Signal in Griesheim. Formsignal in Griesheim.

Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau

Busse statt Bahnen

Dokumentation der 1960er Jahre

1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Hauptverlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten der Streckenabschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.

Der Siegeszug des Automobils war in den 1960er Jahren nicht mehr aufzuhalten. Während allerorten Straßen und Autobahnen die freie Fahrt freier Bürger ermöglichten, baute die Deutsche Bundesbahn eine Strecke nach der anderen ab. Dies war keine falsche Geschäftspolitik, sondern die politisch gewollte Begleitung eines automobilen Wahns. Schienenbusse konnten den Tod der Nebenbahnen nur aufhalten, oftmals jedoch nicht verhindern. Mitte der 1960er Jahre wurde zwischen Griesheim und Goddelau-Erfelden das zweite Gleis abgebaut. Pendlerinnen und Pendler wurden auf Busse verwiesen; zwischen Griesheim und Darmstadt verkehrte die Straßenbahn inzwischen durchgängig zweigleisig und damit häufiger und schneller. Der in den 1950er Jahren noch häufig die Riedbahn nutzende Güter­verkehr wurde elektrifiziert; Dampfloko­motiven kamen langsam außer Mode. Mit dem Bau der Gleiskurve bei Groß-Gerau kam das Aus, das im September 1970 offiziell wurde. Nur noch vereinzelte lokale Güterzüge rollten zwei weitere Jahrzehnte über ein ebenso vereinzeltes Gleis zwischen Griesheim und Darmstadt.

Dies ist die Geschichte unseres Riedbahnab­schnitts in den 1960er Jahren. Sie ist nicht zuletzt deshalb unvollständig, weil sich selbst im lokalen Raum keinerlei Protest gegen den schleichenden Streckentod erhob. Entsprechend dürftig war auch die Berichterstattung.


Dies ist die Fortsetzung der Geschichte der Riedbahn mit Schienenbussen und Automatikschranken in den 1950er Jahren.

Umstellung auf Busse

Der „Griesheimer Anzeiger“ vermeldet am 20. Mai 1961, daß morgens und abends die Züge durch Omnibusse ersetzt werden. Der Bahnschalter wird entsprechend später geöffnet und früher geschlossen:

„Die Fahrkartenausgabe im Bahnhof Griesheim ist ab Fahrplan­wechsel (28.5.1961) nur noch wie folgt besetzt: Montags und am 1. jedes Monats von 5.15–20.45 Uhr, dienstags bis samstags von 6.30–20.45 Uhr. Sonntags ist die Fahrkarten­ausgabe geschlossen. Während der Zeit, in der die Fahrkarten­ausgabe unbesetzt ist, sind die Fahrausweise im Zuge zu kaufen. Ab Fahrplan­wechsel werden die Verbindungen nach Darmstadt und Goddelau in den Früh- und Abendstunden von Bahnbussen durchgeführt. Einsteige­stelle ist an der Post. Auskunft erteilt die Fahrkarten­ausgabe am Bahnhof.“

Damit beginnt die Ausdünnung des Zugangebots. Morgens sind davon drei Kurse nach Goddelau und zwei zurück, abends drei nach Goddelau und vier zurück nach Darmstadt betroffen. Damit verbunden war zumindest bis Anfang Juli 1961 der Verzicht auf die durchgehende Besetzung der Strecke, wie er in einer Fahrplananordnung durchscheint. Im Darmstädter Haupt­bahnhof selbst wird der Bahnverkehr vom und ins Ried über die Gleise 8 und 9 abgewickelt, wie ein kleiner Taschen­fahrplan für den Winter 1962/63 verrät.

Winterfahrplan 1962/63. Winterfahrplan 1962/63.

Abbildung 1: Fahrplanheft aus dem Rheinischen Wirtschaftsverlag in Wiesbaden für den Winter 1962/63 mit Angabe der Abfahrtszeiten und der Bahnsteige.

Mit dem Wechsel vom Winterfahrplan 1963/64 auf den Sommerfahr­plan 1964 am 31. Mai 1964 wird das Angebot weiter eingeschränkt. Fuhren im Winter noch 19,5 Zugpaare, so waren es im Sommer nur noch neun. Auch hier bedienen Omnibusse anstelle der Schienenbusse und dampfge­triebenen Züge den sich lichtenden Verkehr.

Winterfahrplan.

Abbildung 2: Busfahrplan der Strecke von Darmstadt nach Goddelau-Erfelden, Winterfahrplan 1963/64.

Sommerfahrplan.

Abbildung 3: Busfahrplan der Strecke von Darmstadt nach Goddelau-Erfelden, Sommerfahrplan 1964. Siehe hierzu auch die entsprechenden Zugfahrpläne.

Zuweilen kam es aber auch vor, daß die Bahnbusse durch Züge ersetzt werden mußten. Dieser Ersatzverkehr war im Mai 1963 aufgrund von Bauarbeiten in Wolfskehlen notwendig geworden und dauerte neun Tage. [1] Doch selbst der Bahnbus­verkehr rentierte sich offenbar nicht in allen Fällen, weshalb einzelne Kurse wegrationalisiert wurden. Ende 1964 wurde daher angesagt:

„Einschränkung des Bahnbusverkehrs

Vom 4.1.1965 an treten auf der Bahnbus­buslinie [sic!] Darmstadt – Goddelau-Erfelden, die durch Griesheim (Haltestelle Georg-Schüler-Platz) führt, folgende Fahrplanänderungen ein:

Goddelau-Erfelden ab 0.38 Uhr
Darmstadt Hbf. an 1.01 Uhr
verkehrt nur noch sonntags.

Goddelau-Erfelden ab 8.13 Uhr
Darmstadt Hbf. an 8.36 Uhr
fällt aus.

Darmstadt Hbf. ab 3.32 Uhr
Goddelau-Erfelden an 3.55 Uhr
fällt aus.

Darmstadt Hbf. ab 7.32 Uhr
Goddelau-Erfelddn an 7.55 Uhr
fällt aus.

