Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Walter Kuhl
Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Rangierfahrt
auf der Riedbahn.
Alte Bahnhöfe.
Alte Bahnhöfe.
Main-Neckar-Bahnhof.
Main-Neckar-Bahnhof.
Ludwigsbahnhof.
Ludwigsbahnhof.
Neuer Hauptbahnhof.
Neuer Hauptahnhof.

Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau

Ein Unfall in Darmstadt 1918

Was zu erfahren war

1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Haupt­verlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Doku­mentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten vor­wiegend der Strecken­abschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.

»»  Die Unfallstelle auf OpenStreetMap.

Im August 1918 verunglückte ein nächtlicher Über­gabezug im nördlichen Gleis­vorfeld des Darm­städter Haupt­bahnhofs. Der Lokführer und der Heizer wurden dabei getötet. Die „Darm­städter Zeitung“ berichtete kurz, vermutlich in Wiedergabe einer amtlichen Verlaut­barung.


Der Hergang

Zeitungsmeldung.
Abbildung 1: Meldung der „Darm­städter Zei­tung“ am 3. August 1918.

In der „Darmstädter Zeitung“ erschien neben Kriegs­berichten, Mitteilungen zum um sich greifenden Einbruchs- und Diebstahl­gewerbe auch eine kleine Meldung über einen Eisen­bahnunfall, der sich in der Nacht vom 2. zum 3. August 1918 ereignet hatte.

„Der Uebergabe­zug 8876 erhielt heute um 2 Uhr 40 vorm. auf hiesigem Bahnhof von Stellwerk 1 Ausfahrt D 1 aus Gleis 1, kam aber durch Gleis 91 und überfuhr das für diesen Fahrtweg gültige, auf Halt stehende Signal C und geriet durch die infolge der Freifahrt­stellung D 1 auf Ablenkung liegenden Weichen 12 c d in voller Fahrt in das Stumpfgleis 100, zer­trümmerte den etwa 270 Meter von dem auf Halt stehenden Signal C eingebauten Prellbock. Lokomotive mit Packwagen und noch vier Güter­wagen stürzten auf die dahinter tiefliegende Gräfen­häuserstraße herab, wobei vier Wagen in Brand gerieten. Führer und Heizer wurden getötet, Zugführer, zwei Schaffner und drei Schaff­nerinnen wurden, anscheinend nicht schwer verletzt, in das städtische Kranken­haus gebracht. Die Schuld­frage steht noch nicht fest.“

Wohin der Übergabe­zug unterwegs war und welches Gleis er statt dessen hätte nehmen sollen – vielleicht das daneben liegende Gleis 201 mit Signal D ? – wird sich in Ermange­lung historischer Pläne und Unterlagen wohl nicht mehr klären lassen. Im übrigen sei hier fest­gehalten, daß damalige Büro­hengste und Zeitungs­redakteure willens und in der Lage waren, Frauen nicht unter die Rubrik Männer einzuordnen; sie schrieben demnach nicht von fünf Schaffnern.

Derlei ist im heute gender­gemainstreamten Sprach­duktus voll­kommen undenkbar. Dort heißt es, mit diversen Abwand­lungen, wohl in Befolgung irgend­einer EU-Norm: „Im Folgenden wird aus Gründen der sprach­lichen Verein­fachung nur die männliche Form verwendet. Es sind jedoch stets Personen männlichen und weiblichen Geschlechts gleicher­maßen gemeint.“ Die Frage, weshalb die männ­liche Form einfacher sei als die weibliche, und erst recht die Frage, worin das Problem besteht, beide Formen, wenn zutreffend, zu benennen, stellen sich diese blöd­sinnigen Sprach­akrobaten vorsichts­halber nicht. Es gilt eben, ein männliches Weltbild zu verteidigen. Dabei, wie wir im vor­liegenden Fall sehen, ist es doch ganz einfach. Wo Frauen dabei sind, finden sie sich auch wieder.

Ausschnitt aus dem Gleisplan.

Abbildung 2: Ausschnitt aus einem Gleisplan der Deutschen Bundesbahn von 1959.

Links liegt auf dem Plan die Gräfen­häuser Straße. Das Stellwerk „Dn“ regelt den Verkehr Richtung Worms, Mainz, Frankfurt, Aschaffen­burg und Odenwald und achtet gleich­zeitig darauf, daß die Rangier­abteilungen nicht unvorher­gesehen in die Fernverkehrs­gleise vorstoßen. Das in der Zeitungs­meldung genannte Gleis 100 ist nicht mehr vorhanden; es könnte sich um das unterhalb des Stellwerks gelegene Stumpf­gleis handeln. Vermut­lich wird es 1918 noch eine Verbindung von diesem zu Gleis 91 gegeben haben. Dafür spricht, daß der hier vorliegende Plan keine Weichen 12 (siehe Zeitung) und 13 aufführt.

