1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Hauptverlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten der Streckenabschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.
Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg wurden die Scherben zusammengekehrt, die Vergangenheit verleugnet und neue Fakten geschaffen. Das Wirtschaftswunder forderte und förderte den Massenverkehr, die damit einhergehende Massenmobilisierung füllte zuerst die Züge, bevor das Automobil seinen politisch gewollten und wirtschaftlich auf Kosten der Bahn durchgesetzten Siegeszug antrat. Die ersten Nachkriegsjahre galten dem Wiederaufbau. Die 50er Jahre brachten der Riedbahn zunächst neue Züge und Fahrgäste. Das Ende des hier dokumentierten Teilstücks vollzog sich seit Anfang der 60er Jahre in Raten, aber stetig.
Dies ist die Fortsetzung der Geschichte der Riedbahn in den ersten Nachkriegsjahren.
In den letzten Kriegstagen, genauer am 20. März 1945 sprengten sich zurückziehende deutsche Einheiten die Straßen- und die Eisenbahnbrücke über den Rhein bei Worms. Der Politik der verbrannten Erde folgte die Verleugnung der eigenen Verantwortung für Massenmord, Kriegsverbrechen und die Plünderung halb Europas.
Während das linke Rheinufer der französischen Besatzungszone zugeschlagen wurde, wurde das rechtsrheinische Hessen der US-amerikanischen Militäradministration unterstellt. Die zerstörten Brücken bei Mainz, Gernsheim, Worms und Mannheim erforderten Notlösungen, um den Verkehr zwischen den beiden Rheinufern zu ermöglichen. Auf Anweisung der französischen Militärbehörden wurde einige Meter unterhalb der zerstörten Eisenbahnbrücke eine Behelfsbrücke errichtet, die am 15. Oktober 1948 fertiggestellt und freigegeben wurde. Diese Brücke diente sowohl dem Straßenverkehr als auch der Eisenbahn.
Mehrere Jahre lang wurde die Behelfsbrücke stundenweise für die verschiedenen Verkehrsarten abwechselnd freigegeben, bis am 30. April 1953 die Nibelungenbrücke feierlich dem Verkehr übergeben wurde. Der Neubau der Eisenbahnbrücke ging zu Beginn des Sommerfahrplans 1959 in Betrieb, die Behelfsbrücke wurde anschließend abgerissen.
Die Nutzung der Brücke durch zwei miteinander nicht kompatible Verkehrssysteme stellte die Bundesbahn vor logistische Herausforderungen. So konnten Züge die Brücke beispielsweise im Sommer 1950 nur morgens zwischen 4.30 und 8.20 Uhr, mittags von 12.20 bis 13.30 Uhr und abends von 16.35 bis 21.20 Uhr benutzen [1]. Züge von Darmstadt oder Bensheim Richtung Worms endeten deshalb bis 1953 häufig in Hofheim. Zwischen Hofheim und Worms verkehrten (im Winter 1950/51) vier Buspaare, und zwar ab Worms um 8.30, 10.30, 14.00 und 15.20 Uhr, und ab Hofheim um 9.00, 11.00, 14.50 und 16.10 Uhr. Ansonsten war wahrscheinlich ein längerer Fußmarsch angesagt.
Die im Vergleich zu Mainz oder Mannheim geringere Bedeutung der Wormser Rheinbrücke wird anhand einer Meldung vom April 1951 ersichtlich. Demnach querten täglich 127 Züge die Mainzer Südbrücke und 125 Züge die Brücke von Ludwigshafen nach Mannheim. Die Rheinbrücke bei Worms wurde hingegen von nur 36 Zügen befahren, was sicherlich auch mit der hybriden Nutzung dieser Behelfsbrücke zu erklären ist. Allerdings nutzen die südliche Mainzer Eisenbahnbrücke auch mehr als ein halbes Jahrhundert später stark frequentierte Strecken vom Rheinland nach Hessen. [2]
Von Darmstadt aus verkehrte weiterhin eine Kraftbuslinie zur Rheinfähre bei Kornsand. Der Fahrplan nahm seit Sommer 1951 sowohl Rücksicht auf die Züge der Riedbahn von Mannheim nach Frankfurt mit Umsteigen in Dornheim, als auch auf die Züge auf der anderen Rheinseite in Richtung Bad Kreuznach. Der Bus fuhr ab Darmstadt über Griesheim, Wolfskehlen, Dornheim, Leeheim, Geinsheim zur Fähre. Darmstadt ab 6.45, 9.15, 11.45, 13.45 (nur samstags und sonntags), 17.00, 19.00 sowie sonntags um 21.00 Uhr. Von Kornsand fuhr der Bus werktags um 5.30, täglich um 7.40, 10.10 und 12.40, samstags und sonntags um 14.10, täglich um 18.05 und 20.05, sowie sonntags um 21.50 Uhr ab. [3]
Zur Versorgung der Riedgemeinden richtete die Bundesbahn im September 1949 eine Güterkraftlinie ein, die dreimal wöchentlich nach einem bestimmten Fahrplan Expreßgüter, Eilgüter und Frachtstücke beförderte. Die Rundtour begann in Darmstadt und führte über Pfungstadt nach Gernsheim, von dort über Crumstadt und Goddelau-Erfelden, Geinsheim, Hessenaue und Königstädten nach Groß-Gerau, und kehrte über Dornheim und Griesheim wieder nach Darmstadt zurück. Hierbei war es möglich, auch Fracht zwischen den genannten Orten zu versenden. [4]
Die Ausweitung des Personenverkehrs auf der Riedbahnteilstrecke nach Darmstadt in den 50er Jahren und der schleichende Abbau von Zugleistungen in den 60er Jahren korrespondiert mit der allgemeinen Entwicklung einer automobil gemachten Gesellschaft. Eher lokale Faktoren waren der Ausbau des Autobahn- und Straßennetzes rund um Darmstadt und der zweigleisige Ausbau der Straßenbahn von Darmstadt nach Griesheim. Ende der 60er Jahre war abzusehen, daß der Streckenteil von Darmstadt nach Goddelau-Erfelden nicht mehr wirtschaftlich zu betreiben sein würde, und folgerichtig wurde der Verkehr auf dieser Strecke dann auch eingestellt und selbige abgebaut. Proteste aus Griesheim blieben aus.
