Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt
Das Industriestammgleis „E“
Geschichte und Spurensuche an Pallaswiesen- und Gräfenhäuser Straße
1912 erhielt das Fabrikviertel im Zuge der Westverlegung des Hauptbahnhofs einen neuen gleisseitigen Zugang zum Güterbahnhof. Das vorhandene Industriestammgleis an der Nordseite der Weiterstädter (heute: Mainzer) Straße wurde verlängert und parallel hierzu ein zweites Industriegleis auf der Südseite der Straße errichtet. 1914 wurde die Anlage durch ein drittes Gleis erweitert. Mit diesem Gleis sollte die Brache entlang der südlichen Pallaswiesenstraße und hin zur Gräfenhäuser Straße für neue Gewerbeansiedlungen erschlossen werden.
Von den Mitte der 1950er Jahre noch rund dreißig Anschlußgleisen im Fabrikviertel sind nur wenige übrig geblieben; das hier besprochene Gleis ist schon vor rund einem halben Jahrhundert abgebaut oder überbaut worden. Von der Entstehungsgeschichte aus betrachtet ist „E“ das ursprünglich 1914 angelegte Gleis, während der östliche Teil von „F“ eine fünf Jahre später angelegte Erweiterung darstellt. Andererseits, wenn wir die Gleise nach dem Erhaltungszustand betrachten, dann ist „F“ noch weitgehend vorhanden, während „E“ nicht mehr existiert; und deshalb hier als eigenständig betrachtet wird. Und überhaupt: Zum Zwecke der Darstellung habe ich den Industriestammgleisen fiktive Buchstaben von A bis H zugewiesen. Sie tauchen daher weder in zeitgenössischen Planungen noch in Plänen und Dokumenten auf.
Abbildung 1: Ausschnitt aus einem Luftbild von 1972. Mit freundlicher Genehmigung des Vermessungsamtes Darmstadt.
Das Gleis „F“ beginnt an der Rampe zur Mainzer Straße (1), kreuzt diese und das Gleis „D“ (2) und verzweigt sich am ehemaligen Anschluß Firle (3). Das Gleis „F“ führt weiter zur Kirschenallee (4), während das Gleis „E“ die Pallaswiesenstraße (5) und die Gräfenhäiser Straße (6) überquerte und zwischen dem Gebäude von Wolf Strauß (7) und der Fabrikhalle Paschke (8) endete.
Die Darstellung orientiert sich an erhaltenen Gleisplänen aus den 1950er und 1960er Jahren. Selbstredend hat es hier im Detail in mehr als einhundert Jahren so manche Änderung gegeben. Auf einem an anderer Stelle dieser Webseite benutzten Lageplan von 1906 befindet sich dieses Stammgleis beim Punkt [⇒ H6], auf der Übersichtskarte zum Fabrikviertel ist es mit dem Buchstaben „E“ bezeichnet.
Von der Rampe zum Abzweig
Das 1914 gebaute Industriestammgleis nimmt seinen Weg von der Rampe zum nördlichen Gleisvorfeld des Darmstädter Hauptbahnhofs über die Mainzer Straße, quert das weitere Industriegleis „D“ zu einem Schrotthändler, bediente zwei Anschließer samt deren Mitbenutzern und gelangt zu einer Weiche, die heute etwas unmotiviert im Gelände liegt. Dieses hier übersprungene Zwischenstück wird auf der Seite zum Gleis „F“ näher vorgestellt. Der gerade Strang geht weiter zur Kirschenallee, der Abzweig ist das im Folgenden näher betrachtete Gleis „E“.
Bild 2: Blick von der von den Bahngleisen herführenden Rampe auf die Mainzer Straße. Das Gleis „F“ biegt am Wohnhaus nach links ab, der zweite Weichenhebel wurde passend gestellt. Aufnahme vom Mai 2009.
Bild 3: Weiche des Abzweigs zur Gräfenhäuser Straße. Aufnahme vom April 2011.
