Signal in Griesheim. Formsignal in Griesheim.

Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau

Eingebunden in die Kriegslogistik

Dokumentation

1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Hauptverlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten der Strecken­abschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.

Das Kasernen­gelände auf dem Griesheimer Sand wurde in den August­tagen des Jahres 1914 um ein Kriegs­gefangenen­lager (siehe abgebildete Postkarte) erweitert. Die Gefangenen wurden mit der Riedbahn (oder über den hier zu sehenden Gleis­anschluß?) angeliefert oder ins Landes­innere fortgeschleppt.

Ich danke Werner Krone für seine Skepsis gegenüber meiner ursprünglichen Interpretation des auf der Postkarte #1694 abgebildeten Gleisan­schlusses, Dr. Ines Wagemann vom Stadtarchiv Griesheim für ihre Unterstützung bei der Lokalisierung des Standorts des Fotografen, dem Historischen Forum von Drehscheibe Online für die Klärung der Frage, ob es sich um ein Normalspur- oder um ein Meterspur­gleis handelt, sowie dem DSO-User „KBS 634“ für den entscheiden­den Hinweis auf den auf der Ansichtskarte sichtbaren Hochzeitsturm auf der Mathildenhöhe. Mit diesem Hinweis kann die Blickrich­tung auf der Postkarte eindeutig bestimmt werden. Meine ursprüngliche Annahme, es handele sich um ein Gleis der Darmstadt-Griesheimer Dampf­straßen­bahn, wird damit hinfällig.


Dieses Kapitel über die Einbindung in die Kriegslogistik ist die Fortsetzung des Kapitels über die Einführung von Triebwagen: Mit dem Triebwagen ins Ried.

Der Beginn des 1. Weltkriegs markierte einen Einschnitt in den bis dahin recht unbeschwert sich langsam aus­dehnenden Eisen­bahn­verkehr auf der Riedbahn. Der Transport der Truppen und des Nachschubs an die Front erforderte tiefe Einschnitte in die zivile Infra­struktur. Lokomotiven und Wagen­material wurden requiriert und standen der Kriegs­logistik zur Verfügung. Ab dem dritten Mobil­machungstag galt eine Art Not­fahrplan, der die zivilen Bedürfnisse recht weitgehend ignorierte. Fuhren nach dem Sommer­fahr­plan noch 17 Personenzug­paare zwischen Darmstadt und Goddelau-Erfelden, so waren es ab August nur noch sechs. Ab November 1914 wurde der Vorkriegs­zustand weitgehend wieder­hergestellt, auch wenn die eine oder andere Ein­schränkung fortbestand.

  Militärfahrplan ab der Nacht vom 3. auf dem 4. August 1914.

  Zum Fahrplan, gültig ab dem 23. September 1914.

Kriegsgefangenenlager.

Bild 1: Blick auf das Kriegs­gefangenenlager. Die Aufnahme entstand wohl noch während des Krieges. Ob sie von einem Gefangenen oder einem Besatzungssoldaten nach Frankreich abgeschickt wurde, läßt sich mangels Datums auf der Rückseite nicht ermitteln. Rechts das vom Hauptbahnhof herführende Anschlußgleis, der Blick geht nach Nordosten Richtung Darmstadt.

Seit 1874 bestand auf dem Griesheimer Sand, im Osten und Südosten des damaligen Dorfes Griesheim gelegen, ein Truppenübungsplatz des Königlich Preußischen Kriegs­ministeriums. Zwar wurde das Gelände auch in den Jahr­zehnten zuvor schon für die militärische Übungen des am westlichen Darmstädter Stadtrand gelegenen Kasernen­geländes genutzt, doch mit dem 1874 mit Griesheim abgeschlossenen Vertrag wurde das Gelände dauerhaft vor allem für Artillerie­übungen genutzt. Für Griesheim war diese Einrichtung insbesondere in wirtschaft­licher Hinsicht von Vorteil. Die 1886 errichtete Dampf­straßen­bahn zwischen Darmstadt und Griesheim fuhr am Nordrand des Schießplatzes vorbei, von ihr zweigte ein heute nicht mehr vorhandenes Gleis zu den Baracken und Wirtschafts­gebäuden ab. Vor allem hierüber wurden Soldaten und Material an- und abtransportiert. (Das Gleis wurde im Februar 1935 abgebaut.)

