Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt
Das Industriestammgleis „F“
Geschichte und Spurensuche zwischen Mainzer und Pallaswiesenstraße
1912 erhielt das Fabrikviertel im Zuge der Westverlegung des Hauptbahnhofs einen neuen gleisseitigen Zugang zum Güterbahnhof. Das vorhandene Industriestammgleis an der Nordseite der Weiterstädter (heute: Mainzer) Straße wurde verlängert und parallel hierzu ein zweites Industriegleis auf der Südseite der Straße errichtet. 1914 wurde die Anlage durch ein drittes Gleis erweitert. Mit diesem Gleis sollte die Brache entlang der südlichen Pallaswiesenstraße und hin zur Gräfenhäuser Straße für neue Gewerbeansiedlungen erschlossen werden.
„Anerkennenswerterweise hat die Stadtverordnetenversammlung in Darmstadt die Ausführung eines weiteren Industriestammgleises, abzweigend von den vorhandenen Gleisanlagen in der Weiterstädterstraße nach Norden bis zum Gräfenhäuserweg genehmigt und die erforderlichen Mittel für den Geländeerwerb und die Ausführungen der Anlage zur Verfügung gestellt. Durch die neue Gleisanlage, die das Gelände zwischen Weiterstädterstraße und Gräfenhäuserweg durchschneidet, wird die Möglichkeit für weitere Gleisanschlüsse geboten und ein weiteres Gebiet für Industriezwecke eröffnet. Hoffentlich wird diese Maßnahme die Industrieentwickelung Darmstadts weiter fördern.“ [1]
Diese vorausschauende Planung erlitt einen Dämpfer durch Deutschlands Entscheidung, einen Weltkrieg loszutreten. 1914 scheint mit der Lumpenhandlung von Wolf Strauß an der Gräfenhäuser Straße nur ein Gewerbebetrieb einen Gleisanschluß erhalten zu haben. 1919 erhielt das Industriestammgleis auf halbem Weg einen Abzweig in Richtung Kirschenallee. Zunächst wurde die Möbelfabrik Alter, ein Jahr später die „Maschinenbauanstalt und Dampfkesselfabrik vormals Venuleth & Ellenberger und Göhrig & Leuchs“ (ja, der Firmenname war so lang!) angebunden.
Von den Mitte der 1950er Jahre noch rund dreißig Anschlußgleisen im Fabrikviertel sind nur wenige übrig geblieben; das hier besprochene Gleis wurde im Januar 2022 durch eine Sh 2-Scheibe abgesperrt und wird damit wohl endgültig aufgegeben. 2022 werden somit nur noch die Autologistik am ehemaligen Bahnbetriebswerk, Hofmann-Rieg und Evonik an der Kreuzung Mainzer und Landwehrstraße mit der Kirschenallee, sowie am Nordbahnhof Merck angefahren. Ob Donges wenigstens ab und zu noch bedient wird, ist mir nicht bekannt.
Zum Zwecke der Darstellung habe ich den Industriestammgleisen fiktive Buchstaben von A bis H zugewiesen. Sie tauchen daher weder in zeitgenössischen Planungen noch in Plänen und Dokumenten auf. Auch wenn es historisch nicht ganz paßt, wird der Gleisstrang von der Mainzer Straße zur Kirschenallee mit dem Buchstaben „F“ bezeichnet und das ursprünglichere Gleis zur Gräfenhäuser Straße mit dem Buchstaben „E“. Bei manchen Gewerbebetrieben ist vor 1960 nicht sicher auszumachen, ob sie an „E“ oder „F“ angebunden waren.
Folgende frühe Anschließer sind bekannt:
- Wolf Strauß an der Gräfenhäiser Straße 75, ab 1914.
- Hofmöbelfabrik Ludwig Alter an der Kirschenallee 88, ab 1919.
- Maschinenbauanstalt und Dampfkesselfabrik an der Pallaswiesenstraße 122, ab 1920.
- Das Holzgeschäft von Jakob Hoffmann an der Pallaswiesenstraße 172, ab 1922.
- Simon Neumann an der Pallaswiesenstraße 154, ab 1925.
Wann der in den 1950er und 1960er Jahren genutzte Gleisanschluß des Kohlenhandels Klöckner angelegt und wieder stillgelegt wurde, ist unbekannt.
Die Darstellung orientiert sich an erhaltenen Gleisplänen aus den 1950er und 1960er Jahren. Selbstredend hat es hier im Detail in mehr als einhundert Jahren so manche Änderung gegeben. Auf einem an anderer Stelle dieser Webseite benutzten Lageplan von 1906 befindet sich dieses Stammgleis beim Punkt [⇒ H4], auf der Übersichtskarte zum Fabrikviertel ist es mit dem Buchstaben „F“ bezeichnet.
Das noch vorhandene Gleis ist auf der gesamten Länge bis zur Kirschenallee frei begehbar. Diese Art Trampelpfad wird auch genutzt, weshalb von zerbrochenen Glasflaschen über allerlei Plastikmüll bis hin zu ganzen Einkaufswagen die gesamte Palette zivilisatorischer Abfälle anzutreffen sind. Darüber können wir uns aufregen oder es auch sein lassen. Schließlich verklappen europäische Konzerne ihren Müll im Meer oder lassen ihn zu Hungerlöhnen von asiatischen oder afrikanischen Halbsklaven auf großen Müllhalden auf industriell wiederverwertbare Reste durchforsten.
