Rheinstraße.
Rheinstraße.
Auf dem Ernst-Ludwigs-Platz.
Zentraler Umstieg am Weißen Turm.
Landesmuseum.
Vor dem Landesmuseum.
Am Truppenübungsplatz.
Am Truppenübungsplatz.
Marktplatz.
Auf dem Marktplatz.

Die Straßenbahn in Darmstadt

Die Elektrische kommt nach Griesheim

Teil 2 einer Geschichte mit vielerlei Abschweifungen (1926 bis 1930)

1886 errichtete ein privates Konsortium die ersten beiden Straßenbahn­strecken in die Vororte Eberstadt und Griesheim, denen 1890 eine weitere Strecke nach Arheilgen folgte. Im Grunde handelte es sich um die Schmalspur­ausführung einer dampf­betriebenen Eisenbahn. Alle drei Linien standen in Konkurrenz zur parallel verlaufenden Eisenbahn. Die Stadt Darmstadt sah die inner­städtischen Verkehrs­bedürfnisse des Bürgertums nicht abgedeckt und ließ ein eigenes elektrisches Straßen­bahn­netz aufbauen. Aus der Verschmelzung beider Gesellschaften entstand 1912 die Hessische Eisenbahn Aktien­gesellschaft, kurz HEAG. Die Dampfstrecken wurden elektrifiziert; ein Vorgang, der aufgrund des Ersten Weltkriegs und der nachfolgenden französischen Besatzung Arheilgens und Griesheims erst 1926 abgeschlossen war.

Doch bis auch in Griesheim die Umstellung von der Dampfstraßenbahn auf elektrischen Betrieb durchgeführt war, bedurfte es zäher Verhandlungen, offener Grenzen und fleißiger Arbeiter, deren Werk in den seltensten Fällen gewürdigt wird. Lieber feiern sich die Honoratioren ob ihrer genialen Visionen.

Die Darstellung dieser Geschichte beruht weitestgehend auf den Schilderungen und Verlautbarungen im „Neuen Griesheimer Anzeiger“, im Folgenden mit „NGA“ abgekürzt [1]. Dies erweist sich trotz der erkennbaren Einseitigkeit als durchaus nützlich, weil somit der Fokus auf die lokalen Einstellungen, Befindlich­keiten und Interessen gelenkt wird, was bei der üblicher­weise in der Literatur hervor­stechenden Darmstädter Sicht regelmäßig zu kurz kommt. Zu der hier vorliegenden Darstellung gibt es einen ergänzenden Dokumententeil mit der Wiedergabe einzelner Erklärungen des damaligen Griesheimer Bürger­meisters Georg Schüler, der Konzessions­urkunde für den Straßen­bahnbau, sowie einen Schriftwechsel zum Umgang mit dem Bordell in der Nähe des Truppen­übungsplatzes.

Die Rechtschreibung mitsamt syntaktischer Fehler wurde beibehalten, nur dort, wo zum Verständnis erforderlich, (gekennzeichnet) verbessert oder ergänzt. Die im Original gesperrt gedruckten Passagen werden hier kursiv wiedergegeben. Bei Tausenderzahlen wurden die Punkte ergänzt, bei Währungs­angaben die Punkte durch Kommata ersetzt. Die abgeschriebenen Zitate wurden nicht immer noch einmal Wort für Wort gegen­geprüft, so daß Fehler beim Abschreiben unentdeckt geblieben sein können. Diese sind von außen umso schwieriger zu entdecken, da der Redakteur zuweilen auch nicht hat Korrektur­lesen lassen, was dem Text ab und an anzumerken ist.

Für die Möglichkeit, die Zeitung einzusehen und bei Bedarf zu scannen, danke ich der 2020 verstorbenen Griesheimer Stadt­archivarin Frau Dr. Ines Wagemann und für die Bereitstellung der digitalisierten und aufbereiteten Bilder Herrn Volker Raabe.

Aufgrund der Fülle des verwendeten Materials wird die Geschichte, wie die Elektrische nach Griesheim gekommen ist, in zwei Teilen erzählt. Die Vorgeschichte gibt es hier.


Die folgende Abhandlung betrachtet nicht nur den Verlauf der Ereignisse, die letztendlich zur Ankunft der elektrischen Straßenbahn in Griesheim geführt haben. Die umfängliche Zeitungs­lektüre eines ganzen Jahrzehnts läßt auch andere berichtenswerte Ereignisstränge erfahrbar werden, die daher mit der Haupt­geschichte verwoben werden sollen. Dabei handelt es sich zum einen um die französische Besatzung des Ortes, die unmittelbare Auswirkungen auf Mobilität, Einkommen und persönliche Freiheiten hatte. Hierbei wird eine der charakteris­tischen und in der Lokalpresse ausführlich thematisierten Handlungs­weisen nicht weiter verfolgt, nämlich den durch die Verarmung während des Ersten Weltkrieges massiv zunehmenden Diebstahl selbst unscheinbarer Dinge wie die zum Trocknen aushängende Wäsche oder den auf den Äckern aufgetragenen Mist. Der alltägliche Diebstahl ist kein speziell Griesheimer Phänomen, wird jedoch vor Ort deutlich wahr­genommen. Interessanter scheint mir der ab und an vorscheinende Umgang mit der (in gewisser Weise durchaus gewollten) Prostitution rund um den Truppen­übungs­platz zu sein oder die Auseinander­setzung zwischen Griesheimer Markt­beschickerinnen und -beschickern und der Darmstädter Ordnungspolizei.

Bis Griesheim Anschluß an die elektrische Straßenbahn in Darmstadt erhielt, sollten vierzehn lange Jahre vergehen. 1912, beim Zusammenschluß der städtischen elektrischen Straßenbahn und der von der Süddeutschen Eisenbahn­gesellschaft betriebenen Dampfstraßenbahn zur Hessischen Eisenbahn Aktien-Gesellschaft, kurz: HEAG, war eine rasche Umstellung der nach Arheilgen, Eberstadt und Griesheim verlaufenden Strecken von Dampf- auf elektrischen Betrieb vorgesehen. Während die Umstellung nach Eberstadt recht flott voranging, kam der Umsetzung des Vorhabens zunächst der Krieg in die Quere, danach die französische Besatzung der beiden Darmstädter Vororte. Zudem kochte die HEAG ihr eigenes Süppchen und wollte ihr Bauvorhaben von beiden Gemeinden mitfinanziert sehen. 1926 war es dann soweit: Griesheim gab dem Druck nach und der Bau der elektrischen Bahn, vom Waldfriedhof bis zur Bürger­meisterei, konnte beginnen. Davon handelt der erste Teil der Geschichte, wie die Elektrische nach Griesheim gekommen ist.

Oktober und November 1926: Die Elektrische ist da!

Fahrplan.
Abbildung 1: Der bei Inbetriebnahme geltende Fahrplan der Straßen­bahnlinie 9, zusammen­gefaßt im Neuen Griesheimer Anzeiger am 2. Oktober 1926.

Die (Wieder-)Eröffnung der Straßenbahn­strecke nach Griesheim steht unmittelbar bevor; vorab veröffentlicht die HEAG ihren auf einem Halbstunden­takt basierenden Fahrplan. Auf der Gemeinderats­sitzung am 4. Oktober wird beschlossen, das für den Bau des neuen Bahnhofs – die heute noch bestehende Wagenhalle – benötigte Gelände zum Preis von 3 Mark pro Quadratmeter aufzukaufen, während für das für den Bau eines zweiten Gleises erforderliche Gelände mit einer Mark vergütet wird. [NGA, 7.10.1926]

„Am Samstag Nachmittag [9.10., WK] fand die erste Probefahrt der elektrischen Bahn Darmstadt – Griesheim statt, die, wie wie vernehmen gut verlaufen ist, sodaß die Inbetriebnahme der Linie nach der landes­polizeilichen Abnahme, die bekanntlich morgen Dienstag stattfindet, am Mittwoch nichts mehr im Wege steht. Für den Betrieb der hiesigen Strecke sind ausschließlich Griesheimer Leute angenommen worden, die gegenwärtig im Fahrdienst ausgebildet werden. Voraussichtlich werden noch in diesem Jahre auch die Fundamente für das Stations­gebäude und die Wagenhalle ausgeführt, sodaß mit Beginn des Sommer 1927 auch diese Bauten dem Betrieb übergeben werden können. Den Fahrtarif gibt die ‚Heag‘ im Anzeigenteil unserer heutigen Nummer bekannt. – Nach jahrelanger Unterbrechung haben wir nun endlich durch gegenseitiges Entgegen­kommen zwischen ‚Heag‘ und Gemeinde die kürzeste direkte Verbindung bis zum Innern der Stadt Darmstadt, dem Marktplatz, die wie bisher so schwer vermißt haben.“ [NGA, 12.10.1926]

Bekanntmachung.

Abbildung 2: Bekanntmachung der HEAG zu den Tarifen der wiedereröffneten Straßen­bahnlinien nach Griesheim und Arheilgen, veröffentlicht im Neuen Griesheimer Anzeiger am 12. Oktober 1926.

Nach erfolgter Prüfung genehmigten sich die Herren Honoratioren einen zur Brust und vergaßen dabei nicht, die vergangenen Konflikte mit schönen, aber langweiligen Reden, vor allem jedoch mit alkoholischem Dunst zu ertränken. Derlei Rituale gehören bis heute zum politischen Alltag und erzeugen bzw. vertiefen ein Zusammen­gehörigkeits­gefühl lokaler und regionaler Eliten.

„Die landespolizeiliche Abnahme der elektr[ischen] Straßenbahn nach Griesheim.

Nachdem am 1. April 1922 der Dampfbahnbetrieb Darmstadt – Griesheim infolge wirtschaftlicher Schwierigkeiten eingestellt wurde, fanden im Herbst 1925 und in diesem Jahre wieder erneut Verhandlungen zwischen der Gemeinde und der Heag zwecks Wiederaufnahme des Bahnbetriebes zwischen Darmstadt und Griesheim statt. Da die Bahn bereits bis zum Waldfriedhof ausgebaut war, so war nur noch die Strecke vom Waldfriedhof bis Griesheim weiterzuführen. Die Verhandlungen haben dann auch nach ganz kurzer Zeit zu einem zufrieden­stellenden Ergebnis beiderseits geführt und nach kaum drei Monaten war der Bau der Strecke durch die Firma Fischer, Budenheim unter Leitung des Herrn Ober-Ing. Rausch von der Heag fertiggestellt, sodaß am Dienstag bereits die landespolizeiliche Abnahme der neuerbauten Straßen­bahnlinie stattfinden konnte. Die Abnahme erfolgte um 11 Uhr durch die Abnahme-Kommission, Vertreter der staats- u[nd] städtischen Behörden und der Griesheimer Gemeinde­vertretung. Die [sic!] Abnahme-Kommission, welche zu Fuß die Strecke bis zum Bahnhof Griesheim genauestens prüfte, folgte ein mit Fahnen und Girlanden geschmückter Sonderwagen. Aus diesem Anlaß hatten die Anwohner der Neuen Darmstädter­straße ihre Häuser mit Fahnen geschmückt und am Ortsausgang hatte sich eine große Anzahl Einwohner eingefunden, welche Zeuge dieser historischen Stunde sein wollten.

Nach Beendigung der Prüfung erfolgte dann nochmals in flottem Tempo eine Probefahrt. Am Kaffee-Restaurant Bender [dem ehemaligen Hotel Roth, WK] machte man Halt, woselbst ein Photograph die Teilnehmer im Bilde festhielt. Das Protokoll wurde sofort abgefaßt und unterschrieben. Die Abnahme-Kommission bestand aus den Herren Geheimer Regierungsrat Geibel, Oberbaurat Sengelm, Regierungsrat Dr. Wolff vom Ministerium, Kreisdirektor Merck, Regierungsrat Dr. Helmreich und Oberbaurat Balz vom Kreisamt Groß-Gerau, Bürgermeister Ritzert, Bürgermeister Buxbaum. Oberbaurat Heusel als Vertreter der Stadt. Regierungsrat Dr. Kayser vom Polizeiamt Darmstadt, Telegraphen­direktor Heerdt von der Oberpost­direktion, Forstassessor Arnoldi von der Forstbehörde, Bürgermeister Schüler und Beigeordneter Feldmann von der Gemeinde Griesheim, Direktor Bohnenberger und Oberingenieur Rausch von der Heag.

Die Herrenrunde.

Bild 3: Die Herrenrunde bei der Abnahme der Griesheimer Strecke an der Restauration Bender, dem heutigen Wald­schlößchen. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, gh.2010.0076.

Nachdem dieser Akt vollzogen war fand im festlich geschmückten Saale und vornehm gedeckter Tafel ein gemeinschaftliches Festessen statt. Herr Direktor Bohnenberger nahm hierbei Gelegenheit, die Festgäste im Namen der Heag herzlichst zu begrüßen. Mit der Wiedereröffnung der elektrischen Vorortbahn nach Griesheim ist wieder eine engere Verbindung der beiden Gemeinden hergestellt worden. Der Redner warf dann einen kurzen geschichtlichen Rückblick auf die Erbauung und den Betrieb der Dampf­straßenbahn, die die erste ständige Verbindung zwischen Darmstadt und Griesheim bildete. Damals dachte wohl niemand daran, daß heute schon diese Bahn elektrisch betrieben werde. Die Dampfbahn wurde seinerzeit von der Süddeutschen Eisenbahn-Gesellschaft übernommen. Bei der Gründung der Heag hatte die S.E.G. diese dann als Erbe mit in die Gesellschaft gebracht. Schon damals dachte man an die Elektrifizierung. Kriesg und Nach­kriegszeit machten das Projekt immer wieder zunichte. Als endlich die wirtschaftlichen Verhältnisse den Bau ermöglichten, wurde alles Wesentliche in nur zwei Besprechungen erledigt. Im September 1925 wurde zuerst mit der Gemeinde Griesheim verhandelt, und im Februar 1926 wurde die Erbauung vom Kreisamt genehmigt. Die gleichzeitig damit geplante Erbauung eines Bahnhofes in Griesheim mußte allerdings noch bis zum kommenden Frühjahr zurück­gestellt werden. Mitte August dieses Jahres wurde der Bau begonnen und die Bahn programmäßig betriebsfertig gestellt. Nun hat Griesheim die Bahn und wir freuen uns, den Vorort gewonnen zu haben. Wir liebäigeln mit dem Gedanken, die Bahn später noch weiter führen zu können, und hegen begründete Hoffnung, auch das zu erreichen. Nach einigen technischen Erläuterungen, die insbesondere der Betriebs­sicherheit galten, für die alle modernen technischen Neuerungen herangezogen wurden, schloß der Redner mit dem Wunsche, daß die guten beziehungen zu Darmstadt und Griesheim mit den neuen Verbindung wachsen, blühen und gedeihen mögen.

Herr Bürgermeister Schüler feierte den Tag der Eröffnung als eine historische Tat, die einem lang gehegten Bedürfnis Erfüllung gebracht hat. Es war nicht immer ganz leicht, die Widerstände zu überwinden, und vieles, das zum Wohl der Bevölkerung dient, muß oft mühevoll durch­gedrückt werden. Endlich aber ist das Werk vollendet, und es ist so schnell gebaut worden, daß die Bahn noch vor dem festgesetzten Termin in Betrieb gesetzt werden kann. Er dürfe mit Recht feststellen, daß das im wesentlichen der Unternehmungslust und dem modernen Geist der Gemeinde Griesheim zu verdanken ist. Sie hat in schneller Zeit sich elektrisches Licht und sich nun auch die elektrische Bahn geschaffen. Allerdings hätte das schon früher erreicht werden können; aber es sei nicht seines Amtes, den Vorfahren hierüber Vorwürfe zu machen. An der großen Aufgabe zur Hebung der Wirtschaft, in der das Reich und die Länder mit gutem Beispiel vorangehen, müssen auch alle Gemeinden mitarbeiten, auch wenn das Opfer kostet. Es gilt, mit den Bestrebungen zur Hebung der Wirtschaft der Arbeitslosigkeit zu steuern, und da dürfen die Gemeinden nicht zurückstehen. Für Arbeit zu sorgen, ist ein Akt der Menschlich­keit; nur wer für Arbeit sorgt, steuert der wirtschaftlichen Not. Die Gemeinde hat noch mehrere Projekte, die der Lösung harren und die in nächster Zeit zum Ziele geführt werden müssen. Redner schloß mit dem Ausdruck der Hoffnung, daß die guten Beziehungen zur Stadt Darmstadt auch in zukunft so bleiben und sich immer enger gestalten mögen. Dazu möge auch der heutige Tag beitragen.  (Bravo!)

Bürgermeister Ritzert überbrachte die Grüße und die Glückwünsche des Oberbürgermeisters und der Stadt Darmstadt. Auch für die Stadt Darmstadt bedeute die Eröffnung der elektrischen Bahn einen wichtigen Akt in ihrer Geschichte. Einen Akt, der gleichbedeutend ist wie der mit der Erbauung der Dampfbahn. Schon damals gab es wie immer eine große Anzahl Beschwerden gegen die Dampfbahn, und es ist interessant zu wissen, daß auch von einem Fachmann eine gutachtliche Aeußerung dahin vorlag, daß der Betrieb von Vorortbahnen mit Akkumulatoren­wagen eine technische Utopie sei. Heute ist die Elektrifizierung, wenn auch nicht die Akkumulatoren­wagen, zur Tat geworden. Die freundschaftlichen Gefühle, die mein Kollege von Griesheim hier betont hat, teilen wir in Darmstadt vollkommen. Die Beziehungen zu den beiden Gemeinwesen müssen freundschaftlich gefördert und gepflegt werden, wenn auch in Zukunft noch schwierige Probleme ihrer Lösung harren. Wir selbst werden unserer Vorortgemeinde nach jeder Richtung hin freundschaftliche Förderung zu teil werden lassen. Ich hoffe gern, daß dieser gute Wille auch auf Seiten Griesheims besteht und leere darauf mein Glas.  (Bravo.)

Herr Kreisdirektor Dr. Merck-Groß-Gerau, führte aus, der Kreis Groß-Gerau verdanke die Zuteilung der Gemeinde Griesheim zu seinem Bereich gewissermaßen einem Kriegsverhältnis, der feindlichen Besatzung. Er freue sich aber, feststellen zu können, daß die Beziehungen zwischen Kreis Groß-Gerau und der Gemeinde Griesheim in keinem Stadium kriegerisch waren, daß sie sich inzwischen im Gegenteil sehr herzlich gestaltet haben. Wir betreuen gern die Gemeinde Griesheim mit, ohne daß wir uns dadurch in den Kreis Darmstadt eindrängen wollen. Wir wollen auch dem Freiheitsdrang der Gemeinde Griesheim keine Zügel anlegen, wir wollen uns nur mit ihnen freuen über das vollendete Werk und hoffen, daß die Verbindung zwischen Griesheim und Darmstadt noch inniger werden möge, so daß man bald schreiben könne Darmstadt–Griesheim.

Herr Geheimer Oberbaurat Geibel sprach von der guten alten Zeit, in der die Dampfbahn noch am ‚Faixe Eck‘ hielt und das fauchende Dampfroß durch die Rheinstraße sauste, Zeiten, die doch schön waren, wenngleich hier nicht bestritten werden kann, daß die Dampfbahn nicht mehr in das Stadtbild hineinpasse. Redner sprach dann der Bauleitung, an deren Spitze Herr Oberingenieur Rausch steht, und den Firmen Siemens-Schuckert und Fischer (Buchenau) Dank und Anerkennung für ihre vorbildliche Arbeit aus.

Herr Gemeinderat Maus nahm Veranlassung, namens der Griesheimer Gemeinde­vertretung eine Dankespflicht abzustatten. Die Einführung des elektrischen Betriebes sei doch nicht so leicht gewesen. Es sei eine Schwergeburt, ja geradezu eine Zangengeburt gewesen, und der Geburtshelfer, wenn er so sagen darf, sei Herr Geheimerat Geibel gewesen. Ihm spreche er namens seiner Kollegen vom Gemeinderat den herzlichsten Dank aus. Die an den Vorverhandlungen Beteiligten wüßten, welche Arbeit zu leisten gewesen wäre, und daß diese Arbeiten so schnell vorwärts gingen, sei der Verdienst des Geheimrat Geibel. – Herr Lehrer Mall toastete auf Herrn Direktor Bohnenberger, dem man in Griesheim zwar zunächst mit Mißtrauen begegnet war, dessen tatkräftigen Eintreten aber die schnelle Fertigstellung der Bahn im wsentlichen zu danken ist.