Bild 4: Vom Innengelände mit Blick auf die Weiche. Im Gras lugt noch die Schiene durch. Einige Jahre später hat man hier Garagen hingestellt. Aufnahme vom Januar 2011.
Bild 5: Das Gleis führte dann durch das „Tor“ in einem weiten Bogen dorthin, wo das Auto im Hintergrund abgestellt ist. Rechts das Signet eines Reifenhändlers; ab den 1950er Jahren befanden sich dort die Hallen des Textilwerkes Otto Knecht. Aufnahme vom Januar 2011.
Sandpiste und Pflastersteine
Bild 6: Gleisstück neben dem Textilwerk. Die Aufnahme wurde mir freundlicherweise aus dem Firmenarchiv Otto Knecht zur Verfügung gestellt.
Während mit 1914 das Datum für die Anlage dieses Gleises bekannt ist, gilt dies nicht für dessen Abbau. Der amtliche Stadtplan von 1971 zeigt noch ein durchgehendes Gleis, während derjenige von 1977 nur noch einen Gleisrest südlich der Pallaswiesenstraße aufführt. Dies läßt darauf schließen, daß das Industriestammgleis „E“ in der ersten Hälfte der 1970er Jahre aufgegeben wurde.
Bislang kenne ich keine weitere Aufnahme, die wenigstens ein Stückchen des Industriestammgleises „E“ zeigt. Das charakteristische Eck des Gebäudes wurde bis heute beibehalten und gibt daher eine gute Orientierung zur damaligen Gleislage. Gut möglich, daß unter dem feinen Sandschotter das Gleis noch liegt, denn es würde eine solide Unterfütterung bieten.
Der weitere Verlauf des ehemaligen Gleises ist durch die Bebauung des Geländes noch recht gut nachzuvollziehen. Es durchquert das Gelände der Spedition Lohr und ist anschließend wieder zu Fuß abzuschreiten, bis wir die Gräfenhäuser Straße erreichen.
Die Hallen des ursprünglichen Anschließers Wolf Strauß sind längst verschwunden. Auf dem Gelände, wie sollte es auch anders sein, hat sich eine automobile Nutzung in Form einer Autowaschanlage eingenistet.
Bild 7: Heutiger Zustand der Gleistrasse neben dem Textilwerk kurz vor der Pallaswiesenstraße. Aufnahme vom April 2011.
Bild 8: Ausfahrt zur Pallaswiesenstraße. Bei solch einer unübersichtlichen Situation und der bekannten Schläfrigkeit der Automobilisten wird sich der begleitende Rangierer deutlich zu erkennen gegeben haben müssen. Aufnahme vom April 2011.
Bild 9: Gepflasterte Gleistrasse zwischen Pallaswiesen- und Gräfenhäuser Straße. Aufnahme vom April 2012.
Bild 10: Etwa dort, wo die beiden Bäumchen in der Bildmitte an der Straße stehen, befand sich der Bahnübergang über die Gräfenhäuser Straße. Aufnahme vom April 2012.
Die Eisengießerei Paschke
Jenseits der Gräfenhäuser Straße waren zwei Hallen angebunden. Die eine stand noch, als ich 2016 zuletzt vorbeigeschaut habe. Sie wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg errichtet; in zeitlich davorliegenden städtischen Adreßbüchern zuvor ist kein Hinweis auf eine Bebauung zu finden. Der Gleisanschluß der Firma Paschke bildete um 1960 das nördliche Ende des städtischen Industriestammgleises „E“. Auf dem Fabrikgelände gab es einen Gleisabzweig auf das Nachbargrundstück. Das Restgleis bediente die Firma Paschke & Co.; es endete an einem Erdaufwurf, der als Prellbock gedient hat.
Abbildung 11: Anschlußplan der Firma Paschke & Co. in der Gräfenhäuser Straße 71 von 1959.
