Luftbild auf das Fabrikviertel 1966.
Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt
Walter Kuhl
Luftbild auf das Fabrikviertel 1966.
Das Fabrikviertel 1966.
Deutschlandkurve in der Landwehrstraße.
Eine Deutschlandkurve.
Kreuzung Straßenbahn- mit Industriegleis.
Einfahrt zur Kirschenallee.
Abholung eines Kesselwaggons.
Ein Kesselwaggontransport.
Gleisabbau an der Schenckallee.
Abgewrackt.

Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt

Das Industrie­stammgleis „E“

Geschichte und Spurensuche an Pallas­wiesen- und Gräfenhäuser Straße

1912 erhielt das Fabrikviertel im Zuge der West­verlegung des Haupt­bahnhofs einen neuen gleisseitigen Zugang zum Güterbahnhof. Das vorhandene Industrie­stammgleis an der Nordseite der Weiterstädter (heute: Mainzer) Straße wurde verlängert und parallel hierzu ein zweites Industriegleis auf der Südseite der Straße errichtet. 1914 wurde die Anlage durch ein drittes Gleis erweitert. Mit diesem Gleis sollte die Brache entlang der südlichen Pallas­wiesenstraße und hin zur Gräfenhäuser Straße für neue Gewerbe­ansiedlungen erschlossen werden.

Von den Mitte der 1950er Jahre noch rund dreißig Anschluß­gleisen im Fabrikviertel sind nur wenige übrig geblieben; das hier besprochene Gleis ist schon vor rund einem halben Jahrhundert abgebaut oder überbaut worden. Von der Entstehungs­geschichte aus betrachtet ist „E“ das ursprünglich 1914 angelegte Gleis, während der östliche Teil von „F“ eine fünf Jahre später angelegte Erweiterung darstellt. Andererseits, wenn wir die Gleise nach dem Erhaltungs­zustand betrachten, dann ist „F“ noch weitgehend vorhanden, während „E“ nicht mehr existiert; und deshalb hier als eigenständig betrachtet wird. Und überhaupt: Zum Zwecke der Darstellung habe ich den Industrie­stamm­gleisen fiktive Buchstaben von A bis H zugewiesen. Sie tauchen daher weder in zeit­genössischen Planungen noch in Plänen und Dokumenten auf.

Luftbild 1972.

Abbildung 1: Ausschnitt aus einem Luftbild von 1972. Mit freundlicher Genehmigung des Vermessungs­amtes Darmstadt.

Das Gleis „F“ beginnt an der Rampe zur Mainzer Straße (1), kreuzt diese und das Gleis „D“ (2) und verzweigt sich am ehemaligen Anschluß Firle (3). Das Gleis „F“ führt weiter zur Kirschen­allee (4), während das Gleis „E“ die Pallas­wiesen­straße (5) und die Gräfen­häiser Straße (6) überquerte und zwischen dem Gebäude von Wolf Strauß (7) und der Fabrikhalle Paschke (8) endete.

Die Darstellung orientiert sich an erhaltenen Gleisplänen aus den 1950er und 1960er Jahren. Selbst­redend hat es hier im Detail in mehr als einhundert Jahren so manche Änderung gegeben. Auf einem an anderer Stelle dieser Webseite benutzten Lageplan von 1906 befindet sich dieses Stammgleis beim Punkt [⇒ H6], auf der Übersichtskarte zum Fabrikviertel ist es mit dem Buchstaben „E“ bezeichnet.


Von der Rampe zum Abzweig

Das 1914 gebaute Industriestammgleis nimmt seinen Weg von der Rampe zum nördlichen Gleisvorfeld des Darmstädter Haupt­bahnhofs über die Mainzer Straße, quert das weitere Industriegleis „D“ zu einem Schrott­händler, bediente zwei Anschließer samt deren Mitbenutzern und gelangt zu einer Weiche, die heute etwas unmotiviert im Gelände liegt. Dieses hier übersprungene Zwischenstück wird auf der Seite zum Gleis „F“ näher vorgestellt. Der gerade Strang geht weiter zur Kirschenallee, der Abzweig ist das im Folgenden näher betrachtete Gleis „E“.