Am Nachmittag war ein Beamte [sic!] der Heag im Stationsgebäude anwesend, der evtl. Wünsche der Einwohner­schaft über bessere Zugverbindung entgegennahm. Von heute Mittwoch ab [13.10., WK] hat die Bahn ihren Betrieb aufgenommen. – Mögen alle Erwartungen und Hoffnungen, die man auf die neue Verbindung zwischen Darmstadt und Griesheim setzt in reichem Maße in Erfüllung gehen.“

Quelle: Neuer Griesheimer Anzeiger vom 14. Oktober 1926.

Die neue Straßenbahnverbindung findet nicht nur Wohlgefallen bei den Honoratioren, sondern auch Kritik bei den Nutzern.

„Stimmen aus dem Leserkreis.

Die Elektrische ist nun fertig und fährt, aber leider scheint die Heag keine gute Hand im Preisverteilen gehabt zu haben; sind doch die Preise der Wochenkarten entschieden zu hoch. Eine Wochenkarte Griesheim – Darmstadt – Merck kostet 3,20 Mk. dagegen mit der Staatsbahn allerdings bis Darmstadt-Nord nur 2,20 Mk. Die Eberstädter dessen Strecke nach Kilometern berechnet, eher weiter sein dürfte, kosten bis Merck nur 2,80 Mk.

Hoffentlich berechnet die Heag die Strecken nochmals für Wochenkarten, denn gerade für die arbeitende Klasse sollte doch die elektrische Bahn eine Erleichterung bringen. Dann kann ein Arbeiter der am Sonntag ebenfalls arbeiten muß, bei der Staatsbahn seine Wochenkarte benutzen, bei der Heag muß man jedoch Bartarif bezahlen. Diese Erleichterung dürfte auch bei der Heag einzuführen sein[,] evtl. könnte ein Ausweis des Arbeitgebers beigebracht werden.

Ein Merck'ser.“ [NGA, 16.10.1926]

Fahrplan.
Abbildung 4: Bekanntmachung einer Fahrplanänderung durch die HEAG im Neuen Griesheimer Anzeiger am 4. November 1926.

Am 17. Oktober, einem Sonntag, fand im Gasthaus „Zum Rebstock“ eine öffentliche Versammlung von Sozialdemokratie und Gewerkschaftskartell statt. Hierbei ging Griesheims Bürgermeister Schüler auch auf den Bau der elektrischen Straßenbahn ein, welcher der hiermit fahrenden Griesheimer Bevölkerung einen Extrabeitrag abverlangt.

„Das Projekt der elektrischen Bahn ist verwirklicht worden. Die Gemeinde ergebt für die Deckung der 6000 Mark betragenden Zinsgarantie pro Einzelfahrt 5 Pfg., die jedoch wahrscheinlich schon nach einem Jahre in Wegfall kommen. Wahr­scheinlich brauchen wir auch nach drei Jahren keine Garantie mehr zu übernehmen, da sich voraussichtlich die Bahn rentiert. Redner verurteilt die Haltung der Grundbesitzer des neuen Bahnhofs­geländes. Die Weiterführung der elektrischen Bahn bis Oppenheim ist für spätere Zeit in Aussicht genommen.“ [NGA, 21.10.1926]

Anfang Oktober wird eine neue Autobuslinie von Goddelau über Philipps­hospital nach Crumstadt eingerichtet, die sich eines regen Zuspruchs seitens der Bevölkerung erfreuen soll. [NGA, 19.10.1926]

„Gestern vormittag [am 26.10., WK] hat die landes­polizeiliche Abnahme der elektrischen Straßenbahn Darmstadt – Arheilgen stattgefunden. Bereits am Nachmittag wurde die Strecke dem Verkehr übergeben. Im Anschluß an die Abnahmefahrt hatte die ‚Heag‘ die Teilnehmer zu einem Imbiß im Hotel ‚Zur Traube‘ eingeladen, dem die Gemeinde­vertretung von Arheilgen demonstrativ ferngeblieben war.“ [NGA, 28.10.1926]

Zum 4. November gibt die HEAG eine Fahrplan­änderung bekannt, wonach die Züge von Griesheim aus drei Minuten und von Darmstadt aus zwei Minuten früher abfahren. [NGA, 4.11.1926]

Bekanntmachung.
Abbildung 5: Bekanntmachung der Bürgermeisterei zur landes­polizeilichen Abnahme des Reststücks im Neuen Griesheimer Anzeiger am 30. November 1926.

Mit der auf der kürzlich stattgefunden sozial­demokratischen Versammlung verärgerten Bemerkung des Bürgermeisters verhält es sich so, wie es als zweiter Tagesordnungs­punkt auf der Gemeinderats­sitzung am 2. November zu vernehmen war:

„2. Weil eine Einigung mit den Grundstücks­besitzern über den Preis des Geländes für die Bahnhofsanlage der elektrischen Straßenbahn außerhalb des Ortes an der Darmstädter Chaussee nicht erzielt werden konnte, wurde mit 14 gegen 4 Stimmen beschlossen, das Enteignungs­verfahren gegen die in Frage kommenden Grundstücks­besitzer einzuleiten.“ [NGA, 6.11.1926]

Am 9. November entgleist eine aus Darmstadt kommende Straßenbahn. Der für 7.50 Uhr vorgesehene Zug nach Darmstadt entfällt, da man einige Zeit benötigte, den Straßenbahn­wagen wieder aufzugleisen. [NGA, 11.11.1926]

Am 23. November rollt erstmals eine Straßenbahn zur neuen Endhaltestelle an der Bürger­meisterei, was von der Dorfjugend mit großem Hallo begangen wird. Nun muß noch die Straße gepflastert werden, ehe der Regelbetrieb beginnen kann. [NGA, 25.11.1926]

„Gestern Mittag [am 30.11., WK], zur festgesetzten Zeit, fand die landespolizeiliche Abnahme der Reststrecke der elektrischen Straßenbahn statt und daran anschließend wurde die Strecke sofort dem Verkehr übergeben. Die Abfahrtszeiten von der Endstation an der Bürger­meisterei sind drei Minuten früher, also 5.17, 5.47 Uhr usw. Da die Pflasterarbeiten voraussichtlich bis morgen Abend fertiggestellt sind, kann auch die Strecke von Freitag ab wieder dem Verkehr für Fahrzeuge aller Art übergeben werden. Einige Autos und Motorradfahrer, die gestern Abend schon versuchten, durchzufahren, blieben im Sand stecken und mußten wieder umkehren. Ein Motorradfahrer kam dabei zu Fall und verletzte sich am Arm.“ [NGA, 2.12.1926].

Während der Bauarbeiten.

Bild 6: Zustand der Neuen Darmstädter Straße bei Beginn des letzten Bauabschnitts. Das Personal von Wagen 54 posiert am alten Bahnhofs­gelände auf dem heutigen Georg-Schüler-Platz. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em.2006.0680.

Ende 1926–Sommer 1928: Nacharbeiten und ein wenig Sorglosigkeit

Jetzt, wo die langwierige Geschichte, bis die Elektrische nach Griesheim gekommen ist, so gut wie abgeschlossen ist – nur noch die Wagenhalle muß gebaut werden –, kann sich die HEAG neuen hochfliegenden Plänen widmen. Am 1. Dezember 1926 trifft sie sich mit Vertretern der Anlieger­gemeinden, um die Verlängerung der Eberstädter Linie über Malchen, Seeheim, Jugenheim und Alsbach nach Zwingenberg zu beraten. [NGA, 2.12.1926]

Nur noch die Wagenhalle … – genau da liegt das Problem, weil die Grund­eigentümer ein bißchen dazu verdienen wollen.

„Bekanntlich hat die Gemeinde mit der ‚Heag‘ ein Abkommen dahin getroffen, daß die neuen Bahnanlagen für die elektrische Straßenbahn von der jetzigen Stelle nach dem Gelände hinter dem Reinheimer'schen Anwesen an der Neuen Darmstädter­straße verlegt werden sollen. Im Austausch gegen das seitherige Bahnhofs­gelände soll die Gemeinde das neue Gelände erwerben und der ‚Heag‘ zur Verfügung stellen. Die bisher von der Gemeinde mit den in Frage kommenden Grundstücks­besitzern geführten Verhandlungen wegen Ankaufs des Geländes sind als gescheitert anzusehen, weil die Grundstücks­besitzer für ihr Gelände durchweg 3 Mk. pro Qmtr. verlangen, während die Gemeinde diesen Preis nur [für] das für die Bahnhofs­anlagen benötigte Gelände bezahlen will und für das dahinterliegende Gelände, das in Bauplätze eingeteilt werden soll, nur 2 Mk. Da die Grundstücks­besitzer dieses Angebot ablehnen, soll das Enteignungs­verfahren eingeleitet werden. Der Enteignungs­antrag mit allen Anlagen liegt während der Zeit von 6. bis 22. ds. Mts. auf der Bürger­meisterei offen, während der Termin zur Tagfahrt auf Mittwoch, den 22. Dezember, nachmittags 3½ Uhr von der Lokalkommission anberaumt ist. – Unseres Wissens ist dies der erste Enteignungs­antrag in unserer Gemeinde seit dem Ankauf des Truppen-Uebungsplatzes im Jahre 1873.“ [NGA, 11.12.1926]

„Bekanntlich fand am 22. ds. Mts. in Sachen des Grunderwerbs für die neuen Bahnhofsanlagen der Straßenbahn ein Termin vor der Lokalkommission statt. Die Grundbesitzer waren durch Herrn Rechtsanwalt Dr. Meisel aus Darmstadt und die Gemeinde durch Herrn Bürgermeister Schüler vertreten. Nach längeren ausführlichen Verhandlungen einigte man sich dahin, daß auch das hinter den Bahnhofsanlagen liegende Gelände von der Gemeinde mit 3,– Mk. pro Qmtr. bezahlt werden solle, allerdings vorbehaltlich der Genehmigung des Gemeinderats. In einer am Dienstag Abend [28.12., WK] stattgehabten dringlichen Gemeinderats-Sitzung hat dieser den Vergleich angelehnt und den Fortgang des eingeleiteten Enteignungs­verfahrens beschlossen. – Aus Anlaß der Erbauung des Bahnhofs für die elektrische Straßenbahn am östlichen Ortsausgang an der Neuen Darmstädter Straße ist eine Verlegung früher vorgesehener Straßenzüge und die Vorsehung einer neuen Verbindungs­straße von der Heinrichstraße nach der Neuen Darmstädter­straße erforderlich geworden. Die neue Verbindungs­straße soll dem Trautmannschen und dem Reinheimerschen Anwesen entlang ziehen, während die erste und zweite Querstraße entsprechend nach Osten verlegt und die bereits bestehende Heinrichstraße bis zur ersten Querstraße verlängert werden soll.“ [NGA, 31.12.1926]

Das Problem der überteuerten Wochenkarten beschäftigt das Griesheimer Gewerkschafts­kartell auch im neuen Jahr 1927. Daran schließt sich eine Klage über den (nicht) gebotenen Komfort an. Es bittet Griesheims Lokalzeitung um Übernahme folgenden Artikels.

Die HEAG und die Wochenkarten

„Die seit einem Vierteljahr dem Verkehr übergebene elektr[ische} Straßenbahn­strecke Darmstadt – Griesheim erfreut sich einer großen Frequenz. Leider aber ist es den Industrie­arbeitern durch die hohen Tarifsätze für Wochenkarten nicht vergönnt, die Bahn zu benützen. Von seiten des Gemeinde­vorstandes und des Gewerkschafts­kartells war um eine Verbilligung der Wochenkarten mit ihren vielen Teilstrecken nachgesucht worden, leider ohne Erfolg. Um jedoch die Arbeiterschaft von Griesheim zu ködern, wurde nach Fertigstellung der letzten Teilstrecke bis zum Gemeindehaus freie Fahrt für die Wochenkarten-Inhaber gewährt. Dieses große Entgegen­kommen der Heag hatte aber einen besonderen Zweck: es sollte die Arbeiter aus dem unteren Ortsteil, die noch mit der Staatsbahn fahren, heranlocken, um voll und ganz auf die Rechnung zu kommen. Da sich aber diese Spekulation als falsch erwies, war es mit dem Entgegen­kommen der Heag bald vorbei. Statt Verbilligung der Wochenkarten und freie Benutzung der letzten Teilstrecke kam Knecht Rupprecht gerade zur lieben Weihnachtszeit und steckte die Wünsche der Griesheimer und die gewährte freie Fahrt auf der letzten Teilstrecke in seinen Sack. So sehen die Weihnachts­gaben der Heag für die Griesheimer Arbeiterschaft aus. War der Gemeinde­vorstand bei Festlegung dieser Teilstrecke auch im Bilde? Lange Gesichter und Beschimpfung durch die erfahrene Täuschung gab es bei der Einzahlung der letzten Wochenkarten-Abnahme.

Bei der kalten Witterung in letzter Zeit war es kein Vergnügen in den eiskalten Wagen zu hocken für Diejenigen, die bis zum Marktplatz oder einer entfernten Arbeitsstelle zu fahren haben. Mancher zog es vor 1–2 Teilstrecken früher auszusteigen, um die kalten Füße wieder in Bewegung zu bringen und sich vor Erkältung zu schützen. Die meisten Mitfahrenden sträubten sich, sich in die luftigen Sommerwagen zu setzen, welche die ganze Nacht über im Freien stehen und wer das Glück hatte, in einem Motorwagen unterzukommen, bekam fast die Füße abgetreten bei der Ueberfüllung.

Ein anderes unschönes Bild zeigt das Wartestübchen. Kein Ofen, keine Bank, kein Tisch – trotz aller Bitten und Versprechungen. Entweder fertigt uns der Aufsichtsbeamte K. mit leeren Redensarten ab oder aber er findet kein Gehör bei der sparsamen Direktion. Dieser Aufsichtsbeamte sieht doch alltäglich, wie manches Mütterlein schweißtriefend mit ihrem Korbe auf dem Kopfe ankommt und sich hilfesuchend umsieht, zum Abheben ihrer Last. Denn viel früher, als die Wagen abgehen, sind die Frauen da und suchen ein Plätzchen in dem kalten Wartesälchen, um sich noch etwas auszuruhen. Aber keine Bank zum Sitzen, kein Ofen zum Wärmen ist da und gar oft hört man aus dem Munde der Frauen, früher sei es im Wartesaal doch angenehmer gewesen, heute heiße es, nur her mit dem was du hast. Hier sollte die Direktion schnellstens Abhilfe schaffen und nicht handeln, wie es in ihrer Zuschrift lautet, daß sie es außerordentlich bedauert, die Preise der Wochenkarten nicht herabsetzen zu können, da wir die uns gebotene[n] Vorteile verkennen.“

Quelle: Neuer Griesheimer Anzeiger vom 8. Januar 1927.

Wenn sich Honoratioren feiern, bleiben die Fahrgästinnen und Fahrgäste auf der Strecke. Das beim Besäufnis verpraßte Geld muß ja wieder hereingeholt werden.

In der Gemeinderats­sitzung am 20. Januar wird ein am 14. Januar vor dem Kreisausschuß mit den Grundstücks­besitzern abgeschlossener Vergleich, der für das hinter der neuen Wagenhalle liegende Gelände einen Quadratmeterpreis von 2,50 Mark vorsieht, mit Stimmenmehrheit genehmigt. Damit ist das Enteignungs­verfahren vom Tisch. Zu diesem Zweck muß ein Kredit in Höhe von 70.000 Mark bei der Landesbank – zu 6% Zinsen, 1% Tilgung, 0,2% Vermittlungskosten­beitrag und 95½% Auszahlung – aufgenommen werden, so beschlossen in der Gemeinderats­sitzung am 10. Februar. [NGA, 22.1. und 12.2.1927]

Manche Anwohnerinnen und Anwohner mußten sich an die relativ leise elektrische Straßenbahn erst noch gewöhnen, wo zuvor die Dampf­straßenbahn ihr Kommen mit heftigem Gefauche angezeigt hatte. Allerdings ist auch der Lärm einer Dampflokomotive keine Gewähr dafür, gehört zu werden. Über die Jahrzehnte verstreute Berichte belegen, daß Landwirtschaft und Alkoholkonsum durchaus kompatibel waren; und wenn dann ein Landwirt mit Wagen und Pferd in der Sommerhitze vor sich hindöste, dann konnte es schon einmal vorkommen, daß das Pferd zwar den Weg nach Hause wußte, aber vor Überschreiten des Bahn­übergangs nicht nach rechts und links geschaut hat. Das konnte tödliche Folgen haben. Am 3. Februar 1927 hingegen ging solch ein Unfall noch glimpflich ab.

„Gestern Morgen wurde am Wegübergang hinter dem Kirschenhügel (Chausseeck) der dort stehende und auf seinen Fuhrmann wartende Schlosser Heinrich D******** von hier von der Straßenbahn erfaßt und einige Meter weit geschleift. Er erlitt schwere Verletzungen am Kopf und wurde durch ein gerade daher­kommendes Personenauto ins Krankenhaus nach Darmstadt verbracht. Ein Augenzeuge berichtet uns, daß den Wagenführer an dem Unfall absolut keine Schuld trifft. Er hat schon von Weitem und bis zum letzten Augenblick Warnungs­signale gegeben und schon vorher die Bremse gezogen. Er konnte aber den Wagen nicht eher zum Stehen bringen, da der Verunglückte sich erst im allerletzten Moment anschickte, das Gleis zu überschreiten. Jedenfalls war der Mann so in Gedanken versunken, daß er das Herannahen des Wagens gar nicht merkte und die Warnungssignale ganz überhörte. Die Verletzungen sollen zum Glück nicht derart sein, daß Lebensgefahr besteht.“ [NGA, 5.2.1927]

Am 17. Mai kam ein zehnjähriges Mädchen beinahe unter die Räder. Kinder sind nun einmal Kinder, da helfen Warnungen und Verkehrs­übungen nur begrenzt. Warum sollen sie sich auch vernünftiger verhalten als all die vielen Erwachsenen, die immer wieder gerne ein schlechtes Vorbild abgeben?

„Gestern Mittag kurz nach halb 12 Uhr wäre ein etwa 10 jähriges Mädchen von dem um diese Zeit hier eintreffenden Straßen­bahnzug beinahe überfahren worden. Das Mädchen kam aus der Schule und stellte sich dicht an den Rand des Fußsteiges. Obgleich der Führer des Straßenbahn­wagens schon von weitem durch fortgesetztes Schellen Warnungssignale gab, versuchte das Mädchen noch im letzten Moment auf die andere Seite der Strße zu springen, wurde aber von dem Wagen erfaßt und wenige Meter weit geschleift. Nur der Geistes­gegenwart des Wagenführers, der den bereits in verlangsamter Fahrt befindlichen Wagen sofort zum Stehen brachte, ist es zu verdanken, daß das Kind nicht überfahren wurde. Es ist wirklich erstaunlich, mit welcher Sorglosigkeit manchmal selbst ältere Kinder sich hier der Gefahr des Ueberfahren­werdens aussetzen. Eltern und Lehrer können hier nicht genug warnen.“ [NGA, 19.5.1927]

Straßenbahnszene.

Bild 7: Endhaltstelle in Griesheim vor der Neuen Schule bzw. Bürgermeisterei (links), dem Ort der Sorglosigkeit. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em.2006.0373.