Der Flugzeug­pionier August Euler pachtete gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts einen Teil des Truppen­übungs­platzes für seine Flug­versuche. In den Folgejahren entwickelte sich auf dem Griesheimer Sand ein Militär­flugplatz. Dem preußischen Militär war die mögliche strategische Bedeutung der neuen Flug­geräte nicht verborgen geblieben.


Zeitungsartikel.
Zeitungsartikel.

Abbildung 2: Zu jedem Krieg gehört die psychologische Kriegsführung. So wurde bald nach dem Eintreffen der ersten kriegsgefangenen französischen Soldaten die Presse eingeladen, um ein möglichst positives Bild von den deutschen Bemühungen zur Einhaltung der Haager Landkriegsordnung zu verbreiten. Derlei Berichte versuchten nicht nur die einheimische Bevölkerung zu beeinflussen, sondern waren durchaus auch darauf gerichtet, die Öffent­lichkeit in Europa und den USA vom leutseligen Charakter deutscher Fried­fertigkeit zu überzeugen. Diese Meldung fand sich am 24. August 1914 in der „Darmstädter Zeitung“ [online ulb darmstadt].


Mit Kriegsbeginn zogen die Soldaten ab. Bald darauf trafen die ersten Kriegs­gefangenen ein und die bestehenden Gebäude reichten bald nicht mehr aus. Das Lager wurde erweitert. Schon am 18. August 1914 wurden französische Kriegs­gefangene unter den Blicken Hunderter neugieriger Gaffer eingeliefert (die Kriegs­gefangenen­lager scheinen auch der Volks­belustigung gedient zu haben). Der Griesheimer Anzeiger vermeldet am 10. Oktober 1914 die Ankunft von 150 gefangenen Engländern aus einem schottischen Garderegiment, deren „karierte Röckchen“ besonders erwähnt werden.

„Weiterhin kam ein Transport Senegalschützen von ganz schwarzer Farbe, die den auf niedrigster Kulturstufe stehenden Negerstämmen angehören, hier an.“ [1]

Kriegskarte Nr. 72.

Bild 3: Die Kriegskarte Nr. 72 des Darmstädter Fotografen Wilhelm Gerling zeigt gefangene Schottland-Highländer auf dem Darmstädter Güterbahnhof.

Am 20. November 1914 trafen die ersten neun gefangenen russischen Soldaten ein, „lauter Unteroffiziere, Feldwebel usw.“ [2] – Anfang 1915 waren es 10.000 Kriegs­gefangene, im weiteren Jahres­verlauf wurde die Kapazität des Lagers auf 15.000 erhöht. Baumaterial, Holzwolle für die Schlaf­plätze und wohl auch die Gefangenen selbst wurden mit der Riedbahn zu dem am nördlichen Dorfrand gelegenen Bahnhof transportiert und von dort zu Fuß oder mit Militärlast­autos ins Lager gebracht.

Kriegskarte Nr. 95.

Bild 4: Im Winter 1914/15 fertigte Wilhelm Gerling diese Aufnahme russischer Kriegs­gefangener, vermutlich beim Morgenappell im Lager auf dem Griesheimer Sand, an. Der scharfe Kontrast der in ihre Decken gehüllten Gesellen zu den fast schon lockeren schotischen Soldaten ist propagandistisch gewollt. Die Karte ist als 95 numeriert; eine weitere Kriegskarte mit russischen Kriegs­gefangenen ist bekannt.

Die Anbindung des Lagers wurde erst 1918 mit einem Gütergleis verbessert, das südlich des 1912 fertig­gestellten Darmstädter Hauptbahn­hofs von der Main-Neckar-Bahn abzweigte und durch den Wald geführt wurde.