Abzweige und Kreuzungen
Abbildung 1: Ausschnitt aus einem 1962 aus etwa fünf Kilometern Höhe angefertigten Luftbild der Stadt Darmstadt. Mit freundlicher Genehmigung des Vermessungsamtes Darmstadt.
Das Gleis „F“ beginnt am Ende der Rampe auf Höhe von Reinhardt & Co. (1), bediente den Kohlehandel Klöckner (2), Firle (3), Donges (4), Knecht (5), und endete bei Venuleth und Ellenberger auf der östlichen Seite der Kirschenallee (7). Das heutige Haus für Industriekultur (6) besaß einst ebenfalls einen Gleisanschluß. Auf halbem Weg zweigt nach Nordosten das Gleis „E“ (8) ab.
Das 1914 angelegte Industriestammgleis „F“ zweigt an der Rampe zum nördlichen Gleisvorfeld von den Gleisen „A“ und „B“ mittels einer zweigeteilten Weiche ab. Die zugehörigen Weichenhebel erlebte ich von 2008 bis 2016 mal in der einen, mal in der anderen Stellung; dies geschah jedoch nicht als Folge einer vorangegangenen Rangierfahrt. In dem Gebäude der ehemaligen Bahnmeisterei hatte sich eine Diskothek etabliert; und die nächtlichen Spielkinder machten sich vor lauter Übermut einen Spaß daraus, die Hebel umzulegen.
Bild 2: Rampe des Zuführungsgleises vom nördlichen Gleisvorfeld (des Hauptbahnhofs) her. Links die ehemalige Bahnmeisterei, dahinter die ehemalige Turmwagenhalle, heute ebenfalls eine Event-Location. Aufnahme vom Dezember 2009.
Bild 3: In der Gegenrichtung blicken wir auf die Mainzer Straße. Das Gleis „F“ biegt am Wohnhaus nach links ab, der zweite Weichenhebel wurde passend gestellt. Aufnahme vom Mai 2009.
Bild 4: Das Gleis überquert nun die Mainzer Straße und verschwindet im Gebüsch. Aufnahme vom August 2008.
Im Oktober 2010 wurde dieses Gleis, wohl in städtischem Auftrag, im Bereich der Mainzer Straße freigelegt und geschärft, obwohl schon damals kaum damit zu rechnen war, daß hierauf jemals wieder ein Güterzug verkehrt. Die Angelegenheit erscheint noch kurioser dadurch, daß das die Straße querende Gleis – im Zuge von sicherlich 2010 schon bekannten, weil lange vorher geplanten, Kanalbauarbeiten zwischen August 2012 und Juli 2013 – komplett durch einen frischen Schienenstrang erneuert wurde. Bei dieser Gelegenheit habe ich ein einziges Mal ein Gefährt auf dem Gleis gesehen; und das war auch noch ein Zweiwegebagger.
Bild 5: Zweiwegefahrzeug auf dem Gleis im April 2013.
Kurz darauf kreuzt das Gleis „F“ an der Kreuzung 8 das kurze Industriestammgleis „D“, das zu Anfang des 21. Jahrhunderts nur noch zum Schrotthandel von Heckmann und Assmuth führte und in den 1960er Jahren noch über die Pallaswiesenstraße reichte.
Das gesamte Industriestammgleis besteht aus mehr oder weniger alten und zum Teil zweitverwerteten Schienen, deren wohl älteste von 1897 stammt. Diese Schiene fand ich zwischen der Mainzer Straße und dem Gleiskreuz. Siehe hierzu auch meine kleine Dokumentationsseite zu Schienenprofilen und Walzzeichen.
Als Anschließer der Industriestammgleise tritt die Stadt Darmstadt auf. Ein- oder zweimal im Jahr ließ sie den langen Gleisbogen des Gleises „F“ von Brombeerranken und kleinen Sträuchern freischneiden, die sich auf dem Gleisbett ausbreiten konnten, da ja nie ein Zug vorbeigekommen war. Dies dürfte ab 2022 auch Geschichte sein.
Bild 6: Die Gleiskreuzung 8 im August 2008. Links geht es zum Schrotthändler.
Bild 7: Am Morgen des 8. Juni 2016 sammelten zwei städtische Bedienstete den achtlos weggeworfenen Müll auf dem Gleis ein und ließen hierzu ihr kleines Müllfahrzeug die Schwellen entlanghoppeln. Aufnahme: Andreas Kohlbauer.
Bild 8: Das auf den beiden vorherigen Bildern schon zu erkennende Sperrsignal kurz vor dem Anschluß des Kohlenhandels Klöckner. Aufnahme vom August 2008.
Kohlen, Beton und mehr
Nach den vorhandenen Gleisplänen verband das Gleis „F“ um 1960 folgende Anlieger mit der Außenwelt: den Kohlenhandel Klöckner, die Festa-Bau, die Unternehmen Esswein und Firle, das Industriestammgleis „E“, den Textilbetrieb von Otto Knecht, den Gewerbebetrieb Fischer auf dem Gelände der Adam Opel AG, die Nordzufahrt des Stahlbauers Donges, und jenseits der Kirschenallee Venuleth & Ellenberger. Die geschwungene Gleisführung ist dem Umstand geschuldet, mit dem Industriestammgleis zum einen die Betriebe südlich der Pallaswiesenstraße anzubinden, zum anderen auf der Nordseite des Donges-Geländes zu verbleiben.
Bild 9: Das Industriestammgleis zwischen Heckmann & Assmuth und dem Textilwerk Otto Knecht. Mittendrin, wenn auch nicht einfach zu entdecken, befinden zunächst der Anschluß Klöckner und weiter hinten, kurz vor der Kurve, der Abzweig zur Gräfenhäuser Straße (Gleis „E“). Am linken Bildrand steht eine Überwachungskamera. Aufnahme vom April 2009.