Der neue Besitzer des ehemaligen Hotel Roth heißt Ernst Schneider und nennt sein Etablissement nunmehr „Waldschlößchen‘. „Erstklassig der Neuzeit entsprechend eingerichtete Zimmer“ kosten von 3 Mark 50 an aufwärts, Bäder sind im Haus und elektrisches Licht gibt es auch. Daß die preiswerte Küche ebenso erstklassig ist, versteht sich von selbst. [NGA, 10.2.1927]

Zusammenstoß zweier Straßenbahnzüge im Nebel

Griesheim, 14. Februar.  Ein schwerer Straßenbahn-Unfall hat sich heute früh an der Ausweiche am Neuen Schießhaus ereignet. Der Führer des 715 Uhr hier abgehenden Vorwagens blieb an der Haltestelle nicht solange halten, bis der von Darmstadt kommende Straßenbahnzug in der Ausweiche eingetroffen war, wie es Dienst­vorschrift ist, sondern fuhr trotz des herrschenden Nebels, der eine Fernsicht verhinderte, einfach drauflos, in der Hoffnung, mit seinem Wagen noch die Ausweiche am Waldfriedhof zu erreichen. Kaum war er aber über die Ausweiche hinausgekommen, als im Nebel die Lichter des Darmstädter Zuges auftauchten, und in der nächsten Sekunde fuhren die beiden Motorwagen mit solcher Heftigkeit aufeinander, daß die Puffer abbrachen, die beiden Plattformen sich ineinander schoben, an sämtlichen vier Wagen die Fensterscheiben zertrümmerten, die Insassen der Wagen krädtig durcheinander geworfen und viele durch die umherfliegenden Glassplitter mehr oder weniger verletzt wurden.

Die schwerer Verletzten wurden durch die sofort alarmierte Freiwillige Sanitäts­kolonne Darmstadt nach dem städtischen Krankenhaus verbracht, wo sie verbunden und zum größten Teil alsbald wieder entlassen wurden. Nur noch vier von ihnen befinden sich im Krankenhaus und zwar Herr Lehrer L****** und Herr Valentin M***** XII., [Adresse], sowie zwei in den Hessenwerken beschäftigte Herren aus Darmstadt. Lebensgefahr ist in keinem Falle vorhanden. Außerdem sind von hier noch schwer verletzt die Herren Franz E******* und Valentin Z*****, sowie Frau S********, welche einen Bluterguß ins Knie erlitt, Frau B*** und Frau S********. Bei den Verletzungen handelt es sich hauptsächlich um Schnittwunden an Kopf, Gesicht und Händen, die in kürzester Frist geheilt sein werden. Eine längere Unterbrechung des Verkehrs durch den Unfall fand nicht statt, weil die Wagen auf den Gleisen stehen geblieben waren und alsbald abgeschleppt werden konnten. Die Darmstädter Feuerwehr, die ebenfalls alarmiert und alsbald zur Stelle war, brauchte nicht bin Tätigkeit zu treten. – Die Schuld an dem Unfall liegt ausschließlich bei dem Fahrer des Griesheimer Wagens, der seine Pflicht in gröblichster Weise verletzte.“

Quelle: Neuer Griesheimer Anzeiger vom 15. Februar 1927. In der Ausgabe vom 22. Februar wird noch einmal ausführlich auf die Verletzungen dreier Herren eingegangen.

Auszug aus der Dienstanweisung

Neues Schießhaus Ausweiche. In dieser Ausweiche kreuzen die von der Stadt und Griesheim kommenden Wagen bei ½ Stundenverkehr. Die Kreuzung muß unbedingt an der Haltestelle Schießhaus erfolgen, der dort zuerst eintreffende Wagen darf die Haltestelle nicht früher verlassen, als bis der entgegenkommende Wagen an ihm vorbeifährt.“

Quelle; Fahrdienstvorschriften der HEAG von 1932.

Nachspiel vor Gericht

Vor dem Bezirksschöffengericht in Darmstadt wurde gestern [am 12.5.1927, WK] über den Straßenbahn-Zusammenstoß am 14. Februar d. J. am Waldfriedhof verhandelt, bei dem bekanntlich etwa 20 Personen zumeist leicht verletzt wurden. Die Anklage gegen den ehemaligen Wagenführer Heinrich R*** von hier, der den Unfall verschuldet, lautet auf fahrlässige Transport­gefährdung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung. Der Angeklagte erwiderte, er habe am vorhergehenden Sonntag Abend Schaffnerdienst bis 11 Uhr nachts gehabt, dann würden die Wagen rangiert, darüber werde es ½–¾ 12 Uhr, dann komme zu Hause das Geldabrechnen und es werde 1 Uhr, bis er ins Bett komme, um 2 Uhr müsse er dann wieder aufstehen, da in Griesheim der erste Zug um 4.15 Uhr abgeht. Nach diesem ersten fahren zwei Sonderwagen, die, wie der Angeklagte angibt, er als Führer lenkte. Der erste Sonderwagen (ab 6.40 Uhr von Griesheim) fährt ohne Anhalten bis zum Hauptbahnhof; der zweite Sonderwagen fährt 7.18 Uhr in Griesheim ab und hält, bis zum Hauptbahnhof fahrend, nur an Haltestelle Schießhaus, wo sich die Haltestelle in der Mitte der Ausweiche befindet. Dieser Zug war der Unglückszug. R*** will gebremst haben, gibt aber an, der Wagenführer habe ihm das Zeichen zum Weiterfahren gegeben, er habe auch, da der Wagen überfüllt gewesen, nicht gemerkt, daß er die Weiche überfahren gehabt habe. Die Lichter am Wagten brannten.

Angeklagter betont, es habe gerade bei diesem Zug dichter Nebel (vorher nur leichter Nebel) geherrscht, so daß er keine drei Meter weit habe sehen können. Die Weiche wurde überfahren, ohne den von Darmstadt kommenden Gegenzug anzuwarten, gewöhnlich trifft der Griesheimer Wagen drei Minuten früher als der von Darmstadt kommende Wagen ein. Angeklagter betont noch weiter, er sei damals übermüdet gewesen, nach Vorschrift müsse eine Ruhrzeit gewährt werden. Aus der Beweisaufnahme ergab sich, daß nach dem Tarifvertrag zwischen zwei Dienstschichten eine achtstündige Ruhezeit einzutreten hat, was hier nicht der Fall war. Staatsanwalt und Gericht sehen den Fall als milde zu bewerten an. Das Urteil lautet daher auf 100 Mk. Geldstrafe.“

Quelle: Neuer Griesheimer Anzeiger vom 14. Mai 1927.

Bekanntmachung.
Abbildung 8: Filmankündigung von „Der Narr und die Dirne“ im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 26. März 1927.

Es ist in der gutbürgerlichen Gesellschaft eine Sache, (heimlich) Prostituierte aufzusuchen, selbige aber auszugrenzen und als verachtens­wert zu zeichnen, eine andere jedoch, sich daran zu ergötzen, wie sie in Literatur und Film gezeichnet werden. Und so läuft im Griesheimer Lichtspielhaus „Zur Straßenbahn“ Ende März 1927 ein Film an, der das Gemüt wohltemperiert anspricht, aber vielleicht doch einen Fetzen verbotener Erotik zumindest andeutet. Nach der Vorlage des Romans Der Kaiser von Portugallien von Selma Lagerlöf wird mit „Der Narr und die Dirne“ ein heute vermutlich verschollener Film [2] gezeigt.

Vom 5. April 1926 an wird die Neue Darmstädterstraße von der Hofmannstraße bis zur Bürger­meisterei für die elektrische Straßenbahn einige Tage lang gesperrt; der Grund sind Wasserleitungs­arbeiten. [NGA, 2.4.1927]

Im Sommerfahrplan ab dem 15. Mai 1927 bleiben die Fahrzeiten für die Straßenbahn­linie 9 unverändert. Bei einem 30-Minuten-Takt fahren die Wagen in Griesheim an der Bürger­meisterei von 5.17 bis 22.47 Uhr ab, vom Darmstädter Marktplatz von 5.45 bis 11.15 Uhr. Auch im Winter­fahrplan ab dem 2. Oktober wird sich daran nichts ändern. [NGA, 14.5. und 6.10.1927]

Die Griesheimer Kirchweih ist ein beliebtes gesellschaftliches Ereignis, so daß die HEAG am 25. August 1927 ankündigt, für die Straßenbahnen am Sonntag, den 28. August, nachmittags ab 13.15 Uhr einen Viertel­stundentakt ab Darmstadt einrichten zu wollen; weitere Fahrten werden abends nach dem regulären Betriebsschluß durchgeführt. [NGA, 27.8.1927]

„Wie schon öfter, so gerieten auch am Freitag [2.9.1927, WK] wieder eine Anzahl Marktfrauen wegen der Preise miteinander in Streit. Im Verlaufe des Streites wurde eine Frau ohnmächtig und mußte durch die Rettungswache nach ihrer Wohnung gebracht werden.“ [NGA, 6.9.1927]

Am 24. September wird im „Darmstädter Hof“ unter dem Vorsitz von Griesheims Beigeordneten Feldmann die Gründungs­versammlung der „Obst- und Gemüse-Verwertungs-Genossenschaft Griesheim“ durchgeführt. Die Genossen­schaft hat zunächst 25 Mitglieder mit einem Geschäftsanteil von je 50 Mark; Vorstands­vorsitzender wird der Beigeordnete Feldmann, Aufsichtsrats­vorsitzender Herr Gärtner Lautenschläger. [NGA, 27.9.1927]

Bekanntmachung.
Abbildung 9: Bekanntmachung der HEAG zur Gemüseverladung an der neuen Wagenhalle im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 3. November 1927.

Die Eröffnung des neuen Betriebs­bahnhofs mit der Wagenhalle rückt näher, zuvor sind jedoch noch einige Kleinigkeiten zu erledigen, wie hier auf der Gemeinderats­sitzung am 20. Oktober.

„9. Die Gleisverlegung vor dem neuen Betriebsbahnhof der Heag erfolgt nunmehr nach den Wünschen der Gemeinde und erteilte der Gemeinderat den von der Bürger­meisterei geführten Verhandlungen seine Zustimmung.“ [NGA, 22.10.1927]

Ab Freitag, den 4. November, wird das Griesheimer Gemüse an der neuen Wagenhalle auf die Marktwagen verladen; damit ist der Umbau der Griesheimer Straßenbahn- und Gleisanlagen so gut wie abgeschlossen.

„Der neuen Betriebsbahnhof der Straßenbahn ist jetzt fertiggestellt und erfolgt die Verladung des Marktgutes von heute ab aif der dafür vorgesehenen Rampe, die von der westlich davon gelegenen Seitenstraße zu erreichen ist. Hoffentlich lassen jetzt auch die neuen Anhängewagen nicht mehr allzu lange auf sich warten.“ [NGA, 5.11.1927]

Am 9. November sind noch einige Gleisarbeiten zu erledigen, so daß die Straßenbahn nur „bis zum neuen Betriebsbahnhof am Ortseingang“ fährt. Am 17. November springt an der Einmündung der Rathenaustraße ein Schäferhund vor den Motorwagen und wird überfahren. Wir ersehen daraus, daß Straßenbahnen gleichermaßen von Mensch und Tier mißachtet werden. [NGA, 8.11., 19.11.1927] – Am 21. November werden die schon erwähnten neuen Anhänger­wagen – vermutlich der Baureihe SB 3 [3] – auf der Griesheimer Strecke in Dienst gestellt.

„Die neuen großen und heizbaren Anhängewagen sind seit vorgestern in Betrieb gestellt worden. Die neuen und stärkeren Motorwagen können erst in Betrieb genommen werden, wenn durch Aufstellung eines neuen Transformators die richtige Stromstärke in der Leitung hergestellt ist.“ [NGA, 24.11.1927]

Wagen 132.

Bild 10: Restaurierter Beiwagen 132 aus der Bauserie SB 3 bei einem Tag der Offenen Tür des Straßenbahn­museums in Darmstadt-Kranichstein am 12. Mai 2013.

Am 30. November werden die veränderten Gleisanlagen am ehemaligen und am neuen Betriebs­bahnhof landes­polizeilich abgenommen. „Etwaige Einsprüche wegen nichtplan­mäßiger Ausführung des Projekts sind im Termin vorzubringen.“ Einsprüche ganz anderer Art gingen der HEAG als Beschwerden des Publikums zu. Die von der HEAG angerufene Bürger­meisterei schreibt selbiger, daß sie die Wünsche des Publikums als gerechtfertigt ansieht. Worum es diesmal im einzelnen geht, verrät die Zeitung nicht. [NGA, 26.11. und 10.12.1927] – Das Jahr endet mit einem kuriosen Vorfall, den die Zeitung genüßlich wiedergibt.

„Am Samstag Abend [den 24.12., WK] wurde am Ortsausgang in der Obendorferstraße ein Fahrrad gefunden, das einem jungen Mann aus Pfungstadt gehörte, der es gestern wieder abholte. Der Mann hatte des Guten zu viel getan, sodaß er das Gleichgewicht auf seinem Stahlroß nicht einhalten konnte. Als er hierdurch wiederholt mit dem Boden unsanft in Berührung kam, ließ er es einfach liegen und machte sich per pedes auf den Heimweg, darauf vertrauend, daß er sein Stahlroß schon wieder erhalten werde. Sein Vertrauen in die Ehrlichkeit der Griesheimer wurde denn auch nicht getäüscht.“ [NGA, 29.12.1927]

Bekanntmachung.
Abbildung 11: Bekanntmachung der Bürgermeisterei vom 27. Januar 1928, abgedruckt tags darauf im Neuen Griesheimer Anzeiger.

Die im vergangenen September gegründete Obst- und Gemüse-Verwertungs­genossenschaft trifft sich am 14. Januar zu ihrer ersten General­versammlung. Zwei Tage später wird die Bretterwand am alten Bahnhof in mehreren Losen versteigert. Der Erlös beträgt 350 Mark. Das dortige Stations­häuschen wird dem Arbeiter-Samariterbund als Gerätelager zur Verfügung gestellt. Im April soll mit der Herstellung der Grünanlagen auf dem ehemaligen Straßen­bahnhof begonnen werden. [NGA, 14.1. und 17.1.1928] – Bis dahin scheint das Gelände als eine Art wilde Müllkippe genutzt worden zu sein, wie einer Bekanntmachung der Bürger­meisterei vom 27. Januar zu entnehmen ist:

„Es wurde festgestellt, daß nach Abbruch der Einzäunung des alten Bahnhofes der Platz zur Ablagerung von Müll und zum Ausgießen von Wasser benutzt wird.

Wir bringen hiermit zur öffentlichen Kenntnis, daß jegliche Verunreinigung dieses Platzes verboten ist und bestraft wird.“ [NGA, 28.1.1928]

Ob die seit Jahren virulente Problematik des zum Truppen­übungs­platz gehörenden Bordells zwischenzeitlich zur Zufriedenheit der französischen und deutschen männlichen Behörden gelöst worden ist, läßt sich aufgrund fehlender aussage­kräftiger Unterlagen nicht bestimmen. Daß es jedoch auch außerhalb des Bordells weiterhin von den höheren Chargen unerwünschte Prostitution gegeben hat, kann als gesichert angesehen werden. Der Ober­befehlshaber der französischen Rheinarmee erließ unter dem Datum vom 6. Dezember 1927 eine Vorschrift zur Überwachung und Bekämpfung der Geschlechts­krankheiten. Artikel 1 verbot jedem, „wer es auch sei“, sich in der Nachbar­schaft beispielsweise des Griesheimer Truppen­übungsplatzes „der gewerbsmäßigen Unzucht hinzugeben oder durch Worte und Gebärden dazu aufzurufen.“ Ob damit auch homosexuelle Handlungen gemeint waren?

»»  Diese im „Neuen Griesheimer Anzeiger“ am 17. März 1928 mit allen ihren acht Artikeln abgedruckte Vorschrift trägt die Überschrift „Sitten­polizeiliche Anordnungen der französischen Armee“. Sie wird als ganzseitige Zeitungsanzeige an anderer Stelle dieser Webseite wiedergegeben.

Das frühere Stationsgebäude der HEAG soll „auf Abbruch“ verkauft werden. Schriftliche Angebote sind bis zum 3. April einzureichen. Auf der Gemeinderats­sitzung am 19. April wird mitgeteilt, daß der Zuschlag für diese alte Wartehalle an Georg G***** I. ergangen ist; die Gemeinde erlöst hierbei gerade einmal einhundert Mark. [NGA, 31.3. und 21.4.1928] – Andernorts blühen weiterhin Projekte für Straßenbahn-Überlandlinien, wie hier im Süden von Griesheim.

„Auf Anregung des Bürgermeisters Uecker von Eberstadt fand dieser Tage im Rathaus zu Gernsheim eine Besprechung statt über die Frage der Verlängerung der Straßenbahn Darmstadt – Eberstadt nach Pfungstadt – Gernsheim. Trotz finanzieller Bedenken sprach sich auch der Bürgermeister von Gernsheim für die Verwirklichung des Projektes aus. Ein Beschluß wurde in dieser ersten Besprechung noch nicht gefaßt.“ [NGA, 3.5.1928]

Auch das seit Jahrzehnten schwelende Projekt einer Bahnverbindung nach Lindenfels erlebt einen neuen Versuch zu seiner Realisierung. Gebaut wird dennoch nicht.

„Nachdem der innere Ausschuß für den Bahnbau Bensheim – Lindenfels seine Arbeiten als erledigt betrachtet, hat kürzlich im Finanzministerium eine Sitzung stattgefunden. Wie man hört, wird jetzt die Konzession für eine elektrische Straßenbahn mit Güterbeförderung aif drei Jahre erteilt werden.“ [NGA, 5.5.1928]

Der Arbeiter-Samariter-Bund meldet, daß „ auf dem Schlachtfeld der Arbeit“ jährlich 36.000 Tote und drei Millionen Verletzte zu beklagen seien. Soweit in der schwierigen Wirtschaftslage Mitte der 1920er Jahre Gewinne eingefahren werden, wird deutlich, auf wessen Knochen, Muskeln, Sehnen und mit wessen Herz und Seele selbige Gewinne entstehen. [NGA, 12.5.1928] – Die zugehörige Raserei erfaßt auch das kleine Dorf an der Darmstädter Peripherie.