Nach den geringen Besetzungszahlen, die während eines längeren Überprüfungs­zeitraumes ermittelt wurden, sind die genannten Kurse unwirtschaftlich und daher für die Deutsche Bundesbahn nicht mehr tragbar.“ [2]

Es dürfte sich mehr als sechzig Jahre danach nicht mehr rekonstruieren lassen, wie die Einsätze der Busse und ihrer Busfahrer organisiert wurden. Es ist aber anzunehmen, daß einige der Kurse nunmehr leer zu ihrem weiteren Bestimmungsort gefahren sind. Das mag manch wertvolle Arbeitsminute eingespart haben, aber auch manche Dorf­bewohnerinnen und Arbeiter gezwungen haben, sich einen anderen fahrbaren Untersatz zu besorgen.

Abriß und Neubau des Bahnhofsgebäudes

Durch allierte Luftangriffe wurde das anfangs des 20. Jahrhunderts errichtete Stationsge­bäude schwer beschädigt. Jahrelang wurde hier der Bahnbetrieb unter provisorischen Bedingungen aufrecht erhalten. Am 15. Juli 1961 heißt es im „Griesheimer Anzeiger“:

„Wie wir von der Verwaltung unseres Bahnhofes erfahren, wurden die Reste des durch Bombenwurf zerstörten Bahnhofsge­bäudes in den letzten Tagen von einer Frankfurter Firma abgebrochen. An der gleichen Stelle soll noch in diesem Jahr ein neues Empfangsgebäude in Form eines Flachbaues erstellt werden. Die Verwaltung des Bahnhofs ist zur Zeit in dem westlichen Nebengebäude untergebracht. Die Güterabfer­tigung erfolgt weiterhin in der alten Güterhalle.“

Es wird jedoch ein Jahr länger dauern, bis im November 1962 das Provisorium ein Ende hat. Am 18. November 1961 titelt das Blatt etwas voreilig, „Was lange währt, wird endlich gut“, und schreibt, daß sich der Rohbau der Vollendung nähere:

Abriß des Griesheimer Bahnhofs.
Bild 4: Abriß des Griesheimer Bahnhofs. Quelle: Stadtarchiv Griesheim em2008.0093.

„Nahezu 16 Jahre stand die Ruine des Griesheimer Bahnhofs, nur notdürftig geräumt von dem bei der Zerstörung entstandenen Schutt. Zuerst beim großen Angriff auf Griesheim im September 1944, und dann noch einmal von einer Tiefflieger­bombe getroffen, war von dem einst so schmucken Bahnhofsge­bäude nur noch ein Behelfsraum übriggeblieben. Hier versahen die Beamten ihren Dienst und gleichzeitig wurden darin und von da aus alle zu einem Bahnhof gehörenden Arbeiten verrichtet.

Die Güterabfertigung bestand aus einer kleinen und den Ansprüchen nicht mehr gerecht werdenden Holzbaracke. Wenn auch der Zuspruch an Fahrgästen, bedingt durch die Nähe Darmstadts, nicht allzu groß ist, so ist jedoch der Güterum­schlag sehr bedeutend für unsere Gemeinde. Lange Zeit war dieser Zustand dem Gespött ausgesetzt und so war es deshalb an der Zeit, etwas Neues entstehen zu lassen.

Seit einiger Zeit ist nun die hiesige Baufirma Reinheimer damit beschäftigt, den aus einem Stockwerk bestehenden Rohbau zu erstellen. Das Gebäude wurde nach den modernsten Gesichtspunkten geplant und wird mit einem flachen Dach und später von außen noch mit Spaltklinker­platten versehen, so daß auch ein von außen gut anzusehendes Gebäude entsteht.

Dem großen, hellen Warteraum werden sich Fahrkarten­schalter, Güterabferti­gung und Gepäckauf­bewahrung anschließen. Alles nach den neuesten Erkenntnissen und Erfahrungen. Großer Wert wurde auf eine geräumige Güterabfertigungs­halle (sie ist unten fensterlos und hat oben nur ein Glasdach), gelegt. Eine sogenannte Feuergut­rampe macht das Verladen von Gütern aller Art leicht, man kann direkt anfahren. Auf der anderen Seite wird ein Gleis an den Güterumschlag führen, so daß auch den Beamten die Verladear­beiten in die Waggons erleichtert werden. Auch die Beleuchtung der Bahnsteige soll erneuert werden, und zwar durch Neonlicht.

Die gesamten Bauarbeiten und damit ein ‚Griesheimer Bahnhof im neuen Glanz‘ sollen im Frühjahr 1962 abgeschlossen sein.“

Am 15. November 1962 war es dann so weit: das geschnörkelte Gebäude der Jahrhundert­wende wich dem sachlichen Stil des Wirtschafts­wunders, der noch weit entfernt war von der gekünstelten Beliebigkeit postmoderner Protzbauten.

Ein besonderer Triebwagenzug

Von Mai bis Oktober 1964 wurde in Umlauf 11402 eine Triebwagen­einheit eingesetzt, die aus den 1930er Jahren stammte.

VT 30 001 + VS 145 082.
Bild 5: Am 12. September 1963 konnte Hermann Braun VT 30 001 zusammen mit VS 145 082 ablichten. Mit freundlicher Genehmigung des Fotografen.

1936 von Westwaggon in Köln-Deutz als VT 137 190 erbaut, wurde der Triebwagen VT 30 001 seit 1954 vom Bw Darmstadt aus eingesetzt. Seine Tour begann in Worms und führte ihn je nach Wochentag nach Groß-Gerau, auf der Nibelungenbahn nach Bensheim und über die Odenwaldbahn nach Eberbach. Die zweiteilige Einheit wurde ergänzt durch den Steuerwagen VS 145 082. Der Triebwagen mußte im Oktober 1964 zur Ausbesserung nach Opladen geschickt werden und erwies sich offenbar als nicht mehr wirtschaft­lich reparabel. Er wurde am 26. April 1965 ausgemustert. Der Steuerwagen verblieb zur weiteren Verwendung im Bw Darmstadt.