Bild 10: Vom Anschlußgleis Klöckner ist nur die Weiche 10 samt Hebel erhalten. Ob auf dem angeschlossenen Grundstück noch Schienenreste liegen, entzieht sich meiner Kenntnis. Aufnahme vom Dezember 2012.
Eine kunterbunte Mischung von Güterwaggons
„§ 2 – Beschreibung und Zweck des Anschlusses
Der Gleisanschluß zweigt an der Anschlußweiche A aus dem Städtischen Industriegleis Güterbahnhof – Bandagwerke ab, verläuft in einem Bogen, der sich allmählich von 180 m Halbmesser bis zu 35 m Halbmesser verstärkt, nach Norden und führt durch ein Tor zum Lagerplatz der Firma Klöckner. Das Gleis ist innerhalb des Lagerplatzes durch einen Prellbock abgeschlossen. Seine nutzbare Länge beträgt 90 m, davon liegen 23,50 m zwischen Gleissperre (gleichzeitig Halt für Bundesbahnlok) und Eingangstor und 66,50 m innerhalb des Lagerplatzes. Übergabestelle der Wagen ist das Gleisstück zwischen Gleissperre und Eingangstor. Sie ist durch ein Schild ‚Halt für Bundesbahnlok‘ gekennzeichnet. Die maßgebende Neigung des Anschlusses beträgt 1:105 und erstreckt sich auf eine Länge von 75 m. Der Anschluß dient der Zuführung und der Abholung der für die Firma Klöckner, Kohlenhandel GmbH bestimmten Wagen.
§ 3 – Sicherungseinrichtungen
Die Anschlußweiche A ist eine Handweiche ohne Weichensignal. Sie ist frei bedienbar. 2,50 m hinter dem Grenzzeichen der Weiche befindet sich auf dem Anschlußgleis eine handbediente Gleissperre, die mit einem Vorhängeschloß gesichert ist. Den Schlüssel hierfür hat der Lagerverwalter der Firma Klöckner in Besitz. […]
§ 5 – Bedienungsfahrten
[…] Da nur ein Anschlußgleis vorhanden ist, können nicht gleichzeitig Wagen zugestellt und abgeholt werden. Sind Wagen zuzustellen und abzuholen, dann müssen zuerst die an der Übergabestelle stehenden Wagen abgeholt und anschließend die bereitzustellenden Wagen zugeführt werden. Die Wagen werden bei der Zuführung vom Güterbahnhof bis zur Anschlußweiche gezogen und in den Anschluß geschoben. Bei der Abholung werden die Wagen aus dem Anschluß gezogen und bis in den Güterbahnhof geschoben. [2]
[…] Bei der Bedienung des Gleisanschlusses Bandagwerke, Fischer, Venuleth & Ellenberger durch eine geschobene Rangierabteilung führt die Lok die Wagen für den Anschluß der Firma Klöckner hinter sich mit. Nachdem die Rangierabteilung die Anschlußweiche A freigezogen hat, die Gleissperre und das Tor geöffnet sind, legt der Rangierleiter die Weiche nach dem Anschlußgleis und gibt Signal zum Zurückdrücken. Die Lok schiebt dann die Wagen vorsichtig in Schrittgeschwindigkeit in das Anschlußgleis und stellt sie an der durch ein Schild mit der Aufschrift „Halt für Bundesbahnlokomotiven“ gekennzeichneten Übergabestelle ab. Jedoch dürfen wegen der starken Krümmung des Anschlußgleises und der damit verbundenen Gefahr des Verfangens der Puffer höchstens 2 Wagen (Om-Wagen) gleichzeitig zugeführt werden. […]“
Quelle: Dienstanweisung für die Bedienung des Privatgleisanschlusses der Firma Klöckner, Kohlenhandel GmbH, Frankfurt (M) vom 4. Mai 1955, gültig ab 1. Juni 1955.
Der Einsatz von Radvorlegern und das Anziehen von Handbremsen, soweit vorhanden, waren aufgrund der Wegrollgefahr vorgeschrieben. Bei der Abholung galt im Prinzip der umgekehrte Vorgang. Aufgrund der starken Krümmung besaß das Anschlußgleis eine Leitschiene.
Bild 11: Nur wenige Meter nach der Klöckner-Weiche zweigte nach links die Weiche für den Gleisanschluß Firle ab. Das Anschlußgleis müßte daran anschließend anstelle des gestreiften Gebäudes gelegen haben. Aufnahme vom April 2011.
Abbildung 12: Lageplan für den Gleisanschluß Rudolf Firle von 1955. Daneben verschwindet als langgezogene Kurve zum rechten Bildrand hin das Industriestammgleis „E“, während das Gleis „F“ am unteren Bildrand fortgesetzt wird.
Der Gleisanschluß Firle besaß drei Ladestellen an drei angrenzenden Grundstücken, sodaß hier die Güterwagen in einer bestimmten Reihenfolge gekuppelt werden mußten. Zuvorderst befanden sich diejenigen für die Firma Firle, dann kamen diejenigen für die Firma Esswein (Pallaswiesenstraße Nr. 166), zuletzt diejenigen der Festa-Bau (Pallaswiesenstraße Nr. 174, ab etwa 1956 Darmstädter Betonbau GmbH). Im Hof der Firma Firle war eine weitere Weiche B vorhanden, deren ehemaliger südlicher Gleisstumpf 1955 jedoch schon ausgebaut war. Laut Dienstanweisung für dieses Anschlußgleis betrieb das Unternehmen von Rudolf Firle in der Pallaswiesenstraße Nr. 160 die Montage und Verwertung industrieller Anlagen; was immer sich hinter dieser allgemein gehaltenen Bezeichnung verborgen haben mag. Das Anschlußgleis muß dort geendet haben, wo sich heute ein Reifenservice befindet. Es handelt sich um denselben Anschluß, der in den 1920er Jahren zum Holzgeschäft von Jakob Hoffmann gehört hat.