Das alles geschah nicht zwangsläufig. Die Förderung des automobilen Autismus geschah im Interesse der Automobil- und Erdölkonzerne sowie deren Zuliefererindustrie. Private Profitinteressen hatten Vorrang vor einem rationalen gesamtgesellschaftlichen Kalkül. Verkehr wurde schon damals „gemacht“ und schuf folgerichtig „Sachzwänge“, die das selbstgeschaffene Übel vervollkommneten. In den 50er Jahren stieg die Zahl der Verkehrstoten rapide; der Griesheimer Anzeiger aus jener Zeit ist eine wahre Fundgrube an Berichten über Verkehrsunfälle, Raserei und Verstopfungen der – weil noch nicht ausgebaut – völlig überlasteten Verkehrsadern.
Nebel behinderte schon im 19. Jahrhundert den Eisenbahnverkehr im Ried. Ende November oder Anfang Dezember 1950 fuhr in den Abendstunden ein Zug aus Worms auf einen Mannheimer Personenzug auf. Aus der Meldung geht das Datum nicht hervor. Die beiden Lokomotiven wurden an der Stirnseite beschädigt; es gab einen Schwerverletzten und mehrere Leichtverletzte. Sofern der Bericht in Bezug auf den Abfahrtsort nicht ebenso unpräzise ist wie beim Datum, verkehrte im Winter 1950 abends nur ein Zug aus Richtung Worms, der fahrplanmäßig um 20.09 Uhr Biblis erreichen sollte. Vermutlich hatte er Verspätung, denn der einzig passende Zug nach Mannheim hätte Biblis aus Frankfurt kommend um 20.17 Uhr erreichen sollen. Allerdings kann „aus Richtung Worms“ auch aus Hofheim bedeuten, und dann besteht ein erhöhter Interpretationsspielraum.
Am 2. Dezember 1953 muß derart dichter Nebel im gesamten Rhein-Main-Gebiet geherrscht haben, daß der Griesheimer Anzeiger geradezu von englischen Verhältnissen schrieb. Am Bahnübergang zwischen Wolfskehlen und Goddelau (also recht nahe der Wolfskehler Bahnstation) durchbrach ein Viertonner die geschlossene Bahnschranke und wurde 150 Meter weit mitgeschleift. [5]
Zu Beginn der 50er Jahre konnte die Bundesbahn daran gehen, die kriegszerstörten Bahnhofsgebäude wiederaufzubauen. Auch kleinere Dörfer und Städte machten sich Hoffnungen, so Griesheim. Das dortige Lokalblatt gab im Januar 1951 einer derartigen Hoffnung Ausdruck, nicht ahnend, daß es noch bis zum Juli 1961 dauern sollte, bis das alte Bahnhofsgebäude abgerissen werden sollte, und bis zum November 1962, ehe der nüchterne Neubau zur Verfügung stand. Keine zehn Jahre später wurde der Personenverkehr eingestellt. Ende 1973 wurde aus dem Bahnhof ein Bauhof.
Am Posten 70, dort, wo heute noch in einem Wohnhaus das ursprüngliche Bahnwärterhaus an der Straße von Griesheim nach Wolfskehlen zu erahnen ist, kreuzte die von Griesheim herführende Wolfskehler Chausse die Bahngleise. Anders als heute, wo die Straße geradlinig verläuft, schlängelte sie sich damals in einer Art umgedrehter S-Kurve fast rechtwinklig über die Gleise. Mit zunehmender Automobilisierung entwickelte sich hier (vor allem in den 60er und 70er Jahren) ein Unfallschwerpunkt, allerdings scheinen die frischgebackenen Besitzer (und manchmal auch Besitzerinnen) der zunehmenden Kraftfahrzeuge häufig mit der doch nicht so simplen Technik des Autofahrens überfordert gewesen zu sein. Die Folge: Unfälle allerorten mit hochschnellender Todesrate.
Im November 1949 durchbrach ein US-amerikanischer Personenwagen in voller Fahrt die geschlossene Eisenbahnschranke und wurde von einem aus Darmstadt kommenden Zug mitgeschleift. Beide Insassen wurden schwer verletzt. [6]
Aber auch andere Bahnübergänge waren betroffen. Im Mai 1956 durchbrach ein Auto die geschlossene Schranke der Büttelborner Landstraße und wurde von einem Personenzug erfaßt. Fahrer und Beifahrer konnten vorher noch abspringen, eine dritte Person wurde nur leicht verletzt. [7]
1952 wurden die ersten serienmäßigen Schienenbusse, genauer: die ersten Uerdinger Schienenbusse, ausgeliefert und sogleich in Darmstadt stationiert. Die auch als Rote Brummer bezeichneten Fahrzeuge sollten, obwohl ihre Lebensdauer nur mit fünfzehn Jahren vorgesehen war, mit ihrem charakteristischen Sound zwei, drei, vier Jahrzehnte lang eine Reihe von Nebenstrecken vor dem Aus bewahren.
Nach der Währungsreform 1948 mußte die zur Bundesbahn mutierte ehemalige Deutsche Reichsbahn daran gehen, ihr überaltertes und kriegszerstörtes Zug- und Wagenmaterial, sowie Bahnhöfe, Schienenwege, und die daran hängende Infrastruktur zu erneuern. Gezwungen, nach betriebswirtschaftlichen Effizienzkriterien zu arbeiten, durften die Ausgaben nicht höher sein als die Einnahmen. Angesichts der Lebensverhältnisse in den ersten Nachkriegsjahren war im Personenverkehr zunächst an eine bedeutende Einnahmesteigerung nicht zu denken. Also mußten die Ausgaben gesenkt werden. Ein Unternehmen, das den Eisenbahnverkehr nicht auf wenige lukrative Fernverbindungen beschränkt, sondern auch Pendlerinnen und Pendler von der Fläche in die Städte zu befördern hatte, stand hier vor einem Kostenproblem. Nach betriebswirtschaftlicher Logik waren hier die von Dampflokomotiven gezogenen Züge und die überalterten Dieseltriebwagen ein Kostenfaktor, den es zu beseitigen galt. Entweder man legte derart als unrentabel angesehene Strecken still oder fand eine kostengünstigere Alternative. Mit der Entwicklung von Schienenomnibussen ging man daher einen Weg, der schon in der Vorkriegszeit auf so mancher Nebenstrecke begonnen wurde. Von der Beschaffung und dem Unterhalt her günstige und wenig personalintensive Fahrzeuge sollten die aufwendige Dampftraktion ersetzen. Damals angestellten Berechnungen zufolge amortisierte sich die Neuanschaffung eines Schienenbusses schon nach einem Jahr. Als Nebeneffekt ist die geringere Abnutzung der Gleisanlagen durch die wesentlich leichteren Fahrzeuge festzuhalten, so daß die Entscheidung, eine Nebenstrecke zu erneuern oder stillzulegen, manches Mal vertagt werden konnte.