Die Aufnahme entstand vermutlich vormittags auf der Abstellanlage des Darmstädter Hauptbahn­hofs. Fahrplanmäßig gelangte diese Einheit an Werktagen morgens um 8.06 Uhr aus Worms nach Darmstadt und verließ um 11.30 Uhr die zugige Bahnhofs­halle am Westrand der in ihren Jugendstil vernarrten Stadt. An Sonn- und Feiertagen schaute das Pärchen gar zweimal vorbei.

Ohnehin belegen die Umlaufpläne der 1960er Jahre, daß die in den Fahrplänen und Kursbüchern als Triebwagen­fahrten angegebenen Kurse nicht unbedingt mit Schienenbussen durchge­führt wurden. So brummte 1963 bis 1965 frühmorgens an Sonn- und Feiertagen ein Akkumulatortrieb­wagen der Baureihe ETA 150 (später Baureihe 515) aus Kaiserslautern nach Darmstadt und wieder zurück nach Worms. In den 1950er Jahren muß auch der eine oder andere in Worms beheimatete Wittfeld-Triebwagen Darmstadt über die Riedbahn angefahren haben.

Schnell, schneller, am schnellsten

Im September 1964 legte eine „Gruppe für Allgemeine Studien“ dem Vorstand der Deutschen Bundesbahn eine Studie über „Schnellstrecken für die Hauptverkehrs­ströme im Bundesbahn-Netz“ vor. Diese Studie war einerseits dem noch vorherr­schenden elitären Geist verhaftet, einer zahlungs­kräftigen Klientel einen beschleunigten Zugang zu Geschäfts­partnern zu ermöglichen, obwohl der Konkurrenz des Automobils bei forciertem Ausbau des Autobahn­netzes kaum wirkungsvoll zu begegnen war. Andererseits bereitete diese Studie grundsätzliche Veränderungen im Streckennetz vor, die im Laufe der folgenden Jahrzehnte sukzessive, wenn auch in modifizierter und modernisierter Form, umgesetzt wurden.

Nebenkarte 5.
Abbildung 6: Nebenkarte 5 der Schnellstzug­studie der Deutschen Bundesbahn von 1964.

Ausgehend von den damals vorherrschenden Fernverkehrs­magistralen Hamburg – Frankfurt – Basel, Hannover – Ruhrgebiet – Köln und Ruhrgebiet – Köln – Frankfurt bzw. Stuttgart – München wurde eine Optimierung der Verkehrsströme vorgeschlagen. Diese beinhaltete bei einem Investitions­volumen von rund 5,73 Milliarden DM den Ausbau weiter Strecken auf eine Höchstgeschwindig­keit von zunächst 200 Stundenkilo­metern, wobei im Einzelfall Neubaustrecken vorgeschlagen wurden. Im Gegensatz zum weit späteren ICE-System mit Triebwagenzügen wurde in den 1960er Jahren noch auf eine Traktion mit lokbespannten Zügen gesetzt, wobei den Autoren vermutlich die E 03 als Zuglok vorgeschwebt haben wird.

Angebunden an dieses Netz von rund 3.200 Kilometern Länge waren 12 Städte mit einer Einwohnerzahl von mehr als einer halbe Million Menschen sowie 23 weitere Großstädte. Eine Anbindung Kassels war nicht vorgesehen, da die vier Autoren davon ausgingen, daß eine Schnellfahr­strecke im Hügelland entweder nicht möglich oder schlicht unverhältnismäßig teuer sei. Diese Grundannahmen flossen in das im September 1971 eingeführte Intercity-Netz ein, in dem die Hauptrelationen alle zwei Stunden bedient wurden. Bis 1978 war dieses Intercity-System – mit einigen Ausnahmen – nur der ersten Wagenklasse vorbehalten.

Den elitäre Geist des Umbaus des vorhandenen Fernschnellzug­netzes in einen „Schnellstverkehr“ belegt die Vorstellung, das Fernreisen der ersten Wagenklasse vorzubehalten. Die aus sechs oder sieben Wagen mit rund 250 bis 300 Sitzplätzen bestehenden Züge enthielten einen Speisewagen, eine Bar und ein Schreibabteil. Ergänzt werden sollte dieses Fernverkehrsnetz durch kürzere Städte-Schnellstzüge, bestehend aus drei oder vier Wagen für 168 bis 216 Sitzplätze in beiden Wagenklassen; die Verpflegung kam aus dem Automaten.

Im Februar 1974 unterrichtete Griesheims Bürgermeister Hans Karl den Magistrat über die Vorplanung einer Neubaustrecke von Köln über Groß-Gerau nach Mannheim, die entlang der Gemarkungs­grenze zwischen Griesheim und Wolfskehlen verlaufen solle [3]. Zehn Jahre nach Vorliegen der Ergebnisse der bundesbahn­internen Arbeitsgruppe war bei den Verantwortlichen in Frankfurt die Erkenntnis angelangt, daß die bestehenden drei Hauptstrecken durch das Rheintal der Belastung des zusätzlichen Schnellverkehrs längerfristig kaum standhalten würden. Leider wird aus der Zeitungs­meldung nicht deutlich, ob es sich bei der Neutrassierung um die in der Studie von 1964 vorgeschlagene südliche Umgehung Groß-Geraus handelt, eine östliche Umgehung Groß-Geraus auf der Strecke von Frankfurt nach Mannheim oder um eine Kombination von beidem. Allein – noch mehr als drei Jahrzehnte später beschäftigen sich Bahnmanagement und Politik mit der Trassierung einer neuen Magistrale durch Südhessen, ohne daß – Ende 2010, als diese Seite erstellt wurde, genauso wie Mitte 2015, als sie überarbeitet wurde – die Realisierung des Projektes bevorstünde.

