Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Walter Kuhl
Rangierfahrt auf der alten Riedbahn.
Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Bahnwärterhaus an der Hammelstrift.
Bahnwärterhaus.
Zwei Gleise am Posten 82.
Riedbahngleise Posten 82.
Hessische Ludwigsbahn.
Hessische Ludwigsbahn.
Bergschneise.
Bergschneise Posten 85.

Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau

Der Posten 70 an der Wolfs­kehler Chaussee

Oder: Wenn Autofahrer zu doof sind

1869 wurde die Riedbahn zwischen Darm­stadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Haupt­verlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Doku­mentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten der Strecken­abschnitt zwischen Darm­stadt und Goddelau. Die Geschichte der Riedbahn wird an anderer Stelle meiner Webseite ausführ­lich abgehandelt.

Zwischen Wolfs­kehlen und Grieheim kreuzte die Riedbahn die soge­nannte Wolfs­kehler Chausse, die zur Bundes­straße 26 ausge­baut wurde. Bewacht wurde dieser Bahn­übergang durch ein Bahn­wärterhaus und später durch eine Schranken­wärterbude, eben den Posten mit der Nummer 70.

»»  Lage des Postens 70 auf OpenStreetMap.

Ich danke Gerhard Schreiner und dem Stadtarchiv Griedheim für die mir über­lassenen Aufnahmen.


Allerlei

Werfen wir zunächst einen Blick auf eine auf 1886 datierteTopogra­fische Karte. Zwischen den Strecken­kilometern 49 und 50 kreuzt die Bahnlinie die Straße, auch das Bahn­wärter­haus ist eingetragen. Die Wolfs­kehler Chausse verlief vor dem Bau der Riedbahn schnur­gerade. Das wurde 1868/69 geändert, um einen zu spitzen Winkel am Kreuzungs­punkt zu ver­meiden. Daraus werden vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg ganz neue gefährliche Verkehrs­situationen geschaffen, welche die Urheber dieser Ver­schwenkung noch nicht einmal hatten erahnen können. Auto­faherer, seltener auch Autofahrer­innen, waren mit der einfachen Technik des voraus­schauenden Fahrens voll­kommen über­fordert. Als die Riedbahn zu Beginn der 1970ert Jahre hier beseitigt wurde, konnte eine Rennpiste hergestellt werden.

Topografische Karte von 1886.

Abbildung 1: Topogra­fische Karte, Bildquelle: SLUB / Deutsche Foto­thek [online].

Posten 70.

Bild 2: Blick auf die Nordseite des Bahn­übergangs an der Wolfs­kehler Chaussee in Richtung Wolfs­kehlen, so Gries­heims wandelndes Stadt­gedächtnis namens Karl Knapp. Aufnahme: Gerhard Schreiner. 

Posten 70.

Bild 3: Blick auf die Südseite des Bahn­übergangs in Richtung Griesheim. Aufnahme: Gerhard Schreiner.

Posten 70.

Bild 4: Der Posten 70 bestand nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem Straßen­posten an der Wolfs­kehler Chaussee und einem Bahnhaus im Zwickel zwischen Riedbahn und Straße. Bildquelle: Stadt­archiv Griesheim, em2008.0023.

Posten 70.

Bild 5: Aufnahme: Gerhard Schreiner.

Mit der automobilen Kriegs­bewältigungs­therapie nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ganze Horden ihre Geschwindig­keit über­schätzender Männer (und wohl weniger Frauen) auf eine Welt losge­lassen, deren Landstraßen schmal und deren Bahnüber­gänge niveau­gleich verliefen. Folge­richtig krachte es des häufigeren.

Bahnübergang.
Abbildung 6: HALT – bei rotem Blink­licht! Anzeige der Deut­schen Bundes­bahn im „Gries­heimer Anzeiger“ am 8. Juli 1961.