Rampe vom Gleisvorfeld.

Bild 2: Blick von der von den Bahngleisen herführenden Rampe auf die Mainzer Straße. Das Gleis „F“ biegt am Wohnhaus nach links ab, der zweite Weichenhebel wurde passend gestellt. Aufnahme vom Mai 2009.

Weiche.

Bild 3: Weiche des Abzweigs zur Gräfen­häuser Straße. Aufnahme vom April 2011.

Gleisrest.

Bild 4: Vom Innengelände mit Blick auf die Weiche. Im Gras lugt noch die Schiene durch. Einige Jahre später hat man hier Garagen hingestellt. Aufnahme vom Januar 2011.

Gleisrest.

Bild 5: Das Gleis führte dann durch das „Tor“ in einem weiten Bogen dorthin, wo das Auto im Hintergrund abgestellt ist. Rechts das Signet eines Reifenhändlers; ab den 1950er Jahren befanden sich dort die Hallen des Textilwerkes Otto Knecht. Aufnahme vom Januar 2011.

Sandpiste und Pflastersteine

Entlang des Textilwerks Otto Knecht.
Bild 6: Gleisstück neben dem Textilwerk. Die Aufnahme wurde mir freundlicher­weise aus dem Firmenarchiv Otto Knecht zur Verfügung gestellt.

Während mit 1914 das Datum für die Anlage dieses Gleises bekannt ist, gilt dies nicht für dessen Abbau. Der amtliche Stadtplan von 1971 zeigt noch ein durchgehendes Gleis, während derjenige von 1977 nur noch einen Gleisrest südlich der Pallas­wiesen­straße aufführt. Dies läßt darauf schließen, daß das Industrie­stammgleis „E“ in der ersten Hälfte der 1970er Jahre aufgegeben wurde.

Bislang kenne ich keine weitere Aufnahme, die wenigstens ein Stückchen des Industrie­stammgleises „E“ zeigt. Das charakte­ristische Eck des Gebäudes wurde bis heute beibehalten und gibt daher eine gute Orientierung zur damaligen Gleislage. Gut möglich, daß unter dem feinen Sandschotter das Gleis noch liegt, denn es würde eine solide Unterfütterung bieten.

Der weitere Verlauf des ehemaligen Gleises ist durch die Bebauung des Geländes noch recht gut nachzu­vollziehen. Es durchquert das Gelände der Spedition Lohr und ist anschließend wieder zu Fuß abzuschreiten, bis wir die Gräfenhäuser Straße erreichen.

Die Hallen des ursprünglichen Anschließers Wolf Strauß sind längst verschwunden. Auf dem Gelände, wie sollte es auch anders sein, hat sich eine automobile Nutzung in Form einer Autowasch­anlage eingenistet.

Gleistrasse.

Bild 7: Heutiger Zustand der Gleistrasse neben dem Textilwerk kurz vor der Pallas­wiesen­straße. Aufnahme vom April 2011.

Gleistrasse.

Bild 8: Ausfahrt zur Pallas­wiesen­straße. Bei solch einer unüber­sichtlichen Situation und der bekannten Schläfrig­keit der Automobilisten wird sich der begleitende Rangierer deutlich zu erkennen gegeben haben müssen. Aufnahme vom April 2011.

Gleistrasse.

Bild 9: Gepflasterte Gleistrasse zwischen Pallaswiesen- und Gräfenhäuser Straße. Aufnahme vom April 2012.

Gräfenhäuser Straße.

Bild 10: Etwa dort, wo die beiden Bäumchen in der Bildmitte an der Straße stehen, befand sich der Bahn­ü­bergang über die Gräfenhäuser Straße. Aufnahme vom April 2012.