„Wegen Vornahme von Ausbesserungs­arbeiten ist die Mainzer Chaussee zwischen Büttelborn und Groß-Gerau bis auf weiteres gesperrt, weshalb der ganze Kraftwagen­verkehr jetzt über Griesheim geht. Gestern vormittag war der Verkehr ganz besonders strak. Auto folgte auf Auto, dazu kamen unzählige Radler und Motorradler, deren Ziel meistens die Opel-Rennbahn bei Rüsselsheim war, wo ein Motorrad­rennen stattfand und die Zuschauer plötzlich durch die Vorführung eines Autos überrascht, das von den Opelwerken erbaut worden war und sich von anderen Autos dadurch unterschied, daß es sich ohne Führer am Steuer in Bewegung setzte und zwei Runden auf der Bahn absolvierte. Die Sache, welche in dem von dem Italiener Marconi bereits vor Jahren vorgeführten nur durch die sogenannten Her[t]zschen Wellen gesteuerten Boot gewissermaßen einen Vorläufer haben soll, spielte sich wie der ‚Fr[an]kf[urter] Gen[eral]-Anz[eiger]‘ meldet folgendermaßen ab: Ein kleiner 4 PS-Opel wurde auf die Bahn gebracht. Auf dem sonst für Gepäck bestimmten Rückteil waren mehrere Kästen aufgebaut, die denen der bekannten großen Sieben-Röhren-Apparate gleichen und mit allen Schaltern, Verstärkern usw. ausgerüstet waren, die jeder Radiofreund kennt. Auf den Kästen war eine Rahmenantenne aufgebaut. Zwei Kabel führten zum Steuerrad des Wagens, auf dem ebenfalls ein geheimnisvoller schwarzer Kasten thronte. Nachdem ein Herr längere Zeit an dem Schalter für Erreichung bestimmter Wellenlängen geschaltet und den Motor in Bewegung gesetzt hatte, begann der Wagen auf einmal zu fahren und in leichtem Zickzack um die Bahn zu steuern, genau so, als wenn ein Mensch am Steuer säße. Er hielt, fuhr wieder ab, hielt wieder, fuhr auch rückwärts, schaltete beschleunigt, wie man das bei jedem Auto sieht und tut. Viele Menschen blickten sprachlos vor Staunen dem daher rollenden seltsamen Gefährt nach.“ [NGA, 8.5.1928]

In dem am 15. Mai 1928 eingeführten Sommer­fahrplan verkehrt die Straßenbahn unverändert vom Morgen bis in die Nacht halbstündlich. [NGA, 16.5.1928]

Für die Griesheimer Markt­beschickerinnen ändern sich die Verhältnisse in Frankfurt. Noch während die neue Groß­markthalle am Osthafen im Bau ist, zieht der Obst- und Gemüse­großmarkt zum 4. Juni dorthin um, weil die Verhältnisse am alten Standort unzumutbar geworden seien. Ab Juli wird die Reichsbahn eine direkte Triebwagen­verbindung von Griesheim zum Frankfurter Ostbahnhof anbieten. [NGA, 2.6. und 5.7.1928]

Ein anderes Straßenbahn­projekt macht Fortschritte:

„In einer von der ‚Heag‘ nach Seeheim einberufenen Versammlung teilte Direktor Bohnenberger mit, daß von den Behörden gegen die Fortführung der elektrischen Straßenbahn nach Seeheim – Jugenheim in einer Sitzung am 10. Mai keine grundsätzlichen Bedenken erhoben wurden, sodaß eine endgültige Konzessionierung bestimmt zu erwarten ist. Die Frage der Garantieleistung, bei der es sich um etwa 30.000 Mark handelt, bietet die größte Schwierigkeit. Die Verwirklichung des Projekts ist davon abhängig.“ [NGA, 5.6.1928]

Die landespoliizeiliche Prüfung der Pläne wird für den 4. September angesetzt. Einsprüche werden nicht erwartet, so daß mit der Inbetriebnahme schon im kommenden Frühjahr gerechnet wird. [NGA, 18.8.1928]

Am 31. Juli wird an der Einmündung der Rathenaustraße ein unvorsichtiger Hund von der Straßenbahn überfahren. Vielleicht sollten Herrchen und Frauchen mit ihren Vierbeinern einmal ein ernstes Wörtchen reden. Am 12. August tobt abends ein Gewittersturm. Auf dem Weg nach Griesheim wird in der Nähe des Waldfriedhofs der letzte Straßen­bahnzug von einem herunterfallenden Ast geroffen; eine Scherbe zerbirst. Das „Waldschlößchen“ scheint einen neuen Besitzer erhalten zu haben. In der Gemeinderats­sitzung am 6. September wird jedenfalls die Bedürfnisfrage für ein Wirtschafts-Konzessions­gesuch eines Alois B***** bejaht. [NGA, 2.8., 14.8. und 8.9.1928]

Pogrom in Oppenheim

Ende der 1920er Jahre gehen die Nazis im noch weitgehend sozial­demokratisch orientierten Volksstaat Hessen in die Offensive und fordern mit ihren barbarischen Methoden das Innen­ministerium unter Wilhelm Leuschner heraus. Auch wenn das Geschehen im Vergleich zu dem, wozu in der letzten halbwegs freien Wahl am 5. März 1933 exakt die Hälfte der Darmstädterinnen und Darmstädter ihre Zustimmung gaben, noch harmlos erscheint, so dürfte dennoch der Begriff des Pogroms gerechtfertigt sein. Folgen scheint dies für die beteiligten Nazis keine gehabt zu haben.

„Am Samstag abend [22.9., WK] durchfuhren drei Lastwagen mit etwa 300 National­sozialisten das Städtchen Oppenheim und ließen sich hier schwere Ausschreitungen zuschilden kommen. Bei der Durchfahrt durch den Ort bewarfen sie zunächst den Laden eines Kaufmanns mit Steinen und demolierten die Türen. Am Ausgange des Ortes überfielen sie mehrere jüdische Bewohner und mißhandelten diese mit Messern und Schlag­gegenständen. Zwei Einwohner wurden durch Messerstiche verletzt und auch sonst schwer mißhandelt. Die Raufbolde sind entkommen, doch gelang es, die Autonummer festzustellen.“ [NGA, 27.9.1928]

Auch im Winterfahrplan 1927/28 fahren die Straßenbahnen halbstündlich von Griesheim nach Darmstadt zwischen 5. 17 Uhr und 22.47 Uhr sowie retour ab Marktplatz von 5.45 Uhr bis 23.15 Uhr. [NGA, 6.10.1928]

Herbst 1928–Ende 1929: Streit um fünf Pfennige

Die Gemeinde Griesheim hatte, um den Bau der elektrischen Straßenbahn zu ermöglichen, eine Zinsgarantie gegenüber der HEAG abgegeben. Um dieses Geld zu erwirtschaften, wurde für die Griesheimer Tarifzone ein Zuschlag von fünf Pfennigen erhoben. Dieses Geld kassierte die HEAG und sollte es eigentlich mit der Zinsgarantie verrechnen. Offensichtlich hatte die HEAG das Vertragswerk anders verstanden als die Gemeinde Griesheim; sie strich das Geld einfach ein. Und dann stellt sich nicht nur heraus, daß die Griesheimer Linie so profitabel war, daß die Zinsgarantie nicht fällig wurde, sondern auch, daß die HEAG das nach Griesheimer Position zu Unrecht eingenommene und behaltene Geld auch nicht wieder herausrücken wollte. Damit kam es zu neuem Streit und der Anrufung eines Gerichts. Auf der Gemeinderats­sitzung am 29. Oktober 1928 werden die Weichen gestellt.

„Die Bürgermeisterei wurde wiederholt beauftragt, endlich einmal die Abrechnung für den zu Gunsten der Gemeinde erhobenen 5 Pfg.-Zuschlag zum Straßenbahn-Fahrpreis herbeizuführen. Die Heag teilt mit, daß sie die Kurswagen 945 und 1045 abends ab Darmstadt wegen ungenügender Frequenz aufheben will. Der Gemeinderat erhebt hiergegen Einspruch.“ [NGA, 1.11.1928]

Das Darmstädter Verkehrsunternehmen läßt der Absicht am 1. November auch Taten folgen, was den Redekteur des Griesheimer Lokalblättchens erzürnt.

„Die Heag hat bereits von gestern Abend ab die beiden Kurswagen 945 und 1045 abends ab Darmstadt ausfallen lassen. Sie hat sich also über den Einspruch unserer Gemeinde­vertretung gegen diese Maßnahme einfach hinweggesetzt. Sie will scheinbar nur noch solche Kurswagen fahren, die für sie rentabel sind. Daß die hiesige Strecke für die Heag eine gute Rente abwirft, daran ist nicht im mindesten zu zweifeln und es ist selbstverständlich, daß sie dann auch Wagen laufen lassen muß zu einer Zeit wo der Verkehr weniger stark ist. Wir sind fast überzeugt, daß in Darmstadt auf manchen Linien Kurswagen laufen, die weniger einbringen als die hier außer Verkehr gesetzten Kurswagen, trotzdem aber denkt die Heag nicht daran, sie außer Kurs zu setzen, so etwas darf man nur den Bewohnern der Vorortgemeinden bieten. Unsere Gemeindevertretung hat gegen das Vorgehen der Heag Einspruch beim Ministerium erhoben und man darf hoffen, daß dieses dem Einspruch der Gemeinde stattgibt.“ [NGA, 3.11.1928]

Eine Woche später druckt der „Anzeiger“ einen Leserin- oder vermutlich eher Leserbrief ab, der sich mit den Nöten besser gestellter Kreise befaßt.

„(Eingesandt)  Mehr Entgegenkommen der Heag gegenüber den Fahrgästen und Theaterbesucher. Am Dienstag ging das Theater um 10.15 Uhr zu Ende. Der Schaffner der Elektrischen, welcher jedenfallss besser weiß was es heißt, eine Stunde in der kalten Nachtluft in Darmstadt spazieren zu gehen, hatte sich erlaubt, auf die Besucher des Theaters zu warten und erfuhr dadurch sein Wagen eine Verspätung von 7–8 Minuten. Der Kontrolleur, der am Luisenplatz einstieg machte dem Schaffner dieserhalb Vorwürfe, es ginge nicht mit 10 Minuten Verspätung zu fahren, das wäre eine Schlamperei und er werde schon sehen was er damit angestellt habe. Unseres Erachtens war der Redeerguß dieses Beamten nicht angebracht. Durch die Einführung des Stundenverkehrs bei der Heag fand am Schießhaus keine Kreuzung mehr statt und dem nächstfälligen Wagen, der ja doch am Haupt­bahnhof in Darmstadt auf den Frankfurter Zug wartet, konnten die 10 Minuten nichts ausmachen. Vielleicht nimmt sich die Heag der Theaterbesucher etwas an. Die auswärts Wohnenden wären gezwungen den Theaterbesuch einzustellen, da man ja sonst eine Stunde in kalter Nachtluft promenieren müßte, dann vielleicht auch noch einen kalten Wagen der Heag vorfindet und erst um 12 Uhr nach Hause käme. Es ist dies jedenfalls kein Vorteil für das Theater und auch nicht für die Stadt Darmstadt. – Auch sonst läßt die Heag viel zu wünschen übrig. Ein angenehmer Transport ist es jedenfalls nicht, wenn man mit der Elektrischen nach Griesheim fährt und man wie in einem Viehwaggon eingepfercht stehen muß.

Mehrere Theaterbesucher.“ [NGA, 10.11.1928]

Auf der Gemeinderatssitzung am 29. November wird die Bürger­meisterei beauftragt, mit der HEAG in Verhandlungen über die Verwaltung der seit zwei Jahren eingenommenen fünf Pfennige zu treten. Darüber hinaus wurde erfolgreich über die Rücknahme der ausgefallenen Spärkurse verhandelt, so daß ab dem 7. Dezember der durchgehende halbstündliche Betrieb wieder­hergestellt war. [NGA, 1.12. und 8.12.1928] – Derweil nehmen die Diebstähle überhand, worüber eine Leserin oder ein Leser der Griesheimer Zeitung klagt, vermutlich eine betroffene Bäuerin:

„Es ist in letzter Zeit wiederholt vorgekommen, daß hinter der Halle der elektrischen Straßenbahn leere Marktkörbe gestohlen wurden. Leider ist es bis jetzt noch nicht möglich gewesen, den anscheinend gewerbsmäßigen Dieb fassen zu können. ‚Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht‘ wird auch er sich einmal sagen müssen. – Desgleichen wird auch in den Gemüsefeldern immer noch weiter gestohlen. In der Hauptsache haben es die Spitzbuben auf Rosen- und Blumenkohl abgesehen. Wird einmal so ein Langfinger auf frischer Tat erwischt, dann erhält derselbe wegen Feldfrevels eine geringe Geldstrafe. Nicht einmal das Feldschutz­personal darf dessen Namen irgendwie verbreiten. Hier ist in dem Straf­gesetzbuch offenbar eine Lücke. Ein solcher Dieb, der 18 und 42 große Blumenkohl auf einmal stiehlt, geht mit demslben Leitmotiv zu Werke, wie einer, der z. B. Damenuhren oder Tonröhren mitgehen heißt. Deshalb müßte dieser Feld­diebstahl mit Freiheits­strafen belegt und der Name des Dieben veröffentlicht werden, wie es in der Inflationszeit der Fall war. – Nur eine solche Strafe würde auf diese Geister abschreckend wirken. Daß diese Diebstähle aus Not ausgeführt werden, ist höchst zweifelhaft. Gerade deshalb müßte für diejenigen, die nur aus Gewinnsucht ihre Hand nach fremdem Eigentum ausstrecken, eine empfindliche Strafe Platz greifen.“ [NGA, 29.12.1928]

Wir ersehen daraus, daß die gute Vorsätze, mit Nächstenliebe und Barmherzigkeit der Menschheit gegenüber­zutreten, nicht einmal das Weihnachtsfest überdauert haben. Abschreckung und Strafe, das ist alles, was einem oder einer guten Deutschen einfällt, und derlei Denken erweist sich als guter Nährboden für die Zeiten, die da noch kommen sollen. – Auf der Gemeinde­ratssitzung am 10. Januar 1929 kommt eine andere leidige Angelegenheit wieder zur Sprache.

„Zwischen der Hess. Eisenbahn A.-G. und der Gemeinde bestehen große Meinungs­verschiedenheiten in der Auslegung des Vertrages betr. die Strecke Griesheim – Darmstadt. Zu den Verhandlungen mit der ‚Heag‘ und den Aufsichts­behörden wird eine Kommission gewählt, der neben dem Beigeordneten Feldmann die Gemeinderäte Konrad Funk, Maus, Daniel Müller und Nothnagel angehören.“ [NGA, 12.1.1929]

Die nachfolgende Ausgabe der Zeitung gibt uns einen ausführlicheren Einblick in die Gemütslage des Griesheimer Gemeinderates.

„Zur Ergänzung des in der Samstagsnummer veröffentlichten Gemeinderatsberichts wird uns noch Folgendes mitgeteilt: Dem Gemeinderat wurde von einem Schriftwechsel zwischen der Bürgermeisterei und der ‚Heag‘ Kenntnis gegeben, der soweit er die Schreiben der ‚Heag‘ betrifft, allgemeines Aufsehen erregte. Laut Vertrag hat die Gemeinde Griesheim auf die Dauer von 10 Jahren die Garantie für die beim Betrieb der Strecke Darmstadt (Schloß) bis Griesheim erwachsenden Ausfälle einschließl. Verzinsung und Tilgung des für die Bahnstrecke aufgewendeten Kapitals bis zur Höhe von 6000 Reichsmark übernommen, während die Garantiesumme der Stadt [Darmstadt, WK] 4000 Reichsmark beträgt. Zur eventuellen Aufbringung der übernommenen Garantie wurde durch den Herrn Regierungskommissar bei den Hessischen Nebenbahnen im Privatberieb in Darmstadt für die Gemeinde Griesheim ein Tarifaufschlag von 5 Pfennig für den Bartarif genehmigt. Nach der von der Heag für das 1. Betriebsjahr vorgelegten Rentabilitäts­berechnung hat dieses 1. Betriebsjahr mit einem Fehlbetrag von 96.826,38 Reichsmark abgeschlossen, sodaß die übernommene Garantiesumme in Höhe von 6000 Reichsmark von der Gemeinde Griesheim beansprucht wird. Nach weiterer Mitteilung der Heag sei dieser Betrag durch die für die Zinsgarantie erhobenen Zusatzfahrscheine gedeckt. Die Gemeinde Griesheim, die den über die Garantiesumme hinaus eingegangenen Betrag selbst­verständlich für sich in Anspruch nimmt, hat die Heag nach Eingang der Rentabilitäts­berechnung wiederholt um Mitteilung des sich aus dem Zuschlagstarif tatsächlich ergebenen Einnahmebetrags ersucht. Diesem Ersuchen ist die Heag bis zum heutigen Tage nicht nachgekommen. Nachdem die Gemeinde Griesheim vor einigen Tagen nochmals energisch a. d. Heag wegen Vorlage der erforderlichen Abrechnung bezüglich des Zuschlagstarifs herangetreten ist, ging ihr von der Heag nunmehr die Mitteilung zu, daß in einer Gemeindesrats­sitzung zwischen der Gemeinde und der Heag festgelegt worden sei, daß die gesamten durch den erhöhten Tarif erfolgten Einnahmen auf der Strecke Griesheim – Darmstadt der Heag verbleiben und nicht an die Gemeinde Griesheim abgeführt werden. Mit der erwähnten Mitteilung hat die Heag einen weiteren Schirftwechsel zwischen ihr und dem Herrn Oberbürger­meister in Darmstadt in Abschrift und den Entwurf eines an die hiesige Bürgermeisterei gerichteten Schreibens vom 15. Januar 1926 vorgelegt. In diesem letzteren Schreiben vom 15. Januar 1926 ist davon die Rede, daß sich die Heag bezüglich der erwähnten neuen Abmachung mit dem Herrn Oberbürger­meister in Darmstadt in Verbindung gesetzt habe und daß sich dieser mit der neuen Vereinbarung, daß die Einnahme aus dem erhöhten Tarif der Heag verbleibe, einverstanden erklärt hätte. Es ist nun überaus merkwürdig, daß das Protokollbuch der Gemeinde über die Gemeinderats­sitzungen keinen Beschluß enthält, der die Einnahmen aus dem erhöhten Tarif der Heag überweist und daß das erwähnte Schreiben der Heag vom 15. Januar 1926 bei der hiesigen Bürgermeisterei gar nicht eingegangen ist. Der Gemeinderat steht auf dem Standpunkt, daß die Gemeinde auf dem seither beschrittenen Wege nicht zum Ziel kommt und hat deshalb den Beschluß gefaßt, die Angelegenheit zunächst der Aufsichtsbehörde zu unterbreiten und gegebenen Falles einen Rechtsanwalt mit der Vertretung zu beauftragen. Für diese Fälle sind Beigeordneter Feldmann und die Gemeinderäte Müller II., Maus, Nothnagel und Funk I. als Kommissions­mitglieder bestellt worden.“ [NGA, 15.1.1929]

Da fragt frau und man sich, wer da trickst.

Bekanntmachung.
Abbildung 12: Bekanntmachung des Kreisamts, veröffentlicht im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 2. Februar 1929.

Am 15. Januar 1929 führt eine Betriebsstörung im Kraftwerk Dettingen am Main dazu, daß am Nachmittag in Darmstadt der Strom ausfällt und der Straßenbahn­betrieb zum Erliegen kommt [NGA, 17.1.1929]. Der Gemeinderat von Nieder-Ramstadt beschließt, einer Straßenbahn­strecke nach Ober-Ramstadt nur dann zustimmen zu wollen, wenn diese auch durch den geschlossenen Ortsteil Nieder-Ramstadts und nicht entlang der Chaussee nach Ober-Ramstadt am Ort vorbeigeführt wird [NGA, 22.1.1929]. Derweil scheinen sich die Unfälle an den unbeschrankten Bahnüber­gängen, insbesondere bei den elektrischen Vorort­bahnen, derart zu häufen, daß sich das Kreisamt Darmstadt genötigt sieht, den Untertanen ein ernsthaftes Wörtchen zukommen zu lassen, wie nebenstehende Bekannt­machung zeigt.

Am 3. April 1929 kollidiert in Darmstadt ein Autobus der Seeheimer Linie mit einem Straßenbahn­wagen. Der Autobusfahrer hatte noch versucht, einem aus der Hermannstraße in die Heidelberger Straße herauskommenden Personen­kraftwagen auszuweichen, was ihm zwar gelang, aber statt dessen traf er die Tram. Der Bus wurde stark beschädigt, doch die Fahrgäste blieben unverletzt. [NGA, 6.4.1929]

„Der Gemeinderat von Seeheim hat sich dieser Tage eingehend mit dem Projekt der Straßenbahn Eberstadt – Seeheim – Jugenheim beschäftigt. Die Heag hat sich bereit erklärt, bei Seeheim von der Stellung einer Garantiesumme abzusehen, hat dafür aber die Garantie der Bezahlung von mindestens 280 Fahrten pro Tag, verlangt. Der Gemeinderat hat diese Forderung der Heag glatt abgelehnt.“ [NGA, 6.4.1929]

„Der Straßenbahnbau nach der Bergstraße erfordert zwischen Eberstadt und Jugenheim einen Betrag von 770.000 Mk. Da die Heag von der Stellung einer Zinsgarantie durch die Gemeinden Malchen, Seeheim und Jugenheim abgesehen hat, verlangt sie jetzt Garantie für 368.000 Mindestfahrten. Aber auch da stößt sie auf Widerstand. Trotz des guten Willens der einzelnen Gemeinden ist eine endgültige Entscheidung noch nicht getroffen.“ [NGA, 11.4.1929]

So ganz unbegründet erscheint die Forderung der HEAG nicht, die Gemeinden sollen sich am Straßen­bahnbetrieb beteiligen. Die Wormser Straßenbahn beispielsweise schließt das Geschäftsjahr mit einem Verlust von 90.000 Mark ab und führt nunmehr einen Einheitstarif von 20 Pfennigen ein. Die Schaffner werden dadurch abgeschafft, was das Defizit auf 20.000 Mark senken soll [NGA, 20.4.1929]. Noch steigen die Löhne, wenn auch moderat; die große Lohndrückerei im Zuge und unter Ausnutzung der Weltwirtschafts­krise wird erst noch kommen.