Ab Mitte der 1950er Jahre werden im Adreßbuch die Firma Frenzel & Co. und die Eisengießerei Paschke & Co., möglicherweise aus Freiberg in Sachseb stammend, aufgeführt. Anfang der 1960er Jahre wird das Gelände von einer Papyros GmbH, einem Hersteller von Papier- und Pappenherstellungsmaschinen übernommen. Mitte der 1980er Jahre wird die Preussag AG als Eigentümer gelistet, wovon die Reste eines Firmenschriftzugs an der Südseite der Halle künden.
Bild 12: Fabrikhalle an der Gräfenhäuser Straße 71 (Südseite). Das Anschlußgleis wäre links von der Halle zu denken. Aufnahme vom April 2012.
Bild 13: Dieselbe Fabrikhalle vom Einkaufsmarkt aus betrachtet (Nordseite). Aufnahme vom Dezember 2012.
Bild 14: Die Laderampe; das Anschlußgleis lag rechts davon. Aufnahme vom Dezember 2012.
Bild 15: Innenraum mit Maschine der Maschinenfabrik und Eisengießerei Paschke & Co. Quelle: Neujahrskarte des Unternehmens vom Dezember 1958 [1].
Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts war hier eine Außenstelle des städtischen Entsorgungsunternehmens EAD zu finden, das dort seine Müllcontainer abstellen konnte. Mit dem Neubau eines Entsorgungszentrums auf der Knell hat die EAD das Gelände aufgegeben; es stand anschließend zum Verkauf. Als Gewerbefläche wollte es wohl niemand haben, und so verkaufte die Stadt Darmstadt das Gelände 2017 an einen Rendite erpichten Investor zur Errichtung eines sogenannten Boardingshouses und weiterer Wohneinheiten.
Die Straße queren
Eine Dienstanweisung der damaligen Zeit verrät uns, wie die Gräfenhäuser Straße zu überqueren ist. Derartige Anweisungen enthielten einen Standardtext, der je nach den örtlichen Gegebenheiten auch angepaßt werden konnte.
„Bevor die Gräfenhäuserstraße befahren wird, hat die Rangierabteilung zunächst zu halten. Der Rangierleiter bestimmt einen Rangierbediensteten, der die Sicherung des Bahnübergangs übernimmt. Der Bedienstete hat den Übergang so zu sichern, daß er sich mit der Brust oder dem Rücken dem Straßenverkehr zugewendet gut sichtbar auf dem Überweg aufstellt und die Zeichen ‚Anhalten‘ (Hochheben eines ausgestreckten Armes) und ‚Halt‘ (seitlichse Ausstrecken eines oder beider Arme) gibt. Die Zeichen sind bei Dunkelheit mit rotgeblendeter Laterne möglichst gleichzeitig nach den beiden Straßenrichtungen zu geben. Die Tageszeichen werden deutlicher aufgenommen, wenn die rotweiße Flagge benutzt wird. Muß der Straßenverkehr aus beiden Richtungen angehalten werden, so haben sich entweder 2 Rangierbedienstete auf dem Überweg aufzustellen und die Zeichen zu geben oder der eine Bedienstete hat das zuerst angehaltene Fahrzeug, wenn nötig mündlich, zum weiteren Halten bis zur Vorbeifahrt der Rangierabteilung aufzufordern, ehe er sich der anderen Seite des Bahnübergangs zuwendet. Das ‚Halt‘-Zeichen ist solange zu geben, bis das erste Schienenfahrzeug den Bahnubergang befahren hat. Anschließend verläßt der Bedienstete den Übergang, ohne das Zeichen ‚Straße frei‘ zu geben.