Auch die Bundesbahn nahm die rasante Zunahme des Auto­verkehrs wahr und warb in groß­formatigen Anzeigen um mehr Aufmerk­samkeit im Straßen­verkehr. Das Problem­bewußt­sein mag durchaus bei den Lenkerinnen und Lenkern am Steuer vor­handen gewesen sein, aber wenn der eine oder andere Tropfen die dürstende Kehle befeuchtet hatte, kannte (und kennt bis heute) die Unvernunft kaum Grenzen. Und dann macht es eben … bumm! Einige Beispiele aus dem „Gries­heimer Anzeiger“ mögen dies illustrieren.

Am 1. Oktober 1961 wurde in der Nähe des Posten 70 nachts um halb vier „ein Motorrad­fahrer in betrunkenem Zustand, auf der Fahrbahn liegend, aufge­funden. Der Fahrer war verletzt, er wurde ins Kranken­haus gebracht, wo eine Blutprobe von ihm ent­nommen und der Führer­schein entzogen wurde.“ Am 10. März 1967 „kam es auf der Wolfs­kehler Chaussee, am Bahnposten 70, zu einem Verkehrs­unfall. Ein Lastzug fuhr in Richtung Wolfs­kehlen. Der Fahrer dieses Lastzuges, von der Sonne geblendet, übersah die geschlossene Schranke und fuhr dagegen. Es gab 600 DM Sach­schaden.“

Am Spätabend des 1. April 1967 fand sich ein Nachahmungs­täter. „Ein Personen­wagen aus Groß-Gerau, der in Richtung Gries­heim fuhr, kam infolge Trunken­heit des Fahrers ins Schleudern, rannte gegen die beiden Schranken­böcke und blieb mit Total­schaden auf den Schienen liegen. Für die Bundes­bahn entstand ein Schaden von 800 DM. Der Fahrer wurde verletzt und mußte einen Arzt aufsuchen. Von dem Fahrer wurde eine Blutprobe genommen und der Führer­schein einbehalten.“

Am 24. Mai 1965 landete ein VW Bus recht unsanft am Straßen­rand. An diesem Montag­morgen gegen 8.40 Uhr kam der von Wolfs­kehlen her­kommende Transporter „auf den Gleis­anlagen des Bahnüber­gangs zu weit nach links, streifte dabei einen aus Gries­heim kommenden Lastwagen und wurde gegen den einen Schranken­pfeiler ge­schleudert. Dort prallte der VW-Bus ab und kam vor einen hinter dem Lastwagen fahrenden Personen­wagen aus Karls­ruhe, der dem Bus in die rechte Seite stieß. Hierbei wurden zwei Personen schwer verletzt, die ins Kranken­haus nach Darm­stadt gebracht werden mußten. Der eine Verletzte konnte nach ambulanter Behandlung bereits wieder entlassen werden. Es gab 12.000 DM Sach­schaden. Der Fahrer des VW-Busses war ein gewisser Herr M*****, der in Leeheim einen Klein­handel betreibt.“

Ein halbes Jahr­hundert später erlaube ich mir dann doch die Bemerkung, daß ein Schwer­verletzter in der Regel wohl kaum nach ambulanter Behandlung wieder entlassen wird. Eine gewisse Dramati­sierung des Sach­verhalts war dem Bericht­erstatter wohl nicht fremd. Oder hat er bloß den Polizei­bericht abgeschrieben? Die Unfall­berichte finden sich in der nach­folgenden Ausgabe der Zeitung, die in der Regel mittwochs und samstags erschien.

Verkehrsunfall.

Bild 7, aus dem Gries­heimer Anzeiger vom 26. Mai 1965: „Unser Bild zeigt den schwer­beschädigten VW-Bus am Wolfs­kehler Bahn­übergang.“

Streckenbegradigung.

Bild 8, aus dem Gries­heimer Anzeiger vom 20. März 1974.

