Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Der Posten 70 an der Wolfskehler Chaussee
Oder: Wenn Autofahrer zu doof sind
1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Hauptverlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten der Streckenabschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau. Die Geschichte der Riedbahn wird an anderer Stelle meiner Webseite ausführlich abgehandelt.
Zwischen Wolfskehlen und Grieheim kreuzte die Riedbahn die sogenannte Wolfskehler Chausse, die zur Bundesstraße 26 ausgebaut wurde. Bewacht wurde dieser Bahnübergang durch ein Bahnwärterhaus und später durch eine Schrankenwärterbude, eben den Posten mit der Nummer 70.
»» Lage des Postens 70 auf OpenStreetMap.
Ich danke Gerhard Schreiner und dem Stadtarchiv Griedheim für die mir überlassenen Aufnahmen.
Allerlei
Werfen wir zunächst einen Blick auf eine auf 1886 datierteTopografische Karte. Zwischen den Streckenkilometern 49 und 50 kreuzt die Bahnlinie die Straße, auch das Bahnwärterhaus ist eingetragen. Die Wolfskehler Chausse verlief vor dem Bau der Riedbahn schnurgerade. Das wurde 1868/69 geändert, um einen zu spitzen Winkel am Kreuzungspunkt zu vermeiden. Daraus werden vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg ganz neue gefährliche Verkehrssituationen geschaffen, welche die Urheber dieser Verschwenkung noch nicht einmal hatten erahnen können. Autofaherer, seltener auch Autofahrerinnen, waren mit der einfachen Technik des vorausschauenden Fahrens vollkommen überfordert. Als die Riedbahn zu Beginn der 1970ert Jahre hier beseitigt wurde, konnte eine Rennpiste hergestellt werden.
Abbildung 1: Topografische Karte, Bildquelle: SLUB / Deutsche Fotothek [online].
Bild 2: Blick auf die Nordseite des Bahnübergangs an der Wolfskehler Chaussee in Richtung Wolfskehlen, so Griesheims wandelndes Stadtgedächtnis namens Karl Knapp. Aufnahme: Gerhard Schreiner.
Bild 3: Blick auf die Südseite des Bahnübergangs in Richtung Griesheim. Aufnahme: Gerhard Schreiner.
Bild 4: Der Posten 70 bestand nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem Straßenposten an der Wolfskehler Chaussee und einem Bahnhaus im Zwickel zwischen Riedbahn und Straße. Bildquelle: Stadtarchiv Griesheim, em2008.0023.
Bild 5: Aufnahme: Gerhard Schreiner.
Mit der automobilen Kriegsbewältigungstherapie nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ganze Horden ihre Geschwindigkeit überschätzender Männer (und wohl weniger Frauen) auf eine Welt losgelassen, deren Landstraßen schmal und deren Bahnübergänge niveaugleich verliefen. Folgerichtig krachte es des häufigeren.
Abbildung 6: HALT – bei rotem Blinklicht! Anzeige der Deutschen Bundesbahn im „Griesheimer Anzeiger“ am 8. Juli 1961.
Auch die Bundesbahn nahm die rasante Zunahme des Autoverkehrs wahr und warb in großformatigen Anzeigen um mehr Aufmerksamkeit im Straßenverkehr. Das Problembewußtsein mag durchaus bei den Lenkerinnen und Lenkern am Steuer vorhanden gewesen sein, aber wenn der eine oder andere Tropfen die dürstende Kehle befeuchtet hatte, kannte (und kennt bis heute) die Unvernunft kaum Grenzen. Und dann macht es eben … bumm! Einige Beispiele aus dem „Griesheimer Anzeiger“ mögen dies illustrieren.
