Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Das Überführungsgleis im Osten Darmstadts
Von Kranichstein an den Ostbahnhof
1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Hauptverlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten vor allem der Streckenabschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.
Etwa zeitgleich mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges wurde von Kranichstein aus eine Umfahrungsstrecke zum Ostbahnhof gebaut. Ob und inwieweit hiermit kriegswichtige Zwecke verbunden waren, ist unklar. An der Blockstelle Kastanienallee mündete die Verbindungskurve in die Odenwaldbahn. Genutzt wurde diese Verbindung vom 15. November 1915 bis zum 25. September 1976, wobei einzelne Fahrten vorher und nachher nicht auszuschließen sind.
Abbildung 1: Die Lage des Gleises.
Beim Bau der Straßenbahn nach Kranichstein wurde die Gleiskurve unterbrochen. Es kann sein, daß sich die Deutsche Bahn in den 1990er Jahren noch vorbehalten hat, die Strecke zu reaktivieren, und die Stadt Darmstadt sich verpflichtet hat, in diesem Fall den Lückenschluß wiederherzustellen. Nichts deutet darauf hin, daß dies je geschehen wird.
Jörn Schramm ist irgendwann in den 1970er und/pder 1980er Jahren das Gleis abgegangen und hat mir freundlicherweise seine Aufnahmen zur Verfügung gestellt. Ulrich Richter war um 1965/1970 herum unterwegs und hat noch einige veritable von Dampflokomotiven gezogene Güterzüge auf der Verbindungsstrecke fotografiert. Seine Aufnahmen hat mir die Forschungsgemeinschaft Verkehrsgeschichte e. V. in Reinheim zur Verfügung gestellt.
Am Stellwerk in Kranichstein
Das Spurplanstellwerk am Kranichsteiner Bahnübergang wurde 1960 in Betrieb genommen und Ende 2020 von einem elektronischen Stellwerk abgelöst. Aus luftiger Höhe hatte der Stellwerker eine gute Übersicht auf den Bahnübergang, die beiden Bahnsteige des Personenbahnhofs und die weit verzweigten Bahnanlagen des früheren Bahnbetriebswerks. Die Untergeschosse beherbergten die Stellwerkstechnik.
Bild 2: Der markante Turm des Kranichsteiner Stellwerks Kf im August 2008.
Etwa dreihundert Meter weiter südwestlich quert der Woogsweg fünf Gleise der Eisenbahn, wovon vier noch aktiv sind. Die beiden nördlichen Gleise bilden die Verbindungsbahn, auf der mit seltenen Ausnahmen nur Güterzüge verkehren. Dies wird sich ändern, wenn die Deutsche Bahn AG ihre ICE-Abstell- und Behandlungsanlage im hinteren Bereich der Kranichsteiner Abstellgleise hat aufbauen lassen. Denn die ICEs werden – geplant ist ab 2026 – hauptsächlich über die Verbindungskurve von der Main-Neckar-Bahn zum Darmstädter Nordbahnhof geleitet und anschließend nach Kranichstein gebracht werden. Und retour.
Auf den beiden südlichen Gleisen wird der Personenverkehr der Main-Rhein-Bahn abgewickelt. In der Mitte liegt – von Kranichstein abgekoppelt und insgesamt nicht mehr ganz vollständig – das Gütergleis, das Kranichstein mit der Odenwaldbahn verbunden hat. Zwischen der Verbindungs- und der Personenzugstrecke stand westlich des Weges ein Stellwerk, der Posten 50. Es handelte sich um ein 1950 gebautes mechanisches Stellwerk der Einheitsbauart.
Bild 3: Der Bahnübergang am Woogsweg im März 2013.
Bild 4: Abends gegen halb sechs kam im April 2014 regelmäßig ein 628er-Pärchen von Dieburg nach Darmstadt zum Auftanken und Schlafen. Davor liegt das Verbindungsgleis.
Bild 5: Das Gleis östlich des Bahnübergangs am Woogsweg im April 2010.
Bild 6: Das Gleis westtlich des Bahnübergangs am Woogsweg im April 2010.
Als es noch den Schrankenposten am Woogsweg gab, achtete ein Schrankenwärter – arbeitete hier jemals eine Schrankenwärterin ? – darauf, daß vorwitzige Fußgänger und Radfahrerinnen die Durchfahrt eines Personen- oder Güterzuges abwarteten. Diese beiden Bahnübergänge sind zwar heute gut abgesichert, aber dort, wo Halbschranken den Weg versperren, finden die ganz Eiligen immer einen Weg. Mit etwas Pech ein letztes Mal, wie man und frau immer mal wieder der Tagespresse entnehmen kann.
