Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Walter Kuhl
Rangierfahrt auf der alten Riedbahn.
Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Kilometerstein an der Riedbahn.
Hektometerstein.
Riedbahngleise.
Riedbahngleise.
Darmbachbrücke.
Darmbachbrücke.
Bahnhof Riedstadt-Goddelau.
Bahnhof Goddelau.

Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau

In Weiter­stadts Stadt­teil Ried­bahn

Erkundungen auf der alten Riedbahn­trasse, Teil 4

1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Haupt­verlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Doku­mentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten der Strecken­abschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.

»»  Der Bahn­übergang mit dem Bahn­haus 84 ist auf dem Lageplan von 1906 mit der Sigle [⇒ D5] eingezeichnet.

»»  Der Standort des Bahn­hauses 84 auf OpenStreetMap.

Wir wandeln auf dem Abschnitt zwischen dem heutigen Gleisende beim Industrie­anschluß der Firma Evonik, ehemals und teilweise wieder Röhm, bei Kilometer 57,4 und dem Bahnwärter­haus kurz vor der Autobahn A 5, etwa bei Kilo­meter 56. Ein etwa zehn bis fünfzehn Meter breiter, aus Schotter, Gras und Gestrüpp bestehender Streifen durchzieht den noch jungen Stadtteil Weiter­stadts. [1]


Blinklichter

Am Werkstor von Evonik bzw. Röhm, also dort, wo die alte und die neue Trasse von den jeweiligen Bahnhöfen wieder zusammen­trafen, steht ein unschein­barer Mar­kierungs- oder Grenz­stein mit der Aufschrift „HLB“. Der Stein wird demnach zur alten Strecke gehört haben, denn die Hessische Ludwigs­bahn wurde 1896/97 ver­staatlicht. Der Steinmetz scheint nicht ganz bei der Sache gewesen zu sein, denn unzweifel­haft war das „B“ einmal ein „P“. Einen weiteren derartigen Markierungs­stein habe ich am einstigen Bahnüber­gang 82, also an der Block­stelle Pallas­wiese, gefunden. Womöglich sind entlang der alten Gleis­trasse noch weitere Exemplare gut versteckt. Vom Markierungs­stein bis zur Mainzer bzw. Riedbahn­straße an der Stadt­grenze zu Darmstadt ist das Schotter­bett noch vorhanden, wenn auch wohl einmal ein Bagger darin herum­gewühlt hat.

Markierungsstein.

Bild 1: Der Markierungs­stein steht am Ein­fahrtstor des Chemie­werks. Die Aufnahmen sind vom Mai 2009.

Markierungsstein.

Bild 2: Daneben verläuft ein gern genutzter Waldweg, der von der Riedbahn-Siedlung kommend an der Bundes­straße 42 bei Lärm und Feinstaub endet.

Markierungsstein.

Bild 3: Der Stein ist an nur einer Seite mit den Initialen der Bahn­gesellschaft versehen worden.

Schotterbett.

Bild 4: Das Schotterbett zwischen dem Zaun zum Werks­gelände (rechts) und dem Waldweg (links).

Bahnübergang.

Bild 5: Um sich vorzustellen, daß hier einmal ein Bahn­übergang gewesen ist, muß frau oder mann schon reichtlich Phantasie aufwenden. Aufnahme vom August 2022.

Mit dem Bahnüber­gang an der Mainzer Straße (Darmstadt) bzw. Riedbahn­straße (Weiter­stadt) erreichte die Riedbahn den Weiter­städter Stadtteil, der ihren Namen trägt. Dieser Bahn­über­gang ist bahn­technisch von besonderer Bedeu­tung. Im Frühjahr 1954 richtete die damalige Deutsche Bundes­bahn hier versuchs­weise den ersten mit Halb­schranken ver­sehenen Bahn­über­gang im Bundes­gebiet ein.

Der Standort war gut gewählt. Damals nutzten täglich rund 2.500 Kraft­fahr­zeuge, 50 Fuhr­werke, 1.000 Rad­fahrerinnen und Rad­fahrer sowie 150 Menschen zu Fuß die damalige Land­straße und querten hierbei den zwei­gleisigen Bahn­körper. Zwischen Griesheim und Darmstadt verkehrten täglich 55 Züge (gemeint sind Personen­züge, Güter­züge wurden nicht einbe­rechnet) mit einer Höchst­geschwindig­keit von 90 Stunden­kilometern. Die Straße wurde vor dem Über­gang in der Mitte mit einer durchge­zogenen Linie versehen, doch es scheint so, als hätten die damaligen Auto­fahrer (wohl weniger Auto­fahrerinnen) diese Linie groß­zügig ignoriert. [2]

Lageplan Posten 84 1957.