Die Eisengießerei Paschke

Jenseits der Gräfenhäuser Straße waren zwei Hallen angebunden. Die eine stand noch, als ich 2016 zuletzt vorbeigeschaut habe. Sie wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet; in zeitlich davor­liegenden städtischen Adreßbüchern zuvor ist kein Hinweis auf eine Bebauung zu finden. Der Gleisanschluß der Firma Paschke bildete um 1960 das nördliche Ende des städtischen Industrie­stamm­gleises „E“. Auf dem Fabrikgelände gab es einen Gleisabzweig auf das Nachbar­grund­stück. Das Restgleis bediente die Firma Paschke & Co.; es endete an einem Erdaufwurf, der als Prellbock gedient hat.

Gleisanschlußplan Paschke.

Abbildung 11: Anschlußplan der Firma Paschke & Co. in der Gräfen­häuser Straße 71 von 1959.

Ab Mitte der 1950er Jahre werden im Adreßbuch die Firma Frenzel & Co. und die Eisen­gießerei Paschke & Co., möglicher­weise aus Freiberg in Sachseb stammend, aufgeführt. Anfang der 1960er Jahre wird das Gelände von einer Papyros GmbH, einem Hersteller von Papier- und Pappen­herstellungs­maschinen übernommen. Mitte der 1980er Jahre wird die Preussag AG als Eigentümer gelistet, wovon die Reste eines Firmen­schriftzugs an der Südseite der Halle künden.

Fabrikhalle.

Bild 12: Fabrikhalle an der Gräfen­häuser Straße 71 (Südseite). Das Anschlußgleis wäre links von der Halle zu denken. Aufnahme vom April 2012.

Fabrikhalle.

Bild 13: Dieselbe Fabrikhalle vom Einkaufs­markt aus betrachtet (Nordseite). Aufnahme vom Dezember 2012.

Laderampe.

Bild 14: Die Laderampe; das Anschluß­gleis lag rechts davon. Aufnahme vom Dezember 2012.

Maschine von Paschke.

Bild 15: Innenraum mit Maschine der Maschinen­fabrik und Eisen­gießerei Paschke & Co. Quelle: Neujahrs­karte des Unternehmens vom Dezember 1958 [1].

Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war hier eine Außenstelle des städtischen Entsorgungs­unternehmens EAD zu finden, das dort seine Müllcontainer abstellen konnte. Mit dem Neubau eines Entsorgungs­zentrums auf der Knell hat die EAD das Gelände aufgegeben; es stand anschließend zum Verkauf. Als Gewerbe­fläche wollte es wohl niemand haben, und so verkaufte die Stadt Darmstadt das Gelände 2017 an einen Rendite erpichten Investor zur Errichtung eines sogenannten Boardings­houses und weiterer Wohneinheiten.

Die Straße queren

Eine Dienstanweisung der damaligen Zeit verrät uns, wie die Gräfenhäuser Straße zu überqueren ist. Derartige Anweisungen enthielten einen Standardtext, der je nach den örtlichen Gegebenheiten auch angepaßt werden konnte.

„Bevor die Gräfenhäuser­straße befahren wird, hat die Rangier­abteilung zunächst zu halten. Der Rangierleiter bestimmt einen Rangier­bediensteten, der die Sicherung des Bahnüber­gangs übernimmt. Der Bedienstete hat den Übergang so zu sichern, daß er sich mit der Brust oder dem Rücken dem Straßen­verkehr zugewendet gut sichtbar auf dem Überweg aufstellt und die Zeichen Anhalten (Hochheben eines ausgestreckten Armes) und Halt (seitlichse Ausstrecken eines oder beider Arme) gibt. Die Zeichen sind bei Dunkelheit mit rotgeblendeter Laterne möglichst gleichzeitig nach den beiden Straßen­richtungen zu geben. Die Tageszeichen werden deutlicher aufgenommen, wenn die rotweiße Flagge benutzt wird. Muß der Straßen­verkehr aus beiden Richtungen angehalten werden, so haben sich entweder 2 Rangier­bedienstete auf dem Überweg aufzustellen und die Zeichen zu geben oder der eine Bedienstete hat das zuerst angehaltene Fahrzeug, wenn nötig mündlich, zum weiteren Halten bis zur Vorbeifahrt der Rangier­abteilung aufzufordern, ehe er sich der anderen Seite des Bahnüber­gangs zuwendet. Das ‚Halt‘-Zeichen ist solange zu geben, bis das erste Schienen­fahrzeug den Bahn­ubergang befahren hat. Anschließend verläßt der Bedienstete den Übergang, ohne das Zeichen ‚Straße frei‘ zu geben.

