Die Straßenbahn in Darmstadt
Ein Heftfahrschein der Darmstädter Straßenbahn
Ein historisch eingebettetes Dokument
1886 errichtete ein privates Konsortium die ersten beiden Straßenbahnstrecken in die Vororte Eberstadt und Griesheim, denen 1890 eine weitere Strecke nach Arheilgen folgte. Im Grunde handelte es sich um die Schmalspurausführung einer dampfbetriebenen Eisenbahn. Alle drei Linien standen in Konkurrenz zur parallel verlaufenden Eisenbahn. Die Stadt Darmstadt sah die innerstädtischen Verkehrsbedürfnisse des Bürgertums nicht abgedeckt und ließ ein eigenes elektrisches Straßenbahnnetz aufbauen. Aus der Verschmelzung beider Gesellschaften entstand 1912 die Hessische Eisenbahn Aktiengesellschaft, kurz HEAG. Die Dampfstrecken wurden elektrifiziert; ein Vorgang, der aufgrund des Ersten Weltkriegs und der nachfolgenden französischen Besatzung Arheilgens und Griesheims erst 1926 abgeschlossen war.
Seit 1927 erweiterte die HEAG ihr bislang ausschließlich mit Straßenbahnen betriebenes Liniennetz um einzelne Buslinien. Ab 1931 erhielten diese Buslinien, im Gegensatz zu den Straßenbahnlinien, Buchstaben statt Liniennummern. Diese Buchstaben orientierten sich am Ziel der jeweiligen Busstrecke, eine Methode, nach der bis heute in Darmstadt Linienbezeichnungen vergeben werden. Neben der einst als Ringlinie konzipierten Linie „R“ folgte die frühere Buslinie „D“ einer eigenen Logik, die jedoch durchaus durchschaubar ist. Da sie vom Hauptbahnhof zum Ostbahnhof quer durch die Innenstadt führte, war sie als Durchmesserlinie geradezu für den Buchstaben „D“ prädestiniert.
Weitere Heftfahrscheine stelle ich auf einer weiteren Seite vor.
Der hier vorgestellte Heftfahrschein der HEAG stammt aus dem Zweiten Weltkrieg. Er zeigt das zu diesem Zeitpunkt bestehende Liniennetz der Straßenbahnen (schwarz) und Busse (rot).
Abbildung 1: Vorderseite eines Heftfahrscheins der HEAG.
Wenn ich den Fahrschein richtig interpretiere, so wurde er an einem 29. eines unbekannten Monats morgens um 7 Uhr entwertet.
Zur zeitlichen Einordnung: 1941 wechselte die HEAG ihren vollständigen Namen von Hessische Eisenbahn-Aktiengesellschaft in Hessische Elektrizitäts-Aktiengesellschaft. Sie vollzog hiermit programmatisch den Bedeutungsgewinn der elektrischen Energieversorgung nach, während die Straßenbahnen schon längst nicht mehr kostendeckend zu betreiben waren und daher durch die Gewinne bei der Energieerzeugung quersubventioniert werden mußten. (Ein Greuel für die neoliberalen Autisten!) Mit der sogenannten „Brandnacht“ am 11. September 1944 war das aufgedruckte Liniennetz obsolet geworden.
Die Straßenbahnlinien 1 und 2 verkehrten zum Böllenfalltor, die Linie 3 vom Hauptbahnhof über die Bismarckstraße zur Landskronstraße in Bessungen, die Linie 4 vom Rodensteinweg über den Hauptbahnhof zur Sudetengaustraße, die Linie 5 von der Heinheimer Straße über den Mathildenplatz zum Ostbahnhof, die Linien 6 und 7 vom Oberwaldhaus bzw. der Fasanerie zur Moosbergstraße, und die Linie 8 von Arheilgen bis Jugenheim. Die eingezeichnete Verlängerung nach Alsbach war geplant, wurde jedoch mit Beginn des Krieges nicht mehr realisiert. Alsbach wurde erst 1979 erreicht.
Aufgrund der Rationierung von Benzin und Diesel konnten mit Beginn des Zweiten Weltkrieges nur eingeschränkt vier Buslinien verkehren. Die Linie R (Ring) verband das Varietétheater Orpheum mit der Heidenreichstraße, die Linie M (Markthalle) erlaubte das Aufsuchen der Markthalle in der Gräfenhäuser Straße, die Linie E (Eschollbrücker Straße) band die Kasernen an die Innenstadt an, und die Linie O (Ober-Ramstadt) verlängerte die Straßenbahnlinie vom Böllenfalltor nach Ober-Ramstadt. Gewöhnungsbedürftig sind aus heutiger Sicht die auf dem Fahrschein verwendeten Abkürzungen einzelner Straßen und Plätze, die während des Nationaläsozialismus teilweise programmatisch und personenkultig umbenannt worden waren. Der Luisenplatz (bzw. zuvor Louisenplatz) wurde nach dem Führer benannt, die einstige Wendelstadtstraße und heutige Wilhelm-Leuschner-Straße hieß Sudetengaustraße, und der Rhönring wurde nach einem NS-Raufbold, Saboteur und Mitglied der Mordbanden der Freicorps, nämlich Leo Schlageter, benannt, usw.
Abbildung 2: Rückseite eines Heftfahrscheins der HEAG.
Auch die Rückseite eines solchen Heftfahrscheins läßt erkennen, daß Hitlers Großdeutsches Reich einen erbarmungslosen Krieg führte: „Mit Humor und Höflichkeit kommt man durch die schwerste Zeit.“ Wobei sich die Volksgenossen wenig humorvoll und schon gar nicht höflich um diejenigen kümmerten, die sie mit Mord und Niedertracht loszuwerden trachteten. Nur wer zur Volksgemeinschaft gehörte, konnte damit rechnen, entsprechend rücksichtsvoll behandelt zu werden: „Gemeinschaft – präg' Dir's ein – heißt hilfsbereit und höflich sein.“ Unpolitisch waren die Sprüche demnach nicht. Allerdings gab es auch Maßregeln zu beachten, die fehlende innere Wärrne ersetzen sollten: „Mach Dich beliebt im Trambahnwagen, schließ' selbst die Tür an kalten Tagen!“