Nach der Stillegung des Strecken­abschnitts zwischen Goddelau-Erfelden und Griesheim Ende September 1970 war der Weg frei, freien Bürgern freie Fahrt zu gewähren. Dennoch brauchte es noch weitere dreieinhalb Jahre und weitere (vermeidbare) Unfälle, ehe im Frühjahr 1974 der Bahnüber­gang beseitigt und die Straßen­führung begradigt wurde: „Im Zuge des Neubaues der Bundes­straße 26 zwischen Wolfs­kehlen und Griesheim wird auch die Schleife an dem früheren Bahnüber­gang begradigt. Außerdem wird vor dem Orts­eingang nach Griesheim die Ein­mündung einer Verbindungs­straße nach Büttel­born vor­gesehen.“  Diese Verbindung brachte den westlichen Ried­gemeinden eine bequeme Abkürzung auf die Autobahn und Griesheim eine kleine Entlastung vom Durchgangs­verkehr.

Vorangegangen waren – beispiels­weise – im Winter 1971/72 mehrere Crashs. Am 13. Dezember 1971 krachte es hier gleich zweimal: „Um 14.30 Uhr fuhr ein Personen­wagen Richtung Griesheim, geriet auf die linke Fahrbahn­seite und stieß mit einem entgegen­kommenden Lastwagen zusammen. Dabei erlitt der Personen­wagen­fahrer schwere Verletzungen, während der Lkw-Fahrer mit leichten Ver­letzungen davonkam.“ Der Schaden wird auf 3.000 DM ver­anschlagt. An der gleichen Stelle, um 22.15 Uhr, befuhr ein amerikanischer Personen­wagen die Wolfs­kehler Chaussee, ebenfalls Richtung Griesheim. Er kam nach links von der Fahrbahn ab, streifte einen Leit­pfosten, knallte dann gegen zwei Eisenpfähle und blieb an den Leitplanken hängen. An dem Wagen entstand Total­schaden, der Fahrer kam mit dem Schrecken davon.“

Nur drei Tage später „ereignete sich erneut am Bahnüber­gang an der Wolfs­kehler Chaussee ein Unfall, bei dem drei Personen leicht verletzt wurden. Ein Pkw-Fahrer aus Traisa befuhr die Wolfs­kehler Chaussee in Richtung Wolfs­kehlen. In der Kurve vor dem nun ehe­maligen Bahn­übergang geriet das Fahrzeug ins Schleudern und prallte mit einem entgegen­kommenden Wagen aus Goddelau zusammen. Der Schaden wird auf etwa 8.000 DM geschätzt.“

Am 29. Januar 1972, gegen Mitter­nacht, „befuhr ein Personen­wagen die Wolfs­kehler Chaussee in westlicher Richtung. In Höhe des Bahnüber­ganges wurde er mit seinem Fahrzeug, vermutlich infolge zu hoher Geschwindig­keit, von der Fahrbahn getragen, über­schlug sich mehrmals und blieb im Feld auf dem Dach liegen. An dem Wagen entstand Total­schaden. Der Fahrer entfernte sich von der Unfall­stelle und meldete sich erst am nächsten Tag bei der Griesheimer Polizei­station.“ Er wird schon seinen Grund gehabt haben, erst im Verlauf des Sonntags wieder aufzutauchen.

Am 10. September 1973, kurz vor Beginn des auto­gerechten Ausbaus der Wolfs­kehler Chaussee, kam es am Abend zu einem Unfall, „bei dem eine Frau leicht verletzt wurde und ein Sach­schaden von 3.000 DM entstand. Ein Pkw-Fahrer steuerte seinen Wagen in westlicher Richtung, kam in Höhe des Bahnüber­gangs zu weit nach links und stieß mit einem entgegen­kommenden Pkw zusammen, der von einer Frau gesteuert wurde. Die Fahrerin wurde leicht verletzt.“

Derlei sollte bald ein Ende haben. Auf einer Magistrats­sitzung Ende September ver­kündete Bürger­meister Hans Karl den Ausbau der Straße: „Die Fahrbahn wird verbreitert und völlig neu herge­stellt. Die nahe am Straßen­rand stehenden Bäume mußten bereits weichen – für den Umwelt­freund eine bedauerliche Tatsache, für den auf Verkehrs­sicherheit bedachten Straßenbauer [wegen der motorisierten Deppen, WK] eine unum­gängliche Notwendig­keit. Im Zuge dieser Arbeiten wird auch die Kurve am Bahnüber­gang beseitigt, so daß die vor dem Bau der Riedbahn 1869 vorhandene schnurgerade Strecke zwischen Griesheim und Wolfs­kehlen wiederher­gestellt wird.“

Streckenbegradigung.