Die am linken Bildrand ent­schwindenden Gleise führten 1959 (von oben nach unten) zum Bundesbahn-Ausbesserungs­werk auf der Knell, zum Nord­bahnhof und nach Kranich­stein auf dem Güter­gleis, zum Nord­bahnhof auf dem Personen­gleis für die Oden­waldbahn (ehemals zweigleisig), über Arheilgen nach Frankfurt, über die Stock­schneise nach Mainz, von Aschaffen­burg über Kranich­stein, von und nach der Berg­schneise nach Worms (ehemals zweigleisig), und dann, nach der Lücke, nach Aschaffen­burg über Kranich­stein, von Mainz über die Stock­schneise, sowie von Frankfurt über Arheilgen.

Der Darmstädter Haupt­bahnhof ist auf dieser verzerrten grafischen Darstellung am rechten Bildrand zu denken. Der spitze Strich am oberen Bildrand weist nach Norden (also nach links unten).

Unfallstelle, ein Jahrhundert später.

Bild 3: Nahe der Gräfen­häuser Straße. Aufnahme vom März 2013.

Ein Problem, eine solche Unfall­stelle ein Jahr­hundert später zu visuali­sieren, besteht darin, daß sich das Ambiente mancher Orte radikal ver­ändert hat. Das fängt hier damit an, daß das Stellwek „Dn“, am linken Bildrand zu denken, längst abge­rissen ist. Die Böschung vor der nach Frankfurt ent­schwindenden S-Bahn dürfte auch aus­ladender gewesen sein. Die Gräfen­häuser Straße erscheint hier als kleines Loch, das die Bahn­strecke unter­tunnelt. Dabei werden durch die enge Schlucht vier schmale Fahr­streifen und zwei noch schmalere Seitenwege gequetscht. Der Übergabe­zug wird ver­mutlich die Böschung vor der S-Bahn herab­gestürzt und bei voller Fahrt möglicher­weise auch auf der Straße angekommen sein.

1896 nahm das Unternehmen Merck auf einem Grund­stück an der Gräfen­häuser Straße, dort, wo heute auf dem Tacke-Knoten die auto­gerechte Ampel­schaltung Fuß­gänger und Radfahrer­innen syste­matisch diskri­miniert, eine Ammoniak­fabrik in Betrieb. Ein Jahrzehnt später begannen dort die Bauar­beiten für die Gleis­anlagen, die zum heutigen Haupt­bahnhof führen, und somit auch für die mehrteilige Eisenbahn­brücke über die Straße nach Gräfen­hausen, die heutige Bundes­straße 42. Damals war noch nicht abzu­sehen, daß die damals schon recht breit dimen­sionierte Unter­führung zum Nadelöhr für die Einfall­straße von Nordwesten her werden würde. Einer der Beschäftigten, Peter Lammert, schrieb zu seinem 40jährigen Betriebs­jubiläum eine Chronik, in der auch der Unfall an der Brücke Erwäh­nung fand.

„Aber in der Nähe derAmmoniak­fabrik ereignete sich am 3. August 1918 ein größeres Eisenbahn­unglück. Eine Lokomotive stürzte mit 3 Güter­wagen von der Brücke herunter auf die Gräfen­häuser Straße. Es gab Tote und Verwundete. Ich benach­richtigte die Sanitäts­kolonne und die Feuerwehr, weil die Güter­wagen in Brand geraten waren, die mit Zünd­hölzern beladen waren. Für unseren opfer­freudigen Einsatz über­sandte uns die Reichsbahn­direktion ein Dank­schreiben, sowie eine Geld­spende.“ [1]

»»  Zum normalen Betrieb­sablauf siehe auch die Lokomotiv­fahrordnung Darmstadt Haupt­bahnhof von 1920.

Ein halbes Jahrhundert später soll es einen weiteren derartigen oder ähnlichen Unfall an selbiger Stelle gegeben haben – ob es dieser hier gewesen ist?:

Am 22. Mai 1980 prallte im nördlichen Gleis­vorfeld des Darm­städter Haupt­bahnhofs, in der Nähe der Gräfen­häuser Straße, ein rangieren­der Güterzug auf eine Diesel­lokomotive, die dadurch völlig zerfetzt wurde. Der Lok­führer wurde nur leicht verletzt, die beiden Rangierer des Güter­zugs konnten recht­zeitig abspringen. Eine Weiche soll nicht rechtzeitig umge­sprungen sein. Die zerfetzte Lok war die 260 562-4.