Das Verbindungsgleis zum Truppenübungsplatz.

Ende 1914 wurde dem Darmstädter Militär die Anlage eines Anschlußgleises genehmigt. Ob es sich um einen Vorläufer des wenig später nach Griesheim erbauten Gleises gehandelt hat oder um eine andere Anlage, ist anhand der mir vorliegenden Unterlagen nicht zu klären. [3]

„Bekanntmachung, Anschlußgleis der Garnison-Verwaltung Darmstadt vom Hauptbahnhof aus betreffend. Vom 3. Dezember 1914. Wir haben der Garnison-Verwaltung Darmstadt die widerrufliche Erlaubnis erteilt, vom Hauptbahnhof Darmstadt aus ein Anschlußgleis anzulegen und mit Lokomotiven zu betreiben. Der Betrieb wird nach den noch ergehenden besonderen Bestimmungen geführt werden.“

Drei Jahre später erteilten die hessischen Behörden dem Militär die Anlage eines Gleises zum Truppenübungsplatz. Wie aus im Griesheimer Stadtarchiv erhaltenen Unterlagen hervorgeht, wurde im Laufe des Genehmigungs­verfahrens die ursprünglich wohl nicht vorgesehene Verlängerung ins Kriegsgefangenen­lager hinzugefügt.

„Bekanntmachung, Anschlußgleis für die Garnison-Verwaltung Truppenübungsplatz Darmstadt auf dem Bahnhof zu Darmstadt betreffend. Vom 28. August 1917. Wir haben der Garnisons-Verwaltung Truppen­übungsplatz zu Darmstadt die widerrufliche Erlaubnis erteilt, vom Bahnhof zu Darmstadt aus ein Anschlußgleis anzulegen und mit Lokomotiven zu betreiben. Der Betrieb wird nach den noch ergehenden besonderen Bestimmungen geführt werden.“

Unterlagen zu diesem Gleis sind rar. In einzelnen zeitgenössischen Landkarten ist es eingetragen, wenn auch nur bis zum Truppenübungsplatz, und auf nur zwei mir bekannten Fotografien ist es zu sehen. Eine einzige davon (obiges Bild 1) zeigt ein Gleisstück, das eindeutig dem Kriegsgefangenen­lager zuzuordnen ist, und es ist somit als alleinig bekannter bildlicher Beleg dafür, anzusehen, daß selbiges Gleis wirklich in voller Länge ausgeführt wurde.

Auch wenn das Militär während der vier Jahre des Krieges das Sagen hatte, so kam es bei der Durchsetzung seiner Interessen durchaus zu kleineren Verzögerungen. Mitten im Waldgebiet zwischen Darmstadt und Griesheim verlief der Bessunger Weg, eine alte Verbindung zwischen den Dörfern Griesheim und Bessungen am Südrand der Darmstädter Innenstadt. Dieser Weg mußte verlegt und dabei begradigt werden, zudem schien es angeraten, wegen der Benutzung einer Dampflokomotive einen Feuerschutz­streifen anzulegen. Die von der Enteignung betroffenen Parzellenbesitzer waren insbesondere mit den finanziellen Modalitäten nicht so recht einverstanden, und es ist wohl dieser Umstand, der uns heute einen kleineren Aktenbestand im Griesheimer Stadtarchiv hat erhalten lassen.

Caserne Garnier du Plessis.

Bild 5: Das während der französischen Besatzung von 1918 bis 1930 Caserne Garnier du Plessis genannte Gebäude beherbergte nach dem Zweiten Weltkrieg bis 2008 die Redaktion und Druckerei der die US-amerikanischen Soldatenzeit­schrift Stars and Stripes. Im Vordergrund das zum Kriegsgefangenen­lager führende Gleis. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em 2007.0551.