„Die Bezirksstelle für kommunale Straßenbahn­tarifsachen fällte am Dienstag [den 23. April, WK] in Darmstadt nach ungefähr elfstündiger Verhandlung einen Schiedsspruch, der eine Erhöhung der derzeitigen Löhne um 3 Pfennige in allen Gruppen bringt. Die übrigen Forderungen wurden abgelehnt. Dieses Lohnabkommen soll bis 31. März 1930 Gültigkeit haben.“ [NGA, 27.4.1929]

Mit dem Sommerfahrplan ab dem 15. Mai 1929 fahren die Straßenbahnen von Griesheim zum Darmstädter Marktplatz weiterhin halbstündlich von 5.17 bis 22.47 Uhr; und zurück von Darmstadt von 5.45 bis um 23.16 Uhr. [NGA, 14.5.1929]

Am 8. Juni endet eine Mutprobe schmerzhaft.

„Als am Samstag Mittag ein Wagenzug der Straßenbahn im Begriff war in die Endstation hier einzufahren, stellte sich ein älterer Schuljunge mitten aufs Gleis und blieb trotz aller Warnungs­signale des Wagenführers ruhig stehen. Der Wagenführer brachte seinen Wagen rasch zum Stehen, eilte dem davon eilenden Schlingel nach und verabreichte ihm eine angemessene Tracht Prügel für seinen leichtsinnigen Bubenstreich.“ [NGA, 11.6.1929]

Die Forderungen der HEAG nach einer Zinsgarantie erscheinen hingegen in einem anderen Licht, wenn wir erfahren, daß sich die Aktionäre einen gehörigen Schluck aus der Pulle genehmigen können, um beim Bild des großen Besäufnisses zu allen Gelegenheiten zu bleiben.

„Die Generalversammlung der Hessischen Eisenbahn A.-G., die am Freitag [7. Juni, WK] in Darmstadt stattfand, genehmigte den Geschäftsbericht für 1928. Der Vermögensnachweis balanciert [sic!] mit 36,6 Millionen Mk., der Reingewinn beträgt 468.647 Mk. Es werden 10 Prozent Dividende ausgeschüttet. Die 4 Millionen Mk. Anleihe, die s[einer] Z[eit] aufgenommen wurde[,] soll durch eine 5 Millionen Schweizer Franken-Anleihe abgelöst werden. Die Verhandlungen über den Ausbau der Straßenbahn­linien mit den Ueberlandorten sind noch nicht zum Abschluß gekommen. Anstelle des verstorbenen Oberbürger­meisters Dr. Glässing wurde Oberbürger­meister Müller zum Vorsitzenden gewählt.“ [NGA, 13.6.1929]

Ortsplan von Griesheim.

Abbildung 13: Zum Bezirksfest der Arbeiter und Turner am 6. und 7. Juli 1929 veröffentlichte der „Neue Griesheimer Anzeiger“ am 15. Juni einen Ortsplan. Hierauf sind auch die neuen Straßenbahn­haltestellen eingetragen.

Unachtsame Autofahrer gab es schon damals. Sie überhörten bei ihren lauten Motoren das Schellen der Straßenbahn auch dann, wenn sie nicht gerade mit ihrem iPhone spielten.

„Der gestern Abend 10.17 [Uhr] hier abfahrende Straßenbahnzug stieß an der Hofmannstraße mit einem Personenauto der Reichsbahn zusammen, das im Rückwärtsfahren in die Neue Darmstädter­straße einbiegen wollte. Das der Wagenführer der Straßenbahn seinen Wagen sofort zum Stehen brachte und das Auto unbesetzt war, kam Niemand zu Schaden, nur das Schutzblech am linken Hinterrad des Autos wurde etwas verbeult. Die Schuld an dem Zusammenstoß liegt jedenfalls an dem Führer des Autos, der das Glockenzeichen des Straßenbahn­führers überhört hat oder aber geglaubt hat, noch vor der Straßenbahn in die Neue Darmstädter­straße einfahren zu können.“ [NGA, 2.7.1929]

Sehr mysteriöses Geschehen, vermutlich am 30. Juni. Ein Auto, das unbesetzt gewesen sein soll, fährt wie von Geisterhand gesteuert, rückwärts auf die Hauptstraße. Vermutlich meinte der Redakteur, daß das Auto neben dem Fahrer keine weiteren Personen befördert hat. – Am 4. Juli tagt der Gemeinderat und muß sich wieder einmal mit dem Abrechnungsgebaren der HEAG auseinandersetzen.

„Trotz längerer gütlicher Verhandlungen weigert sich die ‚Heag‘ mit der Gemeinde über die aus dem 5 Pfennig-Zuschlag zum Bartarif auf der Strecke Darmstadt – Griesheim seit dem Jahre 1926 eingegangenen Gelder abzurechnen. Sie lehnt eine Herauszahlung der den Betrag der Gemeinde-Garantie in Höhe von 6000 Mark überschießenden Beträge ab. Damit die Sache endlich zum Abschluß gebracht wird, wird die Bürgermeisterei ermächtigt, den ordentlichen Rechtsweg zu beschreiten und den Rechtsanwälten Sturmfels und Dr. Vollbracht, Darmstadt, Vollmacht zu erteilen zur Vertretung der Gemeinde-Interessen. Die Gemeinde ist über alle Phasen des Prozesses auf dem Laufenden zu halten.“ [NGA, 6.7.1929]

Die HEAG stellt im Sommer zwölf neue Straßen­bahnwagen (Baureihe ST 4) in Betrieb, die je zur Hälfte von den Waggonwerken Gastell in Mainz und von MAN geliefert werden. Mit ihren Polstersitzen und der Aufreihung als Quersitze (zwei auf der einen, einer auf der anderen Wagenseite) versprachen sie mehr Komfort. [NGA, 16.7.1929], [4]

Die Katastrophe vor der Katastrophe

Den Griesheimer Markt­beschickerinnen droht Ungemach von gänzlich unerwarteter Seite. Die Frachtkosten im Bahnverkehr und die Löhne in Frankreich und Italien waren offenbar niedrig genug, um die Konkurrenz von ausländischem Obst und Gemüse zu ermöglichen. Noch waren deutsche Importeure bereit, für die Waren zu bezahlen. Ein Jahrzehnt später wurde es einfach geraubt.

„Die Hessische Landwirtschafts­kammer in Darmstadt schreibt in ihrer Korrespondenz vom 15. Juli über die Überschwemmung der inländischen Märkte mit ausländischen Erzeugnissen des Gartenbaues. Die Marktlage in Erzeugnissen des Gemüse- und Obstbaues auf den Großstadtmärkten wirkt sich für die Erzeuger nachgerade zur Katastrophe aus. Die Preise gehen derart zurück, bei ungenügender Nachfrage, daß die deutschen Treibgemüse­kulturen usw. unmöglich auf ihre Rechnung kommen können. Große Befürchtungen bestehen hinsichtlich der Freilandernte in Gurken, Tomaten und Bohnen. So sind in der Zeit vom 25. Juni bis 4. Juli auf dem Wege über den Brenner und Chiasso in München eingetroffen: 1593 Eisenbahn-Waggon Kartoffeln, 916 Eisenbahn-Waggon Tomaten, 726 Eisenbahn-Waggon Gurken und 147 Eisenbahn-Waggon frische Bohnen.

Was in Zukunft zu erwarten ist, mag aus einer Mitteilung aus Köln entnommen werden. Es haben sich amtliche Stellen der Stadt Köln im Verein mit rheinischen Gemüse­importeuren auf Einladung französischer Eisenbahn­verwaltungen auf eine Studienreise nach Südfrankreich begeben, um sich mit französischen Ausfuhr­interessenten zu verständigen. In einem Bericht hierzu wird gesagt, daß Interesse für die Organisierung der Ausfuhr von französischem Frühgemüse nach Deutschland zu bestehen scheine. Man will Kartoffel, Spargel, Erbsen, Bohnen, Erdbeeren und andere Früchte planmäßig nach Deutschland schaffen, eventuell auch Geflügel, Eier und Fische und hält bei entsprechender Preisstellung und Frachtermäßigung seitens der französischen Eisenbahnen eine vorteilhafte Geschäftsentwicklung für möglich. – Die deutsche Landwirtschaft, der Gemüse-, Onst-, Garten- und Weinbau muß bei einer derartigen Förderung der Einfuhr durch verantwortliche Stellen in kürzester Zeit zu Grunde gehen. Wo sind die inländischen Stellen, die berufen sind, gegen eine derartige Erdrosselung der deutschen landwirtschaftlichen Erzeugung nicht nur Stellung zu nehmen, sondern schnellstens Hilfe zu bringen.“ [NGA, 18.7.1929]

Die nach der Inflationszeit verarmten Schichten mag so ein Preisrutsch ebenso erfreut haben wie die wachsende Schar der Arbeitslosen. Bermerkens­werter finde ich jedoch, daß das Gerede vom Erzfeind, dem mit der „Wacht am Rhein“ zu begegnen sei, alsbald dort endet, wo das Geschäft lockt.

Vom 3. bis zum 5. August 1929 sollte in Griesheim aus Anlaß des 40jährigen Bestehens des Obst- und Gartenbau-Vereins und des 50jährigen Bestehens der Gewerbe- und Handwerker­vereinigung eine Gewerbeschau in Griesheim durchgeführt werden. Auch die hiermit verknüpfte Obst- und Gemüseausstellung stand unter dem Motto „Kauft am Platze“. [NGA, 3.8.1929]

Immer mehr Gemeinden sehen sich mit den Forderungen der HEAG konfrontiert. Daran ist schon das Projekt einer Straßenbahn nach Ober-Ramstadt gescheitert. Nun droht auch die Bergstraße leer auszugehen.

„Der Gemeinderat von Jugenheim beschäftigte sich erneut mit der Garantiefrage für die Elektrische nach Jugenheim. Da man sich trotz wiederholter Verhandlungen nicht einigen konnte, wurde aus dem Gemeinderat heraus der Antrag gestellt, Jugenheim solle das Gelände zur Verfügung stellen, aber die geforderte Garantie bis zu 23.500 Mark ablehnen. Da erklärte der in der Sitzung anwesende Vertreter der Heag, daß in diesem Falle die Heag von der Konzession zurücktrete und sich dann in weitere Verhandlungen nicht mehr einließe. Damit dürfte, wenn nicht ein Mittelweg gefunden wird, das Projekt einer Straßenbahn in die Bergstraße gescheitert sein.“ [NGA, 18.7.1929]

Im August spricht man wieder miteinander, offenbar so weitgehend, daß bald mit dem Bau begonnen werden soll. Die Eröffnung ist für Juli 1930 angedacht [NGA, 17.8.1929]. Der Winter­fahrplan ab dem 6. Oktober 1929 sieht keine Veränderungen vor [NGA, 8.10.1929]. Der Fünfpfennigtarif wird das Landgericht Darmstadt am 28. Oktober beschäftigen [NGA, 19.10.1929].

Die Zukunft des Truppenübungsplatzes

Der Abzug der französischen Besatzungs­truppen steht im nächsten Jahr bevor. Damit stellt sich die Frage, was mit dem Gelände des Truppen­übungsplatzes geschehen soll. Die Bürgermeisterei hatte deswegen im Sommer 1929 das Reichs­vermögensamt gebeten, die Wohnungen im Lager der Gemeinde zur Verfügung zu stellen. [NGA, 28.9.1929]

„Unlängst wurde in den Zeitungen eine Denkschrift veröffentlicht, die sich mit der Errichtung eines rhein-mainischen Luftschiffhafens beschäftigte, in der einleitend auch auf Äußerungen Dr. Eckeners Bezug genommen war. Zu dem Artikel wurde das Problem erörtert, ein Gelände nördlich von Mörfelden eventuell in Betracht zu ziehen, das sich infolge seiner Lage im Dreieck zwischen den Städten, Frankfurt, Wiesbaden und Darmstadt besonders gut eigene und außerdem auch meteorologisch außerordentlich günstig sei. Nun hat sich aber gegenüber diesem Vorschlag durch die Haager Verhandlungen inzwischen eine veränderte Situation ergeben, die eine Möglichkeit in der Lösung dieses Problems zuläßt, die auf praktischem sowohl als auch auf finanziellem Gebiet gegenüber dem in der oben erwähnten Denkschrift geäußerten Vorschlag vielleicht noch viel bessere Chancen bietet. Es handelt sich hier um den hiesigen Truppen-Übungsplatz, auf den, wie man uns mitteilt, bereits von hier aus als geeigneten Platz an zuständiger Stelle in Darmstadt hingewiesen wurde.

Wie der ‚Hessische Volksfreund‘ zu melden weiß, hat sich auch Herr Oberbürger­meister Müller in Darmstadt für die Sache interessiert und hat sich dieserhalb sowohl an das Zeppelinunternehmen als auch an den Reichs­verkehrsminister und den Hessischen Minister des Innern gewendet und auf die Vorzüge des Truppen-Übungsplatzes als Luftschiffhafen für das rhein-mainische Gebiet hingewiesen. Vor allem ist der Platz von Wald umgeben, völlig trocken und eben, 380 Hektar groß, besitzt etwa 300 reichseigene Gebäude, die lediglich für die Bedürfnisse des Platzes errichtet wurden und ist mit allen modernen technischen Einrichtungen versehen. Es sind Wohngebäude für alle Ansprüche, Mannschaftsgebäude, Stallungen, Garagen, große Hallen- und Werkstattgebäude aller Art vorhanden.

Der Hauptbahnhof Darmstadt liegt nur drei Kilometer entfernt, ist mit einer guten Straße mit dem Übungsplatz verbunden und weist überdies noch eine Gleis­verbindung unmittelbar auf den Platz auf. Diese Gleis­verbindung ist allerdings nach dem Kriege auf Verlangen der Besatzung im Oberbau entfernt worden, kann aber unschwer und sofort auf dem vorhandenen Gleiskörper wieder hergestellt werden. Die nicht weit von dem Platz vorüber­führende elektrische Bahnverbindung kann mit einer Stichbahn mit dem Platz wieder verbunden werden. Der Platz hat Wasser-, Gas- und Elektrizitäts­anschluß und befindet sich völlig im Eigentum des Reiches. Der Umstand, daß die hochangesehene Technische Hochschule Darmstadt mit ihrem Lehrstuhl für Luftfahrt und ihrem Lehrstuhl für Meteorologie in ständiger Verbindung mit dem Zeppelinhafen sein könnte, wäre ebenfalls ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Schließlich darf noch als Vorteil gebucht werden, daß die geplante Hafrabastraße Nord-Süd unmittelbar über das Südende des Platzes hinwegführt, so daß, wenn die Straße einmal Wirklichkeit werden sollte, auch in dieser Beziehung eine vorzügliche Zufahrtstraße vorhanden wäre. – Es wäre nicht nur im Interesse unserer Gemeinde, sondern auch in dem der Stadt Darmstadt zu wünschen, daß der von dem Herrn Oberbürger­meister Müller unternommene Schritt Erfolg hätte.“ [NGA, 19.10.1929]

Ich glaube, heute sind eine Menge Menschen sehr glücklich darüber, daß der Flughafen nicht bei Griesheim gebaut worden ist. Fluglärm in unmittelbarer Nachbarschaft ist nicht jederfraus Sache.

„Nach 17jährigen Verhandlungen kann nunmehr der Plan einer elektrischen Straßenbahn von Darmstadt nach der Bergstraße verwirklicht werden. Unter Teilnahme der ministeriellen und kreisamtlichen Vertreter fand in Seeheim eine gemeinsame Sitzung der Gemeinderäte von Malchen, Seeheim und Jugenheim statt, in der nach fünfstündigen Verhandlungen die letzten Schwierigkeiten (Übernahme der Zinsgarantie und Geländestellung) aus dem Wege geräumt wurden. Wie Direktor Bohnenberger von der Heag mitteilte, wird mit dem Bau der Bahn sofort begonnen, da die Vermessungen erfolgt sind und alles Material bereits gebrauchsfertig daliegt. Mit den ersten Fahrten wird bereits im Frühjahr begonnen werden können.“ [NGA, 31.10.1929]

Bei dem am 28. Oktober vorgesehenen Termin vor dem Landgericht ging es zunächst nicht um den Fünfpfennig­tarif. Es wurden verfahrens­technische Fragen erörtert. Ist der Prozeßweg laut Vertrag zwischen Gemeinde und HEAG überhaupt statthaft oder soll das Schiedsgerichts­verfahren Anwendung finden? Ein neuer Termin wird für den 11. November anberaumt. Dort soll geklärt werden, ob der Streit durch einen Vergleich beendet werden kann. Am 11. November wurde die Angelegenheit um eine Woche vertagt. Am 18. November muß ein Vergleichs­vorschlag vorgelegen haben, den der Gemeinderat auf seiner Sitzung am 21. November ebenso ablehnt wie die Überweisung an ein Schiedsgericht. [NGA, 2., 14.  und 23.11.1929]

Die Darmstädter Straßenbahnen verkehren ab 1. November 1929 von morgens um 7 Uhr bis abends um 21 Uhr im 7 ½-Munutentakt, die Fahrpläne der Vorortlinien bleiben unverändert [NGA, 2.11.1929]. Am 7. November entgleist am Mittag eine Straßenbahn auf dem Weg zum Hauptbahnhof bei dichtem Nebel, weil der Fahrer die Kurve nicht hatte erkennen können. Der Wagen schlitterte über die Fahrbahn und kippte um, schob hierbei ein Erfrischungshäuschen vor sich her. Neben dem Fahrer wurden zwei Personen leicht verletzt [NGA, 9.11.1929].

„In der Eberstädter Villenkolonie ereignete sich am Montag Nachmittag [am 16. Dezember, WK] ein schwerer Verkehrsunfall. Ein Personen­kraftwagen, der neben dem Führer mit zwei Damen besetzt war, wurde in dem Augenblick, als er von der Schillerstraße in die Hauptstraße einfahren wollte, von einem elektrischen Straßenbahn­wagen, der in Richtung Darmstadt – Eberstadt fuhr, erfaßt und ein Stück geschleift. Ein Fräulein aus Ober­lahnstein erlitt Fußverletzungen, eine Frau aus Offenbach schwere innere Verletzungen. Die beiden Damen wurden durch die freiwillige Sanitätswache nach dem Stadtkrankenhaus verbracht.“ [NGA, 19.12.1929]

„Prozeßsache Gemeinde Griesheim gegen die Heag

Die Gemeinde Griesheim hat vor Inbetriebnahme der Elektrischen Straßenbahn auf die Dauer von 10 Jahren die Garantie für die beim Betrieb der Strecke Darmstadt (Schloß) – Griesheim erwachsenden Ausfälle einschließlich Verzinsung und Tilgung des für die Bahnstrecke aufgewendeten Kapitals bis zur Höhe von 6000 Reichsmark pro Jahr übernommen. (Kurz Zinsgarantie genannt.) Um die Aufbringung dieser Zinsgarantie sicherzustellen, hat das Hessische Finanz­ministerium antragsgemäß für die Gemeinde Griesheim einen Bar-Tarif-Zuschlag von 5 Pfg. auf die Teilstrecke Gemarkungs­grenze Darmstadt bis Griesheim unter der Voraussetzung genehmigt, daß mit Aufhören der Zinsgarantie der Normaltarif wieder zur Einführung kommt. Der Zuschlag wird auch tatsächlich seit Inbetriebnahme der Strecke erhoben. Da die Heag die Vorlage einer Abrechnung über die Einnahmen aus dem Zuschlag beharrlich verweigerte, war die Gemeinde gezwungen, ihren Anspruch im Prozeßwege geltend zu machen. Der Prozeß ist am Landgericht anhängig und steht Termin zur Verhandlung und Beweisaufnahme am 13. Januar 1930, nachmittags 5 Uhr, an.