Während die Indienststellung der modernen und hellen Triebwagen im Frühjahr 1952 beim Publikum gut ankam und mancherorts zu wahren Volksaufläufen führte, betrachtete man beim Personal diese Entwicklung mit einiger Sorge. Die Betriebsführung und der Unterhalt der Schienenomnibusse erforderten nämlich deutlich weniger Personal und Werkstätteneinrichtungen.
„Bei der Beschaffung des Schienenbusses spielten Fahrzeugpreis und Folgekosten eine entscheidende Rolle. Die technische Qualität trat dahinter zurück, zumal den potentiellen Fahrgästen bereits die Bezeichnung ‚Schienenomnibus‘ signalisierte, was an Reisequalität sie erwarten konnten.“ [8]
Dennoch ist hier festzuhalten, daß die Schienenbusse auch nicht unbequemer waren als die teilweise verschlissenen Vorkriegswagen. Betrachten wir hingegen den Komfort nach heutigen Gesichtspunkten, dann erscheinen die Schienenbusse archaisch. Ich selbst bin Anfang der 70er Jahre mehrere Jahre lang mit ihnen zur Schule gefahren und habe die auf derselben Strecke verkehrenden Reisezugwagen mit Dieseltraktion immer vorgezogen. Insbesondere im Sommer waren die oftmals von Schülerinnen und Schülern überfüllten Schienenbusse eine Qual. Hierin zeigt sich jedoch ein grundsätzliches konstruktives Problem der Fahrzeuge: ihr Beförderungsvolumen war begrenzt. Auch wenn der Bahnverwaltung bekannt sein mußte, daß eine dreiteilige Garnitur nicht ausreichte, konnte nicht einfach ein weiterer Beiwagen angehängt werden.
Andere Mängel wurden im Betrieb ebenfalls deutlich. Ein Insiderwitz bezeichnete den Sommer, den Herbst und den Winter als größte natürliche Feinde des Schienenbusses. Im Sommer konnte die Innentemperatur durchaus weit mehr als 40 Grad erreichen und die einzig wirksame Abhilfe bestand im verbotenen Öffnen aller Türen, was ich auch selbst erlebt habe. Das Aufklappen der Oberlichter der Fenster reichte auch in Verbindung mit vereinzelten Dachlüftern nicht aus, um die bullige Hitze zu vertreiben. Die mit Plastikleder bezogenen Sitze heizten sich derart auf, daß frisch eingestigene Passagiere sich ihnen nur vorsichtig nähern konnten. Im Winter hingegen erwies sich die Heizung als nicht ausreichend dimensioniert; erst gut gefüllte Wagen sorgten durch vermehrte Körperwärme für Abhilfe. Die geringe Achslast des einmotorigen VT 95 begünstigte das Durchdrehen der Räder. Laubbefall, vereiste Spurrillen auf Bahnübergängen und Schneeverwehungen machten den Einsatz mitunter zum Abenteuer, zumal die recht wirkungslosen Scheibenwischer gerade in den Morgen- und Abendstunden manche Gefahr eher verschleierten. Mit der Anschaffung der wesentlich teureren zweimotorigen Bauart VT 98 konnten manche dieser Probleme beseitigt werden.
Bei Unfällen machte sich die besonders preisgünstige Ausführung der Schienenbusse bemerkbar. Manche – im herkömmlichen Betrieb sichere – Unfälle konnten durch die eingebaute Magnetschienenbremse verhindert werden, die jedoch zuweilen aufgrund der Überforderung der Lichtmaschine teilweise oder ganz abgeschaltet oder nur begrenzt wirksam war. Bei leichten Unfällen bewährte sich in der Regel die Versteifung des selbsttragenden Aufbaus. Da jedoch insbesondere die VT 95 keine Puffer besaßen, wurde die Aufprallenergie fast vollständig ins Wageninnere weitergegeben. Schwere Verletzungen entstanden durch die – ansonsten ja praktischen – umklappbaren Sitze und die bis Mitte der 60er Jahre aus Fensterglas bestehenden Scheiben. Derartige Unfälle zogen schlimmere Folgen nach sich, wenn – was insbesondere im Berufs- oder Schülerinnen- und Schülerverkehr häufiger vorkam – der vordere Trieb- oder Steuerwagen überfüllt war und somit der Stehplatzbereich einer Sardinenbüchse ähnelte. Hinzu kam, daß gerade auf Nebenstrecken die Bahnübergänge oftmals unzureichend abgesichert waren.
Insgesamt wurden alleine durch die Waggonfabrik Uerdingen zwischen 1950 und 1965 551 Triebwagen, 7 Beiwagen und 187 Steuerwagen geliefert, allein 357 Triebwagen der Baureihe VT 95 kamen zwischen 1952 und 1955 neu zum Einsatz. Durch weitere Hersteller konnten insgesamt 2314 Einheiten in Dienst gestellt werden. Diese bewährten sich so gut, daß sie teilweise weit über die eingeplante Lebensdauer von fünfzehn Jahren zum Einsatz kamen, auch als sie vermehrt wartungsanfällig und unmodern wurden. Die Bundesbahn verzögerte den Bau einer Nachfolgegeneration – die Baureihen 627 und 628 – so lange, bis viele mit Schienenbussen betriebene Nebenstrecken stillgelegt und abgebaut worden waren. Daher fielen ausgemusterte Schienenbusse im Betriebsablauf kaum ins Gewicht, solange eine entsprechende Anzahl von mit ihnen betriebenen Strecken verschwand.