Am 17. März 1917 informiert die Garnsionsverwaltung des Truppenübungs­platzes die Griesheimer Bürgermeisterei über die geplante Anlage eines Verbindungs­gleises von den Bahnanlagen am Hauptbahnhof Darmstadt zur Fliegerstation auf dem Truppenübungs­platz. Im Nachgang einer mündlichen Verhandlung am 20. Mai 1917 wird das Problem angesprochen, eine möglichst gerade Trassse zu finden, die das Zerschneiden der angrenzenden privaten Parzellen vermeidet. Am 26. Juni 1917 findet eine Verhandlung über die Benutzung einer Dampf­lokomotive statt, die gestattet wird, wenn das Militär auf seine Kosten einen Feuerschutz­streifen anlegt und zudem nach jeder Fahrt die Strecke wegen eventueller Brandstellen inspiziert. Anfang Dezember 1917 liegt die Erlaubnis des Kriegs­ministeriums vor, den Gleisanschluß bis ins Kriegsgefangenen­lager zu verlängern. Hierbei wird auch „die Garnison-Waschanstalt am äußersten westlichen Ende des Friedenslagers des Truppen-Uebungsplatzes“ angebunden. Offenbar hatte man vor, für die ursprünglich angedachte Strecke mit einer feuerlosen Dampflokomotive der HEAG auskommen zu können, ist sich aber nicht ganz sicher, ob diese auch für die verlängerte Strecke leistungsmäßig ausreichen wird. Am 18. Dezember 1917 teilt das Militär-Bauamt dennoch mit, man verzichte auf den Einsatz einer Regel-Dampflok und damit auch auf die Anlage eines Brandschutz­streifens. Durch die Verlegung des Bessunger Weges, der dann teilweise parallel zur Bahnlinie verlaufen soll, wird zumindest auf der Nordseite der Strecke selbiger Streifen für obsolet erklärt. Der planerische Entwurf zum Bau der Strecke liegt im März 1918 vor und führt zu einer im „Darmstädter Tagblatt“ am 28. März 1918 abgedruckten Bekanntmachung.

„Es ist beabsichtigt, den Gleisanschluß nach der Fliegerstation auf dem Truppenübungsplatz bei Darmstadt zum Anschluß des Kriegs­gefangenen­lagers und des Kohlen­lagerplatzes der Garnsion-Waschanstalt nach Westen weiter zu führen. Die Pläne liegen von Donnerstag, den 28. ds. Mts. bis einschl. Dienstag, den 2. April 1918 auf Großh. Bürgermeisterei Griesheim zur Einsicht offen. Landespolizeilicher Prüfungstermin ist auf Donnerstag, den 4. April, nachmittags 2¾ Uhr – Treffpunkt an der Querstraße beim Eingang in das Barackenlager – anberaumt. Etwaige Einwendungen sind bei Meidung des Ausschlusses während der Offenlegungs­frist oder im Termin geltend zu machen.

Darmstadt, den 27. März 1918.
Großherzogliches Kreisamt Darmstadt.
I. V. : Roesener.

Mit den Vorarbeiten zum Bau der Strecke scheint schon im Sommer 1917 begonnen worden zu sein. Nach der Unterzeichung des Versailler Friedensvertrages gingen die französischen Besatzungsbehörden (wohl 1920) daran, den Gleisanschluß von Darmstadt nach Griesheim zu kappen. Der Oberbau wurde angetragen [4]. Beim Bau der Autobahn von Frankfurt in Richtung Basel wurde etwa 1934 der Anschluß vollständig unterbrochen. Eine Notwendigkeit, das Gleis wiederherzustellen, wurde wohl auch deshalb nicht mehr gesehen, weil die Griesheimer Fliegerei durch den Bau des neuen Rhein-Main-Flughafens überflüssig geworden war.

Karte Griesheim Lager.

Abbildung 6: Meßtischblatt mit Ansicht des Artillerie-Übungs­platzes auf dem Griesheimer Sand. Aus­schnitt der im Stadt­archiv Griesheim vorhandenen Karte gr2007.0103. Das Zufahrts­gleis vom Darmstädter Haupt­bahn­hof ist grün punktiert einge­zeichnet; die Verlänge­rung ins Kriegs­gefangenen­lager blau. Kleinere blaue Punkte bezeichnen die vermutete Gleis­trasse. Mit orangenen Punkten wird das Zufahrts­gleis der Dampf­straßen­bahn von Darmstadt nach Griesheim bezeichnet. Der Griesheimer Ried­bahnhof an der Strecke von Darmstadt nach Goddelau-Erfelden ist rot markiert.