Bilder 7 und 8: Der Schrankenposten 50 am Woogsweg mit dem Verbindungsgleis vor und nach den Schranken. Der Fotograf paßte für das rechte Bild 141 101 mit ihrem Güterzug nach Bischofsheim ab. Aufnahmen: Jörn Schramm.
In den 1960er Jahren herrschte noch reger Güterverkehr auf dem Verbindungsgleis. Regelmäßig fuhren von/nach Kranichstein Güterzüge nach/von Roßdorf, Groß-Zimmern, Reinheim, Lengfeld oder Michelstadt. Aufgrund des schlechten Oberbaus durfte die Verbindungsstrecke nur noch im Schleichgang benutzt werden, bevor sie im September 1976 endgltig gesperrt wurde. Ein Leser dieser Webseite aus Pfungstadt schrieb mir, daß er bei einer Vermessungsübung während seines Studiums in den 1970er Jahren das Gleisbett freiholzen mußte.
Bild 9: Ein Güterzug fährt die Rampe vom Woogsweg hoch und erricht das Viadukt über die Rhein-Main-Bahn. Aufnahme: Ulrich Richter.
Der oder das Viadukt
Das Viadukt der Verbindungsstrecke über die Rhein-Main-Bahn enthält als wesentliches Element eine Fachwerkträgerbrücke. Bei der Elektrifizierung der Rhein-Main-Bahn wurde deren Gleisbett abgesenkt.
Bild 10: Die Brücke von der Arheilger Seite aus gesehen. Aufnahme vom März 2015.
Bild 11: Die Brücke vom Posten 49 an der Kranichsteiner Hammelstrift aus gesehen. Aufnahme vom August 2008.
Bild 12: Vom Bahnübergang 49 herkommend stehen wir auf der Hammelstrift und schauen auf die Brücke mit ihrer Betonverlängerung. Aufnahme vom Februar 2016.
Bild 13: Die Brücke auf der Kranichsteiner Seite aus gesehen. Auch hiier an der Hammelstrift finden die Nutzerinnen und Nutzer eine Gelegenheit, sich mit ihren Knattermobilen hemmungslos auszubreiten. Aufnahme vom August 2008.
Bild 14: Auf der Brücke im August 2008.
»» Einige weitere Bilder von der Brücke über die Main-Rhein-Bahn gibt es auf einer eigenen Unterseite dieser Webseite.
Bilder 15 und 16: Als Jörn Schramm irgendwann in den 1970er oder 1980er Jahren vorbeischaute, war der Zustand der Verkrautung unterschiedlich. Links die Facherkträgerbrücke, rechte der Durchlaß, zu dem wir gleich kommen werden.
Intermezzo: Unter Dampf (1)
Wir wissen nicht, ob Ulrich Richter einmal oder mehrmals an den Ort des fotografischen Erlebnisses gelangt ist. Die Fachwerkträgerbrücke interessierte ihn überhaupt nicht. Daß die Dampflokomotive einen Dieselvorspann hatte, mag ihn weniger erfreut haben. Heute ist dies ein interessantes Dekument, das uns rätseln läßt. War der Zug zu schwer, um alleine mit Dampf in die höheren Lagen des Odenwaldes gezogen zu werden? Oder nutzte man einfach die Gelegenheit, eine weitere Lokomotive an ihren Bestimmungsort zu überführen?
Bild 17: Ein Güterzug mit Dieselvorspann auf dem Weg in den Odenwald.
Bild 18: Derselbe Güterzug.
Doch wann ist hier der reguläre Güterverkehr eingestellt worden? Buchfahrpläne und Streckenlisten helfen zur Eingrenzung dieses Zeitpunktes weiter. In den bundesbahneigenen „Vorbemerkungen zu den Buchfahrplänen“ der Bundesbahndirektion Frankfurt (Main) wird für den Sommerfahrplan 1976 als unbesetzte Betriebsstelle der Abzweig an der Kastanienallee benannt, und zwar zwischen 13.30 und 6.30 Uhr am Tag darauf. An Sonn- und Feiertagen herrschte Betriebsruhe. Die Streckenliste derselben Bahndirektion für den nachfolgenden Winterfahrplan verkündet hingegen lapidar, daß dieser Streckenabschnitt „z Z gesperrt“ sei. Dieser Status scheint nicht mehr rückgängig gemacht worden zu sein. Ende der 1980er Jahre taucht die Strecke in diesen „Streckenlisten“ folgerichtig nicht mehr auf.