Nun ist ganz überraschend eine grundlegende Wandlung in die Angelegenheit eingetreten. Das Finanz­ministerium hat nämlich die am 2. Dezember 1925 erteilte Genehmigung für den Tarifzuschlag mit Wirkung vom 1. Januar 1930 zurück­gezogen und bestimmt, daß von diesem Zeitpunkt an nur noch der Normaltarif für die elektrische Vorortbahn Darmstadt – Griesheim in Anwendung zu kommen hat. Gleichzeitig hat das Finanz­ministerium angeordnet, daß die bis Ende 1929 aus dem Tarifzuschlag eingegangenen gesamten Einnahmen auf ein Sonderkonto bei der Hessischen Landesbank abgeführt werden, über dessen Verwendung sich das Finanz­ministerium Entschließung vorbehalten hat. Im Uebrigen ist die Heag vom Finanz­ministerium um Vorlage einer Sonderabrechnung über die Gesamteinnahmen aus dem Tarifzuschlag bis Ende 1929 ersucht worden. In diesem Zusammenhang ist auch die Tatsache von Bedeutung, daß aus dem Erträgnis des Tarifzuschlags bis Ende 1929 nach den genannten Feststellungen ca. 60.000 Reichsmark zur Verfügung stehen, ein Betrag, der die Zinsgarantie auf die ganze vertragliche Garantiezeit deckt, selbst wenn man den ungünstigsten Fall annimmt, daß die Zinsgarantie tatsächlich 10 Jahre lang in Anspruch genommen werden sollte. Die Aufhebung des Tarifzuschlags ab 1. Januar 1930 wird von den [sic!] bahnfahrenden Publikum zweifellos mit Freuden begrüßt werden; vielleicht hat sie auch bei der Heag Anklang gefunden, da sie dadurch von einer immerhin nicht unwesentlichen Belastung in ihrer Rechnungs­führung befreit wird.“ [NGA, 28.12.1929]

Januar bis Juni 1930: Die Franzosen ziehen ab

In der Nacht vom 4. zum 5. Januar fühlten sich die aufstrebenden Nazis im Schutz der Dunkelheit sicher genug, um ihren geistigen Müll loszuwerden:

Schmierfinke haben in der Nacht zum Sonntag Tore oder Torpfosten unserer israelitischen Mitbürger mit Hakenkreuzen in roter Oellfarbe bemalt. Hoffentlich gelingt es der Polizei die Täter zu ermitteln, damit sie wegen Sach­beschädigung gerichtlich belangt werden können.“ [NGA, 7.1.1930]

Der Redakteur von Griesheims Heimatzeitung stuft das Geschehen wohl eher als Bagatelle ein und betrachtet es als ein Vermögensdelikt. Die damit verbundene Drohung erkennt er nicht. Daß sie einige Jahre später umgesetzt werden wird, konnte er sich nicht vorstellen. Von irgendwelchen Ermittlungs­ergebnissen der Polizei erfahren wir in der Folgezeit nichts. Dabei dürften die lokalen Nazis nur allzu bekannt gewesen sein. – Am 9. Januar 1930 befaßt sich der Griesheimer Gemeinderat mit der Zinsgarantie gegenüber der HEAG.

„Am Montag [am 5. Januar, WK] fand beim Herrn Minister des Innern in Darmstadt eine mündliche Aussprache zwischen dem Beigeordneten Feldmann, dem Rechtsvertreter der Gemeinde, Rechtsanwalt Dr. Vallbracht aus Darmstadt und Herrn Direktor Bohnenberger von der Heag statt, bei der die strittige Angelegenheit bezüglich des Zuschlagstarifs erörtert wurde, und wobei Herr Direktor Bohnenberger die Ansprüche der Gemeinde restlos anerkannte. Die Aussprache nahm schließlich die Form eines Vergleichs an, aus dem folgende Punkte hervorzuheben sind. Die Heag ist bereit, die gesamten aus dem Zuschlagstarif sich ergebenden Einnahmen für die Zeit von 1. Dezember 1926 bis 31. Dezember 1929, die sich nach einer inzwischen von der Heag eingegangenen Aufstellung auf 65.708,40 Mk. belaufen, abzüglich der von der von der Gemeinde Griesheim für diese Zeit aufzubringenden Zinsgarantie, an die Gemeinde abzuführen und die gesamte Summe mit 1% über dem jeweiligen Reichsbank­diskont zu verzinsen. Jeder Teil trägt die auf seiner Seite entstandenen Kosten. Die Gerichtskosten werden geteilt; die Heag leistet der Gemeinde Griesheim zu den auf ihrer Seite erwachsenen Kosten einen Zuschuß von 1000 Mk. Die Genehmigung des Aufsichtsrats der Heag und des Gemeinderats der Gemeinde Griesheim wurde vorbehalten. Der Gemeinderat stimmte diesem Vergleich unter der Bedingung zu, daß sämtliche in der Prozeßsache entstandenen und noch entstehenden Kosten von der Heag übernommen werden.“ [NGA, 11.1.1930]

Wollte die HEAG die Sondereinnahmen aus dem Griesheimer 5 Pfennig-Tarif wirklich selbst einstreichen? Der Unterschied zwischen Abkassieren und Blumenkohl­köpfen: das eine nennt man dann wohl geschäftstüchtig, das andere Diebstahl. Am selben Abend war entweder Alkohol und Unachtsamkeit im Spiel, oder beides:

„Ein hiesiger Einwohner, der gestern Abend an der Haltestelle ‚Felsenkeller‘ die Straßenbahn besteigen wollte, kam beim Ueberschreiten des Gleises zu Fall. Nur der Geistes­gegenwart des Wagenführers ist es zu danken, daß der Mann nicht überfahren wurde und mit einigen Verletzungen am Kopf davon kam.“ [NGA, 11.1.1930]

Bei der Gemeinderatssitzung am 9. Januar wurde auch über die zukünftige Nutzung des Truppen­übungsplatzes gesprochen. Der Abzug der französischen Truppen aus dem Mainzer Brückenkopf und den besetzten Gebieten westlich des Rheins sollte am 30. Juni 1930 abgeschlossen sein.

„Die hiesige Bürgermeisterei hat vor einiger Zeit bei den zuständigen Stellen auf die Zweck­mäßigkeit des Truppen-Uebungsplatzes zur Einrichtung eines Flughafens mit eingehender Begründung hingewiesen. Diesem Vorgehen war in erster Linie der Erfolg beschieden, daß die Versteigerung von 3 Flughallen, die von der Besatzung bereits anberaumt war, ausgesetzt worden ist. Am Mittwoch Vormittag [am 8. Januar, WK] fand nun eine Besichtigung des Truppen-Uebungsplatzes und des Barackenlagers durch mehrere Reichs- und Landesvertreter unter Zuziehung des Beigeordneten Feldmann statt. Die anwesenden Reichs- und Landesvertreter waren von dem Ergebnis dieser Besichtgung und namentlich von den vorhandenen Einrichtungen im Barackenlager durchaus befriedigt und waren einmütig in der Ansicht, daß sämtliche Gebäude etc. im Interesse des vorzüglich geeigneten Platzes unter allen Umständen erhalten bleiben müssen. Die ganze Einstellung der anwesenden Herren ließ erkennen, daß die demnächst fallende Entscheidung über die zukünftige Verwendung des Truppen-Uebungsplatzes die Interessen der Gemeinde Griesheim wahren wird. Die Bekanntgabe über die in dieser Hinsicht von der Bürgermeisterei bereits geleisteten Vorarbeiten hat den Gemeinderat und das der Gemeinderats­sitzung beiwohnende überaus zahlreiche Publikum sichtlich befriedigt.“ [NGA, 11.1.1930]

Griesheim war seinerzeit als ein Eldorado des Diebstahls bekannt, wozu der Redakteur der Heimatzeitung ab und an eine süffisante Bemerkung anbrachte. Aber auch andernorts wurde fleißig einkassiert. So weist die Statistik der Frankfurter Polizei für 1929 den Diebstahl von 2.400 Fahrrädern aus, von denen so manches im Pfandhaus eingelöst wurde. Aber auch 155 Kraftwagen und etwa 50 Motorräder wechselten auf diese Weise den Besitzer [NGA, 14.1.1930]. Eine andere Zahl belegt traurigere Verhältnisse. So sollen sich 1927 im Deutschen Reich rund 16.000 Menschen das Leben genommen haben [NGA, 18.1.1930].

An der Nordseite der Straße von Griesheim nach Darmstadt, etwa in Höhe des Truppenübungsplatzes, liegt auf der Posch eine Villenkolonie. Diese besaß eine eigene Straßenbahn­haltestelle. Ganz im Gegensatz zu heutigen Haltestellen mit gepflasterten Bahnsteigen, Beleuchtung und nicht immer sinnvollem Infotainment handelte es sich damals um kärgliche, aus Stampflehm oder anderen Materialien aufgeschüttete Plateaus. Das Publikum ließ sich nicht mit jeder Vernachlässigung abspeisen, so daß am 17. Januar 1930 ein Ortstermin anberaumt wurde.

„Auf Anregung und unter Leitung von Herrn Direktor Hesse der Firma Hessenwerke fand Freitagabend im Kaffee-Restaurant ‚Neues Schießhaus‘ eine Versammlung der Anwohner der Kolonie statt, zur Besprechung allgemeiner wirtschaftlicher Angelegenheiten wie Schaffung einer Beleuchtung der Haltestelle der elektrischen Straßenbahn, Verbesserung des außerordentlich schlechten Zustandes des Bahnsteiges der Haltestelle, Wasser­leitunglegung für die verschiedenen Villen und insbesondere Hydranthen für Feuersgefahr, Gasleitung usw.

An der Versammlung der ca. 25 Herren beiwohnten, es waren alle Haushaltungs­vorstände von der Kolonie, nahmen auf Einladung von der Bürger­meisterei Griesheim teil die Herren Beigeordneter Feldmann, Gemeinde-Sekretär Simmermacher, Gemeindebau­inspektor König. In lebhafter Aussprache wurden die berechtigten Anstände und Wünsche der Kolonie besprochen und den Herrn Vertretern der Gemeinde zur Kenntnis gegeben. Zur Weiter­verfolgung wurde auf allgemeinen Vorschlag eine Kommission gebildet, die aus vier Herren der Kolonie besteht und die in ständiger Fühlungs­nahme mit der Bürger­meisterei und den sonstigen zuständigen Stellen die baldmöglichste Beseitigung der Mißstände und Erfüllung der berechtigten Wünsche der Kolonie zu erreichen versuchen sollen, um damit auch für fremde Baulustige durch Vorhandensein aller technischen Errungen­schaften, Ordnung und guten Zustand der Kolonie, Anreiz zu geben sich hier anzusiedeln. Also im Interesse der Kolonie wie auch der Gesamtgemeinde Griesheim liegend.

Herr Beigeordneter Feldmann betonte das Interesse und die Beihilfe-Bereitschaft der Gemeinde-Vertretung Griesheim, zur raschmöglichsten Beseitigung und Verbesserung der Mißstände, sowie baldige Herbeischaffung der gewünschten und dringend nötigen Licht- und Wasser­verhältnisse. Er konnte in Aussicht stellen, daß die Beleuchtung der Haltestelle und der gesamten Kolonie in kürzester Zeit erfolgen würde. Bezügl[ich] der anderen Fragen die, soweit dieselben die Bürger­meisterei Griesheim betreffen, erhebliche Finanzielle Aufwendungen erfordern, bedürfe es noch, auch in Verbindung der Schießplatz­frage nach Abzug der Besatzung, weiterer Verfolgung der Angelegen­heiten. Es steht zu hoffen, daß nunmehr, nachdem diese allgemeinen Fragen in Fluß gekommen sind, auch eine baldige Lösung derselben stattfindet, zum Wohle der gesamten Kolonie und deren Bewohner, die bisher recht stief­mütterlich behandelt worden sind.“ [NGA, 21.1.1930]

„Stiefmütterlicher“ als die Bäuerinnen und Arbeiter, die in zugigen Hallen und offenen Wagen in klirrender Kälte aushalten mußten, wenn sie nach Darmstadt gelangen wollten? Der Ende März 1930 zum neuen Bürgermeister gewählte Beigeordnete Feldmann gehört dem konservativen Teil des Gemeinderats an und hat daher ein offeneres Ohr für betuchte Steuerzahler als sein sozial­demokratischer Vorgänger Schüler, der schauen mußte, wie er die Sozialfürsorge der Gemeinde neben all den anderen Aufgaben bewältigt bekam. Der Gemeinderat wird am 23. Januar bschließen, die Villenkolonie mit einer Straßen­beleuchtung zu versehen. Ob es Gaslicht oder elektrisches Licht werden soll, soll noch geprüft werden. [NGA, 25.1.1930]

Am 4. Februar wird auf dem Truppen­übungsplatz ein letztes Mal scharf geschossen, und zwar laut Ankündigung der Bürgermeisterei mit Maschinengewehren [NGA, 4.2.1930]. Am 27. März werden 16 Personen aus Darmstadt und Griesheim dabei erwischt, als sie verbotenerweise auf dem Truppen­übungsplatz Munition gesammelt haben. Die französischen Behörden sprachen vor dem Kriegsgericht in Mainz das Urteil: mehrere Tage Gefängnis oder kleine Geldstrafen, eine Jugendliche wurde freigesprochen [NGA, 15.4.1930].

„Ein lang gehegter Wunsch der Bewohner der Waldkolonie ‚Posch‘ ist jetzt in Erfüllung gegangen. Seit Samstag Abend [8. März, WK] erstrahlt die Haltestelle der Straßenbahn, der Otto-Hesse-Weg nach dem Schießhaus und der Kellerweg in elektrischem Licht, sodaß die dortigen Bewohner jetzt nicht mehr gezwungen sind, in der Dunkelheit den Weg nach ihrer Behausung aufzusuchen.“ [NGA, 11.3.1930]

Waren nicht alle Hindernisse zum Bau der Bergstraßen-Straßenbahn aus dem Weg geräumt worden? Nun …

„Aus Jugenheim wird gemeldet, daß sich in der Weiterführung der Elektrischen Bahn von Eberstadt nach Jugenheim durch die seitens der Heag vorgeschlagene Tarifbildung Schwierigkeiten entgegenstellen[,] bei deren Nicht­beseitigung das ganze Projekt scheitern könne. Die Heag könne vorerst nicht zu der notwendig erheblichen Verbilligung für Dauer­fahrkarten, Arbeiter-, Schüler-, Wochen- und Monats­fahrkarten sich verstehen. Durch die Ausschaltung dieses Dauer-Reisenden­verkehrs wäre aber die Rentabilität in Frage gestellt. Auf Drängen der Gemeinden Malchen, Seeheim und Jugenheim hat die Heag jetzt die Tarife bekannt gegeben und überall Ablehnung erfahren. Ein Ausschuß soll sich mit dieser Frage jetzt befassen und eine Klärung herbeiführen.“ [NGA, 18.3.1930]

Zudem gibt es die Befürchtung, daß die Reichsbahn nach Inbetriebnahme der Straßenbahn­strecke die Zubringerstrecke von Seeheim über Jugenheim nach Bickenbach einstellen könne. [NGA, 27.3.1930]

Hohe Tiere auf dem Übungsplatz

„Der hiesige Truppenübungsplatz kommt auf Grund der Bestimmungen des Versailler Friedensvertrages für militärische Zwecke nicht mehr in Betracht. Die fernere produktive Verwendung des Platzes bildet deshalb schon seit geraumer Zeit den Gegenstand ausgiebiger Verhandlungen der hierfür in Betracht kommenden Instanzen. Zum Zwecke der Freistellung der künftigen Verwendungs­möglichkeit weilten heute Vormittag [am 2. Mai, WK] der Leiter der Zeppelinwerke, Herr Dr. Eckener, je ein Vertreter des Auswärtigen Amtes und des Reichsfinanz­ministeriums in Berlin und der Präsident des Reichs­vermögensamtes in Koblenz auf dem hiesigen Truppen­übungsplatz. Auf erfolgte Einladung hatten sich Herr Minister Leuschner vom Hess. Innenministerium, Herr Legationsrat Heinemann vom Hess. Staatsministerium, Herr Oberbürger­meister Müller aus Darmstadt und Herr Beigeordneter Feldmann aus Griesheim sowie je ein Vertreter der Technischen Hochschule und der Fluggesellschaft in Darmstadt ebenfalls eingefunden. Sowohl das äußere Gelände des Truppen­übungsplatzes als auch die einzelnen Flughallen wurden einer eingehenden Besichtigung unterzogen. Sämtliche Anwesenden waren von dem Ergebnis der Besichtigung durchaus befriedigt. Herr Dr. Eckener stellte insbesondere die vollkommene Geeignetheit des Truppenübungs­platz-Geländes für Flugzwecke fest und wies mit Nachdruck darauf hin, daß alle möglichen Schritte unternommen werden müssen, um Gelände und Flughallen in ihrem derzeitigen Umfang und Bestand zu erhalten. Im Anschluß an die Besichtigung fand im Hess. Innenministerium eine engere Sitzung statt, in der die Angelegenheit ebenfalls zur Beratung stand. Es wäre außerordentlich zu begrüßen, wenn die Truppenübungs­platzfrage recht bald eine die Interessen der Gemeinde Griesheim und der Stadt Darmstadt fördernde Lösung fände.“ [NGA, 3.5.1930]

„Wie nachträglich gemeldet wird, teilte Dr. Eckener bei seinem Besuch hier mit, daß anläßlich der Akademischen Weltmeister­schaften am 2. oder 3. August ein Besuch des ‚Graf Zeppelin‘ verbunden mit einer Landung auf dem Griesheimer Sand beabsichtigt sei.“ [NGA, 6.5.1930]

Dieser Zeppelinbesuch sollte noch zu einem riesigen Volksfest ausufern. Die Flugplatz­frage ist jedoch noch vollkommen offen. Die „Frankfurter Zeitung“ berichtete, daß derzeit drei Plätze in der engeren Wahl stünden, neben Griesheim noch Mörfelden und Kelsterbach [NGA, 8.5.1930]. Die französische Armee hat damit begonnen, Heeresgut zum Griesheimer Bahnhof zu verbringen, damit es von dort nach Frankreich transportiert werden kann. Am 25. Mai soll das Lager weitgehend geräumt sein [NGA, 10.5.1930].

„Heute Vormittag [am 12. Mai, WK] erschien der Kommandant des Truppen-Uebungsplatzes auf der Bürgermeisterei und teilte mit, daß die französische Besatzungsbehörde den bisher beschlagnahmten Teil des neuen Friedhofes an die Gemeinde zurückgebe. Insgesamt ruhen auf dem Friedhof noch neun französische Soldaten; zwei Soldaten christlicher Religion sind in den Reihengräbern gebettet, sieben Mohamedaner sind auf dem bisher beschlagnahmten Platz auf dem nordöstlichen Teil des Friedhofes beerdigt. – Aus verschiedenen Maßnahmen vermutet man, daß die französischen Besatzungstruppen, außer den vier Feldgendarmen bereits am Samstag das Lager verlassen.“ [NGA, 13.5.1930]

Die Franzosen werden den Platz schon am 19. Mai übergeben, mit Ausnahme der Flugzeughalle, über deren Abbruch noch verhandelt wird. [NGA, 17.5.1930]

Auf der jährlichen General­versammlung gönnen sich die Aktionäre der HEAG eine zehnprozentige Dividende [NGA, 13.5.1930]. Der Sommer­fahrplan ab dem 15. Mai 1930 entspricht im wesentlichen dem des Jahres 1927; nur zu den Abendstunden wird ab 20.47 (Griesheim Neue Schule) bzw. 21.15 Uhr (Darmstadt Marktplatz) zu einem ganzstündigen Takt übergegangen. [NGA, 17.5.1930]

„Wegen der aus dem 5-Pfennig-Tarif der Heag eingegangenen Gelder in Höhe von über 60.000 Mk. auf welche bekanntlich die Gemeinde Anspruch erhebt, da auf der Strecke Griesheim – Darmstadt nachweislich auch ohne diesen Zuschlag die geforderte Zinsgarantie erreicht wurde, war gestern [am 13. Mai, WK] wiederum Termin vor der Zivilkammer 1 des Landgerichts Darmstadt anberaumt, da sich die Gemeinde und die Heag wegen der entstandenen Kosten nicht einigen konnten. Die Angelegenheit wurde abermals vertagt und ist jetzt Schlußtermin auf Dienstag, den 27. Mai anberaumt.“ [NGA, 15.5.1930]

„Zerstörungen auf dem Rückzuge.

Der nun endlich erteilte Befehl zur Räumung kann nicht restlose Befriedigung erregen, da sich nun die französischen Schikanen immer weiter vermehren.