Insbesondere die von der Deutschen Bahn ungeliebte Anbindung Darmstadts an das ICE-Netz ist von allerlei Widersprüchen und Kapriolen geprägt, denn hier dreht sich der Wirtschaftsstand­ort Darmstadt um die Trassierung, gefährdete Waldflächen und um viel Geld. Dabei zeigt ein Blick auf die „Nebenkarte 5“ eine elegante Variante, die heute vermutlich mit der Grundwasser­versorgung des südhessischen Raums kollidieren würde. Die 1964 vorgeschlagene Neubaustrecke zur Riedbahn würde zwischen Darmstadt-Eberstadt und Bickenbach von der Main-Neckar-Bahn abzweigen und an Pfungstadt vorbei in südwestlicher Richtung durch das Ried führen, um bei Klein-Rohrheim in die bestehende Strecke einzufädeln. Die Arbeitsgruppe veranschlagte hierfür Baukosten in Höhe von 100 Millionen DM. Auf der Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim seien zusätzliche 15 Kilometer neu zu bauen, um die den Schnellst­verkehr verlangsamenden Kurven bei Frankfurt-Niederrad und Frankfurt-Sportfeld (heute: Stadion), bei Groß-Gerau-Dornberg und Biblis umgehen zu können. Die westliche Einfädelung der Riedbahn bei Mannheim war hier schon als realisiert vorausgesetzt. Jahrzehnte später ist festzustellen: Das Planfeststellungs­verfahren für den Knoten Niederrad/Stadion ist 2015 im Gange und die Kurve bei Groß-Gerau wurde in den 1990er Jahren entschärft. Bei der Bibliser Kurve am südlichen Ende des Bahnhofs scheint man hingegen die Verlangsamung von ICE und TGV in Kauf nehmen zu wollen.

Schulausflüge mit der Bahn

Während die Zahl der zugelassenen Kraftfahr­zeuge rapide zunahm, die Straßenbahn von Darmstadt nach Griesheim ausgebaut und der Zugverkehr in den Randlagen durch Omnibusse ersetzt wurde, gab es weiterhin zwei Gruppen von Verkehrsteil­nehmerinnen und -teilnehmern, die auf die Beförderung durch die Bahn angewiesen waren: Pendler und Schülerinnen. Entsprechend konzentrierte sich die Verkehrs­leistung auf dem Darmstädter Ast der Riedbahn auf diese Verkehrsspitzen.

Einmal im Jahr beförderte die Bundesbahn die Schulausflüge (nicht nur) aus Griesheim. Ganze Schulen nahmen sich einen ganzen Tag Urlaub vom Lernen und förderten das Gemeinschafts­gefühl durch die Erweiterung des Horizontes. Einige dieser Schulausflüge sind durch die Berichte im „Griesheimer Anzeiger“ überliefert. So war für den 20. Mai 1963 um 6.35 Uhr eine Fahrt nach Oberwesel am Rhein vorgesehen. Von dort ging es per Rheinschiff weiter nach Koblenz, um sich dort vier Stunden lang das Deutsche Eck und andere Sehenswürdig­keiten zu Gemüte zu führen. In Oberwesel stand dann der Sonderzug für die Rückfahrt bereit, der um 20.05 Uhr Griesheim wieder erreichen sollte. Vermutlich wurde im Darmstädter Haupt­bahnhof umgesetzt. Der Fahrpreis betrug für Kinder 8,20 DM, für Erwachsene 12,20 DM. „Es können nur 900 Personen an der Fahrt teilnehmen.“ [4] Diese Reise mußte um eine Woche verschoben werden:

„Auf vielseitigen Wunsch von Familien, die Konfirmanden (am 19. und 23.5.) und Erstkommuni­kanten (St. Stephan am 23.5.) und damit Familienfeiern haben, wurde die Rheinfahrt der Griesheimer Schulen vom 20. auf den 27. Mai verlegt. Eine andere Terminverle­gung war nicht möglich, da Bundesbahn und Köln-Düsseldorfer-Schiffahrts­gesellschaft erst wieder im September einen Tag für uns frei hätten. Und da ist es auf dem Wasser schon ziemlich kühl. […] Wollen wir jetzt nur hoffen, daß sich der Wettergott der Verlegung anpaßt und das nach dem 100jährigen Kalender für den 20. Mai festgelegte herrliche Wetter auf den 27. Mai verschiebt.“ [5]

Wie unchristlich! Ist der Wettergott doch ein heidnischer und launischer Gesell. Leider erfahren wir nicht, ob der Schulausflug ins Wasser gefallen ist. Doch für das nächste Jahr wird die Berichter­stattung geradezu lyrisch ausgeweitet. Am 18. Juni 1964, einem Donnerstag, dampfte der Schüler­sonderzug um 7.23 Uhr nach Ludwigsburg, um in Schloß und Umgebung das Blühende Barock zu erfahren. Die Rückkehr ist für 19.47 Uhr angesetzt. Der Fahrpreis beträgt diesmal 8,20 bzw. 10,80 DM. Eintrittspreise sind nicht inbegriffen. Interessant die Wortwahl:

„Die notwendigen Sondereintritte für Schloßpark und Schloß sind in dem Preis nicht einbegriffen. Doch hat das Vorkommando erhebliche Ermäßigungen vereinbart.“ [6]

Ohne den militaristischen Slang der Weltkriegs­generation sind die 1960er Jahre nicht zu haben. Mit leichter Verspätung soll der Sonderzug dann entschwunden sein; leider ist auf den im „Griesheimer Anzeiger“ abgedruckten Bildern von der Lok nicht mehr als ein schwarzer Schemen zu erkennen. Als Reminiszenz an diese Fahrt lesen wir am 20. Juni 1964:

„Das Schloß blieb von Schäden im zweiten Weltkrieg verschont, so daß es neben den bayrischen Königsschlössern zu den prunkvollsten und größten seiner Art in Deutschland gehört. Die prachtvollen Festsäle und stolzen Prunkräume sowie die mit vielen Gemälden bedeckten Galerien beeindruckten die Griesheimer Schulkinder und Erwachsenen. Für unsere Pflanzen- und Blumenzüchter bot der Park mit seinen Springbrunnen und dem Blumenmeer in allen Farben interessante Anregungen. Besonders beeindruckt waren die Kinder von dem durch seine Technik bestechenden Märchengarten.“