Eingeschnitten
Nach der Hammelstrift befindet sich an der langgezogenen Gleiskurve zwischen Kranichstein und dem Ostbahnhof eine Kleingartenanlage. Bevor die Straßenbahn nach Kranichstein entstand, unterquerte ein Feld- und Wiesenweg die Gleiskurve mit einem aus mehreren Bögen bestehenden Durchlaß. Einige Meter weiter wurde der Bahndamm unterbrochen, um der Straßenbahn eine Trasse durch das Kleingartengebiet zu ermöglichen. Anfangs verlief der die Straßenbahtrasse begleitende Weg geschwungen unter der Bogenbrücke hindurch. Doch dieser kleine Umweg war manchen Menschen zu viel; sie trampelten sich dicht am Bahnköper der Tram einen eigenen Weg durch das Grün. Die Stadt kapitulierte und legalisierte den Trampelpfad.
Bild 19: Der asphaltierte Feldweg (Westseite) im März 2012.
Bild 20: Auf der Bahntrasse fühlten sich Birken und anderes Grünzeug wie zu Hause. Aufnahme vom März 2012.
Bild 21: Diesem Schwellennagel ist eine „52“ eingeprägt. Hier wurde wohl Anfang der 1950er Jahre der Oberbau erneuert. Aufnahme vom März 2012.
Der Bau der Straßenbahn nach Kranichstein bedeutete das Aus für das Überführungsgleis. Anstatt die Straßenbahngleise mit einer neuen Brücke zu überspannen, wurde das Gleis aus Kostengründen stillgelegt. So entstand ein Einschnitt. Die Straßenbahnlinie 5 wurde am 13. Dezember 2003 nach langer Planungs-, Debatten-, Behinderungs- und Bauzeit eröffnet. Das Schaubild eines Zeitungsartikels zum ersten Spatenstich im November 2000 zeigt eine an dieser Stelle vorgesehen Unterführung der Straßenbahn unter das Überführungsgleis. Möglicherweise war damit aber auch die wenige Meter entfernte Bogenbrücke gemeint, die mit der Neubaustrecke nichts zu tun hat.
Bild 22: Straßenbahn 0782 quert von Kranichstein kommend den verschwundenen Bahndamm. Aufnahme vom August 2008.
Bild 23: Der legalisierte Trampelpfad wurde sorgsam gesichert. Links das Ende des Bahndamms. Aufnahme vom März 2012.
Auf dem Weg zur Kastanienallee
Noch bevor das Überführungsgleis die Odenwaldbahn erreicht, befindet sich südlich des Neubaugebiets K6 diese kleine Brücke. Der Weg darunter führt nach wenigen Metern zu einem verschlossenen Tor. Interessant ist die sekundäre Nutzung des Brückengeländers durch einen Basketballkorb. Ob er eher der Dekoration dient oder tatsächlich von den Kranichsteiner Jugendlichen genutzt wird, muß hier offen bleiben.
Bild 24: Basketball am Brückengeländer. Aufnahme vom August 2008.
Bild 25: Kunst am Bau. Aufnahme vom August 2008.
Ab der Kranichsteiner Straße verliefen die beiden Gleise der Odenwaldbahn und das Überführungsgleis einst vereint bis hinter die Blockstelle Kastanienallee. In den 1980er Jahren beschloß die damalige Bundesbahn, die Odenwaldbahn zurückzubauen. Sogar die Stillegung war im Gespräch. Das zweite Gleis zwischen Ost- und Nordbahnhof wurde entfernt. Im Zuge der Reaktivierung mit dem neuen Betreiber VIAS, dem vom RMV gleich ein ganzer Wagenpark spendiert wurde, wurde aus betrieblicher Notwendigkeit heraus auch das zweite Gleis wiederhergestellt. Die Odenwaldbahn überlebte den Anschlag der Automobillobby in Verkehrsministerien und Bahnvorständen recht erfolgreich.
Da war das Überführungsgleis längst gekappt. Heute überquert an dessen Stelle ein Fuß- und Radweg die Kranichsteiner Straße, womit das Wohngebiet K6 kreuzungsfrei mit dem Komponistenviertel verbunden wird. Es hat sich offensichtlich bundesweit eingebürgert, ehemalige Gleistrassen als Fahrradwege auszuweisen, um sicherzustellen, daß niemals wieder eine Eisenbahn, Stadtbahn oder Güterbahn den ländlichen Raum erschließt. Die andere sekundäre Nutzung ehemaligen Bahngeländes besteht in Parkplätzen.