1952 wurden im Bw Darmstadt die ersten Schienenbusse beheimatet. Das Gebiet der von Darmstadt aus eingesetzten Schienenbusse umfaßtete zunächst Haupt- und Nebenstrecken vom Ried bis nach Mittelhessen, unter anderen die Riedbahn. Ab März 1956 wurden auch zweimotorige Schienenbusse der Baureihe VT 98 eingesetzt.
Soweit es in den Kursbüchern der 1950er Jahre angegeben ist, läßt sich die Entwicklung der Umstellung von Dampftraktion auf Schienenbusse nachvollziehen. Im Sommerfahrplan 1950 verkehrten auf dem Teilstück zwischen Darmstadt und Goddelau-Erfelden 17 Zugpaare. Eine leichte Erhöhung der Frequenz auf 19 (ab Darmstadt) bzw. 21 (nach Darmstadt) ist im Sommer 1953 zu verzeichnen. Im Sommer 1954 sind es schon 24 bzw. 26. Im Sommer 1955 wird ein Höchsttand mit 27 bzw. 28 Zügen erreicht, davon werden vier bzw. fünf mit Schienenbussen gefahren. Einer dieser Züge verkehrte in den Jahren 1953 bis 1955 vormittags als Triebwagen, vermutlich kein Schienenbus, von Mannheim nach Frankfurt mit einem Flügel nach Darmstadt. Im Sommer 1956 und 1957 sind es nur noch 25 Zugpaare, davon vier (1956) bzw. fünf (1957) mit Schienenbussen. Im Sommer 1958 wird die Verkehrsleistung noch einmal auf 28 bzw. 27 Züge ausgedehnt, davon werden 12 Zugpaare mit Schienenbussen bedient. Im Sommer 1959 sind es schon vier Zugpaare weniger, die von elf (ab Darmstadt) bzw. zehn (nach Darmstadt) Schienenbusgarnituren gefahren werden.
1965 existierten vier Umläufe mit neunzehn Schienenomnibussen und einer Laufleistung von 168 bis 321 Kilometern pro Tag. Am 1. September 1966 waren in Darmstadt 19 Triebwagen VT 95, 17 Beiwagen VB 142, 8 Triebwagen VT 98, 8 Steuerwagen VS98 und 9 Beiwagen VB98 beheimatet. Die meisten einmotorigen VT 95 wurden zum Winterfahrplan 1970/71 an das Bw Gießen abgegeben, als der Personenverkehr zwischen Darmstadt und Goddelau-Erfelden eingestellt wurde. 1975 wurden dann alle Schienenbusse im Bestand des Bw Gießen geführt, aber teilweise noch von Darmstadt aus eingesetzt.
Im Sommer 1969 verkehrten – zumindest laut Buchfahrplan – die Züge von Darmstadt ins Ried entweder mit Diesellokomotiven der Baureihe 211 oder mit einer zweiteiligen Garnitur, bestehend aus Triebwagen 795 und Beiwagen 995, einer dreiteiligen Garnitur, bestehend aus Triebwagen 798, Beiwagen 998 und Steuerwagen 998, oder einer vierteiligen Garnitur, bei der zwei Zweiteiler zusammengekoppelt waren. Sechsteiler gab es laut Buchfahrplan hingegen nicht.
In den frühen 1950er Jahren mußte die Deutsche Bundesbahn erfinderisch sein, um den Bedarf an Lok- und Wagenleistungen mit dem vorhandenen Material abzudecken. So wurden an einzlenen Standorten recht einfache und für diesen Zweck auch gar nicht beschaffte Diesellokomotiven der Baureihe V36 mit einer einfachen Wagengarnitur versehen, an deren Ende sich ein Steuerwagen befand. Derartige Garnituren sind auch auf der Riedbahn gelaufen, auf Drehscheibe Online wurde hierzu eine Fotografie aus dem Merck-Archiv eingestellt, das vermutlich den Nahverkehrszug 3623 aus Hofheim nach Darmstadt zeigt, der in Gernsheim um 11.52 Uhr Station machte.
Ernst Bäppler aus Aschaffenburg verbrachte seine Schulferien bei seiner Tante in Griesheim; und da im Hause nur Eisenbahner wohnten, lag es nahe, daß er vom Virus Eisenbahn befallen wurde. Jahrzehnte später erweist sich dies als hilfreich, denn so lassen sich auch ohne Buch- und Umlaufpläne einzelne Zugleistungen minutiös rekonstruieren:
„Zu den von Ihnen erwähnten V36-Einsätzen mit Wendezügen darf ich bemerken: 1957 war es mehr als die Hälfte aller Zugleistungen zwischen Darmstadt und Goddelau. Es waren alle Züge, die im Kursbuch mit 2. Klasse, ohne Gepäck und ohne Triebwagensymbol gekennzeichnet waren. Diese Züge fuhren teilweise bis nach Hofheim/Ried.
Die Dampfzüge mit nur 2. Klasse waren 1957 teilweise mit BR 74 bespannt, zumindest erinnere ich mich konkret an eine Mitfahrt von Griesheim nach Darmstadt im Jahr 1957. Ab 1958 tauchten keine BR 74 mehr auf. Die V36-Wendezüge hielten sich noch bis zum Ende des Winterfahrplans 1959/1960. Zum Sommerfahrplan 1958 kamen verstärkt VT 60 zum Einsatz, erkennbar im Fahrplan am Triebwagensymbol und 1.2. Klasse. Diese wurden durch die Elektrifizierung der Main-Neckar-Bahn dort freigesetzt. Ab Winterfahrplan 1959/60 wurden diese Einsätze reduziert, und zwar nicht nur in Richtung Goddelau, sondern auch auf der KBS 317 [Mainz – Darmstadt – Aschaffenburg]. Dort fielen sie nach der Elektrifizierung der Gesamtstrecke zum Sommer 1960 ganz weg. Werktags außer an Samstagen hielt sich aber bis Ende des Winterfahrplans 1963/64 ein eintägiger Umlauf des Bw Darmstadt: Neben einigen Leistungen nach Goddelau gab es eine Tagesrandleistung nach Wiebelsbach-Heubach und einen nachmittäglichen ‚N‘-Zug nach Eberbach und zurück.