Jaja, Blumenzüchter haben ein Faible für Springbrunnen …

Im folgenden Jahr ging es an die Mosel. Für den Dienstag des 15. Juni 1965 war eine längere Tour über Darmstadt, Wiebaden, Niederlahn­stein und Koblenz nach Winningen und Cochem geplant. Die eine Hälfte des Zuges sollte in Winningen aufs Schiff umsteigen und nach Cochem tuckern, während die andere Hälfte weiter nach Cochem fahren und nach einem drei- bis vierstündigen Aufenthalt nun selbst das Schiff besteigen sollte. Ab Winningen kehrten beide Gruppen wieder vereint, diesmal linksrheinisch, nach Griesheim zurück. Der Fahrpreis betrug 12 bzw. 16 DM. Der Fahrplan sah so aus:

OrtZug HinSchiff HinSchiff ZurückZug Zurück
Griesheim7.12  19.47
Winningen9.4010.0017.0017.21
Cochem10.1913.3013.4016.43

Die fünfzehn D-Zug-Wagen wurden auf die teilnehmenden Schulen so verteilt, daß der Schillerschule sieben Wagen am Zugende zugewiesen erhielt, der Wagen vor dem Übertragungs­wagen für die Friedrich-Ebert-Schule vorgesehen war, und die restlichen Wagen an der Spitze des Zuges von den Schülerinnen und Schülern der Carlo-Mierendorff-Schule bevölkert wurden. Aufgrund eines Moselhoch­wassers mußte der Schulausflug um zwei Wochen auf den 28. Juni verschoben werden. Dieser Schulausflug dürfte der Bundesbahn etwas mehr als 12.000 DM eingebracht haben, denn es nahmen über 1.000 Schülerinnen, Lehrer und Eltern daran teil. Diesmal verzichtete der „Griesheimer Anzeiger“ auf eine Nachberichter­stattung. [7]

Vor dem Schulausflug 1965 am Griesheimer Bahnhof.
Bild 7: Morgens kurz vor sieben Uhr sind Schülerinnen, Schüler und einige Eltern 1965 vor dem Griesheimer Bahnhof versammelt. Quelle: Stadtarchiv Griesheim em2008.0074.

Am 14. Juni 1966 war die Pfalz das Ziel. Dorthin gelangte man und frau auf einem Schulausflug noch nie, wie Griesheims Lokalblatt vermerkte [8]. Auf dem Weg zur Burg Trifels habe das „Vorfahrt­kommando“ in Annweiler eine kosten­pflichtige Sehenswürdigkeit entdeckt.

„Die Besichtigung der Nachbildung der deutschen Kaiserkrone machen alle. Sie wird im Rathaussaal aufbewahrt und ist für 30 Pfennig zu sehen. Das Geld wird wegen der schnellen Abwicklung vom Lehrer eingesammelt. Ein Tonband von 20 Minuten Dauer wird die nötigen Erklärungen geben.

Die niederen Klassen und die älteren Leute werden sich in der Nähe der Stadt in herrlichen Wäldern erholen. Die größeren Klassen machen Wanderungen.“ [9]

Die Abfahrt war für 7.30 Uhr vorgesehen, der Fahrpreis betrug 6.50 DM bzw. 8,50 DM. Zunächst fiel der Ausflug buchstäblich ins Wasser, was den Redakteur der Zeitung jedoch besonders anzuspornen schien:

„Die diesjährige Schulfahrt der Griesheimer Schulen nach Annweiler am Trfels (Pfalz) hatte wieder einen überaus guten Zuspruch. Über 950 Teilnehmer strömten am Dienstag zu Fuß und zu Wagen durch die Straßen nach dem hiesigen Bahnhof, der niemals im ganzen Jahr einen solch zahlreichen Zuspruch hat.

Die 16 Wagen des Sonderzuges waren bald besetzt und los ging mit Musik die Fahrt über Worms ins Pfälzer Land, über Neustadt, Landau nach Annweiler, das um 9.45 Uhr erreicht wurde.

Während die Abfahrt in Griesheim bei heißem und schwülem Wetter erfolgte, fiel die Ankunft in Annweiler buchstäblich ins Wasser. Ein heftiges Gewitter entlud sich, es krachte, als ob die Annweiler die Griesheimer mit Salut begrüßen wollten. Leider dauerte der Regen bis in die Mittagspause, so daß manches gut vorbereitete Tagespro­gramm abgeändert werden mußte. Nach dem Essen klärte es sich endlich wieder auf und die einzelnen Klassen konnten wandern. […]

Um eine schöne Reise­erinnerung reicher kehrten alle Teilnehmer wohlbehalten kurz vor 19 Uhr wieder nach Griesheim zurück und ein unüberseh­barer Menschen­strom floß nun in umgekehrter Richtung wie vormittags vom hiesigen Bahnhof in die einzelnen Straßen von Griesheim und St. Stephan.“ [10]

Hier endet die Geschichte der Schulausflüge mit der Bahn, zumindest in der lyrischen Ausmalung des Redakteurs des „Griesheimer Anzeigers“. Ob es in den Jahren danach keine gemeinsamen Schulausflüge mehr gab? Wurden sie von Klassenfahrten im angemieteten Reisebus ersetzt? Oder waren sie keiner Erwähnung mehr wert? Wie dem auch sei – erst acht Jahre später wird 1974 noch einmal von einem geselligen Ausflug von rund 500 Mitgliedern des Tus Griesheim in dessen Jubiläumsjahr mit der Bahn nach Kobern an die Mosel erzählt. Die Fahrt von Griesheim nach Darmstadt erfolgte „im Schneckentempo“, weil die Bahnüber­gänge durch das Zugpersonal zu sichern waren. Es muß sich nach den Schilderungen der Zeitung um ein recht feuchtfröh­liches Ereignis gehandelt haben, das nach Rückkehr der Reisegesell­schaft in den einschlägigen Griesheimer Etablisse­ments seinen Ausklang fand. [11]

