde die Dampfkesselfabrik vorm. Arthur Rodberg AG mit der 1919 gegründeten Bahnbedarf AG zur Bahnbedarf Rodberg AG verschmolzen. Die Bahnbedarf AG stellte Eisenbahnwaggons, Schienen und Weichen sowie Kleinbahnmaterialien her und reparierte Lokomotiven, sodass die neue Firma über ein ausgesprochen breites Produktionsprogramm verfügte. 1939 wurde die Bahnbedarf Rodberg AG in eine GmbH umgewandelt. Alleiniger Gesellschafter war seitdem die Friedrich Boesner GmbH in Augustenthal bei Neuwied.“
Auch für eine 1928 durchgeführte Verschmelzung beider Unternehmen gibt es selbstverständlich keinen Beleg; wie auch? Tatsächlich wurde kurz zuvor die Bahnbedarf A.-G. mit der Aquila A.-G. verschmolzen und die Bahnbedarf verlor ihre Eigenständigkeit. Das Findbuch läßt die Akte Bahnbedarf A.-G. folgerichtig 1927 enden, und vielleicht hat der Autor sich sodann ausgedacht, wie es 1928 weitergegangen sein könnte.
Zusammengefaßt: Darmstädter Historiker und nunmehr auch Historikerinnen denken sich gerne einmal eine Geschichte aus, wenn sie nicht ihrem Handwerk gemäß nachforschen und die durchaus verfügbaren Quellen befragen, sondern ihr Nichtwissen kunstvoll mit phantasievollen Annahmen ausschmücken. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier nach dem Motto gehandelt wird: merkt ja keiner, prüft ja niemals je eine nach. Und wenn derlei fehlerhafte Angaben so freimütig in Publikationen und Artikeln verteilt werden, dann stellt sich grundsätzlich die Frage, welchen Angaben Darmstädter Historikerinnen und Historiker wir überhaupt vertrauen dürfen. [33]
Die Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei wird mit einer einer Zusammenfassung und einem Résumé, weshalb das Unternehmen letztlich scheitern mußte, fortgesetzt.
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Neunzehntes Kapitel zur Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt.
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