Die Rangierabteilung hat vor dem Überweg so lange zu halten, bis sie vom Rangierleiter Weisung zur Weiterfahrt über den Übergang erhält. Der Rangierleiter darf die Weisung erst ersteilen, nachdem er das Gleistor der Firma Paschke & Co. geöffnet und unfallsicher festgelegt hat.“
Ziemlich personalaufwendig das Ganze. Damals war der Straßenverkehr wohl wesentlich geringer als heute. Heute kann ich mir gut vorstellen, daß die mündliche Aufforderung, doch bitte anzuhalten und zu warten, großzügig ignoriert werden würde.
1958 hatte das an der Kirschenallee angesiedelte Unternehmen Röhm und Haas wegen des Gleisanschlusses das Industriegelände an der Gräfenhäuser Strraße akquiriert, das durch die Schließung der Bandag-Werke frei geworden war. Die vorherige Dienstanweisung für den Bandag-Anschluß galt ab 1. Januar 1958, die neue für Röhm und Haas ab dem 1. November 1959. Die Vorgänger von Röhm und Haas werden wir noch kennenlernen.
Abbildung 16: Anschlußplan von 1959 der Anlagen von Röhm und Haas in der Gräfenhäuser Straße 75.
Als Gleis 1 wurde in den 1950er Jahren der Abzweig aus dem kurz darauf endenden Industriestammgleis betrachtet. Gleis 2 war das Übergabe- und Abstellgleis auf dem ehemals Strauß'schen Gelände. Selbiges war an beiden Enden durch aufgeschraubte Radvorleger gesichert. Die Gleiswaage war achteinhalb Meter lang und hatte eine Tragfähigkeit von 25 Tonnen. Die Drehscheibe besaß einen Durchmesser von neuneinhalb Metern. Die Weiche T konnte erst aufgeschlossen werden, wenn die Drehscheibe auf das Gleis 2 ausgerichtet war. Folglich konnte die Weiche S erst dann für die Zufahrt zum Werkegelände aufgeschlossen werden, wenn die Weiche T die Einfahrt freigab. Wegen der Kreuzung mit der Gräfenhäuser Straße durfte eine Rangierabteilung nur 14 Achsen umfassen.
Wolf Strauß, die Markthalle und Bernhard Nowak
Wolf Strauß aus Roßdorf bei Darmstadt betrieb seit dem 1. Juni 1873 eine Handel mit Lumpen und alten Metallen. Dieser war seit etwa 1896 in der Pallaswiesenstraße 135 angesiedelt. Nach dem Tod des Inhabers an 26. September 1903 übernahm der schon ab 1896 mitbeteiligte Heinrich Strauß (wohl der Sohn) das Geschäft und lagerte es um 1904 an den Gräfenhäuser Weg aus [2]. 1913 wurde das Unternehmen nach dem Tod von Heinrich Strauß in eine G.m.b.H. umgewandelt. Der grafisch gestaltete Kopf eines Anfang 1914 versandten Briefs zeigt eine breitere und eine schmalere Halle, auf deren Innenhof sich ein Anschlußgleis mitsamt Lokomotive und fünf Güterwaggons befindet. Direkt links neben dem Firmengelände führen mehrere Gleise entlang, auf denen seltsamerweise zwei Personenzüge jeweils auf dem linken Gleis befördert werden. Der angedeutete Gleisanschluß soll wohl weiter nördlich auf die abgebildeten Länderbahngleise führen. Hier ist eindeutig die Phantasie mit dem Grafiker durchgegangen. Denn erstens befanden sich die Bahngleise viel weiter westlich und zweitens besaß die Lumpen- und Schrotthandlung Wolf Strauss niemals einen Gleisanschluß von Norden her. [3]
Das Unternehmen fusionierte im August 1927 mit der Mannheimer Marx Maier KG zur Marx Maier Aktiengesellschaft. Mit einem Grundkapital von 500.000 RM hielt das neue Unternehmen nicht einmal anderthalb Jahre durch. Aufgrund aufgelaufener Bankschulden in Höhe des Eigenkapitals wurde das Unternehmen ab Januar 1929 liquidiert; der Vorgang war erst im August 1938 abgeschlossen. [4]
Ab 1934 wird im Adreßbuch als Eigentümerin des Geländes an der Gräfenhäuser Straße zunächst die städtische Sparkasse, alsdann die Stadt Darmstadt selbst genannt. Seit August 1937 wurde die Halle als Darmstädter Großmarkthalle genutzt und durch zwei Buslinien mit Griesheim und der Innenstadt verbunden. [5]
Abbildung 17: Ansicht des Betriebes von Wolf Strauß mit dem Zufahrtsgleis. Zeichnung von Kurt Kretzschmar. Mit freundlicher Genehmigung des Grafikers.