Bild 26: Die Brücke der Odenwaldbahn und der ehemaligen Gleisverbindung über die Kranichsteiner Straße von Kranichstein aus gesehen. Aufnahme vom August 2008.
Bild 27: Der Fuß- und Radweg neben der Odenwaldbahn. Aufnahme vom August 2008.
Bild 28: Detailaufnahme im August 2008.
Bild 29: Das Gebäude der Blockstelle Katsanienalle von Süden aus gesehen. Aufnahme vom April 2015.
Die Blockstelle Kastanienallee stellte einst die Weichen und Signale für die Einfädelung des Überführungsgleises in die zweigleisige Odenwaldbahn. Heute ist das Gebäude bewohnt.
Bilder 30 und 31: Die Brücke über die Kranichsteiner Straße und die Blockstelle Kastanienallee mit ihrem Formsignalen. Das linke Bild wurde offensichtlich längere Zeit nach dem rechten Bild angefertigt. Aufnahmen: Jörn Schramm.
Die Einfädelung der Gleises aus Kranichstein in die Odenwaldbahn geschah mittels dreier Weichen, die zum Zeitpunkt der Aufnahme des linken Bildes wohl geblockt gewesen sein dürften. In dem nachfolgen kurzen geraden Stück befand sich lange Zeit ein wilder Übergang von der Kranichsteiner Straße zur Fasanerie. Dieser ist seit Mitte der 2010er Jahre durch ein massives Gitter versperrt. Die Triebwagen der Odenwaldbahn sind hier einfach zu schnell unterwegs, um den Wildwuchs weiterhin tolerieren zu können.
Intermezzo: Unter Dampf (2)
Ulrich Richter hat auch die Blockstelle an der Kastanienallee besucht und einige Güterzüge eingefangen.
Bild 32: Dampflokomotive 065 018 eilt mit einem Personenzug aus dem Odenwald nach Darmstadt.
Bild 33: Ein Güterzug mit den Lokomotiven 065 014 und 065 0xx wartet am Signal auf die Erlaubnis zur Weiterfahrt in den Odenwald.
Ein bißchen Papierkram
Abbildung 34: Seit September 1976 ist die Stichstrecke von Kranichstein zum Abzweig Kastanienallee gesperrt.
Abbildung 35: Güterzüge von Kranichstein auf die Nebenbahn nach Groß-Zimmern und in den Odenwald sind gezwungen, den Umweg über den Darmstädter Hauptbahnhof zu nehmen. Hier ein Beispiel aus dem Jahr 1978.
Anmerkungen
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- Mir liegen keine Buchfahrpläne nach 1971 vor. Die „Vorbemerkungen zu den Buchfahrplänen“ sind ein eigenes Heft und trotz Hinweises auf die Besetzung der Blockstelle an der Kastanienallee nicht notwendig ein Hinweis auf tatsächlichen Güterverkehr. Deshalb ist nicht auszuschließen, daß der Güterverkehr schon vor dem 25. September 1976 eingestellt wurde. Der im Text erwähnte Leser aus Pfungstadt datiert das Freiholzen des Gleises schon auf etwa 1971. Zumindest für den Sommerabschnitt des Jahres 1971 haben laut Buchfahrplan noch Güterzüge verkehrt. Die „La“ für die 29. Woche 1979 nennt zwischen Kilometer 0,6 und 1,2 (gerechnet ab Blockstelle Kastanienallee) schlechten Oberbau als Ursache und schreibt mit Beginn am 15. Dezember 1975 eine Höhstgeschwindigkeit von zehn Stundenkilometern vor. ⏎
- 2022 richtete die Deutsche Bahn eine eigene Projekt-Webseite ein. Wie ich das Internet kenne, wird diese eines Tages auch wieder spurlos verschwunden sein. ⏎
- Siehe auch die Unterseite dieser Webseite: Gleise von Darmstadt nach Dieburg, dort Abbildung 3. ⏎
- Ariane Stech : 2002 soll die Straßenbahn starten, in: Darmstädter Echo am 14. November 2000. Als Vorlage diente wohl eine kleine Broschüre mit dem Titel „Darmstadt steigt um. Die neue Strecke nach Kranichstein“, in der es jedoch auf Seite 19 zu diesem Durchlaß heißt: „Für den Radweg kann der Durchlass des alten Eisenbahnviadukts genutzt werden.“ Zu dem Foto daneben heißt es: „Die Eisenbahnschienen weichen der neuen Straßenbahnstrecke.“ ⏎