Bild 13: Büro- bzw. Fabrikgebäude, in dem die Essweins ihre ODO-Schreibmaschinen fertigen ließen (Gleisseite). Aufnahme vom September 2013.
Bild 14: Dasselbe Gebäude mit Zugang von der Pallaswiesenstraße. Aufnahme vom Dezember 2015.
Die ODO-Maschinenfabrik von Eugen Esswein
Gründer des Unternehmens waren die Brüder Eugen und Richard Esswein, die 1920 nach Darmstadt kamen. Benannt soll die Firma im Gedenken an den Bruder des Firmengründers, den Jagdflieger Otto (deutsch-nationalistisch: Odo), worden sein. Zuvor betrieben die Brüder ihre Firma in Straßburg, dort wurden sie jedoch als Folge des Ersten Weltkriegs ausgewiesen. Ab 1921 produzierte die Firma in Darmstadt eine selbstkonstruierte Schreibmaschine, evtl. anfangs bei einer Fremdfirma, bald jedoch in einem angemieteten Fabrikgebäude in der Magdalenenstraße 17. 1922 wurde die Odo-Maschinenfabrik GmbH (Odoma) gegründet. Gesellschafter waren die beiden Brüder, sowie Eugens Ehefrau Stella nebst deren Vater Jakob Hoffmann (auf den das Anschlußgleis zugelassen war). 1924 wurde das Firmengebäude in der Pallaswiesenstraße errichtet. Als Folge der Weltwirtschaftskrise sank Ende der 1920er Jahre der Absatz derart, daß alle Gesellschafter mit Ausnahme von Eugen Esswein und seiner Frau aus der Gesellschaft austraten und Esswein die Firma anschließend 1931 liquidierte. 1935 ließ er eine Nachfolgefirma als Spezialfabrik für Präzisionstechnik ins Handelsregister eintragen. Nach US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft kam Esswein kurz nach Darmstadt, lebte einige Jahre in der Nähe von Limburg, um sich von 1951 bis 1955 erneut in Darmstadt aufzuhalten. Anschließend zog es das Ehepaar nach München. Das weitere Schicksal der Firma wäre noch zu ergründen.
Abbildung 15: Annonce der Odo-Maschinenfabrik im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 12. Juli 1924.
Über die Schwierigkeiten des kleinen Darmstädter Unternehmens, in den wirtschaftlich schwierigen Zeiten der 1920er Jahre gegenüber der zunehmend monopolistisch organisierten Konkurrenz zu bestehen, informiert ein Schriftsatz aus dem hessischen Ministerium für Arbeit und Wirtschaft vom 20. Mai 1926. Auf dieser Grundlage fragte das Innenministerium bei den untergeordneten Kreisämtern und der Verwaltung der Polizei nach, ob eine Beschaffung in Frage komme. Das Ministerium bezieht sich hierbei auf die Reichsverordnung betr. Maßnahmen gegenüber Betriebsabbrüchen und -stillegungen vom 8. November 1920. Der Beschaffungspreis betrage bei einer größeren gemeinsamen Bestellung 300 Reichsmark.
„Die Odo-Maschinenfabrik ist die einzige hessische Schreibmaschinenfabrik, die auf das Modernste zur Serienfabrikation eingerichtet ist. Sie liefert seit nahezu 5 Jahren ODOMA-Schreibmaschinen, die sich während dieser Zeit als erstklassige Standardmaschine bewährte und ganz besonders als für den Behördengebrauch hinsichtlich Leistung und Strapazierfähigkeit erwiesen hat.
Dies geht aus den vorliegenden behördlichen Gutachten hervor, auf was ich ganz besonders hinweisen möchte. Der außerhessischen Konkurrenz ist es wiederholt gelungen größere, geschlossene Aufträge von den Reichsbehörden hereinzunehmen und hat diese Tatsache wesentlich dazu beigetragen, daß die betreffenden Fabriken über die großen, derzeitigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten hinwegkommen. Da das einzige, hessische Fabrikat, die ODOMA-Schreibmaschine, wie einwandfrei bewiesen ist, den außerhessischen Fabrikaten in keiner Weise nachsteht und im Preise ebenso vorteilhaft geliefert werden kann, wie die außerhessisohen Fabrikate, so besteht wohl für die hessische Industrie ein gewisses Anrecht, ein größeres Kontingent in Schreibmaschinenlieferungen zugeteilt zu bekommen. Die deutsche Händlerschaft wehrt sich wohl gegen einen geschlossenen Einkauf seitens der Behörden, doch gilt es zunächst der Produktion vor allen Dingen unter die Arme zu greifen, wenn die Industrie erhalten werden soll und diese Hilfe wird nur deshalb in größerem Umfange seitens des Landes möglich sein, wenn auch der Einkauf in Rücksicht auf die notwendigen Sparmaßnahmen für das Land so vorteilhaft wie möglich erfolgen kann und dies kann nur geschehen durch direkten Einkauf bei der Produktionsstätte selhst, zumal die Firma 400 Arbeitslose einstellen könnte.