Vorbereitungen zur Stillegung

Noch am 11. August 1961 meldet der „Griesheimer Anzeiger“, daß ein Vertrag zwischen der Bundesbahn und dem Land Hessen die Elektrifizierung der Riedbahn von Frankfurt zur Landesgrenze bei Lampertheim mitsamt der Streckenäste von Biblis nach Worms und von Goddelau nach Darmstadt vorsehe. Auch Mitte der 1960er Jahre scheint sich die Bundesbahn diese Option für den Darmstädter Zweig noch offengehalten zu haben. Das Liegenschaftsbuch des Bahnhofs Griesheim enthält mehrere Einträge über Vereinbarungen mit Grundstücks­eigentümerinnen und -eigentümern bzw. beim Bau der Autobahn (heute A 67), welche die Modalitäten einer eventuellen späteren Elektrifizierung regeln. Später wird die Bundesbahn beschließen, die Elektrifizierung der Strecke als Güter­magistrale (wohl aus Kostengründen) zu unterlassen und statt dessen eine Verbindungs­kurve bei Groß-Gerau zu bauen. Diese geht 1970 in Betrieb. Auf der übrigen Riedbahn beginnt das elektrische Zeitalter mit dem Winterfahr­plan 1964/65.

Im Dezember 1965 oder bald darauf demontiert die Bundesbahn das zweite Strecken­gleis zwischen Griesheim und Goddelau-Erfelden. War die Strecke 1901, nicht zuletzt aus militärischen Erwägungen heraus, noch aufgerüstet worden, so kündigt sich hier 64 Jahre später ganz materiell die Einstellung des direkten Schienen­verkehrs von Darmstadt ins Ried an. Bemerkens­wert ist, daß diese schleichende Zerstörung befahrbarer Infrastruktur im „Griesheimer Anzeiger“ keine Erwähnung, von Protest ganz zu schweigen, fand. Die Automobili­sierung einer ganzen Kriegsverlierer­gesellschaft war derart selbstverständ­lich, daß andere Stimmen, so sie sich überhaupt äußerten, kein Gehör fanden. Dement­sprechend ist nicht einmal das Datum oder zumindest ein eingrenzbarer Zeitraum der Demontage überliefert.

Am 14. Dezember 1968 vermeldet der „Griesheimer Anzeiger“ den nächsten Akt als Bericht des Magistrats der Stadt Griesheim:

„Nach einer Mitteilung des Hessischen Ministeriums für Wirtschaft und Verkehr wird die Bundesbahn­strecke Darmstadt – Worms künftig über Klein-Gerau geführt und elektrifiziert. Die Strecke zwischen Griesheim und Goddelau wird geschlossen.

Für den Güterverkehr wird die Strecke Griesheim – Darmstadt eingleisig weiter betrieben. Es werden zusätzliche Möglich­keiten geschaffen, für Industrieunter­nehmen in dem zu erweiternden Gewerbege­lände nördlich der Bahnlinie Gleisanschlüsse einzurichten. Evtl. kann die Bahnunter­führung an der Autobahneck­verbindung Mönchhof – Darmstadt für eine neue Straße mitverwendet werden.

Der Magistrat wird Schritte unternehmen, um auch weiterhin eine rasche Expreßzu­stellung zu gewährleisten.“

Über Proteste gegen die Stillegung erfahren wir aus Griesheim oder Wolfskehlen nichts. Andernorts war man (und frau) da schon besorgter, etwa in Biebesheim.

„In der letzten Gemeindevertretersitzung erinnerte Bürgermeister Wilhelm Reinhardt an die erfolglosen Proteste, die im Frühjahr 1969 gegen die Stillegung der Strecke Goddelau – Darmstadt der Bundesbahn eingelegt worden waren. Wenn der Gesamtbetrieb am 26. September dieses Jahres eingestellt wird, müssen die Biebesheimer, die in Darmstadt arbeiten, bei der Eisenbahnfahrt einen Umweg über Groß-Gerau-Dornberg, Klein-Gerau und Weiterstadt in Kauf nehmen. Dies bedeute eine finanzielle Mehrbelastung. Hoffentlich würde ein großer Teil der 400 in Darmstadt arbeitenden Mitbürger erkennen, sagte Bürgermeister Reinhardt, daß sie in den neuen Betrieben Biebesheims einen sicheren Arbeitsplatz erhalten können.“ [12]

Dort nahm man (oder frau) die vollendeten Tatsachen zur Kenntnis und empfahl den Pendlerinnen und Pendlern den eigenen Standort. Ob die Löhne und Gehälter auch denen einer Großstadt entsprochen haben? – Am Montag, den 3. März 1969, entgleiste um 14.26 Uhr im Bahnhof Griesheim eine Diesellokomotive „leichterer Bauart“. Zwei Tage später war hierüber in Griesheims Lokalblatt zu lesen:

„Die einzelfahrende Lok kam von Goddelau und sprang an der Weiche zum Abzweiggleis aus den Schienen. Sie stellte sich quer und sperrte dadurch drei Gleise, so daß der Zugverkehr in beiden Richtungen unterbrochen wurde. Personen kamen bei diesem Unfall nicht zu Schaden. Der sofort alarmierte Hilfszug konnte bereits um 16 Uhr die Unfall­stelle soweit räumen, so daß der Zugverkehr wieder aufgenommen werden konnte. Die gesamten Wiederherstellungs­arbeiten dauerten bis um 18.30 Uhr. Über die Ursache sowie über die Höhe des Schadens kann die Bundesbahn noch keine verbindliche Auskünfte geben, die Untersuchungen dauern an.“

Im Sommer 1969 konkretisieren sich die Stillegungspläne. Am 2. August 1969 weiß der „Griesheimer Anzeiger“ neue Einzelheiten zu berichten:

Gleisreste.
Bild 8: Heutige Gleisreste des Güteranschlusses.