Die Rangierabteilung hat vor dem Überweg so lange zu halten, bis sie vom Rangierleiter Weisung zur Weiterfahrt über den Übergang erhält. Der Rangierleiter darf die Weisung erst ersteilen, nachdem er das Gleistor der Firma Paschke & Co. geöffnet und unfallsicher festgelegt hat.“

Ziemlich personal­aufwendig das Ganze. Damals war der Straßenverkehr wohl wesentlich geringer als heute. Heute kann ich mir gut vorstellen, daß die mündliche Aufforderung, doch bitte anzuhalten und zu warten, großzügig ignoriert werden würde.

1958 hatte das an der Kirschenallee angesiedelte Unternehmen Röhm und Haas wegen des Gleis­anschlusses das Industrie­gelände an der Gräfen­häuser Strraße akquiriert, das durch die Schließung der Bandag-Werke frei geworden war. Die vorherige Dienst­anweisung für den Bandag-Anschluß galt ab 1. Januar 1958, die neue für Röhm und Haas ab dem 1. November 1959. Die Vorgänger von Röhm und Haas werden wir noch kennenlernen.

Gleisanschlußplan Röhm und Haas.

Abbildung 16: Anschlußplan von 1959 der Anlagen von Röhm und Haas in der Gräfen­häuser Straße 75.

Als Gleis 1 wurde in den 1950er Jahren der Abzweig aus dem kurz darauf endenden Industrie­stammgleis betrachtet. Gleis 2 war das Übergabe- und Abstellgleis auf dem ehemals Strauß'schen Gelände. Selbiges war an beiden Enden durch aufgeschraubte Radvorleger gesichert. Die Gleiswaage war achteinhalb Meter lang und hatte eine Tragfähig­keit von 25 Tonnen. Die Drehscheibe besaß einen Durchmesser von neuneinhalb Metern. Die Weiche T konnte erst aufgeschlossen werden, wenn die Drehscheibe auf das Gleis 2 ausgerichtet war. Folglich konnte die Weiche S erst dann für die Zufahrt zum Werkegelände aufgeschlossen werden, wenn die Weiche T die Einfahrt freigab. Wegen der Kreuzung mit der Gräfen­häuser Straße durfte eine Rangier­abteilung nur 14 Achsen umfassen.

Wolf Strauß, die Markthalle und Bernhard Nowak

Wolf Strauß aus Roßdorf bei Darmstadt betrieb seit dem 1. Juni 1873 eine Handel mit Lumpen und alten Metallen. Dieser war seit etwa 1896 in der Pallas­wiesen­straße 135 angesiedelt. Nach dem Tod des Inhabers an 26. September 1903 übernahm der schon ab 1896 mitbeteiligte Heinrich Strauß (wohl der Sohn) das Geschäft und lagerte es um 1904 an den Gräfenhäuser Weg aus [2]. 1913 wurde das Unternehmen nach dem Tod von Heinrich Strauß in eine G.m.b.H. umgewandelt. Der grafisch gestaltete Kopf eines Anfang 1914 versandten Briefs zeigt eine breitere und eine schmalere Halle, auf deren Innenhof sich ein Anschlußgleis mitsamt Lokomotive und fünf Güterwaggons befindet. Direkt links neben dem Firmengelände führen mehrere Gleise entlang, auf denen seltsamer­weise zwei Personenzüge jeweils auf dem linken Gleis befördert werden. Der angedeutete Gleis­anschluß soll wohl weiter nördlich auf die abgebildeten Länder­bahngleise führen. Hier ist eindeutig die Phantasie mit dem Grafiker durch­gegangen. Denn erstens befanden sich die Bahngleise viel weiter westlich und zweitens besaß die Lumpen- und Schrott­handlung Wolf Strauss niemals einen Gleis­anschluß von Norden her. [3]