Am 1. Oktober 1961 wurde in der Nähe des Posten 70 nachts um halb vier „ein Motorradfahrer in betrunkenem Zustand, auf der Fahrbahn liegend, aufgefunden. Der Fahrer war verletzt, er wurde ins Krankenhaus gebracht, wo eine Blutprobe von ihm entnommen und der Führerschein entzogen wurde.“ Am 10. März 1967 „kam es auf der Wolfskehler Chaussee, am Bahnposten 70, zu einem Verkehrsunfall. Ein Lastzug fuhr in Richtung Wolfskehlen. Der Fahrer dieses Lastzuges, von der Sonne geblendet, übersah die geschlossene Schranke und fuhr dagegen. Es gab 600 DM Sachschaden.“
Am Spätabend des 1. April 1967 fand sich ein Nachahmungstäter. „Ein Personenwagen aus Groß-Gerau, der in Richtung Griesheim fuhr, kam infolge Trunkenheit des Fahrers ins Schleudern, rannte gegen die beiden Schrankenböcke und blieb mit Totalschaden auf den Schienen liegen. Für die Bundesbahn entstand ein Schaden von 800 DM. Der Fahrer wurde verletzt und mußte einen Arzt aufsuchen. Von dem Fahrer wurde eine Blutprobe genommen und der Führerschein einbehalten.“
Am 24. Mai 1965 landete ein VW Bus recht unsanft am Straßenrand. An diesem Montagmorgen gegen 8.40 Uhr kam der von Wolfskehlen herkommende Transporter „auf den Gleisanlagen des Bahnübergangs zu weit nach links, streifte dabei einen aus Griesheim kommenden Lastwagen und wurde gegen den einen Schrankenpfeiler geschleudert. Dort prallte der VW-Bus ab und kam vor einen hinter dem Lastwagen fahrenden Personenwagen aus Karlsruhe, der dem Bus in die rechte Seite stieß. Hierbei wurden zwei Personen schwer verletzt, die ins Krankenhaus nach Darmstadt gebracht werden mußten. Der eine Verletzte konnte nach ambulanter Behandlung bereits wieder entlassen werden. Es gab 12.000 DM Sachschaden. Der Fahrer des VW-Busses war ein gewisser Herr M*****, der in Leeheim einen Kleinhandel betreibt.“
Ein halbes Jahrhundert später erlaube ich mir dann doch die Bemerkung, daß ein Schwerverletzter in der Regel wohl kaum nach ambulanter Behandlung wieder entlassen wird. Eine gewisse Dramatisierung des Sachverhalts war dem Berichterstatter wohl nicht fremd. Oder hat er bloß den Polizeibericht abgeschrieben? Die Unfallberichte finden sich in der nachfolgenden Ausgabe der Zeitung, die in der Regel mittwochs und samstags erschien.
Bild 7, aus dem Griesheimer Anzeiger vom 26. Mai 1965: „Unser Bild zeigt den schwerbeschädigten VW-Bus am Wolfskehler Bahnübergang.“
Bild 8, aus dem Griesheimer Anzeiger vom 20. März 1974.
Nach der Stillegung des Streckenabschnitts zwischen Goddelau-Erfelden und Griesheim Ende September 1970 war der Weg frei, freien Bürgern freie Fahrt zu gewähren. Dennoch brauchte es noch weitere dreieinhalb Jahre und weitere (vermeidbare) Unfälle, ehe im Frühjahr 1974 der Bahnübergang beseitigt und die Straßenführung begradigt wurde: „Im Zuge des Neubaues der Bundesstraße 26 zwischen Wolfskehlen und Griesheim wird auch die Schleife an dem früheren Bahnübergang begradigt. Außerdem wird vor dem Ortseingang nach Griesheim die Einmündung einer Verbindungsstraße nach Büttelborn vorgesehen.“ Diese Verbindung brachte den westlichen Riedgemeinden eine bequeme Abkürzung auf die Autobahn und Griesheim eine kleine Entlastung vom Durchgangsverkehr.
Vorangegangen waren – beispielsweise – im Winter 1971/72 mehrere Crashs. Am 13. Dezember 1971 krachte es hier gleich zweimal: „Um 14.30 Uhr fuhr ein Personenwagen Richtung Griesheim, geriet auf die linke Fahrbahnseite und stieß mit einem entgegenkommenden Lastwagen zusammen. Dabei erlitt der Personenwagenfahrer schwere Verletzungen, während der Lkw-Fahrer mit leichten Verletzungen davonkam.“ Der Schaden wird auf 3.000 DM veranschlagt. An der gleichen Stelle, um 22.15 Uhr, befuhr ein amerikanischer Personenwagen die Wolfskehler Chaussee, ebenfalls Richtung Griesheim. Er kam nach links von der Fahrbahn ab, streifte einen Leitpfosten, knallte dann gegen zwei Eisenpfähle und blieb an den Leitplanken hängen. An dem Wagen entstand Totalschaden, der Fahrer kam mit dem Schrecken davon.“
Nur drei Tage später „ereignete sich erneut am Bahnübergang an der Wolfskehler Chaussee ein Unfall, bei dem drei Personen leicht verletzt wurden. Ein Pkw-Fahrer aus Traisa befuhr die Wolfskehler Chaussee in Richtung Wolfskehlen. In der Kurve vor dem nun ehemaligen Bahnübergang geriet das Fahrzeug ins Schleudern und prallte mit einem entgegenkommenden Wagen aus Goddelau zusammen. Der Schaden wird auf etwa 8.000 DM geschätzt.“
Am 29. Januar 1972, gegen Mitternacht, „befuhr ein Personenwagen die Wolfskehler Chaussee in westlicher Richtung. In Höhe des Bahnüberganges wurde er mit seinem Fahrzeug, vermutlich infolge zu hoher Geschwindigkeit, von der Fahrbahn getragen, überschlug sich mehrmals und blieb im Feld auf dem Dach liegen. An dem Wagen entstand Totalschaden. Der Fahrer entfernte sich von der Unfallstelle und meldete sich erst am nächsten Tag bei der Griesheimer Polizeistation.“ Er wird schon seinen Grund gehabt haben, erst im Verlauf des Sonntags wieder aufzutauchen.