Bild 6: Ein Personenzug verlätß Griesheim in Richtung Darmstadt.Ansonsten kamen ab Winterfahrplan 1959/60 überwiegend Schienenbusse zum Einsatz (vom Berufsverkehr und dem sich bis zum Ende des Sommers 1961 haltenden ‚Kaiserslauterner‘ – zuletzt BR 23 – abgsehen). Interessant war das Paar 3629 und 3630. Im Winter 61/62 und im Sommer 62 verkehrte es als Dampfzug mit BR 65 aus einem Odenwald-Umlauf. Vorher war es VT 95, nacher wurde es VT 60.
Zwischen Sommer 1962 und Winter 63/64 verkehrte vormittags mit 3616 und 3621 ein weiteres Dampfzugpaar zwischen Goddelau und Darmstadt. Es war ein Wendezug mit BR 38. Der war planmäßig auf der Riedbahn im Einsatz und hatte mit dieser Füll-Leistung eine Anbindung an das Heimat-Bw Darmstadt. 3607 und 3610 wurden ab Winter 61/62 werktags mit Pto [Schienenomnibus], sonntags jedoch bis Ende Winterfahrplan 1963/64 als Dampfzug mit BR 23 (aus der BD Mainz) gefahren. Im Jahresfahrplan 1964/65 kam ein Wormser ETA 150 zum Einsatz!
Ab Jahresfahrplan […] wurde der Verkehr stark ‚ausgedünnt‘. Die beiden Berufsverkehrsdampfzüge hatten BR 50. Mit Beginn des Winterfahrplans 1964/65 wurde der Abschnitt Goddelau – Griesheim auf planmäßigen eingleisigen Betrieb umgestellt. Ursache dieser Umstellung waren Änderungen im Güterverkehr. Mit Beginn des Winterfahrplans 1964/65 wurde nämlich auf der Riedbahn der elektrische Betrieb aufgenommen. Gleichzeitig ging die Umgehungskurve bei Groß-Gerau-Dornberg Richtung Darmstadt für den Güterverkehr in Betrieb. Damit konnten alle Güterzüge der Relation Mannheim Rbf – Kranichstein – Abzw. Mainaschaff – Würzburg / Friedberg auf diese neue Route umgelegt werden und elektrisch fahren.
Bis Ende des Sommerfahrplans 1964 herrschte über Griesheim ein reger Güterverkehr, die Dg-, Sg und Gag waren entweder mit BR 44 oder BR 50 bespannt. Die Strecke hatte eine wichtige Funktion sowohl in der Relation Mannheim – Nürnberg (dann wurde in Kranichstein auf Ellok umgespannt) und in der Nord-Süd-Verbindung zwischen Mannheim – Kranichstein – Mainaschaff – Großkrotzenburg in der Umgehung des Großraums Frankfurt. Diese Züge liefen auch unter Fahrdraht mit Dampf in Richtung Mainaschaff – Großkrotzenburg weiter.“
»» Der Umlauf- und Zugbildungsplan zum Winterfahrplan 1959/60 zeigt den Umfang der V 36-Wendezugleistungen und ist auf einer eigenen Seite abgebildet. Philipp Schreiber lichtete im Sommer 1959 einen derartigen Wendezug in Griesheim ab.
Die Aufnahme (Bild 6) zeigt eine nicht identifizierbare G 8 bei der Ausfahrt aus Griesheim in Richtung Darmstadt am 25. Juli 1963. Ernst Bäppler erwischte sie als 11-jähriger mit einfachen fotografischen Mitteln, traf hiermit jedoch eine typische Stimmungslage im Ried.
Die VT 60 waren in der Regel mit einem Steuerwagen VS 145 verbunden. Für 1959 lassen sich im Bestand des Bw Darmstadt sieben derartiger Pärchen festmachen.
Experimentiert wurde zu Beginn der 50er Jahre auch mit einem kombinierten Schienen- und Straßenfahrzeug, das die Phantasie eines Redakteurs des Griesheimer Anzeigers ungemein angeregt zu haben scheint:
„In Mainz werden jetzt zwei moderne Straßen- und Schienen-Omnibusse stationiert, die auf den Linien Mainz – Wiesbaden und Mainz – Hochheim eingesetzt werden sollen und je nach Bedarf den Schienenweg oder die Landstraße benutzen. Die Reichsbahn(!)direktion Mainz folgt damit dem Beispiel der Frankfurter Direktion, die ebenfalls derartige Straßen und Schienen-Omnibusse im Verkehr hat. Die Frankfurter Direktion will diese neuen Verkehrsmittel sogar noch erheblich mehr einsetzen. Vor allen Dingen denkt man jetzt ernsthaft daran, das fehlende Verbindungsstück zwischen Reichelsheim, Lindenfels und Fürth im Odenwald mit derartigen Straßen- und Schienen-Omnibussen zu befahren. Anstelle des ‚Reinheimer bzw. Reichelsheimer Lieschens‘ würden also die neuen Omnibusse zunächst die Nebenbahnstrecke durch das Gersprenztal befahren, in Reichelsheim die Gleise verlassen und durch das Gumpener Tal nach Lindenfels hinauf fahren und von dort nach Fürth. In Fürth würden die Omnibusse dann wieder die Bahnstrecke durch das Weschnitztal nach Weinheim hinunter benutzen.“ [9]
Ob diese Phantasie jemals ernsthaft politisch diskutiert wurde, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls gab es einen solchen gemischten Verlehr nicht. Überhaupt bewährten sich die Kombifahrzeuge – vor allem im Winter – eher nicht und wurden spätestens dann überflüssig, als genügend Omnibusse und Autos die Straßen bevölkerten. Von den fünf eingerichteten Bahn-Bus-Verbindungen hielt sich die Verbindung von Betzdorf durch den Westerwald nach Koblenz bis zum Ende des Winterfahrplans 1966/67 noch am längsten. Die anderen vier Strecken überlebten das Ende der 50er Jahre nicht. Der als Nebenbahn geführte Personenverkehr von Reinheim nach Reichesheim wurde im Mai 1963 eingestellt und auf Busfahrten umgestellt. [10]
Die dieser Phantasie zugrunde liegende, schon ein halbes Jahrhundert zuvor angedachte durchgehende Eisenbahnverbindung quer durch den Odenwald, in der Mitte zwischen Main-Neckar-Bahn und zur Odenwaldbahn, von Offenbach über Groß-Zimmern, Reinheim, Reichelsheim und Fürth nach Weinheim, wurde ohnehin nicht gebaut. Ihr erging es damit nicht anders als der anderen angedachten, teilweise schon geplanten und dann doch nicht erbauten Querverbindung von Worms über Bensheim oder Heppenheim nach Michelstadt und Miltenberg.