Das Unternehmen fusionierte im August 1927 mit der Mannheimer Marx Maier KG zur Marx Maier Aktien­gesellschaft. Mit einem Grundkapital von 500.000 RM hielt das neue Unternehmen nicht einmal anderthalb Jahre durch. Aufgrund aufgelaufener Bankschulden in Höhe des Eigenkapitals wurde das Unternehmen ab Januar 1929 liquidiert; der Vorgang war erst im August 1938 abgeschlossen. [4]

Ab 1934 wird im Adreßbuch als Eigentümerin des Geländes an der Gräfen­häuser Straße zunächst die städtische Sparkasse, alsdann die Stadt Darmstadt selbst genannt. Seit August 1937 wurde die Halle als Darmstädter Groß­markthalle genutzt und durch zwei Buslinien mit Griesheim und der Innenstadt verbunden. [5]

Zeichnung.

Abbildung 17: Ansicht des Betriebes von Wolf Strauß mit dem Zufahrtsgleis. Zeichnung von Kurt Kretzschmar. Mit freundlicher Genehmigung des Grafikers.

Erinnerungen an das Unternehmen Wolf Strauß

Kurt Kretzschmar, von dem die Zeichnung des Hauptgebäudes mit dem Zufahrtsgleis an der Gräfen­häuser Straße stammt, lebte in den 1920er Jahren in einer Wohnung des Haupt­gebäudes auf dem Firmen­gelände. Er beschreibt das von jüdischen Eigentümern geführte Unternehmen als modern und sozial. Über den Gleis­anschluß brachten Waggons Lumpen und Knochen zum Sortieren und Weiterleiten an Händler in Süd­deutschland und däruber hinaus. Der etwa 80 Meter lange und 30 Meter breite Hauptbau besaß an der Seite zur Gräfen­häuser Straße ein Büro- und Wohnhaus. Seine Eltern wohnten in der großen Vierzimmer­wohnung im ersten Stock.

Das Haupthaus besaß ein Flachdach mit einer zehn Zentimeter hohen Kiesschicht. Auf der rechten Hälfte befanden sich eine Reihe von aufklappbaren Glasfenstern, die Tageslicht in den darunter liegenden Arbeitssaal warfen. Insgesamt beschäftigte das Unternehmen etwa 80 Männer und Frauen, davon 40 Frauen im Arbeitssaal, welche die Lumpen in Holzbehälter einzu­sortieren hatten. Das Flachdach wurde durch ein nach beiden Seiten abfallenden Ziegel­aufbau begrenzt, der das Firmenlogo auf dem Dachgrat trug. Das Flachdach endete am nördlichen Ende mit einem festen Pappdach, auf dem eine Bank stand. Von dort konnte man und frau weit nach Norden auf die Bahnstrecke nach Frankfurt und das Firmen­gelände von Merck schauen.

Links bzw. hinter von dem lang­gestreckten Hauptbau auf der Zeichnung befanden sich die Zufahrts­straße und das Kesselhaus mit seinem großen Schornstein. Dieses heizte die Räume und lieferte den Strom. Daran schloß sich ein Waschhaus mit Umkleide­räumen an. Am Ende des Geländes stand ein weiteres Gebäude, in dem die Knochen gelagert wurden. Auf dem weit­läufigen Gelände konnten die Mieter der Wohnungen Hasen und Hühner halten und die Obstbäume abernten.

Ebenfalls im hinteren Teil des Geländes muß sich die Drehscheibe befunden haben, die noch auf dem Gleisplan für Röhm & Haas in Abbildung 16 eingetragen ist. Insgesamt scheint sich die Bebauung von den 1920ern bis in die 1960er Jahre kaum verändert zu haben. [6]

Anfang der 50er Jahre finden wir hier einen Kaufmann namens Nowak, der für sein Werk in der Gräfen­häuser Straße 43-45 ein Gelände mit Bahn­anschluß gesucht und gefunden haben wird. Bernd Anton Nowak entwickelte eine Methode zur Kalter­neuerung von Reifen, die er in seinem Werk in Darmstadt geschäftlich nutzen wollte. 1957 verkaufte er jedoch die Rechte an Roy Carver, der aus den Bandag-Werken in den USA ein Geschäft machte, das um 2010 jährlich rund eine Milliarde US-Dollar umgesetzt hat. 2007 wurde Bandag von Bridgestone aufgekauft.