Abbildung 6: Lageplan der Doppelblinklicht­anlage mit Halb­schranke am Posten 84 als Teil einer Vor­läufigen Anweisung zum Betrieb von 1957.

Bahnübergang an der Mainzer Straße 1954.

Bild 7: Bahnüber­gang an der Mainzer Straße bzw. Riedbahn­straße ver­mutlich bei der Abnahme 1954. Sammlung Klaus Wedde.

Bahnhaus 84.

Bild 8: Das Bahnhaus 84 in den 1960er Jahren. Aufnahme: Gerhard Schreiner.

Die Farbgebung des Andreas­kreuzes weist auf einen zwei­gleisigen Bahn­übergang hin. Die Wärter­bude neben dem Bahnhaus wurde zunächst auch nach der Instal­lation der auto­matisch gesteuerten Halb­schranken als Notfall­sicherung besetzt gehalten. Am 26. Mai 1955 schilderte der Griesheimer Anzeiger einen kuriosen Zwischen­fall:

„Weil der Strecken­wärter des Bahn­postens 84 bei Weiter­stadt (Landkreis Darmstadt) während seines Dienstes einge­schlafen war, wurden in der Nacht vor dem Bahnüber­gang bei Weiter­stadt zwei plan­mäßige Züge ange­halten. Der Strecken­wärter hatte sich auf einen Telefon­anruf nicht gemeldet. Als die Bahn­polizei am Bahn­posten eintraf, lag der Strecken­wärter noch im tiefen Schlaf. Die am Bahnüber­gang ‚auf Probe‘ befind­liche neuartige auto­matische Halb­schranke hatte sich jedoch auch ohne die Hilfe des Beamten geschlos­sen. Wie der Leiter des zustän­digen Bahnbetriebs­amtes 2 in Darmstadt, Oberrat Dr. Lutz, mitteilte, wird der Strecken­wärter wegen seines Dienst­vergehens ‚eine gehörige Strafe‘ zu erwarten haben.“

Das genaue Datum der Nacht, in der der Vorfall stattfand, vermerkt das zweimal pro Woche ausge­lieferte Blatt leider nicht.

»»  Weitere Aufnahmen des Bahn­hauses 84, des Bahn­übergangs und der näheren Umgebung sind auf einer eigenen Riedbahn-Unter­seite zum Posten 84 zu finden.

»»  Der 2009 verstorbene Weiter­städter Archivar Frieder Boss doku­mentierte den Bahn­über­gang im Sommer 1988 und zu Beginn des Jahres 1989. Seine vier erhaltenen Bilder zeigen Tristesse. Das funktions­los gewordene Bahn­wärter­haus ist längst ver­schwunden; die Fläche diente mit ihren Schlamm­pfützen als Park­platz. Allein das betonierte Standard­häuschen für die Elektrik der Signali­sierung und Schranken belegt, daß ab und an noch ein Güter­zug vorbei­geschaut hat.

Gegen 2015 konnten an einzelnen Stellen noch sehr deutlich die Spuren der einstmals zwei­gleisigen Trasse ent­deckt werden. Schon die Asphalt­decke des einstigen Bahn­übergangs ver­deckte die Gleise nicht ganz; die Risse im Asphalt folgten genau den Schienen. Pfosten­löcher verrieten, wo ein Andreas­kreuz gestanden und die roten Lichter gewarnt haben. Der im Sommer nur mit geübtem Auge zu erblickende Kilometer­stein „57“ ragt weiterhin trotzig aus dem Erdboden hervor. Anstelle des früheren Bahn­wärter­hauses erhebt sich nun ein Mehr­familienhaus.

Bald nach Einstellung des Personen­verkehrs zwischen Darmstadt und Goddelau-Erfelden wurde das südliche Gleis der zwei­gleisigen Strecke entfernt. Die Bundes­bahn deklarierte die rund zehn Kilo­meter lange Ver­bindung nach Griesheim als Güter­anschluß­gleis um, welches deshalb 1991/92 planungs­rechtlich ohne größeren Aufwand entfernt werden konnte.

Der heute durch ausufernde Gewerbe­gebiete und Verkaufs­flächen geprägte jüngste Stadt­teil Weiter­stadts besaß einmal ein sehr länd­liches Ambiente. Hierzu gehörte auch das heute nicht mehr existente Gelände der Gärtnerei Vetter südlich der Bahn­gleise.