Nicht alle Strecken waren jedoch durch Schienenomnibusse vor der Stillegung zu bewahren. 1954 und 1955 wurden gleich mehrere Nebenbahnen im südhessischen Raum für den Personenverkehr stillgelegt. Im Sommer erwischte es die Odenwald-Stichstrecke von Hetzbach nach Beerfelden, die sogenannte „Schellekattel“ oder „Schellekathel“. Im Sommer 1955 folgte die einstmals überaus profitable, von der Main-Neckar-Bahn abgehende Stichstrecke von Eberstadt nach Pfungstadt. Ende 1955 wurde die einstmals für den Ausflugsverkehr wichtige Stichbahn von Bickenbach nach Seeheim eingestellt. Teile der Trasse dieser Strecke wurden anschließend für die Verlängerung der Straßenbahn von Seeheim nach Alsbach genutzt.
Hingegen fuhren 1954 zwischen Darmstadt und Goddelau-Erfelden so viele Züge wie nie zuvor, ein Zustand des bis zum Ende des Jahrzehnts weitgehend gehalten werden konnte, obwohl die Konkurrenz in Form von Bussen und eigenen Fahrzeugen wuchs, beispielsweise für die Fahrt ins Opelwerk nach Rüsselsheim. Eine direkte Busverbindung war sicherlich bequemer als eine Zugfahrt mit mehrfachem Umsteigen und zugehörigen Zwischenaufenthalten. Daß bei den konkurrierenden Busunternehmen so manche Unannehmlichkeit zu ertragen war, belegt ein Busstreik im Frühjahr 1956. Griesheimer Opelarbeiter waren empört, als ein lokaler Busunternehmer den Fahrpreis von 6,10 auf 6,90 pro Woche erhöhte. Der Griesheimer Anzeiger war ein Medium, mit dem man seiner Empörung Luft verschaffte und mit dessen Hilfe man sich zu organisieren versuchte. Der Ausgang dieses Streiks ist dem Lokalblatt nicht zu entnehmen, vermutlich bröckelte er nach einiger Zeit ab.
Seit zwei Wochen benutzen die Griesheimer Opelarbeiter nicht mehr den Autobus ihres Fahrunternehmer (sic!), der sie schon seit Jahren in einem menschenunwürdigen Fahrzeug zur Arbeit bringt. Den Fahrstreik löste die plötzliche Erhöhung des Fahrgeldes von 6,10 auf 6,90 DM aus. In einer Versammlung war man sich einig geworden, daß der Zustand des Motorwagens und noch schlimmer der des Anhängers nicht mehr geduldet werden konnte. Auch als Arbeiter hat man das Recht, für sein gutes Geld menschenwürdig zur Arbeit befördert zu werden. Deshalb war auch der Aufschlag von 80 Pfg. je Wochenkarte nicht zu akzeptieren und man beschloß, vorerst die Bahn zu benutzen. Bedauerlich ist es aber, wenn nun doch einige Kollegen, sicherlich aus Bequemlichkeitsgründen, frühzeitig zu dem Fahrunternehmer zurückgekehrt sind. Ein einheitlicher Standpunkt im Interesse aller Opelarbeiter wäre gerade jetzt notwendig gewesen, um endlich mit diesem schlechten Zustand aufräumen zu können, selbst wenn eine kleine Fahrpreiserhöhung für eine anständige Fahrgelegenheit hätte in Kauf genommen werden müssen. ‚Einigkeit macht stark‘ heißt ein alter Wahlspruch, der auch in dieser Angelegenheit zum Ziele führt, man will ja weiter nichts, als für sein Geld anständig zur Arbeitsstelle befördert zu werden.“ [12]
Da die Deutsche Bundesbahn, obwohl als Staatsunternehmen dem Gemeinwohl verpflichtet, politisch gezwungen wurde, kostendeckend zu arbeiten, wurde – wie das so üblich ist – insbesondere das Personal abgebaut. Hierbei gerieten auch die Bahnübergänge ins Visier der Rationalisierungsbestrebungen, zum einen des erheblichen Personalbedarfs wegen, zum anderen weil sie für den zunehmenden Automobilverkehr zunehmend zum Hindernis wurden. Entweder wurden sie ganz dicht gemacht oder sie wurden mit Rufschranken versehen. Weitere Möglichkeiten bestanden im kreuzungsfreien Umbau der vorhandenen Bahnübergänge oder, wo dies zu teuer erschien, in der Einrichtung automatisch gesteuerter Halbschrankenanlagen. Die erste derartige Versuchsanlage wurde an der Riedbahn am Posten 84 im März 1954 eingerichtet. Da zu Beginn der 50er Jahre die Bundesstraße 26 von Groß-Gerau an Griesheim vorbei nach Darmstadt führte und die Bundesstraße 42 von Groß-Gerau an Weiterstadt vorbei nach Darmstadt noch nicht existierte, war die Riedbahnstraße (in Weiterstadt) bzw. die Mainzer Straße (in Darmstadt) eine durchaus stark frequentierte Landstraße.mit für damalige Verhältnisse erheblichen 2.500 Kraftfahrzeugen pro Tag.
»» Ausführlicher, mit Bildern und Lageplan wird die Halbschranke am Posten 84 im heutigen Weiterstädter Stadtteil Riedbahn auf meiner Dokumentationsseite In Weiterstadts Stadtteil Riedbahn abgehandelt.
Bemerkenswert ist, daß der Griesheimer Anzeiger in seiner Meldung am 20. März 1954 den Bahnübergang an die Main-Rhein-Bahn verlegt. Vermutlich ist der Übergang am Bahnhof in Weiterstadt gemeint. Beiden Bahnübergängen ist gemeinsam. daß von Darmstadt aus gesehen auf der einen Straßenseite mehrere Häuser stehen, auf der anderen Seite jedoch freies Feld vorzufinden war.