Am 10. September 1973, kurz vor Beginn des autogerechten Ausbaus der Wolfskehler Chaussee, kam es am Abend zu einem Unfall, „bei dem eine Frau leicht verletzt wurde und ein Sachschaden von 3.000 DM entstand. Ein Pkw-Fahrer steuerte seinen Wagen in westlicher Richtung, kam in Höhe des Bahnübergangs zu weit nach links und stieß mit einem entgegenkommenden Pkw zusammen, der von einer Frau gesteuert wurde. Die Fahrerin wurde leicht verletzt.“
Derlei sollte bald ein Ende haben. Auf einer Magistratssitzung Ende September verkündete Bürgermeister Hans Karl den Ausbau der Straße: „Die Fahrbahn wird verbreitert und völlig neu hergestellt. Die nahe am Straßenrand stehenden Bäume mußten bereits weichen – für den Umweltfreund eine bedauerliche Tatsache, für den auf Verkehrssicherheit bedachten Straßenbauer [wegen der motorisierten Deppen, WK] eine unumgängliche Notwendigkeit. Im Zuge dieser Arbeiten wird auch die Kurve am Bahnübergang beseitigt, so daß die vor dem Bau der Riedbahn 1869 vorhandene schnurgerade Strecke zwischen Griesheim und Wolfskehlen wiederhergestellt wird.“
Bild 9, Griesheimer Anzeiger vom 31. Mai 1974.
Der „Griesheimer Anzeiger“ kommentiert das Bild zwei Monate später mit eindeutigen Worten: „Mit dem Ausbau der Bundesstraße 26 zwischen Griesheim und Wolfskehlen verschwand auch die gefährliche S-Kurve in Höhe des früheren Bahnübergangs. Für die Autofahrer heißt es jetzt ‚schnurstracks‘ ins Ried.“ Gas geben, ich will Spaß!
Die Autoeuphorie wird zwischenzeitlich durch die Hiobsbotschaft getrübt, daß der Gemeinde Griesheim lautstarkes Ungemach droht. Im Februar 1974 teilte Griesheims Bürgermeister seinem Magistrat mit, bei der Bundesbahn laufe die Vorplanung für den Bau einer neuen Bahnstrecke von Köln über Groß-Gerau nach Mannheim. „Sie soll die vorhandenen Strecken entlasten und Fahrgeschwindigkeiten bis zu 200 km/h ermöglichen. Nach den vorläufigen Plänen verläuft die Trasse etwa längs der Gemarkungsgrenze zu Wolfskehlen in Nord-Süd-Richtung.“ Während die Schnellfahrstrecke von Köln ins Rhein-Main-Gebiet durch Westerwald und Hunsrück zwei Jahrzehnte später noch durchgezogen werden konnte, scheiden sich weitere anderthalb Jahrzehnte später an der Fortsetzung nach Mannheim verschiedene Geister. Und während das nur in den Hirnen neoliberaler Autisten sinnvolle Projekt „Stuttgart 21“ Milliarden Euro verschlingen soll, fehlt es dann andernorts an der für kleinere Vorhaben notwendigen Finanzierung. Mit Stand vom Sommer 2023 ist trotz heldenhafter Beteuerungen der südhesischen Kommunen zu konstatieren, daß die Neubaustrecke durchs Ried noch längere Zeit ein Hochgeschwindigkeitstraum bleiben wird.
Bild 10: Dieses Bild ist ein typisches Beispiel dafür, daß wir nichts erkennen, wenn wir nicht wissen, daß es da ist. Die gut ausgebaute und von Schlaglöchern verschonte Rennnstrecke von Griesheim nach Wolfskehlen kreuzt hier (virtuell) die alte Bahntrasse. Der Parkplatz in der Bildmitte war Teil der S-Kurve. Hinter dem parkenden Auto verlief, inzwischen durch eine Baumreihe markiert, die Bahnstrecke nach Worms. Die kleineren Bäume zwischen dem parkenden Fahrzeug und der Straße verdecken das ehemalige Bahnwärterhaus. Der Fotograf stand an der ehemaligen Südseite der Bahnlinie, die hier in spitzem Winkel die einstige Chaussee gekreuzt hat.
Bild 11: Und das Bahnhaus? Ja, das steht noch, wenn auch im allgemeinen gut zugewachsen. Aufnahme vom Mai 2016.
Anmerkungen
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- Karl Knapp : Ein Husarenritt durch die Stadtgeschichte, in: Griesheimer Anzeiger, Jubiläumsausgabe 125 Jahre Griesheimer Anzeiger am 23. März 2012, Seite 30–35, hier Seite 33: „Auf dieser Aufnahme sieht man den Bahnübergang mit Bahnhäuschen von Südosten nach Nordwesten.“ ⏎
- Griesheimer Anzeiger am 20. März 1974. ⏎
- Zur Neubaustrecke siehe Griesheimer Anzeiger am 23. Februar 1974. ⏎