Der französische Armeeoberzahlmeister hat eine Versteigerung ausgeschrieben, bei der 25 Flugzeug­hallen bis 15. Juni zum Abbruch vergeben werden. Es handelt sich um drei Hallen in Griesheim, 21 in Lachen-Speyerdorf und eine Halle in Kaiserslautern.

Insbesondere der beabsichtigte Abbruch der Griesheimer Hallen hat die größte Erbitterung hervorgerufen. Steht doch anläßlich des Südamerikaflugs des ‚Graf Zeppelin‘ das Luftschiff als Verkehrs­einrichtung wieder im Vordergrund des Interesses. Bekanntlich sucht Dr. Eckener nach einem geeigneten Platz in Westdeutschland, von dem aus regelmäßig die Trans­atlantikflüge ihren Anfang nehmen sollen. Es sind zwischen Basel und Frankfurt eine ganze Reihe von Untersuchungen angestellt worden. Aus meteorologischen und praktischen Gründen steht der Flugplatz Griesheim bei Darmstadt, der bis zum 30. Juni ja noch zum besetzten Gebiet gehört, im Vordergrund des Interesses. Insbesondere legt Dr. Eckener Wert auf diesen Platz, weil dort schon entsprechende Anlagen vorhanden sind.

Die Franzosen versuchen nun noch, wie das ‚Darmstädter Tagblatt‘ meldet, im letzten Augenblick mit allen Mitteln Dr. Eckener einen Strich durch die Rechnung zu machen. Sie bedienen sich daher des Versailler Vertrages, der bestimmt, daß alle Flugplätze im besetzten Gebiet für die Benutzung von Flugzeugen unbrauchbar gemacht werden müßten. Nun ist aber vor kurzem mit den Alliierten vereinbart worden, daß wir in der entmilitarisierten Zone einige Flugplätze unterhalten dürfen. Ueber die restlichen vorhandenen Flugplätze ist bestimmt worden, daß sie nach Ablauf von drei Jahren zu beseitigen sind, wenn es nicht inzwischen gelungen ist, die Anlagen anderweitig zu verwerten. Die französische Militärbehörde im besetzten Gebiet hat sich jetzt über dieses Abkommen glatt hinweggesetzt.

Zu verwundern wäre es nicht, wenn die Bemühungen der Reichsregierung um den Griesheimer Flugplatz auf den Widerstand der Franzosen stoßen würden, die in der Botschafter­konferenz über einen großen Einfluß verfügen. Deutschland muß leider mit diesem Gremium verhandeln, weil es dazu vertraglich verpflichtet ist. Uns bleibt nur die Hoffnung, daß der Südamerika-Flug des ‚Graf Zeppelin‘ ein voller Erfolg für Deutschland wird. Um so schwerer dürfte es dann den Franzosen fallen, uns bei der Einrichtung internationaler Flugverbindungen weiterhin Knüppel zwischen die Beine zu werfen.“ [NGA, 22.5.1930]

„Also doch!

Gestern Nachmittag fand in Mainz die Versteigerung der Flugzeughallen auf dem Truppen-Uebungsplatz hier statt. Für den Betrag von 100.200 Franken gingen sie in den Besitz eines Mülhausener Steigerers über. Der Darmstädter Firma Lippmann May gelang es nicht, den Zuschlag zu erhalten, da scheinbar das elsässische Haus das Hallenmaterial unter allen Umständen haben wollte. Lippmann May handelte, wie es hieß, im Auftrag der Regierung, konnte aber, da die ihm zugewiesene Summe begrenzt war, nichts erreichen. Noch in letzter Stunde hatte die hessische Regierung einen Schritt des General­delegierten der Reichs­vermögens­verwaltung beim französischen Oberkommando in Mainz veranlaßt, aber leider erfolglos. Seit geraumer Zeit ist bekannt, daß Dr. Eckener das stärkste Interesse für das Gelände des Truppen-Uebungsplatzes mit seinen Anlagen bekundet. Der Platz kommt nach Eckeners Erklärung in erster Linie als Luftschiff­hafen für den trans­atlantischen Verkehr in Frage. Er ist klimatologisch, außerordentlich begünstigt und für den Weltluftschiffs­verkehr von besonderem Wert, weil er auch noch inmitten einer weiten, freien Ebene liegt, die ein niedriges Anfahren bei niedrig hängenden Wolken ohne Gefahr in weitem Umkreise gestattet. Eckener möchte auf jeden Fall den Griesheimer Sand mit seinen bestehenden Anlagen schon jetzt als Not- und Zwischen­landungsplatz einrichten und zu diesem Zweck alsbald einen Ankermast errichten. Es ist darauf wiederholt, auch durch die Weltpresse, aufmerksam gemacht worden. Leider vergeblich. Wieder ist eine Möglichkeit versäumt worden, europäischen Geist auch in der Tat zu beweisen. Oder wird die Botschafter­konferenz noch in letzter Minute ein Machtwort sprechen?

Die zehn Hallen in La[c]hen-Speyerdorf Ostgruppe brachten insgesamt 70.000 Franken und wurden von der Firma Kirchoff aus Hamborn zugeschlagen. Die elf Hallen der Westgruppe des gleichen Bezirks brachten zusammen 17.000 Franken. Sie erhielt eine Firma aus Musbach in der Pfalz. Die eine Halle auf dem Fronerfelde bei Kaiserslautern brachte 6.500 Franken und ging an die Firma Richard Weber in Homburg in der Pfalz. Alle Hallen wurden nur auf Abbruch verkauft. Das Wegschaffen des Materials muß bis zum 15. Juni vollendet sein, da dieses sonst dem französischen Staat verfällt“ [NGA, 24.5.1930]

Während westlich von Darmstadt Arbeitsplätze am Luftschiffhafen herbeigesehnt werden, die nunmehr in Schutt und Asche versinken, wird südöstlich von Darmstadt immer noch die Hoffnung genährt, die Straßenbahn­linie zum Böllenfalltor könne in den Odenwald verlängert werden. Doch als zu groß erweisen sich die Bedenken und Widerstände.

„Der Gemeinderat von Traisa hat gegen die von der Heag geplante Linienührung der Straßenbahn (Odenwälder Hartstein-Industrie – Traisaer Hohl – Kilianstraße – Ober-Ramstadt) einmütig Protest erhoben und beschlossen, für diese Linienführung keine Garantie zu geben und auch kein Gelände zur Verfüguzng zu stellen.“ [NGA, 24.5.1930]

Demnach hätte sich die HEAG dazu duchgerungen, einen kleinen Schlenker durch Nieder-Ramstadt einzulegen. Davon hat Traisa allerdings rein gar nichts (außer einem kleinen Fußmarsch zur Tram). Seeheim lehnt währenddessen aufgrund der Tarifforderungen den Vertragsentwurf der HEAG ab, so daß es in den Sternen steht, wann mit dem Bau begonnen werden kann [NGA, 7.6.1930]. – Doch Griesheim plagen ganz andere Probleme.

„Bekanntlich hat die Versteigerung deutscher Flughallen durch die französische Militär­behörde stattgefunden, trotzdem die Botschafter­konferenz eine Entscheidung darüber, ob die Hallen abgebrochen werden, noch nicht getroffen hat. Die hessische Regierung hat unter diesen Umständen das Auswärtige Amt gebeten, nochmals bei der Botschafter­konferenz vorstellig zu werden, um die Zerstörung wirtschaftlich wertvoller Anlagen zu verhindern. Einer Pariser Zeitungsmeldung zufolge soll die französische Regierung verfügt haben, daß die Hallen vorläufig nicht abgebrochen werden sollen. Ob diese Meldung zutrifft werden die nächsten Tage zeigen. – Wegen verschiedener Diebstähle und Diebstahls­versuche bleibt das Lager und auch das Passieren der Lagerstraße für Unbefugte vorläufig noch verboten. Ausweise zum Betreten des Lagers werden nur an solche Personen ausgestellt, die wirklich im Lager zu tun haben. Neben der deutschen Polizei übt auch die französische Gendarnerie im Lager den Ordnungs­dienst aus.“

„Zurzeit läßt die ‚Heag‘ das von der Darmstädter Chaussee nach dem Uebungsplatz führende Bahngleise in betriebssicheren Zustand versetzen und ist auch mit dem Oberbau für elektrischen Betrieb beschäftigt. Die trifft diese Maßnahme zur Bewältigung des riesigen Verkehrs[,] der bei Landung des Zeppelin-Luftschiffes in den ersten Augusttagen zu erwarten ist.“ [NGA, 28.5.1930]

Dies würde bedeuten, daß das schon Ende des 19. Jahrhunderts angelegte Stichgleis zum Truppen­übungsplatz reaktiviert und sogar mit einem Fahrdraht versehen worden wäre. Dieser Aufwand für eine einmalige Aktion scheint sich für das ansonsten auf Garantien erpichte Unternehmen wohl zu rechnen. Bei einem Massenandrang von mehreren zehntausend Menschen waren demnach zusätzliche Einnahmen in fünfstelliger Höhe zu erwarten. Dieses Stichgleis wurde im Februar 1935 abgebaut. [NGA, 9.2.1935] – Derweil eine alte Plage zurückkehrt.

„Die Fahrraddiebstähle haben hier in den letzten Tagen ungewöhnlich stark zugenommen. Es werden täglich durchschnittlich drei und mehr Fahrräder gestohlen. Nach den Feststellungen der Polizei werden die Diebstähle zum großen Teil von durchreisenden Handwerks­burschen ausgeführt. Diese übernachten in der Herberge oder sonst einem Asyl und wenn sie am Morgen die Stadt [Darmstadt, WK] verlassen, stehlen sie ein Fahrrad, um damit zu verschwinden. Das gestohlene Rad wird dann auf der Tageswanderung abgesetzt, um am folgenden Tag irgendwo anders wieder ein Rad zu stehlen. – Dieser Tage wurde am Hallen­schwimmbad ein Motorrad Marke Zündapp gestohlen. Der Dieb hatte das gestohlene Motorrad in einem Waldstück bei Wallerstädten einfach abgestellt.“ [NGA, 28.5.1930]

Man und frau stelle sich vor: weder polnische oder rumänische Diebesbanden noch die in Wilhelm Leuschners infamer Kartei erfaßten „Zigeuner“ werden als Täter ausgemacht – nein: Deutsche bestehlen Deutsche. So sieht echte Volks­gemeinschaft aus. – Eine andere Form von modernem Raubrittertum erbost die Bevölkerung der Darmstädter Anlieger­gemeinden.

„Die ‚Heag‘ plant eine Fahrpreiserhöhung auf ihren Darmstädter Vorortlinien und das trotzdem sie im abgelaufenen Betriebsjahr in der Lage war, eine Dividende von 10 Prozent auszuschütten. In Eberstadt und Arheilgen hat man gegen dieses unmotivierte Vorgehen ganz energisch Protest erhoben und auch von hier aus wird ein solcher von maßgebender Seite nicht ausbleiben. Wenn man bedenkt, daß es der ‚Heag‘ möglich war, auch nach Wegfall des 5 Pfg.-Zusatztarifs, der als Garantie für die Rentabilität der hiesigen Strecke eingeführt war und in drei Jahren die Höhe von über 60.000 Mk. erreichte, welche die ‚Heag‘ jetzt an die Gemeinde zurückzahlen muß, nach allen Abschreibungen und Rückstellungen noch eine Dividende von 10 Prozent auszuzahlen, so ist das Ansinnen einer Fahrpreis­erhöhung ganz unverständlich. Daß die Stadt Darmstadt, die fünfzig Prozent der Aktien besitzt, ihre Zustimmung zu der beantragten Fahrpreis­erhöhung gegeben hat, braucht weiter nicht wunder zu nehmen, kämen die Mehreinnahme doch ihren gedrückten Finanzen zu gut und ihre Einwohner blieben von dieser Mehrbelastung fast ganz verschont. Hoffentlich versagt das Ministerium dieser ganz unberechtigten Forderung der ‚Heag‘ seine Zustimmung.“ [NGA, 28.5.1930]

Allerdings ist man auch in Griesheim recht geschäftstüchtig.

Gemeinderatssitzung am 28. Mai. Zu dem Gesuch der Hess[ischen] Flugbetrieb A.-G. um Erlaß der Billetsteuer bei der Zeppelin­landung auf dem Uebungsplatz wurde gegen 2 Stimmen beschlossen, die ersten 20.000 Mk. frei zu lassen und die weiter eingehenden Eintrittsgelder mit dem üblichen Satz zu versteuern unter der Bedingung, daß die vorbereitenden Arbeiten zur Landung tunlichst Griesheimer Geschäftsleuten übertragen werden und daß zur Arbeitsleistung selbst, soweit es möglich ist, ortsansässige Erwerbslose und Wohlfahrts­empfänger heranzuziehen sind.“ [NGA, 31.5.1930]

Doch bevor der Zeppelin landen kann, muß erst noch der Abriß organisiert werden.

„Auf dem Truppen-Uebungsplatz ist gestern Nachmittag ein französisches Pionier­kommando von etwa 80 Mann eingetroffen. Diese erneute Belegung hängt offenbar zusammen mit der Niederlegung der 3 von der Firma Marx-Mühlhausen gesteigerten Flugzeughallen. Die Hallen sollen nach früherer Anordnung der Franzosen bis 15. Juni abgebrochen sein. Jedenfalls hat der Steigerer, wie in Trier, so auch hier keine geeigneten Arbeitskräfte für den Abbruch der Hallen gefunden, weshalb er sich an die französische Militärverwaldtung wandte, die ihm ein Pionierkommando zur Verfügung stellte.“ [NGA, 5.6.1930]

Mit dem Abbruch scheint noch am 5. Juni begonnen worden zu sein [NGA, 7.6.1930]. Auch wenn ich hierzu keinen Hinweis gefunden habe, riecht das sehr nach Boykott. Eine Gemeinde wie Griesheim hätte, wenn sie gewollt hätte, wohl genügend geeignete Arbeitskräfte gefunden, um sich gewisser Sozialleistungen entledigen zu können. Ein anderer Boykott kam vom Himmel geflogen.

„Bei dem gestrigen Gewitter [wohl am 3. Juni, WK] schlug der Blitz in den Motorwagen des Straßenbahn­zuges der 2.15 Uhr von Darmstadt nach hier abgeht. Der Motorwagen mußte aus dem Betrieb genommen werden, von dem Fahrpersonal und den Fahrgästen kam glücklicherweise Niemand zu Schaden. Ein Verkehrsauto der ‚Heag‘ brachte die Fahrgäste hierher. Die Betriebs­störung war nach kurzer Zeit wieder behoben.“ [NGA, 5.6.1930]

Das Werk ist vollendet

Die Flugzeughallen auf dem Truppen-Uebungsplatz sind jetzt zerstört; sie sind pünktlich bis zum 15. Juni abgerissen worden. Auf dem Platz liegen die Trümmer größtenteils noch umher: Steine Holz und verbogene Eisenstäbe, ein wenig erfreuliches Bild. Es scheint, daß die französischen Pioniere vielleicht mit Eifer, sicher aber mit wenig Liebe an ihr Zerstörungs­werk gingen, das ihnen den Pfingsturlaub verdarb, denn der Platz macht einen recht unordentlichen Eindruck. Der Steigerer Marx aus Mühlhausen im Elsaß, ist seines Besitzes jetzt sicher nicht froh, denn mehr als Alteisen und Brennholz hat er sicher nicht ergattern können. Seine Rechnung, daß er die zu einem Ueberpreis ersteigerten Hallen an deutsche Stellen mit einem gepfefferten Verdienst abstoßen könne, war falsch, denn ihm wurde nur der wirkliche Wert der Flugzeughallen geboten und kein Pfennig mehr, nachdem feststand, daß die sinnlose Zerstörung der Flugzeughallen tatsächlich erfolgen mußte. Im hiesigen Bahnhof werden jetzt täglich große Mengen der eisernen Konstruktions­teile der Hallen verladen[,] die wahrscheinlich nach Frankreich gehen, wo sie jedenfalls verschrottet werden. Die Nachricht, daß die Pioniere und die französischen Gendarmerie [sic!] das Lager bereits verlassen hätten, trifft nicht zu.“ [NGA, 19.6.1930]

Die Franzosen bei der Zerstörungs­arbeit. Die Franzosen trauten dem Käufer Marx, der die Flugzeughallen im hiesigen Lager gekauft hatte, anscheinend nicht recht. Deshalb legte man noch einmal ein Pionierkommando nach dem Lager und ließ dieses die Hallen beseitigen. Da die Zeit zu kurz war, konnte eine ordnungsgemäße Demontage nicht erfolgen, die Hallen wurden eingerissen und gesprengt. Inzwischen verklagte der Käufer die Besatzung. Doch das Maß der Zerstörung war einem dieser Tage kontrollierenden französischen höherem Offizier immer noch nicht genügend, und so wurden die kreuz und quer liegenden größeren Pfeiler noch besonders mit Schweißapparaten in kleine und kleinste Stücke zersägt. Erst nachdem so wirklich ganze Arbeit geleistet war, erhielten jetzt die Gendarmerie­beamten im Lager und in Groß-Gerau den Befehl abzuziehen. Sie werden morgen Samstag [also am 21. Juni, WK] das Lager und Groß-Gerau verlassen, während die Pioniere erst gegen Ende nächster Woche abrücken, da sie mit den Aufräumungs­arbeiten wohl nicht früher fertig werden. Im hiesigen Staatsbahnhof stehen gegenwärtig eine ganze Reihe von Wagen mit Eisenteilen der Flugzeughallen, zu denen sich täglich noch weitere gesellen, die auf den Abtransport warten.“ [NGA, 21.6.1930]

Die Flugzeughallen auf dem Truppen-Uebungsplatz sind jetzt zerstört und das Material zum teil fortgeschafft. Die letzte Halle wurde am gestrigen Sonntag [am 22. Juni, WK] gesprengt, da die Zeit zur Demontage jedenfalls nicht mehr ausreichte. Dumpfe Schläge von halb 6 Uhr früh bis gegen Mittag kündigten das Zerstörungswerk an und von früh bis in die vorgerückten Nachmittags­stunden gingen die Lastautos, mit Eisenteilen der Hallen beladen nach dem Staatsbahnhof zur Verladung. Gegen Abend rückte dann das Pionier­kommando bis auf wenige Mann, die noch mit Aufräumungs­arbeiten beschäftigt werden, mit den Autos nach Mainz ab. Die Aufräumungs­arbeiten werden wohl noch die ganze Woche in Anspruch nehmen und ist jedenfalls nicht damit zu rechnen, daß der letzte Franzose früher als vor dem 30. Juni das Lager verläßt und auch an diesem Tage erst die Uebergabe des Lagers an die Reichsvermögens­verwaltung erfolgt.“ [NGA, 24.6.1930]

Auch wenn die Hallen selbst nicht mehr zur Verfügung stehen, so wird doch das Schauspiel einer Zeppelinlandung nicht nur finanziell, sondern auch mit deutscher Gründlich­keit durchorganisiert.

Näheres über die Zeppelin-Landung auf dem Uebungsplatz. Nachdem die Landung des Zeppelin-Luftschiffes am Sonntag, 3. August, nunmehr feststeht, vorausgesetzt, daß die meteorologischen Verhältnisse keinen Strich durch die Rechnung machen, wird von der Oberleitung der meteorologischen Station der Technischen Hochschule Darmstadt ein laufender Wetterdienst geführt werden. Es besteht die Hoffnung, den Zeppelin noch bis zum Einbruch der Dunkelheit vor Anker zu halten um durch eine Anstrahlung des Schiffes mit Flutlicht den Zuschauern ein besonders prächtiges Schauspiel zu bieten. Voraussetzung für die glatte Durchführung ist aber die äußerste Disziplin des Publikums. Die polizeilichen Absperrmaßnahmen sind von äußerster Strenge und müssen von den Zuschauern mit eiserner Disziplin eingehalten werden. Ein Durchbrechen des Kordons hätte – abgesehen von der Gefährdung des Schiffes – den sofortigen Abflug des Luftschiffes zur Folge.“ [NGA, 21.6.1930]

Auf der Gemeindesratssitzung am 26. Juni 1930 prallen Geschäfts­interessen aufeinander.