Vorstehende Ausführungen gelten sinngemäß auch für den geschlossenen Einkauf von Schreibmaschinen durch die einzelnen hessischen Ministerien. Das Hessische Justizministerium kauft bereits seit Jahren in geschlossenen Posten ein und auch das hessische Finanzministerium ist teilweise diesem Beispiel gefolgt. Wir zweifeln nicht, daß auch die übrigen Ministerien fü die unterstellten Verwaltungen beim Einkauf von Schreibmaschinen in geschlossenen Posten vorteilhafter und wirtschaftlicher beliefert werden, als wie bisher.
Nur durch das Hereinbringen größerer Aufträge ist es möglich, die einzige, hessische Schreibmaschinenfabrik zu erhalten und über die schwere, wirtschaftliche Zeit hinwegzubringen. Ich bitte um entsprechende Unterstützung der Firma.“
Ich gebe zu: die dahinter steckende Logik werde ich nie verstehen. Demnach ist es besser, Armut und Elend zu externalisieren und die Arbeitslosen der einzelnen Regionen, Staaten oder Kontinente gegeneinander auszuspielen. Der damit verbundene Subventionswettlauf nutzt allenfalls den Betriebsinhabern und – nachgeordnet – denjenigen Beschäftigten, die auf Kosten anderer nunmehr nicht Beschäftigter ein mageres Einkommen finden können. Diese absurde Logik nennt sich Standortpolitik und wird insbesondere von unsolidarischen Gewerkschaften begrüßt. Im Grunde ist es nämlich einerlei, von welcher Fabrik die Behörden ihre Schreibmaschinen beziehen. Anstatt deren Inhaber mit Sonderaufträgen zu mästen, wäre es wohl angebrachter, über eine adäquate Sozialpolitik sicherzustellen, daß die von ihren Bossen eiskalt auf die Straße gesetzten Arbeitslosen weder hungern noch frieren müssen. Daß eine derartige Sozialpolitik der Logik des Kapitals widerspricht, bedarf wohl keiner weiteren Erwähnung. – Um auf den konkreten Fall zurückzukommen: wieviele Schreibmaschinen müssen produziert werden, um 400 Arbeitslose zum Dumpinglohn dauerhaft zu beschäftigen? Ich vermute einmal, daß es so viele Behörden mit Maschinenbedarf gar nicht geben kann. Der Ausgang dieser Episode ist unbekannt. [3]
Bild 16: Gewerbefläche mit Parkplätzen zwischen Pallaswiesenstraße und dem Industriestammgleis. Der Firle-Anschluß müßte etwa am rechten Eck des Holzgebäudes vorbei in einem Bogen hin zu dem Kubus hinter den Fahrzeugen verlaufen sein. Aufnahme vom Oktober 2013.
Bild 17: Während das Firle-Anschlußgleis links im Gebüsch zu verorten wäre, folgt direkt anschließend der Abzweig zur Gräfenhäuser Straße. Anstelle des abgestellten Kraftfahrzeugs wurden hinter dem Maschendrahtzaun seither Garagen auf die Trasse gestellt. Aufnahme vom April 2011.
Im Darmstädter Adreßbuch lassen sich Firle und die Betonbau noch bis weit in die 1980er Jahre finden.
»» Den Abzweig des Industriestammgleises „E“ zur Gräfenhäuser Straße behandelt eine eigene Seite.
Alsdann geht das Gleis „F“ mit einer leichten Rechtskurve weiter.
Von Fischern, Knechten und Kirschen
Im Anschluß an das kurze Kurvenstück verläuft das Gleis bis zur Kirschenallee parallel zur Pallaswiesenstraße. Auf der rechten (südlichen) Seite befinden sich die Mauern des Donges-Fabrikgeländes. Das war nicht immer so. Bei der Anlage des Gleises 1919 wurde zunächst die neue Waggon-Montagehalle der Möbelfabrik Alter angebunden. Donges selbst besaß hier noch lange Zeit keinen Gleisanschluß. Als die Möbelfabrik in den 1930er Jahren abgewickelt wurde, nutzte die Adam Opel AG aus Rüsselsheim 1937 die Gelegenheit, hier ein Ersatzteil- und Auslieferungslager zu errichten. Nach dem Zweiten Weltkrieg pachtete ein Eisen- und Schrottgroßhändler namens Fischer das Gelände und übernahm hierbei den Gleisanschluß, über den auch die Lagerhalle von A. J. Monnard angebunden war. Donges erwarb das Gelände 1959 [4], besaß zu diesem Zeitpunkt aber schon einen eigenen Gleisanschluß unter Umgehung der Opel/Fischer-Barriere. Irgendwann im folgenden halben Jahrhundert stand (lag) dieses Anschlußgleis einem Erweiterungsbau im Weg und wurde durch eine Mauer ersetzt.
Bild 18: Das einstmals langgezogene Gleis mit den Weichen 12 (zur Mauer von Donges) und 13 (Donges Tor 9). Die Schuppen linkerhand gehörten ab Mitte der 1960er Jahre zum Textilwerk Otto Knecht und beherbergen heute einen Autobastler. Aufnahme vom August 2014.
Abbildung 19: Anschlußplan des Gleises 3 der Firma Donges von 1962. Die hierauf wiedergegebene verzweigte Gleisanlage auf dem verpachteten Gelände könnte noch von der Eisenbahnwaggonproduktion der Möbelfabrik Alter zu Beginn der 1920er Jahre herrühren.