»»  Auf seinem Blog „Stadt.Land.Sand“ zeigt Daniel Jünger das Ergebnis seiner Spurensuche im Darmstädter Stadtwald: Die vergessene Eisenbahnstrecke nach St. Stephan.

Denkmal für die in Kriegsgefangenschaft gestorbenen Franzosen.
Bild 7: Das Denkmal für die im Griesheimer Kriegs­gefangenen­lager gestorbenen französischen Soldaten auf dem Darmstädter Wald­friedhof.

Zu Beginn des Frühjahrs 1916 wurden rund 1.000 französische Kriegs­gefangene ins Innere Deutschlands abgeschoben. Am 1. April 1916 „kamen jedoch wieder 1.065 Gefangene aus den Kämpfen an der Maas hinzu. Die Entlausung und Reinigung dieser dauerte die ganze Nacht.“ [5]

Zwischen 1914 und 1918 starben im Griesheimer Lager 605 Kriegs­gefangene. Sie wurden auf dem nahe gelegenen Darmstädter Waldfriedhof bestattet. Der hessische Großherzog, aber auch Mitglieder des zwei­kammrigen hessischen Landtags besuchten das Lager. Sie waren voll lobender Worte und sprachen sich anerkennend über die dort herrschende Ordnung, Rein­lichkeit und Bequem­lichkeit aus.

Vom 22. Februar bis zum 11. März 1915 besuchte der freisinnige Schweizer Nationalrat Arthur Eugster im Auftrag des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz die Gefangenen­lager in Deutschland. Sein auszugsweise in der „Darmstädter Zeitung“ wiedergegebenen Bericht, etwa zu Unterkunft und Ernährung, benennt auch die durch ihn angetroffenen Zustände auf dem Griesheimer Sand:

„Barackenlager mit 40 Baracken, die sehr gut gebaut sind und über 2½ Millionen Mark gekostet haben. Organisation und Leitung der Baracken durch gefangenen Unteroffiziere. Belegziffer je 250 Mann. Jeder Mann hat zwei Decken. Neue Waschanstalt. Bäder und Dusche genügend. Großes Lazarett. 10 Baracken zu 80 Mann, 558 Patienten, davon 200 Verwundete. Alle Kranke sind sehr zufrieden. Die hiesige Anlage des Lazaretts ist eine außerordentlich praktische. Ein großer, gedeckter, 198 Meter langer Gang, der den Rekonvaleszenten Gelegenheit zur Bewegung gibt, ist links und rechts in regelmäßigen Abständen flankiert von je 10 Baracken für je 40 Kranke. An den Ecken der Baracken liegen 36 Einzelzimmer für Schwerkranke und Pflegepersonal. Die ganze Anlage macht einen außerordentlich guten Eindruck.

Die Posteinrichtungen befriedigen auch hier voll und ganz. Täglicher Briefeingang durchschnittlich 1800 Stück, Pakete täglich 600 bis 800 und Mandate 200 bis 250. Ueber allen Verkehr wird genaue Statistik geführt. Vertrauensleute der Gefangenen betätigen sich auf der Post. Alle Gefangenen haben warme Unterkleider. Jedem Bedürftigen wird das Nötige gratis verabfolgt. Für alle Baracken sind große Spielplätze vorhanden. Eine Feuerwehr aus Gefangenen ist gebildet worden. Viele Arreststrafen wegen Rauchens in den Baracken. Sonst wenig Disziplin­widrigkeiten. Zeitung: ‚Edition spéciale de la Gazette des Ardennes‘.“