Bild 9, Gries­heimer Anzeiger vom 31. Mai 1974.

Der „Gries­heimer Anzeiger“ kommentiert das Bild zwei Monate später mit eindeutigen Worten: „Mit dem Ausbau der Bundes­straße 26 zwischen Griesheim und Wolfs­kehlen verschwand auch die gefährliche S-Kurve in Höhe des früheren Bahn­übergangs. Für die Auto­fahrer heißt es jetzt ‚schnurstracks‘ ins Ried.“ Gas geben, ich will Spaß!

Die Auto­euphorie wird zwischen­zeitlich durch die Hiobs­botschaft getrübt, daß der Gemeinde Griesheim laut­starkes Ungemach droht. Im Februar 1974 teilte Griesheims Bürger­meister seinem Magistrat mit, bei der Bundes­bahn laufe die Vorplanung für den Bau einer neuen Bahn­strecke von Köln über Groß-Gerau nach Mannheim. „Sie soll die vor­handenen Strecken entlasten und Fahr­geschwindig­keiten bis zu 200 km/h ermög­lichen. Nach den vor­läufigen Plänen verläuft die Trasse etwa längs der Gemarkungs­grenze zu Wolfs­kehlen in Nord-Süd-Richtung.“ Während die Schnellfahr­strecke von Köln ins Rhein-Main-Gebiet durch Wester­wald und Hunsrück zwei Jahr­zehnte später noch durch­gezogen werden konnte, scheiden sich weitere andert­halb Jahr­zehnte später an der Fort­setzung nach Mannheim ver­schiedene Geister. Und während das nur in den Hirnen neoliberaler Autisten sinnvolle Projekt „Stuttgart 21“ Milliarden Euro ver­schlingen soll, fehlt es dann andernorts an der für kleinere Vorhaben notwendigen Finan­zierung. Mit Stand vom Sommer 2023 ist trotz helden­hafter Beteu­erungen der süd­hesischen Kommunen zu konstatieren, daß die Neubau­strecke durchs Ried noch längere Zeit ein Hoch­geschwindig­keitstraum bleiben wird. 

Ehemaliger Bahnübergang.

Bild 10: Dieses Bild ist ein typisches Beispiel dafür, daß wir nichts erkennen, wenn wir nicht wissen, daß es da ist. Die gut ausgebaute und von Schlag­löchern verschonte Rennn­strecke von Griesheim nach Wolfs­kehlen kreuzt hier (virtuell) die alte Bahn­trasse. Der Parkplatz in der Bildmitte war Teil der S-Kurve. Hinter dem parkenden Auto verlief, inzwischen durch eine Baumreihe markiert, die Bahn­strecke nach Worms. Die kleineren Bäume zwischen dem parkenden Fahrzeug und der Straße verdecken das ehemalige Bahnwärter­haus. Der Fotograf stand an der ehemaligen Südseite der Bahnlinie, die hier in spitzem Winkel die einstige Chaussee gekreuzt hat.

Bahnhaus.

Bild 11: Und das Bahnhaus? Ja, das steht noch, wenn auch im allge­meinen gut zuge­wachsen. Aufnahme vom Mai 2016.

Anmerkungen

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  1. Karl Knapp : Ein Husarenritt durch die Stadt­geschichte, in: Griesheimer Anzeiger, Jubiläums­ausgabe 125 Jahre Griesheimer Anzeiger am 23. März 2012, Seite 30–35, hier Seite 33: „Auf dieser Aufnahme sieht man den Bahn­übergang mit Bahn­häuschen von Südosten nach Nordwesten.“   
  2. Griesheimer Anzeiger am 20. März 1974.   
  3. Zur Neubaustrecke siehe Griesheimer Anzeiger am 23. Februar 1974.