Abbildung 20: Waggonbau der Möbelfabrik Alter 1920/21, entnommen der Unternehmensbroschüre von 1921. Hierin endeten vermutlich die abgetragenen Gleise. Davor das Industriestammgleis beim Queren der Kirschenallee.
Nebenbei: Die Weichennumerierung läßt den Schluß zu, daß die heute an den Weichenhebeln sichtbaren Nummern erst angebracht wurden, nachdem der Firle-Anschluß abgebaut worden war. Nummer 11 wäre demnach der Abzweig zur Gräfenhäuser Straße gewesen. An selbiger Weiche habe ich keine Weichennumer angebracht gesehen.
Das Donges-Gleis 2 war über Weiche 12 und der Gleisanschluß Nummer 3 war über die Weiche 13 angebunden. Die gestrichelte Linie auf dem Gleisplan zum Anschluß 3 markiert ein teilweise abgetragenes Gleis. Der Gleisanschluß 2 verfügte über eine Gleissperre und eine Brückenwaage von sechseinhalb Metern Länge mit einer Tragkraft von 30 Tonnen. [5]
Abbildung 21: Rechnung der Fischer KG von 1953, aus der hervorgeht, daß der Eisen- und Schrotthandel das Opel-Anschlußgleis genutzt hat. Dem Kunden Karl Gimbel werden wir weiter unten wiederbegegnen.
Vom Gleisanschluß 3 mit seinen ehemals vorhandenen Nebengleisen ist nur noch ein Gleis übriggeblieben. Die Zufahrt zum Stahlbauunternehmen Donges geschah durch das Tor 9. Im Laufe der Jahre erlebte ich mehrere „Belegungen“; mal war das Gleis auf der Innenseite, mal auf der Außenseite zugestellt. Möglicherweise wurde es 2012 noch einmal genutzt; danach herrschte eine Art vollständige Betriebsruhe.
Bild 22: Donges Tor 9 mit Palette. Aufnahme vom September 2014.
Bild 23: Donges Tor 9 mit Gleissperre. Aufnahme vom Juni 2014.
Bild 24: Donges Tor 9 quasi zugeparkt. Aufnahme vom Juli 2015.
Bild 25: Halteverbotsschilder vor Donges Tor 9. Aufnahme vom September 2016.
Bild 26: Prellbock neben Donges Tor 9. Aufnahme vom März 2013.
Gamz offensichtlich liegt das Gleis hinter dem Prellbock noch und ist bis zur Kirschenallee mit Erdreich, Grasbewuchs oder Automobilen überdeckt. Das kurze gepflasterte Straßenstück diente dem Textilwerk Otto Knecht als Verladeplatz. Denn links vom Industriestammgleis hatten wir schon die ehemaligen Werkshallen dieses Textilwerks bemerkt, dessen offizielle Anschrift Pallaswiesenstraße 154 gelautet hat. Vielleicht ist es nur ein Zufall, vielleicht hat aber auch schon in den 1920er Jahren ein Simon Neumann (mit derselben Adresse) dieselbe Gelegenheit genutzt, das durchgehende Gleis zum Abstellen eigener Güterwagen zu nutzen. [6]
Abbildung 27: Lageplan zum Gesuch der Fa. Knecht, Entladung von Waggons im Industrie-Stammgleis beim Anschluß der Fa. Donges Stahlbau, aufgestellt am 21. September 1965 bei der Bahnmeisterei Darmstadt. Interessant ist, daß hier zwar der Anschluß Firle, nicht aber das Stammgleis „E“ erwähnt wird.
Bild 28: An der Entladestelle befinden sich im Bodenbereich zwei Spurrillen, die auf ein Werkstor hinweisen könnten. Allerdings ist auf dem nachfolgenden Werksbild kein Tor zu erkennen. Aufnahme vom Oktober 2016.
Ab dem 11. Oktober 1965 sollten mit Textilabfall befüllte Waggons an der Entladestelle geleert werden. Der Platz reichte für zwei Waggons aus und mußte aufgrund des starken Gefälles durch eine Gleissperre mit doppelseitigem Gleissperrsignal gesichert werden. Nun konnte es vorkommen, daß auch der Gleisanschluß von Venuleth und Ellenberger jenseits der Kirschenallee bedient werden mußte. Standen die Waggons von Knecht im Weg, so waren sie zwischenzeitlich auf dem Gleisanschluß 3 von Donges abzustellen.
Bild 29: Verladestelle der Firma Otto Knecht.
Bild 30: Innenansicht des Textilwerks Otto Knecht. Beide Aufnahmen wurden mir freundlicherweise seitens des Firmenarchivs Otto Knecht zur Verfügung gestellt.
Das Textilwerk Otto Knecht besaß seine Darmstädter Niederlassung seit Beginn der 1950er Jahre und hatte zumindest in den 1960er Jahren seinen Firmensitz in Lohr am Main und sammelte gebrauchte Textilien, die u.a. zu Putzlappen für die Industrie verarbeitet wurden. Das Gesamtgelände mit seinen Hallen beherbergt heute einen nach Otto Knecht benannten Gewerbepark in der Pallaswiesenstraße 152–154.
Ein ehemaliger Lokomotivführer berichtete, daß – wohl noch in den 1970er Jahren – der Betrieb derart umfänglich war, daß täglich bis zu drei Mal eine Rangierabteilung zum Knecht'schen Anwesen gefahren werden mußte.