Gärtnerei Vetter.

Bild 9: Westlich der Halb­schranken lag das Blumen­areal die Gärtnerei Vetter. Aufnahme von 1952, zur Ver­fügung gestellt von Holger Metzner. [3]

Die Nummer der Lokomotive der Bau­reihe 50 ist auf dem Bild nicht zu erkennen. Es ist zudem nicht auszu­machen, ob es sich um einen Personen­zug oder um einen Güter­zug handelt, denn die verwendete Lok war eigentlich für den Güter­verkehr vorgesehen, zog jedoch auf Neben­bahnen auch Personen­züge. Vermutlich zog sie einen Zug von Darmstadt nach Worms, auch wenn die Fahrt­richtung nur anhand eines Indizes zu erahnen ist. Die Loko­motiven dieser Baureihe konnten nämlich mit einer Höchst­geschwindig­keit von 80 Stunden­kilometern vorwärts wie rückwärts fahren. Das Indiz ist ein kleines Rauch­wölkchen.

Lichtsignal.

Bild 10: Vierhundert Meter vor der Straße von Darmstadt nach Weiter­stadt stand ein Lichtsignal auf dem Planum des Richtungs­gleises nach Darmstadt. Aufnahme: Eva Lorenz, April 1988.

Kein Lichtsignal.

Bild 11: Vergleichsbild vom August 2010.

Im Sommer 2010 wurde auf der Trasse an der Stelle des abgebauten zweiten Gleises zwischen Sand­straße und Wiesen­straße ein Weg aus ver­mahlenem Schotter­sand angelegt. Ver­mutlicher Zweck ist es, Radfahrer­innen und Radfahrer von der asphaltierten, parallel ver­laufenden Ried­straße auf diesen Weg umzulenken, damit die Omnibusse aus Richtung Darmstadt ungestört von einzelnen langsam derher­radelnden Individuen zum Einkaufs­zentrum Loop 5 gelangen können. Die zuvor die enge Wiesen­straße in beiden Fahrt­richtungen nutzenden Buslinien 5506, 5513 und 5515 wurden richtungsge­trennt gesplittet. Diese Investition in die Infra­struktur dient dem Einkaufen auf der grünen Wiese und nur als Neben­produkt auch dem Rad­verkehr.

Die Bahn besteht nicht nur aus Männern

Als Riedbahn noch kein eigener Stadt­teil Weiter­stadts war und sich nur allmäh­lich neue Häuser zu den bestehenden gesellten, gab es zwischen der Mainzer und der Wiesen­straße keinen geregelten Überweg über die Bahn. Um nicht einen Umweg von einigen hundert Metern zu den Posten 84 oder 83 nehmen zu müssen, bildete sich ein „wilder Übergang“ heraus. Diesen versuchte die Bundesbahn mit einem Geländer und einem Warnschild (das Viereck an der Garage im folgenden Bild) zu verbieten, doch vergebens. Die Garage wurde erst wesentlich später gebaut, als ohnehin kaum noch Züge fuhren. Das Lichtsignal (rechts von den Stangen zu denken) wurde erst danach errichtet.

Sperren.

Bild 12: Die beiden Absperr­stangen im Juni 2008. Der Hinweis auf dem Warn­schild ist durch den Rost unleserlich geworden.

Der nächste „richtige“ Bahn­übergang lag lange Zeit am Bahn­haus 83 und erlaubte den lokalen Bäuer­innen und Anwohnern das Queren der Bahn auf einem Feldweg. Die Siedlung wuchs und damit auch der Auto­verkehr. Eines schönen Tages wurde zwischen der Wiesen- und der Ried­straße eine Ver­bindung geschaffen. Eine Schranke oder ein Blink­licht scheint es hier nie gegeben zu haben, womit dieser Weg wohl auf auf die Zeit nach der Ein­stellung des Personen­verkehrs 1970 zu datieren wäre. Hingegen wurde ab einem unbe­kannten Zeit­punkt die Schranke am Posten 83 von der Block­stelle Pallas­wiese (de facto Posten 82) als Anruf­schranke fern­gesteuert. Das zuge­hörige Bahn­haus 83 ist vor langer Zeit verschwunden.

Wiesenstraße.

Bild 13: Das kurze Verbindungs­stück zwischen der Ried- und der Wiesen­straße im Juni 2008. Die Schienen liegen noch unter dem Asphalt.

Entlang der Riedstraße.