Dennoch, idyllische Zustände werden dort nicht geherrscht haben, aber Ordnung und Sauberkeit müssen natürlich bei einer Show­veranstaltung sein, wenn hoher Besuch ansteht. Ganz egal, ob es sich um den Großherzog, um Landtags­abgeordnete oder einen mit gezielten Informationen gebrieften Schweizer Nationalrat gehandelt hat. Er wird zwar mit dem einen oder anderen Gefangenen gesprochen haben, doch üblicherweise besteht hierbei nicht die Mög­lichkeit des vollkommen unkontrollierten und damit auch offenen und vertraulichen Gesprächs. Jedenfalls hat er sich ganz allgemein lobend über die hygenischen Verhältnisse geäußert: „Wenn behauptet worden ist, daß in vielen deutschen Lagern die Gefangenen im Schmutze leben, bedeckt mit Ungeziefer, so muß diese Behauptung mit aller Entschiedenheit im Interesse der Wahrheit und Gerechtigkeit zurückgewiesen werden. Das Gegenteil ist wahr.“ – War er auch in Kassel gewesen?

Innenansicht Baracke.

Bild 8: Innenansicht einer Baracke mit französischen Kriegsgefangenen. Die Rückseite der Ansichtskarte enthält keine Angaben zum Fotografen oder Verlag.

Immerhin gibt es keine Hinweise darauf, daß in Griesheim die Zustände so elend wie im Kriegs­gefangenen­lager Kassel-Nieder­zwehren gewesen sind, wo von den 18.300 Kriegs­gefangenen mehr als 7.000 infolge einer Fleckfieber­epidemie erkrankt und fast 1.300 gestorben sein sollen. Französische Quellen sprachen von sogar über 3.000 Toten, während nach deutschen Angaben bis Ende 1915 „nur“ 1.280 Kriegs­gefangene, darunter 721 Franzosen, an Fleckfieber gestorben waren. Hier kamen wahr­scheinlich logistische Probleme und die Inkompetenz des Lagerleiters, Generalmajor Benno Kruska (1849–1933), zusammen. In einem voreinge­nommen geführten Verfahren vor dem Leipziger Reichs­gericht wurde Kruska am 9. Juli 1921 freigesprochen. Dennoch lasse ich die Frage offen, ob 605 Tote unter Kriegs­bedingungen so etwas wie den „Normalfall“ darstellen.

Gräberfeld für die russischen Kriegsgefangenen.
Bild 9: Das Gräberfeld für die in Kriegs­gefangenschaft gestorbenen russischen, polnischen und serbischen Soldaten auf dem Darmstädter Wald­friedhof.

Eine Tafel am Eingang des Darmstädter Wald­friedhofs gibt die Zahl der hier bestatteten französischen Soldaten mit etwa 240 an, die der russischen Soldaten mit etwa 170. Für etwa die Hälfte dieser russischen Soldaten stehen gegenüber des Denkmals Grabkreuze mit der Angabe des Todesdatums. Demnach starben 1915 fünf, 1916 sechs, 1917 fünfundvierzig, 1918 sechsundzwanzig und 1919 vier Personen. Bei drei Soldaten wurde als Nationalität Serbe angegeben, bei einem Pole. Bei den übrigen handelt es sich um 80 russische Soldaten und zwei russische Zivilisten. Eine Häufung von Todesdaten ist für April bis Juli 1917 und für November und Dezember 1918 festzustellen.

„Auf dem Waldfriedhof wurden 762 ausländische und 397 deutsche Soldaten beigesetzt. 1922 haben die französische und belgische Regierung die hier bestatteten Franzosen und Belgier auf einen Sammelfriedhof nach Saarlouis überführen lassen.“ [6]

Ab und an geriet das Kriegsgefangenen­lager auch in die Spalten des Darmstädter Rehierungsblattes, der „Darmstädter Zeitung“, so auch am 3. Mai 1918:

„Auf dem Gefangenenlagerplatz Griesheim ist nunmehr auch eine Anzahl Amerikaner und Portugiesen, die, in gleicher Weise wie die Engländer ausgerüstet, einen nicht gerade günstigen Eindruck machen.“