Der weitere Gleisverlauf ist unspektakulär bzw. unter allerlei modernen Ablagerungen verborgen. Alsdann erreichen wir die Kirschenallee. Hier treten auf einmal zwei Gleise zutage; und es sind dieselben, die wir schon auf der Aufnahme der Waggonhalle der Möbelfabrik Alter betrachtet haben.
Apropos Alter …
Das heutige Haus für Industriekultur beherbergt eine erlesene Sammlung von Druckmaschinen und Drucktypen. Hierbei handelt es sich jedoch um eine Nachnutzung aus den 1990er Jahren. Ursprünglich wurde das neu errichtete Gebäude 1906 von der Hofmöbelfabrik Ludwig Alter bezogen. Darmstadts Möbelindustrie, und hier insbesondere die maßgefertigten edlen Stücke für Europas Adel und Bürgertum, genoß europaweites Ansehen. Die Herrlichkeit brach in sich zusammen, als Europas Adlige und Kapitalisten ihre Regierungen dazu drängten, einen Weltkrieg zu entfesseln. Das Deutsche Reich war der Verlierer, und das inflationsgeplagte Land hatte andere Probleme, als sich luxuriöse Möbelstücke zu leisten. Da infolge des Krieges die deutschen Eisenbahnen heruntergewirtschaftet waren, war es naheligend, ein neues Betätigungsfeld beim Bau von (hölzernen) Eisenbahnwaggons zu suchen. Doch sollte sich auch dieses Geschäftsfeld als nicht rentabel erweisen. 1929 wurde die Möbelfabrikation ganz eingestellt und das Gebäude mitsamt dem Gleisanschluß 1937 an die Adfam Opel AG verkauft. Nach dem Zweiten Weltkrieg pachtete der Eisen- und Schrottgroßhandel Fischer das Anwesen, ehe es dem expandierenden Stahlbauunternehmen Donges Ende der 1950er Jahre zufiel. 1991 erwarb der Verein „Haus für Industriekultur“ das inzwischen für Donges nutzlose Gebäude. Doch dies ist eine ganz eigene Geschichte … [7]
Kurze Abschweifung in die Kirschenallee
Bild 31: Das Haus für Industriekultur in der Kirschenallee 88 von Süden aus gesehen. Das Industriestammgleis kreuzt die Kirschenallee im Hintergrund. Aufnahme vom Januar 2011.
Bild 32: Kolonialwarenladen in der Kirschenallee.
Das heute als Pallaswiesenviertel bezeichnete Areal besaß bis Anfang der 1950er Jahre eine bauliche Fortsetzung in die Kirschenallee hinein. Einige Meter südlich des zu Venuleth & Ellenberger verlaufenden Industriestammgleises, eben gegenüber dem heutigen Haus für Industriekultur, standen Anfang der 1950er Jahre noch einige Wohnhäuser. Diese wurden in den Folgejahren zugunsten einer Erweiterung der Betriebsanlagen von Röhm & Haas abgerissen. In einem dieser Wohnhäuser, der Kirschenallee 91, befand sich der Kolonialwarenladen von Karl Gimbel, dessen Außenfassade hier zu sehen ist. [8]
Bild 33: Innenansicht des Ladens von Karl Gimbel. Beide Aufnahmen wurden mir freundlicherweise von Herrn G. aus Weiterstadt zur Verfügung gestellt.
Zwischen Kirschenallee und Rößlerstraße
Kurz vor der Kirschenallee taucht das Industriestammgleis wieder aus der Überdeckung auf, genauer: es handelt sich nunmehr zum zwei Gleise. Diese ließen sich bis 2015 mehr oder weniger gut bis auf die andere Straßenseite verfolgen, bevor die Kirschenallee neu asphaltiert und abmarkiert wurde.
Bild 34: Die beiden sichtbaren Gleise an der Kirschenallee. Auf der gegenüber liegenden Straßenseite die Fabrikhallen von Göhrig und Leuchs, später Venuleth und Ellenberger [⇒ H5]. Aufnahme vom Mai 2015.
Abbildung 35: Gleisplan des Anschlusses von Venuleth und Ellenberger von 1960.
Kurz vor der Kirschenallee verzweigte sich das Industriestammgleis in zwei Stränge, überquerte die Straße und mündete auf einer Drehscheibe. Von dort gingen drei Gleise vor bzw. in die verschiedenen Hallen der Fabrik und ein weiteres verlief in einem weiten Bogen nach Süden parallel zur Rößlerstraße.
Das ehemals 8,5 m breite Gleistor wurde durch eine Mauer ersetzt, hinter der sich eine Autovermietung eingenistet hat. Die Drehscheibe ist längst Geschichte, statt dessen breitet sich, wie fast überall auf ehemaligen Gleisanlagen, eine automobile Nutzung aus. Am 5. April 2007 (Gründonnerstag) gerieten dort elf Transporter in Brand. [9]
Das nördliche der beiden über die Kirschenallee führenden Gleise wurde als Zustellgleis, das südliche als Abholgleis genutzt. Die Drehscheibe hatte einen Durchmesser von 12 Metern. Das Gleis 3 wandte sich in südliche Richtung, bediente eine Verladerampe und endete nach 187,5 Metern in einem Innenhof. Gleis 4 verlief in nordöstlicher Richtung und endete zwischen Fabrikhallen und Rößlerstraße nach 57,25 Metern. Etwas länger war das mittige Gleis 5 mit 100 Metern, das vermutlich durch eine der Hallen geführt wurde und auf der Nordseite des Gebäudes endete. Gleis 6 war 62,8 Meter und bog sich in nordwestlicher Richtung vermutlich in eine andere Halle; es besaß wie die Gleise 3 bis 5 keinen Gleisabschluß. Die Übergabestellen befanden sich auf beiden Gleisen zwischen dem Werkstor und der Drehscheibe.