„Mit Beginn des Jahres 1970 wird Darmstadt eine neue Verbindung zum Ried erhalten. Die direkte Strecke von Goddelau über Griesheim nach Darmstadt wird im kommenden Jahr stillgelegt. Der gesamte Güter- und Personenverkehr rollt dann über die sogenannte Verkehrsschleife bei Klein-Gerau weiter nach Groß-Gerau und Dornheim zur Riedbahn. Das teilte Bundesbahnbau­assessor Alfred Schineller vom Bahnbetriebsamt in Darmstadt auf Anfrage mit.

Die Bahnhöfe in Griesheim und Wolfskehlen sollen allerdings für bestimmte Güterlieferungen erhalten bleiben. So wird zum Beispiel die große Griesheimer Obst- und Gemüsezentrale, die im ersten Jahr ihres Bestehens auf dem Bahnhof der Stadt Griesheim 400 bis 500 Waggons abfertigte, hier in einem Stichbahnhof, der von Darmstadt aus angefahren wird, weiter bedient werden. Auch die Bedienung Wolfkehlens wird von Goddelau aus möglich sein.

Der technische Direktor der Obst- und Gemüsezentrale Griesheim, Hubert Zell, teilte auf Anfrage mit, die Griesheimer Vermarktungs­anlage sei dringend auf die weitere Güterab­fertigung im Griesheimer Bahnhof angewiesen. Die Bundesbahn­direktion in Frankfurt habe auch entsprechende Zusagen erteilt.

Von der Frankfurter Bundesbahn­direktion war kein Aufschluß über die Gründe dieser Verkehrsneu­regelung der Bahn zu erhalten. Die Direktion will in Kürze jedoch an der Baustelle bei Groß-Gerau genauere Erläuterungen des Projektes, dessen Planungen bereits seit längerer Zeit laufen, geben.“

Am 21. Februar 1970 berichtet das Blatt kurz über die neueste Rationalisierungsmaß­nahme der Bahn. Demnach werde ab Juni 1970 das Stückgut „von Haus zu Haus“ befördert und die Verladung auf wenige Bahnhöfe konzentriert. In der Fläche werden dann Lastkraft­wagen zum Einsatz kommen. Als Stückgut­bahnhöfe werden genannt: Groß-Gerau, Kelsterbach, Rüsselsheim, Worms, Mainz-Kastel, Gernsheim, Weinheim, Heppenheim, Bensheim, Eberbach, Neckargemünd, Reinheim und Groß-Bieberau. Griesheim wird dann wohl über Darmstadt direkt angebunden.

Im Juli 1970 wird die Griesheimer Bevölkerung auf die „Stunde Null“ vorbereitet. Während andernorts mit der Null alles beginnt, endet etwas mehr als einhundert Jahre nach der hoffnungsvollen Eröffnung der Eisenbahn in den Griesheimer Sanddünen diese Entwicklung bei einer anderen Null:

„Wie die Bundesbahndirektion Frankfurt mitteilt, wird mit Genehmigung des Bundesverkehrs­ministers der Gesamtbetrieb auf der Teilstrecke Darmstadt – Goddelau/Erfelden westlich der Abzweigstelle Bergschneise ab 27. September 1970 eingestellt.

Die Reisezüge der Verbindung Darmstadt – Worms verkehren von diesem Zeitpunkt an über die neue Verbindungskurve Abzweigstelle Eichmühle – Groß-Gerau/Dornberg. Den Schienenersatz­verkehr für die Orte Griesheim und Wolfskehlen übernimmt die schon bestehende Bahnbuslinie Darmstadt – Worms.

Dennoch bleibt Griesheim als Tarifpunkt für den Güterverkehr bestehen und wird von Darmstadt aus auf einer nur noch eingleisigen Strecke bedient. Mit dem Abbau der entbehrlichen Bahnanlagen soll nach dem 27. September 1970 begonnen werden.

Die Strecke zwischen Griesheim und Goddelau wird völlig stillgelegt.

Damit endet im wesentlichen die Ära der Eisenbahn in Griesheim, welche im Jahr 1869, also vor 101 Jahren, mit soviel berechtigten Hoffnungen begonnen hatte.“

Ohnehin ist es bemerkenswert, daß im Jahr zuvor unterlassen wurde, das Jubiläum der Riedbahn zu begehen. Verständlich wird dies, wenn mit vorsichtiger Euphorie der als positiv angesehenen Folgen der Stillegung gedacht wird. Denn der Bericht endet mit den Worten:

„Allerdings ergibt sich hierdurch die Möglichkeit, den Belangen des immer dichter werdenden Straßenverkehrs gerecht zu werden und eine neue nördliche Straßenver­bindung nach Darmstadt mit Anschluß nach Weiterstadt zu projektieren. Das Gelände des stillgelegten zweiten Gleises und des Parallelweges würde für die notwendige Straßenbreite ausreichen.“ [13]

Irgendwie ist es verwunderlich, daß sich die hessische Straßenbauwut der 1970er und 1980er Jahre diese Gelegenheit hat entgehen lassen, einen weiteren Wald zu asphaltieren. Doch aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Sollte es Darmstadt tatsächlich fertigbekommen, die Bundesstraße 3 über das Klärwerk nach Süden bis hin zur Heimstättensied­lung zu verlängern, dann wäre den Planern ein Knoten westlich der Waldkolonie durchaus zuzutrauen. Gewisse Vorarbeiten hat es ja schon damals gegeben, wie der „Griesheimer Anzeiger“ am 29. August 1970 vermerkt:

„Zwischen Hauptbahnhof und Waldfriedhof ist eine Brücke über die Rheinstraße dem Verkehr übergeben worden. Die neue Brücke liegt im Zuge der künftigen stadtnahen Westumgehung, von der bereits ein Teil fertiggestellt ist. Durch die neue Brücke ist ein kreuzungsfreier Verkehr gewährleistet.“

Am Samstagabend des 26. September 1970 verließ um 19.59 Uhr der letzte fahrplanmäßige, von einer Diesellok gezogene Personenzug 3636 den Griesheimer Bahnhof und entschwand nach Wolfskehlen und weiter nach Worms. Ein wenig wehmütig warf ein Griesheimer Redakteur in der folgenden Azsgabe einen letzten Blick auf die bei Null endende Geschichte.