Abbildung 14: Fund­stellen entlang der Riedbahn­trasse auf der Grund­lage von Open­StreetMap. (A) Bahn­haus 84, (B) wilder Über­gang mit Licht­signal, (C) Ver­bindung zwischen Ried- und Wiesen­straße, (D) Bahn­übergang am Posten 83, (E) Bahn­haus 83, (F) Trampel­pfad mit Gatter.

Absperrung.

Bild 15: Absperrung am einstigen Bahn­übergang 83. Dazwischen liegt noch reichlich Schotter. Aufnahme vom Februar 2009.

Familienbilder

Zwei miteinander ver­bundene Familien haben sich zu unter­schiedlichen Zeiten foto­grafiert oder foto­grafieren lassen. Diese Bilder besitzen für die Abge­lichteten ihren eigenen Wert. Sie zeigen jedoch auch, manchmal nur im Hinter­grund, das Inventar der Riedbahn: Schranken, Bahn­häuser und Loko­motiven. Die folgenden Auf­nahmen entstanden rund um das Bahn­haus 83.

Zwei Mädchen.

Bild 16: Zwei Mädchen am Bahn­übergang auf der Nord­seite der Riedbahn. Die spätere Wiesen­straße scheint noch nicht bebaut zu sein; es erstrecken sich hierhin noch die von der Autobahn unter­brochenen Pallas­wiesen. Die Aufnahme von 1959 wurde von Walter Brunner zur Verfügung gestellt.

Paar auf Roller.

Bild 17: In den 1960er Jahren stehen hier nunmehr Häuser, als die beiden Geschwister auf einem Roller vorfahren. Auf der rechten Bild­seite sind hinter dem Posten­schild die Gewächs­häuser der Blumen­gärtnerei Brunner auszumachen. Diese wie die folgende Aufnahme zur Ver­fügung gestellt von Frau E.

Bahnhaus 83.

Bild 18: Das Bahnhaus 83 war ebenso wie Nummer 84 ein Typenbau der Hessischen Ludwigs­bahn von 1872 (Bau­beginn) bzw. 1873 (Fertig­stellung). Für den Bau veran­schlagte die Gesell­schaft 3.209 Gulden und neun Kreuzer. Das Haus diente nach dem Zweiten Welt­krieg nurmehr als Wohnraum; die Aufnahme ist von 1951. [4]

1957 wurden, so erinnert sich eines der beiden nach­folgend abge­bildeten Mädchen, neue Beton­schwellen in Höhe des Bahn­hauses 83 verlegt. Damals war es offenbar üblich, daß im Rangier­dienst Züge aus dem weit­läufigen Rangier­bahnhof Darm­stadt-Kranich­stein hier gehalten haben. Dies ist insofern erstaun­lich, weil zu dieser Zeit ein noch recht reger Personen- und Güter­verkehr herrschte. Die Loko­motive 56 761 wurde 1919 gebaut, 1939 umgebaut und 1964 außer Dienst gestellt (und/oder verschrottet).

Zwei Mädchen vor Dampflok.

Bild 19: Zwei Freundinnen stehen vor der Dampf­lokomotive 56 761. Aufnahme zur Ver­fügung gestellt von Frau G.

Frau auf der Lok.

Bild 20: Dasselbe photo shooting, aber aus einem anderen Familien­album. Zweifel­los handelt es sich hier um die erste Dampflok­führerin der Deut­schen Bundes­bahn. Aufnahme zur Ver­fügung gestellt von Frau E.

Im März 2016 wurde an dem nahe der Auto­bahn gele­genen Trampel­pfad über die Schotter­steine ein Gatter frei­geschnitten. Der Grund für diese Aktion ist mir nicht bekannt. Das Gatter war in den Jahren zuvor derart zuge­wachsen, daß ich es bei meinen unzä­hligen vor­herigen Vorbei­fahrten übersehen hatte.

Gatter.

Bild 21: Das Gatter. Welche Funktion hatte es zu Riedbahn­zeiten erfüllt?

Als ich 2016 das letzte Mal die Riedbahn­trasse im Stadt­teil Riedbahn mit dem Fahrrad entlang­fuhr, waren die alle 200 Meter aufge­stellten Hekto­meter­steine 57,4 (Einfahrt Evonik) bis 56,4 (an der Ver­bindung Wiesen- zur Ried­straße) noch voll­ständig vorhanden. Das ist bei den Exem­plaren zwischen Gries­heim und Wolfs­kehlen anders; da ver­schwindet immer einmal wieder einer.

Hektometerstein.

Bild 22: Hektometer­stein 56,8 an der Ried­straße im April 2009.