Bild 36: Dieses Podest befindet sich am nicht mehr vorhandenen südlichen Abholgleis und könnte zum Entladen genutzt worden sein. Aufnahme vom Oktober 2009.
Bild 37: Einstmaliges Fabrikgebäude von Venuleth und Ellenberger an der Pallaswiesenstraße. Aufnahme vom November 2014.
Bild 38: Einstmaliges Fabrikgebäude von Venuleth und Ellenberger an der Kirschenallee. Aufnahme vom Dezember 2013.
Bild 39: Innenansicht der Dachkonstruktion. Aufnahme vom Juli 2012.
Abbildung 40: Grafik aus einem Briefkopf von Göhrig und Leuchs, vor 1899. Quelle: Handelsregisterakte der Aktiengesellschaft, HStAD G 28 Darmstadt R Nr. 493.
Ursprünglich befand sich an dieser Stelle seit 1877 die Werkstätte des kleinen Maschinenbauunternehmens Göhrig und Leuchs, das unter anderem Dampfkessel aller Art für Gewerbetreibende im südhessischen Raum von ihren Arbeitern herstellen ließ. Die 1899 in eine Aktiengesellschaft umgewandelte Fabrik fusionierte zwanzig Jahre später mit der nicht wesentlich größeren Maschinenbauanstalt von Venuleth und Ellenberger, deren Fabrik an der nordwestlichen Ecke der Kreuzung von Landwehr- und Rößlerstraße lag. Die fusionierte Aktiengesellschaft gab Ende der 1930er Jahre den Standort an der Landwehrstraße auf und konzentrierte ihre Tätigkeit auf die Fabrikhallen an der Pallaswiesenstraße. 1920 wurde dorthin das Industriestammgleis „F“ verlängert. Auf einem früheren Briefkopf von Göhrig und Leuchs ist ein Gleisanschluß mit Lokomotive und zwei auf Flachwaggons verladenen Dampfkesseln abgebildet. Dieses Anschlußgleis hat es jedoch nicht gegeben. [10]
Im Zweiten Weltkrieg befand sich auf dem Gelände ein Zwangsarbeiterlager. Bekannt ist, daß am 1. April 1943 dort 122 Kriegsgefangene, davon 25 französischer Herkunft, untergebracht waren. Moritz Neumann dokumentiert in seinem Buch „1945 nachgetragen“ ein Schreiben des Geschäftsführers von Venuleth & Ellenberger an die Alliierte Militärbehörde vom 4. Mai 1945. Demnach erschienen Anfang Mai an mehreren Tagen rund 30 ehemalige russische Arbeitssklaven auf dem Betriebsgelände und drohten – zum Teil mit Handgranaten bewaffnet – an, bestimmte (abwesende oder versteckte) Mitarbeiter des Unternehmens umbringen zu wollen. Allein die Tatsache, daß diese Gruppe russischer (nunmehr) Displaced Persons immer wieder vorbeischaute, zeigt, wie groß der Haß auf bestimmte besonders brutale Volksgenossen gewesen sein muß. [11]
Im Anschluß an ein Konkursverfahren Mitte der 1970er Jahre wurde die Firma 1979 im Handelsregister gelöscht. [12]
Aus der jüngeren Geschichte: Das Fabrikgebäude beherbergte bis 2013 ein Teppich- und ein Matratzengeschäft. Seither sind dort ein Motorradladen und ein Bäderstudio untergebracht. Im Seitenflügel an der Rößlerstraße befand sich das Gebrauchtwarenhaus „Secondo“ des Internationalen Bundes. Zehn Jahre lang waren seit 1998 Bezieherinnen und Bezieher von Sozialtransferleistungen durch die Darmstädter Träger dazu gezwungen gewesen, ihre Erstausstattungen per Gutschein im „Secondo“ zu beziehen, angeblich, um einen „Mißbrauch“ der Sozialhilfe zu unterbinden. Daß es sich hierbei um eine schikanöse Sparmaßnahme gehandelt hat, ist offensichtlich. Mit dem damaligen grünen Sozialdezernenten Jochen Partsch scheint diese zurecht kritisierte Praxis seit 2008 beendet worden zu sein. Inzwischen ist aus dem „Secondo“ ein leidlich tragfähiges Kaufhaus der Gelegenheiten entstanden.
Abbildung 41: Luftbildaufnahme von 1966 nicht nur des Anschlusses von Venuleth und Ellenberger. Im Einzelnen: 1 Otto Knecht, 2 Donges Gleis 2, 3 Halle von Venuleth und Ellenberger, darunnter die Drehscheibe, 4 Gleisende, 5 Haus der Industriekultur. Mit freundlicher Genehmigung des Vermessungsamtes der Stadt Darmstadt.
Abbildung 42: Kartoffeltrocckner von Venuleth und Ellenberger. Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10, Leipzig 1907, Seite 698–699 [online].
Das Angebot von Venuleth und Ellenberger war recht vielseitig und reichte von Maschinen zur Verarbeitung landwirtschaftlicher Produkte bis zur Kadaverentsorgung.
Epilog
Bild 43: Anfang 2022 stand eine sogenannte Sh2-Scheibe auf dem Gleis und verkündete das Ende des befahrbaren Abschnittes. Alles, was dahinter kommt, wurde aufgegeben. Aufnahme vom März 2022, Bildautor: Andreas Kohlbauer.