Somit hatte Nowak für das Gelände und den Bahnanschluß keine Verwendung mehr. Das Darmstädter Unternehmen Röhm und Haas hingegen benötigte für sein expandierendes Geschäft ein Zweigwerk, möglichst mit Bahn­anschluß wie beim Stammwerk an der Kirschenallee. Es kaufte das frei­gewordene Gelände auf und lagerte auf diesem als Werk II bezeichneten Areal seinen Versand von Burnus-Waschmitteln und Plexiglas aus, ebenso kleinere Produktions- und Forschungs­einheiten. Anfangs des 21. Jahr­hunderts wurden die Gebäude abgerissen und stattdessen eine Autowasch­anlage errichtet.

Bernhard Nowaks Bandag-Werke

„Die Firma Bandag-Wcrk Bernhard Nowak ging aus der Firma Nowak & Co. Bandag-Reifen-Besohlung, Wuppertal, welche 1940 gegründet wurde, hervor. Sie befaßte sich seinerzeit mit der Einführung des patentierten Bandag-Runder­neuerungs­verfahrens in Deutschland und den europäischen Staaten.

Ausstellung.
Bild 18: „Fabrikmäßig runderneuerte Bandag-Reifen im Bandag-Ausstellungs­pavillon der Automobil­schau 1950 in Berlin“.

Während des letzten Weltkrieges wurde Herr Bernhard Nowak von den staatlichen Stellen verpflichtet, das Bandag-Runder­neuerungs­verfahren in der damaligen kautschuk- und reifenknappen Zeit einzusetzen. Die Bewährungs­probe wurde durch ca. 100 Betriebe, die von Herrn Nowak in ganz Europa gebaut und eingerichtet wurden, mit großem Erfolg bestanden.

Nach Kriegsende wurde Herr Nowak von der britischen Militär­regierung in Schleswig-Holstein verpflichtet, dieses Verfahren in dem neu eingerichteten Betrieb der ehemaligen Torpedo-Versuchs­anstalt Eckernförde, zunächst zur Beseitigung der Reifennot, anzuwenden. Kurz nach Anlaufen dieses Betriebes befahl die britische Militär­regierung, das Bandag-Schuhbesohl-Verfahren, haupt­sächlichst für die Flücht­linge in Schleswig-Holstein, sofort fabrik­mäßig anzuwenden. Damals war es sehr schwierig, Vorrichtungen und Materialien für diese Groß­aufgaben zu beschaffen, denn alle aufgebauten Betriebe einschließlich der Verwaltung in Berlin waren durch Kriegs­einwirkung restlos verloren­gegangen. Der Betrieb Eckernförde erreichte unter Leitung des Herrn Nowak nach Anlauf von 4 Wochen eine Beschäftigungs­zahl von 250 Kräften, meist Flüchtlinge und entlassene Soldaten, die im Interesse der Versorgung auf dem Reifen- bezw. Schuh­reparatur­gebiet eingesetzt waren.

Die Firma wurde 1945 von Nowak & Co., Bandag-Reifen-Besohlung, in Bandag-Werk Bernhard Nowak umgewandelt. Von dem Betrieb Eckernförde aus wurden weitere 10 kleine Betriebe in Nord­deutschland in kurzer Zeit erstellt. Auch diese Werkstätten haben in großem Umfange geholfen, die Not an Schuh­besohl­material sowie den Reifen­mangel zu beseitigen. Zum Besohlen nach dem Bandag-Schuhbesohl-Verfahren wurde der Gummi der alten geplatzten Autoreifen als Sohlen- und Absatz­material unter Verwendung von Bandag-Selbst­vulkanisierlösung benutzt. Millionen Paar Schuhe sind in dieser schweren Zeit dauerhaft nach dem Bandag-Verfahren besohlt worden.