Erinnerungen an das Unternehmen Wolf Strauß
Kurt Kretzschmar, von dem die Zeichnung des Hauptgebäudes mit dem Zufahrtsgleis an der Gräfenhäuser Straße stammt, lebte in den 1920er Jahren in einer Wohnung des Hauptgebäudes auf dem Firmengelände. Er beschreibt das von jüdischen Eigentümern geführte Unternehmen als modern und sozial. Über den Gleisanschluß brachten Waggons Lumpen und Knochen zum Sortieren und Weiterleiten an Händler in Süddeutschland und däruber hinaus. Der etwa 80 Meter lange und 30 Meter breite Hauptbau besaß an der Seite zur Gräfenhäuser Straße ein Büro- und Wohnhaus. Seine Eltern wohnten in der großen Vierzimmerwohnung im ersten Stock.
Das Haupthaus besaß ein Flachdach mit einer zehn Zentimeter hohen Kiesschicht. Auf der rechten Hälfte befanden sich eine Reihe von aufklappbaren Glasfenstern, die Tageslicht in den darunter liegenden Arbeitssaal warfen. Insgesamt beschäftigte das Unternehmen etwa 80 Männer und Frauen, davon 40 Frauen im Arbeitssaal, welche die Lumpen in Holzbehälter einzusortieren hatten. Das Flachdach wurde durch ein nach beiden Seiten abfallenden Ziegelaufbau begrenzt, der das Firmenlogo auf dem Dachgrat trug. Das Flachdach endete am nördlichen Ende mit einem festen Pappdach, auf dem eine Bank stand. Von dort konnte man und frau weit nach Norden auf die Bahnstrecke nach Frankfurt und das Firmengelände von Merck schauen.
Links bzw. hinter von dem langgestreckten Hauptbau auf der Zeichnung befanden sich die Zufahrtsstraße und das Kesselhaus mit seinem großen Schornstein. Dieses heizte die Räume und lieferte den Strom. Daran schloß sich ein Waschhaus mit Umkleideräumen an. Am Ende des Geländes stand ein weiteres Gebäude, in dem die Knochen gelagert wurden. Auf dem weitläufigen Gelände konnten die Mieter der Wohnungen Hasen und Hühner halten und die Obstbäume abernten.
Ebenfalls im hinteren Teil des Geländes muß sich die Drehscheibe befunden haben, die noch auf dem Gleisplan für Röhm & Haas in Abbildung 16 eingetragen ist. Insgesamt scheint sich die Bebauung von den 1920ern bis in die 1960er Jahre kaum verändert zu haben. [6]
Anfang der 50er Jahre finden wir hier einen Kaufmann namens Nowak, der für sein Werk in der Gräfenhäuser Straße 43-45 ein Gelände mit Bahnanschluß gesucht und gefunden haben wird. Bernd Anton Nowak entwickelte eine Methode zur Kalterneuerung von Reifen, die er in seinem Werk in Darmstadt geschäftlich nutzen wollte. 1957 verkaufte er jedoch die Rechte an Roy Carver, der aus den Bandag-Werken in den USA ein Geschäft machte, das um 2010 jährlich rund eine Milliarde US-Dollar umgesetzt hat. 2007 wurde Bandag von Bridgestone aufgekauft.