Oder am 25. Juni 1918:

„Zu der großen Auswahl von Gefangenen auf dem Griesheimer Gefangenen­lager sind seit einiger Zeit auch Australier, Senegalneger und andere schwarze Gesellen mit zerschnittenen, verunzierten Gesichtern hinzugekommen. Dieser Tage kam nun auch ein spanischer Häuptling hier an, der, auf einer Ozeaninsel, die unter spanischer Oberhoheit steht, aufgegriffen, unter irgend einer Ausrede auch zum Kampf gegen Deutschland veranlaßt wurde.“

Mit derlei exotisierenden Schrullen wird ein Publikum gefüttert, das sich gar nicht erst gefragt haben wird, was ein deutsches Kriegsschiff auf selbiger Ozeaninsel, weit entfernt vom europäischen Kriegsschau­platz, zu suchen hat. Derlei Gedanken mögen für das deutsche Bürgertum seinerzeit vollkommen exotisch gewesen sein. – Kaum ein halbes Jahr später, die deutschen Armeen befinden sich schon auf dem Rückzug und die Kapitulation ist abzusehen, ist die Niedertracht noch längst keiner Demut gewichen. Und so lesen wir in der „Darmstädter Zeitung“ am 4. Oktober 1918:

„Der Zweiten Kammer ging folgende eiligste Anfrage des Abg. Dr. Osann zu: Ist es Großh. Regierung bekannt, daß die Inspektion der Kriegs­gefangenenlager des 18. Armeekorps in Frankfurt beabsichtigt, den Kriegs­gefangenen Darstellungen in den Kinos in Darmstadt vorführen zu lassen? Billigt Großh. Regierung angesichts der Behandlung deutscher Kriegs­gefangener in Frankreich und England diesen Plan der Inspektion der Kriegs­gefangenenlager oder ist Großh. Regierung gewillt, einem solchen Vorhaben in Hessen alsbald entgegen zu treten und seine Ausführung zu verhindern? Ich mache darauf aufmerksam, daß bereits am Sonntag, den 6. ds. Mts., die Vorführung in Darmstadt stattfinden soll und daß sich diese Vorführungen alle zwei Wochen Sonntags wiederholen sollen.“

Leider habe ich in diesem Regierungsblatt die Antwort auf die „eiligste“ parlamentarische Anfrage dieses nationalliberalen Abgeordneten nicht finden können. Aber wir werden gewiß verstehen, daß dem Feind kein Amüsement zusteht. Schon der bloße Gedanke daran, daß sich diese Gefangenen frei bwegen können, schürt Unruhe. Am 15. November 1918, eine Woche nach dem Sturz des Gottes­gnadentums, erachtet die Redaktion der „Darmstädter Zeitung“ es für angebracht, die aufgewiegelte Bevölkerung der Stadt zu beschwichtigen.

„Es kam gestern vielfach zu Beunruhigungen in der Bevölkerung darüber, daß die Kriegsgefangenen sich in der Stadt frei bewegten. Dies war verursacht druch einen mißverstandenen Befehl, der bereits dahin berichtigt ist, daß die Gefangenen bis zu ihrem Abtransport innerhalb des Lagers zu bleiben haben.“

Nach den Waffenstillstandsbedingungen war mit einer Besetzung des Lagers durch französische Truppen am 13. oder 14. Dezember 1918 zu rechnen.

Zu besagten Waffen­stillstands­vereinbarungen am Ende des 1. Weltkrieges gehörte die Räumung des Mainzer Brückenkopfes in einem Radius von 30 Kilometern um Mainz von deutschen Truppen. Das zu räumende Gebiet umfaßte auch den Griesheimer Sand. Griesheim kam so bis 1930 unter französische Militär­verwaltung. Das Übungs­gelände wurde von französischen Armee-Einheiten bezogen. Doch dies ist eine andere Geschichte.

Die Geschichte der Riedbahn wird fortgesetzt mit dem Kapitel Krieg und Spiele.


Literatur

Anmerkungen

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