Im März 1946 hörte die Stadt­verwaltung Darmsladt von dem Betrieb Eckernförde. Herr Oberbürger­meister Metzger veranlaßte Herrn Nowak, nach Darmstadt zu kommen, um auch hier die Schuh- und Reifen­reparaturnot beseitigen zu helfen. Das total ausgebombte Markthallen­gelände in Darmstadt, Gräfen­häuser Straße wurde der Finna Bandag-Werk Bernhard Nowak zur Einrichtung zur Verfügung gestellt.

Ein Teil der Fachkräfte aus dem Eckernförder Betrieb übersiedelte mit nach Darmstadt. Die Bereitstellung von Wohnraum für die von auswärts über­nommenen Fachkräfte sowie die Einrichtung der Werksküche wurden zur damaligen Zeit unter den aller­größten Schwierig­keiten vorgenommen. Auch wurden einige Wohnungen in der Stadt Darmstadt durch die Firma Bandag-Werk ausgebaut.

Innerhalb weniger Wochen arbeitete dieser Bandag-Betrieb in Darmstadt auf höchsten Touren. Große Schwierig­keiten bei dem Aufbau der Gebäude und Produktions­hallen waren zu überwinden. Heute stehen ca. 3000 qm Produktions­hallen und Lagerräume zur Verfügung. Außerdem ist das Verwaltungs­gebäude von Grund auf gebaut worden.

Reifenlager.
Bild 19: „Teil eines Bandag-Lagers der US-Heeresreifen, welche auf ihre Verwertung warten.“

Ende 1946 bemühte sich Herr Nowak, von den amerikanischen Dienststellen einen Teil der dort lagernden amerikanischen Heeresreifen für die deutsche Wirtschaft zu erhalten. Nach vielen Verhandlungen mit den deutschen und amerikanischen Dienststellen wurden größte Mengen Autoreifen und andere Gummi­materialien von der US-Armee für die deutsche Wirtschaft zur Verfügung gestellt. Der Betrieb wurde für diese Aufgaben von den hessischen staatlichen Stellen als Treuhand­betrieb neben den anderen fabrikeigenen Aufgaben eingesetzt. Von dem Bandag-Werk Darmstadt aus wurden die Reifen entsprechend den Weisungen der Lenkungs­behörde auf das Vereinigte Wirtschafts­gebiet verteilt. Die Firma übernimmt heute noch laufend von der amerikanischen Armee große Mengen Gummi­materialien und versorgt damit die eigenen und viele andere Betriebe im Bundesgebiet und West-Berlin. Von Darmstadt aus wurden in Schlangenbad-Georgenborn, Laubuseschbach und in West-Berlin Zweigbetriebe errichtet.

Das Bandag-Werk befaßt sich heute, nachdem das Schuhmacher­handwerk nach der Währungs­umstellung wieder ausreichend mit dem normalen Schuh­besohlungs­material versorgt werden konnte, vornehmlich mit der fabrik­mäßigen Runder­neuerung und Reparatur von Fahrzeug­reifen aller Art.

Außerdem werden abgefahrene Autoreifen aus England, Belgien, Schweden usw. importiert, im Werk runderneuert und teilweise exportiert. Das Bandag-Werk ist daher in der Lage, den notleidenden Kraft­verkehr mit den guten und preiswerten Bandag-Reifen zu versorgen. Ferner werden verschiedene Gummiwaren hergestellt, die auch teilweise für den Export bestimmt sind. Der Betrieb ist heute mit den modernsten Maschinen ausgerüstet.

Das Bandag-Werk Darmstadt beschäftigte zeitweise bis 250 Arbeits­kräfte. Die augen­blickliche Zahl der Beschäftigten beträgt z. Zt. 100 Arbeiter und Angestellte.“ [7]

Conteiner.

Bild 20: Container­landschaft auf dem Hinterhof der Preussag-Halle. Etwa dort, wo der Grünstreifen in der Mitte endet, wird sich der Erdhügel als Gleis­abschluß des Industrie­stamm­gleises befunden haben. Aufnahme vom Mai 2011.

Preussag Halle.

Bild 21: Vorboten des Abrisses? Aufnahme vom März 2022, Bildautor: Andreas Kohlbauer.