GA am 30.9.1970.

Abbildung 9: Griesheimer Anzeiger am 30. September 1970: „Der letzte Personenzug fuhr aus.“

Nüchterner und vorwärts gewandt geriet der mit einer abgeschnittenen 65er aufgemachte Bericht der Groß-Gerauer „Heimatzeitung“ am Morgen der Streckenschließung.

„Heute ist der letzte Tag, an dem Personenzüge auf der eingleisigen Eisenbahn­strecke von Goddelau-Erfelden über Wolfskehlen und Griesheim nach Darmstadt rollen. Morgen – mit Inkrafttreten des Winterfahrplans 1970/71 – wird die Linie stillgelegt, und niemand kann mehr ein Foto schießen, das eine Lokomotive an der Spitze eines durch den Bahnhof Wolfskehlen fahrenden Zuges zeigt. Bald werden die Schienen zwischen Goddelau-Erfelden und Griesheim abgebaut.“

Ob es einen Fotografen (oder gar eine Fotografin?) gegeben hat, die dem Wink mit dem Zaunpfahl gefolgt sind, um ein letztes Mal den durch eine nicht übermäßig aufregende Landschaft brummenden Zug zu verewigen? Ein solches Bild würde sich an dieser Stelle hier recht gut machen. Schaut doch bitte einmal auf eurem Dachboden, ob ihr in (außen) verstaubten Kisten die eine oder andere Aufnahme findet!

„Die Eisenbahnreise aus dem Süden des Kreises Groß-Gerau nach Darmstadt führt von morgen an über Groß-Gerau-Dornberg und dann über die neue Verbindungskurve auf die Strecke Mainz – Darmstadt. Mit elektrischer Energie werden die Züge getrieben. Obwohl jetzt 24 Kilometer zurückzulegen sind statt bisher 16, hat sich die Fahrzeit nicht verlängert. 21 Minuten dauert für die meisten Züge die Fahrt von Goddelau-Erfelden nach Darmstadt. Von Montag bis Freitag nennt der Fahrplan täglich sechs Züge in jeder Richtung. Am Rande sei bemerkt, daß die Zahl der zwischen Goddelau-Erfelden und Darmstadt verkehrenden Omnibusse des Winterfahr­plans erhöht wird.

Die Groß-Gerauer haben durrch [sic!] die Neuregelung eine bessere Verbindung nach Darmstadt erhalten. Zu den Zügen, die am sogenannten ‚Stadtbahnhof‘ starten, sind die über Groß-Gerau-Dornberg fahrenden Züge getreten. Böse sind allerdings die Klein-Gerauer und Weiterstädter auf die Bundesbahn. Die Züge der neuen Verbindung halten auf der Reise vom Ried nach Darmstadt in beiden Orten nicht. Auch in Dornheim legen die meisten der ‚neuen‘ Züge keinen Halt ein. Leider, sagen die Dornheimer.“ [14]

Goddelaus Bürgermeister Christoph Bär beklagte dann noch, daß die Pendlerinnen und Pendler aus dem Ried für diesen Umweg etwa zwei Mark mehr an Fahrgeld zu berappen hätten, und ging anschließend zur Tagesordnung über. Weshalb sollte er auch für den Erhalt einer todgeweihten Strecke kämpfen? [15]

Ein Bericht über den Griesheimer Grenzgang am 19. Dezember 1970 zeigt eine Gruppe von Männern und Frauen, die auf dem stillgelegten Gleisbett zur Westgrenze Griesheims wandern. Zumindest in jenem Jahr hatte die Bundesbahn ihr zerstörerisches Werk zwischen Goddelau und Griesheim noch nicht vollendet. [16] Bald darauf wurde dem weitgehend verwaisten Griesheimer Bahnhof die Abfertigungs­befugnis entzogen. Zum 1. Februar 1971 wurde der Bahnhof zu einem unbesetzten Tarifpunkt für den Wagenladungs­verkehr. Frachtbriefe waren in Darmstadt einzureichen, angeliefert und abgeholt wurden die Waggons weiterhin in Griesheim. [17]

Es folgte eine mehrjährige Auseinandersetzung um die Nutzung des Bahnhofs und des Bahngeländes, aber dies ist eine Geschichte, die an einer anderen Stelle erzählt wird.

Wenn wir heute hingegen den morgendlichen und abendlichen Strom von Kraftfahrzeugen auf der Bundesstraße 26 betrachten, der das Ried mit der aufblühenden Provinzmetropole am Woog verbindet, dann ließe sich durchaus fragen, ob die Entscheidung nicht doch etwas voreilig gewesen ist. Gewiß, es verkehren Busse von Goddelau nach Griesheim und Straßenbahnen von Griesheim in Darmstadts Innenstadt, die alle diejenigen mitnehmen, die nicht mit dem eigenen Auto fahren wollen oder können oder erst gar keines besitzen. Aber der nicht abreißende Strom von Fahrzeugen verrät ein Potential, das weit über die mitfahrenden Schülerinnen und Pendler der 1960er Jahre hinausreicht. Doch dieser Zug ist abgefahren, die Trasse zum Teil verbaut, und eine nach standardisierten Methoden erhobene Kosten-Nutzen-Bewertung würde wohl auch keinen Bedarf erkennen lassen. Dann doch lieber Südhessen mit weiteren Asphaltflächen zugunsten der ach so notleidenden Bau- und Automobil­industrie zuklatschen. Der Bedarf ist immer da.

Die Geschichte wird fortgesetzt mit der Chronik des Endes dieser Strecke.


Literatur

Anmerkungen

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