„Neuartige Bahnschranke. Die neuartigste Bahnschranke im Bundesgebiet ist jetzt am Bahnhof Weiterstadt der Strecke Darmstadt – Mainz in Montage genommen worden. Es ist eine automatische Halbschranke, die von einem sich nahenden Zug ausgelöst wird. Bevor die Schranke heruntergeht, werden die Fahrer durch rotes Blinklicht gewarnt. Sobald die letzten Wagen den Bahnübergang passiert haben, hebt sich die Schranke wieder automatisch. Versagen einmal die Leitungen, schließen sich die Schranken. Die neue Bahnschranke stellt nach Ansicht der Fachleute eine wesentliche Verbesserung dar, auch gegenüber der Halblichtanlagen mit rotem Blinklicht. Sie bedeuten eine weitere Sicherung der Bahnübergänge. Es steht jetzt schon fest, daß eine weitere Reihe von Bahnübergängen auf ähnliche Art gesichert werden.“
Daß es auch anders geht, wurde im Mai 1955 berichtet. Während des Testbetriebs der Halbschranken war das Bahnwärterhaus weiterhin besetzt. Eines Nachts meldete sich der diensthabende Beamte nicht am Streckentelefon. Er war eingeschlafen, wie die herbeigerufene Bahnpolizei feststellen mußte. Zwei Züge mußten auf freier Strecke anhalten, weil die Strecke nicht freigegeben war. Immerhin senkten sich die Bahnschranken automatisch. [13]
Der Beruf des Schrankenwärters war nicht ungefährlich. Dies belegen zahlreiche Unfälle. Eher ungewöhnlich war ein Vorgang bei Griesheim an der Groß-Gerauer Landstraße im August 1955: „Der Schrankenwärter wollte die Straße überqueren um die Barriere zu schließen, übersah aber einen daherkommenden Personenwagen. Mit einem Beinbruch und einem Beckenbruch wurde er schwer verletzt in ein Darmstädter Krankenhaus verbracht.“ [14]
Das Absperren von Bahnübergängen hingegen fand nicht ungeteilte Begeisterung. Insbesondere der land- und forstwirtschaftliche Verkehr war auf die vielen kleinen Bahnübergänge angewiesen, die für die Bundesbahn lästige Gefahrenquellen darstellten. Im Winter 1955/56 wurden einzelne Bahnübergänge zwischen Wolfskehlen und Griesheim geschlossen. Die Bundesbahn argumentierte, daß die Feldwege nach starken Schneefällen ohnehin unpassierbar seien [15]. Eine weitere Neuerung war die Installation von Anrufschranken.
Zur Erhöhung der Sicherheit an Wegübergängen werden folgende Schrankenposten in Anrufschranken umgewandelt und mit einer Wechselsprechanlage ausgerüstet:
Beide Schrankenposten liegen zwischen den Bahnhöfen Darmstadt Hbf und Griesheim in der Gemarkung Darmstadt.
Der erste Wegübergang ist eine Kreuzung mit einem Feldweg, der zweite eine Kreuzung mit einem Waldweg.
Bei diesen Anlagen tritt gegenüber dem jetzigen Zustand folgende Änderung ein:
Die Schranken sind in der Grundstellung geschlossen. Das heißt, sie werden nur dann geöffnet, wenn ein Wegbenutzer den Wegübergang benutzen will und kein Zug zu erwarten ist.
Auf beiden Seiten der beiden Wegübergänge in der Fahrtrichtung links gesehen, steht eine Sprechsäule. An dieser Sprechsäule ist eine Sprech- und eine Abhöröffnung und eine Anruftaste.
Vor Benutzung des Wegübergangs drückt der Wegbenutzer die Anruftaste nach unten. Hiermit zeigt er dem Wärter des in der Nähe gelegenen Dienstpostens an, daß er den Übergang benutzen will. Hierauf soll der Wegbenutzer die Fragen des Wärters deutlich beantworten und seine Anweisungen befolgen. Nach Überqueren des Wegübergangs soll er dem Wärter zurufen: ‚Wegübergang frei‘.“ [16]
Sofern es sich um einen Land- oder Forstwirt mit Traktor oder anderem Gefährt gehandelt hat, mag dieses Vorgehen ja noch funktioniert haben. Aber wird ein einsamer Spaziergänger wirklich die bürokratische Prozedur durchgeführt und die Antwort des Schrankenwärters abgewartet haben, wo er sich doch einfach durchs Gebüsch schlagen konnte? Ich habe da meine Zweifel. Heute würde hierbei sicherlich eine Videokamera installiert werden, allerdings sind Anrufschranken inzwischen unzeitgemäß.
Für den Bahnübergang an der Braunshardter Hausschneise (Posten 80 an Kilometer 54,330), der erst 1956 mit einer dieser Anrufschranken versehen worden war, wurde zwei Jahre später die komplette Schließung seitens der Bundesbahn beantragt. Dieser Antrag sorgte für großen Unmut in Griesheims Kommunalparlament. Nicht nur die Fahrzeuge der Land- und Forstwirtschaft waren betroffen, sondern auch die Feuerbekämpfung. Die erhöhten Wasserentnahmen für Trinkwasser, häusliches Brauchwasser, Industrieanlagen und künstliche Bewässerung führten schon in den 1950er Jahren zu einer spürbaren Absenkung des Grundwasserspiegels im nördlichen Ried. Dies erhöhte die Gefahr von Waldbränden, die tatsächlich ab und zu entflammten. Hieraus fand sich ein für beide Seiten annehmbarer Kompromiß. 1960 sagte die Bundesbahn zu, auf der Südseite des Bahnübergangs (im Bild bei den im Vordergrund sichtbaren Baumstämmen) einen Hydranten für die Griesheimer Feuerwehr zu setzen. Im Gegenzug zog Griesheim seinen Widerspruch gegen den für immer zu schließenden Bahnübergang zurück. Heute ist an dieser Stelle noch das Absperrgeländer zu sehen, während der Waldweg leicht versetzt wieder den Bahndamm kreuzt. [17]
Eine weitere Anrufschranke wurde im April 1956 an einem Feldweg zwischen Griesheim und Wolfskehlen eingerichtet. [18]
Im Frühjahr 1955 werden in Darmstadt die beiden kriegszerstörten alten Bahnhöfe am heutigen Steubenplatz abgerissen, um dem Autoverkehr eine weitere Ader zu erschließen. Eine Ausstellung im Landessozialgericht erinnerte im Herbst 2010 an die Vorgeschichte des 1988 errrichteten modernen Baus.