Somit hatte Nowak für das Gelände und den Bahnanschluß keine Verwendung mehr. Das Darmstädter Unternehmen Röhm und Haas hingegen benötigte für sein expandierendes Geschäft ein Zweigwerk, möglichst mit Bahnanschluß wie beim Stammwerk an der Kirschenallee. Es kaufte das freigewordene Gelände auf und lagerte auf diesem als Werk II bezeichneten Areal seinen Versand von Burnus-Waschmitteln und Plexiglas aus, ebenso kleinere Produktions- und Forschungseinheiten. Anfangs des 21. Jahrhunderts wurden die Gebäude abgerissen und stattdessen eine Autowaschanlage errichtet.
Bernhard Nowaks Bandag-Werke
„Die Firma Bandag-Wcrk Bernhard Nowak ging aus der Firma Nowak & Co. Bandag-Reifen-Besohlung, Wuppertal, welche 1940 gegründet wurde, hervor. Sie befaßte sich seinerzeit mit der Einführung des patentierten Bandag-Runderneuerungsverfahrens in Deutschland und den europäischen Staaten.
Bild 18: „Fabrikmäßig runderneuerte Bandag-Reifen im Bandag-Ausstellungspavillon der Automobilschau 1950 in Berlin“.
Während des letzten Weltkrieges wurde Herr Bernhard Nowak von den staatlichen Stellen verpflichtet, das Bandag-Runderneuerungsverfahren in der damaligen kautschuk- und reifenknappen Zeit einzusetzen. Die Bewährungsprobe wurde durch ca. 100 Betriebe, die von Herrn Nowak in ganz Europa gebaut und eingerichtet wurden, mit großem Erfolg bestanden.
Nach Kriegsende wurde Herr Nowak von der britischen Militärregierung in Schleswig-Holstein verpflichtet, dieses Verfahren in dem neu eingerichteten Betrieb der ehemaligen Torpedo-Versuchsanstalt Eckernförde, zunächst zur Beseitigung der Reifennot, anzuwenden. Kurz nach Anlaufen dieses Betriebes befahl die britische Militärregierung, das Bandag-Schuhbesohl-Verfahren, hauptsächlichst für die Flüchtlinge in Schleswig-Holstein, sofort fabrikmäßig anzuwenden. Damals war es sehr schwierig, Vorrichtungen und Materialien für diese Großaufgaben zu beschaffen, denn alle aufgebauten Betriebe einschließlich der Verwaltung in Berlin waren durch Kriegseinwirkung restlos verlorengegangen. Der Betrieb Eckernförde erreichte unter Leitung des Herrn Nowak nach Anlauf von 4 Wochen eine Beschäftigungszahl von 250 Kräften, meist Flüchtlinge und entlassene Soldaten, die im Interesse der Versorgung auf dem Reifen- bezw. Schuhreparaturgebiet eingesetzt waren.
Die Firma wurde 1945 von Nowak & Co., Bandag-Reifen-Besohlung, in Bandag-Werk Bernhard Nowak umgewandelt. Von dem Betrieb Eckernförde aus wurden weitere 10 kleine Betriebe in Norddeutschland in kurzer Zeit erstellt. Auch diese Werkstätten haben in großem Umfange geholfen, die Not an Schuhbesohlmaterial sowie den Reifenmangel zu beseitigen. Zum Besohlen nach dem Bandag-Schuhbesohl-Verfahren wurde der Gummi der alten geplatzten Autoreifen als Sohlen- und Absatzmaterial unter Verwendung von Bandag-Selbstvulkanisierlösung benutzt. Millionen Paar Schuhe sind in dieser schweren Zeit dauerhaft nach dem Bandag-Verfahren besohlt worden.