„Das Ersuchen der Hess[ischen] Flugbetrieb Akt.-Ges., sämtliche Eintrittsgelder bei der Zeppelin­landung am 3. Aug[ust] auf dem Truppen-Uebungsplatz hier steuerfrei zu lassen, wurde, obwohl es der Vorsitzende [wohl der kürzlich gewählte neue Bürgermeister Feldmann, WK] warm befürwortete, abgelehnt. Auch der Herr Minister des Innern hatte in einem zur Verlesung gekommenen Schreiben die Steuerfreiheit der Gemeinde empfohlen, da es sich um ein internationales Unternehmen handelt. Der Gemeinderat konnte sich aber davon nicht überzeugen. Durch Gemeinderat Nothnagel wurde vorgeschlagen, der Flugbetrieb A.-G. mitzuteilen, daß die eingehenden Steuerbeträge nur zur Herstellung der Straße im Wirtschafts­viertel auf dem Uebungsplatz Verwendung finden sollen. Von anderer Seite wurde noch angeregt, auch mitzuteilen, daß die Stadt Darmstadt, wenn sie auch die Zinsgarantie für 12.000 RM. übernommen habe, die wohl kaum in Anspruch genommen wird, der Einwohner­zahl entsprechend, viel weniger zu dem Unternehmen beiträgt wie die Gemeinde Griesheim, die von vornherein, um das Unternehmen zu fördern und dem Ausbau des Uebungsplatzes zu anderen Zwecken nicht hindernd im Wege zu stehen, auf 2000 RM. Steuern verzichtet hat.“ [NGA, 28.6.1930]

Ein anderes Volksfest findet in Mainz statt. Der Abzug der verhaßten Franzosen wird gebührend im Glanz der Sommernacht vom 30. Juni auf den 1. Juli gefeiert. Dazu läßt die Reichsbahn­direktion Mainz Sonderzüge fahren. In Darmstadt verläßt ein solcher Zug den Hauptbahnhof um 20 Uhr, der um 20.52 Uhr in Mainz ankommt; die Rückfahrt vom Mainzer Hauptbahnhof am Dienstagmorgen ist um 2.40 Uhr mit Ankunft in Darmstadt um 3.35 Uhr. Ob anschließend in Darmstadt gearbeitet oder eher aus lauter Kater krank gefeiert worden ist? [NGA, 28.6.1930]

Juli bis Dezember 1930: Ein Zeppelin landet und Nazis werden beschützt

Zumindest ein Gericht hat an diesem Dienstag in Darmstadt getagt und entschieden. Demnach haben die Gemeinde Griesheim drei Fünftel und die HEAG zwei Fünftel der Verfahrenkosten zu tragen.

„Der Ausgang dieses Prozesses ist eine Sache, die zum Nachdenken anregt und man fragt sich, warum man von dem im Vertrag vorgesehenen Schiedsgericht keinen Gebrauch gemacht hat, wofür unseres Wissens seinerzeit Gemeinderat Nothnagel eingetreten ist und wodurch der Gemeinde viel Zeit und Kosten erspart geblieben wären.“ [NGA, 5.7.1930]

Es könnte aber auch sein, daß das Beharren auf den Rechtsweg das Ministerium erst dazu veranlaßt hat, der HEAG genauer auf die Finger zu schauen.

Straßenbahnunfall.

Bild 14: Entgleisung eines dreiteiligen Straßenbahn­zuges in der Nähe der neuen Wagenhalle am 4. Juli 1930. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em.2008.0001.

Straßenbahnunfall.

Bild 15: Schaulustige lassen sich ablichten. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em.2008.0003.

Unfall auf der Straßenbahn. Kurz vor dem Heag-Bahnhof kam heute Nachmittag der um 415 in Darmstadt abgehende, aus drei Wagen bestehende Zug der Straßenbahn aus noch unbekannter Ursache zur Entgleisung. Der Motorwagen sprang aus dem Gleise und neigte sich zur Seite und riß den zweiten Wagen mit sich, der aber neben den Schienen stehen blieb; der dritte Wagen blieb auf dem Gleis stehen. Durch umherfliegende Glassplitter wurden vier im vorderen Wagen sitzende Personen leicht verletzt, sonst kam Niemand zu Schaden. Man vermutet, daß durch die Einwirkung der großen Hitze die Weiche nicht richtig funktionierte und dadurch der Unfall hervorgerufen wurde. Der Verkehr wurde bis zur Freimachung des Gleises durch Umsteigen aufrecht erhalten.“ [NGA, 5.7.1930]

Straßenbahnunfall.

Bild 16: Das im Bericht benannte Abstützen des Motorwagens. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em.2008.0004.

Nachdem die Franzosen abgezogen sind und der Rechtsstreit mit der HEAG kein befriedigendes Ende gefunden hat und nunmehr in die nächste Warteschleife vor Gericht geschickt wird [5], kann man sich nunmehr ganz auf das zukünftige Geschäft konzentrieren.

Zeppelinlandung auf dem Griesheimer Sand am 3. August. Wie bereits gemeldet, wird das Luftschiff ‚Graf Zeppelin‘ auf seiner Deutschland­fahrt am 3. August unter der Führung von Dr. Eckener in Darmstadt landen und nach mehrstündigem Aufenthalt bei Einbruch der Dunkelheit wieder aufsteigen und seine große Fahrt über Deutschland mit einer Nach[t]fahrt beenden. Durch die Landung, die auf dem künftigen Zentral-Luftschiff­hafen, dem ‚Griesheimer Sand‘ erfolgt, ist Darmstadt in den Mittelpunkt der nächsten großen Deutschland­fahrt gerückt. Es sind umfassende Maßnahmen getroffen, dem zu erwartenden Andrang von über 100.000 Besuchern zu begegnen.

Zu empfehlen ist jedem Besucher, den ganzen Sonntag für den Besuch auf dem Griesheimer Sand auszunutzen. Es ist sowohl für Verpflegung, als auch für Unterhaltung gesorgt. Vom Moment des Startes an wird Radio­verbindung mit dem Luftschiff hergestellt und alle Bordmeldungen werden durch Lautsprecher bekannt gegeben. Reichsbahn und Reichsport werden Sonderzüge und Kraftwagen nach Darmstadt einlegen. Anfragen über Vorbezug von Karten für Vereinigungen etc. sind an die Hessische Flugbetriebs A.-G. Darmstadt, Telefon 1003 zu richten, wo auch jede Auskunft erteilt wird.“ [NGA, 8.7.1930]

Während dessen sind die Vorbereitungen im vollen Gange. Das Flugfeld zwischen Kriegs­gefangenenlager und den abgerissenen Flugzeug­hallen wird hergerichtet und abgezäunt. Im Lager selbst wurde mit der Desinfektion der Baracken begonnen. Die Offiziers- und Unteroffiziers-Baracken werden für die Weltmeisterschaften der Studenten, die vom 1. bis zum 10. August stattfinden sollen, vorbereitet. Das Betreten des Lagers bleibt weiterhin nur mit einer Ausweiskarte möglich [NGA, 12.7.1930]. Es wird weiterhin Druck auf die Gemeinde ausgeübt, die Steuer auf die verkauften Eintrittskarten zu erlassen. Im Gemeinderats­bericht heißt es dazu:

„Erlaß der Billetsteuer bei der Zeppelinlandung auf dem Uebungsplatz am 3. August stand wieder einmal und gerade diesmal als Punkt 1 auf der Tagesordnung. Zu diesem Punkt war Regierungsrat Dr. Probst im Auftrag des Ministeriums und als Vertreter des Kreisamts Darmstadt erschienen. Nach längerer Debatte gelangte der von dem Vertreter des Kreisamts gemachte Vorschlag, wonach die steuerpflichtigen Einnahmen über 20.000 Mk., gerichtlich sicherzustellen und nur zum Bau von Flugzeughallen auf dem Uebungsplatz zu verwenden sind, wobei abgesehen von Facharbeitern nur Griesheimer Handwerker und Arbeiter beschäftigt werden dürfen mit dem von Gemeinderat Nothnagel beantragten Zusatz, wonach von den Einnahmen sofort 1000 Mk. an die Gemeinde abzuliefern sind, die zur Herstellung der Straße im Wirtschaftsviertel des Uebungsplatzes verwendet werden sollen, mit 9 gegen 7 Stimmen zur Annahme. Der angenommene Vorschlag enthält ferner noch die Bestimmung, daß wenn am 1. April 1931 mit dem Bau der Hallen begonnen oder endgültige Maßnahmen dazu getroffen sind, die Gemeinde die volle Vergnügungs­steuer von der gesamten Einnahmen [sic!] über 20.000 Mk. wozu durch Vorschlag jetzt auch die Parkgelder einbegriffen sind, einschl. Zinsen jedoch abzüglich der bereits erhaltenen 1000 Mk. zu beanspruchen hat; […].“ [NGA, 19.7.1930]

Am 20. Juli 1930 überflog das Luftschiff ‚Graf Zeppelin“ bei einem Flug von der Pfalz nach Frankfurt auch den Griesheimer Sand, wohl um sich für die geplante Landung zu orientieren [NGA, 22.7.1930]. Als Teil der Vorbereitungen wurde auf dem westlichen Teil des Truppenübungsplatzes gezielt nach Blindgängern aus dem Zielschießen der Kaiserzeit bzw. der französischen Armee gesucht. Die Suche ist noch nicht abgeschlossen, betrifft aber den Menschenauflauf nicht [NGA, 29.7.1930]. Die noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg herrührenden Wellblech­baracken auf dem Truppen­übungsplatz, im Soldatenjargon auch „Wellblech­hausen“ genannt [6], werden abgerissen [NGA, 2.8.1930]. Neben weitschweifigen Instruktionen für Fußgänger, Radfahrerinnen und Autofahrer zwecks Zugang zum abgesperrten Übungsplatz [NGA, 31.7.1930] gibt es auch Informationen zu den von der Reichsbahn bereitgestellten Sonderzügen. Demnach verkehren:

  • Worms ab 13.44 Uhr, Griesheim an 14.32 Uhr.
  • Mannheim ab 13.47 Uhr, Griesheim an 14.58 Uhr.
  • Weinheim ab 12.16 Uhr, Darmstadt an 13.19 Uhr.
  • Wiebelsbach ab 13.10 Uhr, Darmstadt an 14.12 Uhr.
  • Griesheim ab 20.10 Uhr, Worms an 21.09 Uhr.
  • Griesheim ab 20.30 Uhr, Mannheim an 22.03 Uhr.
  • Darmstadt Hbf. ab 20.19 Uhr, Bensheim an 20.56 Uhr.
  • Darmstadt Hbf. ab 20.52 Uhr, Wiebelsbach an 21.49 Uhr.

Weiterhin sollten Pendelzüge als Zubringer von und zur Riedbahn zwischen Griesheim und Goddelau-Erfelden verkehren. [NGA, 2.8.1930]

Eine ungeheure Menschenmenge sollte sich an einem schönen Sommertag auf dem Griesheimer Sand eingefunden haben, als am Mittag die Meldung durchgegeben wurde, aufgrund widriger Winde habe das Luftschiff in Friedrichs­hafen nicht aufsteigen können. Der Zugang zum Übungsplatz wurde nunmehr auch ohne Eintrittskarte gewährt und die Geschäftsleute, die wohl hohe Konzessions­abgaben entrichten mußten, kamen nicht auf ihre Kosten. Anstelle der erwarteten hundert­tausend Besucherinnen und Besucher kam nur die Hälfte. Bei den örtlichen Gastwirten hingegen wurde dem Alkohol gut zugesprochen, sie waren es zufrieden. Am folgenden Montagmorgen konnte das Luftschiff früh um 7.30 Uhr ablegen und erreichte den Griesheimer Sand von Osten her kommend um 16.00 Uhr, drehte eine Schleife Richtung Mainz und enttäuschte das Publikum erneut. Aufgrund aufziehenden Gewitterregens wurde die Landung erneut verschoben und eine weitere Schleife eingelegt, ehe das Luftschiff gegen 18.25 Uhr zur Landung ansetzen konnte. Schon eine Viertelstunde später hob es erneut ab und entschwand Richtung Friedrichshafen. Zehntausende sollen dem Schauspiel zugesehen haben. Unbemerkt blieben mehrere blinde Passagiere, wohl einige „höhere Herrschaften“ samt Gemahlin, die einige unbemerkte Augenblicke benutzten, um sich in die Aussichtsgondel einzuschmuggeln. Für den Verfassungstag am 11. August sei eine erneute Landung geplant. [NGA, 5. und 7.8.1930]

Am 11. August erschien „Graf Zeppelin“ morgens um 8.20 Uhr. Tausende Schaulustige sollen sich eingefunden haben. Nach Übernahme von etwa dreißig Passagieren aus Darmstadt startete das Luftschiff zu einem mehrstündigen Rundflug und kehrte am Nachmittag zu einem kurzen Zwischenstopp zurück. Diesmal sollen sich rund 40.000 Menschen auf dem Griesheimer Sand eingefunden haben. Die für den 3. August gelösten Eintrittskarten behielten ihre Gültigkeit. Um 16.10 Uhr entschwand der Zeppelin Richtung Friedrichshafen. Beide Landungen liefen reibungslos ab. [NGA, 14.8.1930]

Nazis in Griesheim

Gemeinderatssitzung vom 14. August.  Vor Eintritt in die Tagesordnung brachte Gemeinderat Löffler einen Antrag der Kommunistischen Partei zur Verlesung, nach dem bei der Hessischen Regierung die Bestrafung des Befehlshabers, der anläßlich der Versammlung der National­sozialistischen Deutschen Arbeiterpartei am Mittwoch abend zur Aufrechterhaltung der Ordnung hierher gerufenenen Polizei verlangt wird, weil er bei der Aufforderung zur Räumung der Straße und Anwendung der Waffen zu schnell vorgegangen sei. Ueber den Antrag entstand eine sehr heftige Debatte. Von Seiten der Gemeinderats­mitglieder der Freien Wählerschaft wurde die Art der Demonstration, wie sie an diesem Abend von der Sozial­demokratischen und Kommunistischen Partei geübt wurde, auf das schärfste verurteilt. Der Antrag gelangte bei Stimmenthaltung des Herrn Bürgermeisters, sowie der Vertreter der Freien Wählerschaft mit den Stimmen der sozialdemokratischen und kommunistischen Gemeinderats­mitglieder zur Annahme.“

„Am Mittwoch wurde durch die Ortsschelle bekannt gemacht, daß am Abend im Gasthaus ‚Zum Grünen Laub‘ eine Versammlung der National­sozialistischen Arbeiter-Partei stattfindet. Das Gewerkschafts­kartell, die Sozial­demokratische Partei, das Arbeiter-Sportkartell sowie das Reichsbanner haben durch ein Flugblatt die Republikaner aufgefordert, geschlossen zu einer Abwehraktion am Rathaus anzutreten, der ca. 2000 Personen Folge leisteten. Gegen ½9 kamen in 5 Lastautos die National­sozialisten singend die Darmstädter Chaussee herunter und zogen nach dem Versammlungs­lokal, woselbst es zu aufreizenden Zwischenrufen kam. Da man Zusammenstöße befürchtete, wurde das Ueberfall­kommando der Schutzpolizei von Darmstadt alarmiert, das auch in ganz kurzer Zeit mit 2 Lastautos eintraf und alle Eingänge zum Saale absperrte. Durch die Schutzpolizei fand eine Durchsuchung aller Nationalsozialisten und Versammlungs­teilnehmer nach Waffen statt, wobei im Saale einige Gummiknüppel, Stahlruten und Schlagringe versteckt vorgefunden wurden, welche die Polizei beschlagnahmte. Durch energisches Zureden besonnener Führer und unter Auferbietung aller Kräfte der Polizei wurde ein Durchbrechen der Absperrung verhindert. Die von Orts­einwohnern schwach besuchte Versammlung nahm alsdann einen ruhigen Verlauf, und es kam im Saale zu keinen Zwischenfällen. Nach Schluß der Versammlung zogen die National­sozialisten unter dem Schutze der Polizei wieder ab. Außer kleineren Zwischenfällen verlief der Abzug ungestört.“ [NGA, 16.8.1930]

Nazipropaganda.
Abbildung 17: Aufruf zu einer Nazi-Versammlung im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 25. Oktober 1930.

Aus dem Antrag in der Gemeinderats­sitzung und dem in der Zeitung nachfolgenden Bericht von einer eher ruhig abgelaufenen Versammlung spricht eine gewisse Diskrepanz, die der Zeitungs­redakteur nicht aufzulösen bereit ist. Wochen später, auf der Gemeinderats­sitzung am 9. Oktober, wird die Position des Kreisamts Darmstadt vorgetragen, wonach der Einsatz der Polizei korrekt abgelaufen sei. Dies ist eine politische Entscheidung und es fragt sich, wie „korrekt“ die Polizei den Schutz der Nazibande am Abend des 13. August wirklich ausgeführt hat [NGA, 11.10.1930]. Dies bestärkt die lokalen Nazis darin, nun erst recht zu einer erneuten Versammlung im „Grünen Laub“ für den 26. Oktober zu mobilisieren. Einen Bericht hierüber gibt die Lokalzeitung nicht.

Die Straßenbahn hingegen fährt fast geräuschlos durch den Darmstädter Vorort. Wir können hiermit die Geschichte, wie die elektrische Straßenbahn mit vielen Irrungen und Wirrungen den Weg nach Griesheim gefunden hat, beenden. Wohl wissend, daß die von der Darmstädter Schutzpolizei geschützten Banden drei Jahre später begannen, ihre Widersacher zu verhaften, zu schlagen, zu demütigen, zu foltern und in Konzentrations­lager wie das in Osthofen einzusperren, bevor sie sich daran machten, zunächst Deutschland und dann halb Europa zu arisieren.

Am 11. Dezember 1930 verbot die Oberste Filmprüfstelle den Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ wegen dessen Gefährdung des deutschen Ansehens in der Welt und der Herab­setzung der deutschen Reichswehr [NGA, 13.12.1930]. Dabei hatte die US-amerikanische Film­gesellschaft Universal Pictures schon eine stark gekürzte deutsche Fassung zusammen­schneiden lassen. Das ging den reaktionären, militaristischen und national­sozialistischen Kreisen nicht weit genug, weswegen sie solange Druck auf die Prüfstelle ausübten, bis diese, wohl auch nicht abgeneigt, das Verbot aussprach. In den Folgejahren unternahmen dieselben Kreise alles, um das deutsche Ansehen in der Welt nachhaltig in höchster Vollendung zu prägen. Während der Filmklassiker in den USA mit zwei Oscars für den besten Film und die beste Regie ausgezeichnet wurde, wurde der Autor des zugrunde liegenden Buchs, Ernst Maria Remarque, in Deutschland angefeindet. Diese Geisteshaltung nutzte vor allem den Nazis und ihren Gesinnungs­genossen in Politik, Wirtschaft, Wissenachaft, Kunst, Medien und der übrigen Gesellschaft.

Nachzutragen ist, daß die Straßenbahn an die Bergstraße 1936 doch noch gebaut wurde, während die angedachte Linie parallel zur Odenwald­bahn nach Ober-Ramstadt nie verwirklicht wurde.

Bei den letzten halbwegs freien Reichstags­wahlen am 5. März 1933 wählte exakt die Hälfte der an der Wahl teilnehmenden Darmstädter Bevölkerung die Nazis. In Griesheim hingegen erhielten die Nazis von den 5063 abgegebenen gültigen Stimmen nur 1875, das sind etwas mehr als 37%. Für die Sozialdemokraten stimmten 2040, für die Kommunisten 882 Griesheimerinnen und Griesheimer; im Ort wählte frau und man demnach mehrheitlich Arbeiterparteien [NGA, 7.3.1933]. Alle anderen Parteien spielten schon gar keine Rolle mehr; das Bürgertum, die Bauernschaft, das Kleingewerbe und der lokale Handel, soweit nicht jüdisch, hatten sich längst mit den neuen Machthabern angefreundet. Die Nazis sollten dennoch einige Jahre benötigen, um den Ort in den Griff zu bekommen. Aber das ist eine andere Geschichte, die hier nur angedeutet werden kann.