Das Nachkriegsdeutschland war nicht nur die Zeit der Schieber und Schwarzmärkte. Die materielle Not breiter Bevölkerungsschichten führte zuweilen zu Beschaffungsmaßnahmen, die zur Besorgnis Anlaß gaben. Gerade in der ersten Hälfte der 50er Jahre waren Meldungen über Kabel- und Kupferdiebstähle häufig anzutreffen. So auch diese, am 15. Januar 1955 im Griesheimer Anzeiger vorzufindene Kurzmeldung:
„Wieder Kupferdiebstähle. In den letzten Tagen sind in Darmstadt und Umgebung tausend Meter Kupfer- und Bronzedraht von Fernsprechleitungen der Bundespost und der Bundesbahn gestohlen worden. An den Diebstählen sind offenbar drei Personen beteiligt. Am Streckenfernsprechnetz der Bundesbahn Darmstadt – Griesheim wurden 400 m Bronzedraht und 50 m Leitung an der Signalanlage gestohlen. Der letztere Diebstahl ist umso verwerflicher, da bei einer Störung der Signalanlage die größten Eisenbahnunfälle entstehen können.“
Ob die Panikmache einen realistischen Hintergrund hatte, ist zweifelhaft. Konnten wir doch weiter oben lesen, daß im Falle eines Leitungsversagens die Schranken automatisch geschlossen werden. Ähnliches dürfte sicherlich auch im Signalwesen vorgesehen sein.
Gewiß war der Unfall am Posten 79 im Mai 1956 nicht der einzige Grund, weshalb der Bahnübergang an der Bundesstraße 26 beseitigt werden sollte. Die forcierte Zunahme des motorisierten Individualverkehrs erzwang geradezu Maßnahmen, um dem entfachten ungezügelten Autowahn beizukommen. Die Straßen waren auszubauen und Hindernisse zu beseitigen. Am 12. Januar 1957 vermerkte der Griesheimer Anzeiger:
„Der Bahnübergang an der Landstraße Darmstadt – Mainz soll am Kanzeleck noch in diesem Jahr hergestellt werden. Die Bundesstraße wird über die Bahn hinweggeführt und soll zwei Fahrbahnen erhalten, wie überhaupt die Bundesstraßen nach Möglichkeit in Zukunft, wie die Autobahnen, mit zwei Fahrbahnen auf freier Strecke versehen werden sollen. Die Zu- und Abfahrtsrampen sollen je 700 m lang werden. Die Kosten sind auf vier Millionen DM veranschlagt. Die Arbeiten fallen unter das neue Straßenbauprogramm der hessischen Regierung und werden auftragsgemäß vom Straßenbauamt Darmstadt ausgeführt.“
Mit den Bauarbeiten wurde nach Ende des Planfeststellungsverfahrens im Herbst 1957 begonnen. Es waren zwei Seitenwege parallel zur Bahnstrecke anzulegen, die durch je einen ein Meter hohen Zaun abgetrennt waren. Dies erklärt die Länge der heute noch anzutreffenden Autobahnüberführung. Im Juli 1958 war die erste der beiden Fahrbahnen fertiggestellt, im Februar 1959 die andere dem Verkehr in noch nicht fertig asphaltiertem Zustand übergeben. Die endgültige Fertigstellung und Freigabe erfolgte zwei Monate später.
Doch nur wenige Jahre später wurde dieses Teilstück der damaligen Bundesstraße zur Autobahn ausgebaut. Die Straße wurde im Juni 1963 gesperrt, weshalb sich der von hier verdrängte Verkehr auf Umwegen durch Griesheim quälen mußte. Griesheim hingegen beklagte ohnehin die Enge der Ortsdurchfahrt, die dadurch verschärft wurde, daß die Straßenbahnlinie 9 einige hundert Meter eingleisig im Straßenkörper geführt und daher in einer Richtung dem fließenden Autoverkehr entgegenkam. Dieser Zustand war unhaltbar, weshalb Griesheim Jahre später die Ortsdurchfahrt verbreitern und die Straßenbahn die gesamte Strecke vom Darmstädter Mozartturm bis zum heutigen Endpunkt auf einen eigenen Bahnkörper legen konnte.
Im Juli 1965 wurde das Teilstück Mönchhof-Dreieck bis Darmstadt der heutigen A 67 dem Verkehr übergeben. Die Beseitigung des den Individualverkehr lähmenden Engpasses bei Griesheim beschleunigte das Ende des Personen- und Güterverkehrs auf der Schiene zwischen Darmstadt und Goddelau-Erfelden. [19].
Im Winter 1958/59 fotografierte der damalige Fahrdienstleiter im Griesheimer Stellwerk „Gf“ zwei aus Darmstadt einfahrende Züge. Es handelt sich hierbei um einige der wenigen Aufnahmen, die vom laufenden Betrieb zwischen Darmstadt und Goddelau-Erfelden vorhanden sind.
Das Fahrdienstleiterstellwerk „Gf“ stand an der nordwestlichen Ecke des Bahnübergangs Nr. 77 an der Schöneweibergasse. Zu erkennen ist am Ende der Einfädelung der Gleise den nachfolgende Bahnübergang Nr. 78 an der Hofmannstraße. Selbiger wurde in den 1920er Jahren als Ersatz für einen aufgelassenen Bahnübergang weiter östlich eingerichtet. Weit im Hintergrund ist die 1957/58 errichtete Brücke der Bundesstraße 26 über die Riedbahn auszumachen, die bald darauf zur Autobahn 67 umgewidmet wurde. Auf Bild 11 kommt uns ziemlich genau zur Mittagsstunde Personenzug 3644 entgegen, der um 12.01 Uhr nach Kaiserslautern weiterdampfen sollte. Die hinter einer P8 Lokomotive der Baureihe 78 angehängten fünf Wagen enthielten beide Wagenklassen und ein Gepäckabteil. [20]
Von Güterzug Dg 7624 auf dem Bild 12 sind mir keine weiteren Daten bekannt. Beide Bilder wurden von Werner Caspari zur Verfügung gestellt. Zumindest die linke ist auch im Stadtarchiv Griesheim vorhanden.
Die Geschichte wird fortgesetzt mit Bussen statt Bahnen in den 60er Jahren.
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