Im März 1946 hörte die Stadtverwaltung Darmsladt von dem Betrieb Eckernförde. Herr Oberbürgermeister Metzger veranlaßte Herrn Nowak, nach Darmstadt zu kommen, um auch hier die Schuh- und Reifenreparaturnot beseitigen zu helfen. Das total ausgebombte Markthallengelände in Darmstadt, Gräfenhäuser Straße wurde der Finna Bandag-Werk Bernhard Nowak zur Einrichtung zur Verfügung gestellt.
Ein Teil der Fachkräfte aus dem Eckernförder Betrieb übersiedelte mit nach Darmstadt. Die Bereitstellung von Wohnraum für die von auswärts übernommenen Fachkräfte sowie die Einrichtung der Werksküche wurden zur damaligen Zeit unter den allergrößten Schwierigkeiten vorgenommen. Auch wurden einige Wohnungen in der Stadt Darmstadt durch die Firma Bandag-Werk ausgebaut.
Innerhalb weniger Wochen arbeitete dieser Bandag-Betrieb in Darmstadt auf höchsten Touren. Große Schwierigkeiten bei dem Aufbau der Gebäude und Produktionshallen waren zu überwinden. Heute stehen ca. 3000 qm Produktionshallen und Lagerräume zur Verfügung. Außerdem ist das Verwaltungsgebäude von Grund auf gebaut worden.
Bild 19: „Teil eines Bandag-Lagers der US-Heeresreifen, welche auf ihre Verwertung warten.“
Ende 1946 bemühte sich Herr Nowak, von den amerikanischen Dienststellen einen Teil der dort lagernden amerikanischen Heeresreifen für die deutsche Wirtschaft zu erhalten. Nach vielen Verhandlungen mit den deutschen und amerikanischen Dienststellen wurden größte Mengen Autoreifen und andere Gummimaterialien von der US-Armee für die deutsche Wirtschaft zur Verfügung gestellt. Der Betrieb wurde für diese Aufgaben von den hessischen staatlichen Stellen als Treuhandbetrieb neben den anderen fabrikeigenen Aufgaben eingesetzt. Von dem Bandag-Werk Darmstadt aus wurden die Reifen entsprechend den Weisungen der Lenkungsbehörde auf das Vereinigte Wirtschaftsgebiet verteilt. Die Firma übernimmt heute noch laufend von der amerikanischen Armee große Mengen Gummimaterialien und versorgt damit die eigenen und viele andere Betriebe im Bundesgebiet und West-Berlin. Von Darmstadt aus wurden in Schlangenbad-Georgenborn, Laubuseschbach und in West-Berlin Zweigbetriebe errichtet.
Das Bandag-Werk befaßt sich heute, nachdem das Schuhmacherhandwerk nach der Währungsumstellung wieder ausreichend mit dem normalen Schuhbesohlungsmaterial versorgt werden konnte, vornehmlich mit der fabrikmäßigen Runderneuerung und Reparatur von Fahrzeugreifen aller Art.
Außerdem werden abgefahrene Autoreifen aus England, Belgien, Schweden usw. importiert, im Werk runderneuert und teilweise exportiert. Das Bandag-Werk ist daher in der Lage, den notleidenden Kraftverkehr mit den guten und preiswerten Bandag-Reifen zu versorgen. Ferner werden verschiedene Gummiwaren hergestellt, die auch teilweise für den Export bestimmt sind. Der Betrieb ist heute mit den modernsten Maschinen ausgerüstet.
Das Bandag-Werk Darmstadt beschäftigte zeitweise bis 250 Arbeitskräfte. Die augenblickliche Zahl der Beschäftigten beträgt z. Zt. 100 Arbeiter und Angestellte.“ [7]
Bild 20: Containerlandschaft auf dem Hinterhof der Preussag-Halle. Etwa dort, wo der Grünstreifen in der Mitte endet, wird sich der Erdhügel als Gleisabschluß des Industriestammgleises befunden haben. Aufnahme vom Mai 2011.
Bild 21: Vorboten des Abrisses? Aufnahme vom März 2022, Bildautor: Andreas Kohlbauer.