Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt
Das Industriestammgleis „G“
Geschichte und Spurensuche zwischen der Zeppelinhalle und der Löcherwiese, Teil 1
1872 und 1893/94 wurden die beiden ersten Industriestammgleise zum Darmstädter Fabrikviertel eingerichtet. Dieses Fabrikviertel bildete sich mit der Westexpansion der Stadt Darmstadt Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts heraus. Von den Mitte der 50er Jahre rund dreißig, Anschlußgleisen sind nur noch wenige übrig geblieben.
Zum Zwecke der Darstellung habe ich den Gleisen fiktive Buchstaben von A bis H zugewiesen, die somit zu keiner Zeit Bestandteil irgendwelcher Planungen, Pläne oder Dokumente gewesen sind. Als Industriestammgleis „G“ bezeichne ich die Verlängerung des Gleises „C“ in der Landwehrstraße. Es führt östlich vorbei an Schenck, kreuzt die Pallaswiesenstraße, tangiert den westlichen Rand des Ausbesserungswerks auf der „Knell“ und hat nördlich der Schenckallee seit etwa 1970 mehrere weitere Betriebe angebunden. Das Stammgleis selbst mündet an der ehemaligen Blockstelle Löcherwiese in das nördliche Gleisvorfeld des Darmstädter Hauptbahnhofs. Am Bahnübergang Pallaswiesenstraße gab es einen Übergang zum Gleis „H“.
Die Darstellung orientiert sich an erhaltenen Gleisplänen aus den 1950er und 1960er Jahren. Selbstredend hat es hier in mehr als einhundert Jahren so manche Änderung gegeben, deren Erforschung noch nicht abgeschlossen ist.
Auf einem Lageplan von 1906 läßt sich dieses Stammgleis von [⇒ L10] über [⇒ J1] und [⇒ J3] nach [⇒ E10] verfolgen. Auf der Übersichtskarte zum Fabrikviertel ist es mit dem Buchstaben „G“ bezeichnet.
Das Industriestammgleis „G“ auf OpenStreetMap.
Überschneidungen zur Darstellung Vom Ludwigsbahnhof zum Riedbahnabzweig sind unvermeidlich, da das hier dargestellte Industriestammgleis bis 1912 Teil einer zweigleisigen Hauptstrecke von Darmstadt nach Mainz bzw. Worms gewesen ist.
Den Fotografen Harald Schönfeld, Jörn Schramm und Peter Wöllert, sowie W. Bauer, Rainer Grobe und dem Denkmalarchiv Darmstadt sei für die Überlassung der hier gezeigten Aufnahmen an dieser Stelle gedankt.
Von Dampfkesseln und Bahnbedarf
Wir verließen das Industriestammgleis „C“ an der Stelle, wo es mittels einer sogenannten „Deutschlandkurve“ scharf nach Nordwesten abknickte. Auf der Südseite sowohl der Kurve wie der Landwehrstraße befanden sich seit etwa 1923 zwei Industriehallen, deren Träger aus einer vormaligen Luftschiffhalle im nunmehr wieder polnischen Ostpreußen stammten. Erbaut wurde sie von der Bahnbedarf A.-G. bzw. den Bauarbeitern, die dafür, zumal in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, gewiß nicht üppig entlohnt wurden. Die eine dieser Hallen wurde nach einem schweren Brandschaden im Oktober 1977 kurz darauf abgerissen; die andere dient seit der Jahrtausendwende als Parkhaus.
»» Zum Industriestammgleis „C“ in der Landwehrstraße und der „Deutschlandkurve“. Diese Kurve ist nicht national gesinnt, sondern wurde von einem Unternehmen dieses Namens hergestellt.
»» Weitere Informationen zu den beiden sogenannten Zeppelinhallen südlich der Landwehrstraße.
Abbildung 1: Anschlußplan des Anschlusses Bahnbedarf-Rodberg, aufgestellt am 20. Mai 1960 von der Bahnmeisterei Darmstadt-Nord.
Schauen wir zunächst noch einmal auf den nicht genordeten Anschlußplan; Norden ist am linken Bildrand. Demnach besaß das Gelände südlich der Landwehrstraße zwei Zufahrten, links und rechts der vorderen sogenannten Zeppelinhalle. Intern gab es Zufahrts- und Abholgleise, sowie Abstellgleise, die mittels einer Schiebebühne miteinander verbunden waren.
Die „Dienstanweisung für die Bedienung des Privatanschlußgleises der Firma Bahnbedarf-Rodberg GmbH Darmstadt, Werk II“, gültig vom 1. Februar 1961, beschreibt die Gleisanlagen und die notwendigen Vorkehrungen zu deren Befahrung. Demnach ist der Anschluß über die Weiche 520 durch ein 337 Meter langes Verbindungsgleis mit den Rangieranlagen des „Alten Bahnhofs“ verbunden gwesen. Zwar lagen die alten Bahnhöfe nicht hier, sondern am heutigen Steubenplatz, doch handelt es sich bei dieser zum Ausbesserungswerk Darmstadt gehörenden Rangieranlage um den Bereich des ehemaligen nordöstlichen Gleisvorfeldes des Ludwigsbahnhofes.
Bild 2. Die mit Material aus Diwity erstellte nördliche Montagehalle. Aufnahme von vermutlich 1923. Quelle: Denkmalarchiv Darmstadt.
Streng genommen werden sowohl Bahnbedarf-Rodberg als auch die Deutschlandkurve somit über das von mir als „H“ beschriebene Industriestammgleis entlang der Kasinostraße angebunden. Zur besseren Darstellung wird das Unternehmen dennoch hier aufgeführt und der Gleisanschluß näher beschrieben. Das Unternehmen Bahnbedarf-Rodberg, das Mitte der 30er Jahre im Zuge einer „Arisierung“ als Aktiengesellschaft aus einer Dampfkesselschmiede und einem Unternehmen für Bahnbedarf hervorgegangen ist, besaß von Ende der 1930er bis in die 1960er Jahre drei Werke. Werk I befand sich auf dem Gelände der früheren Maschinenfabrik und Eisengießerei an der Blumenthalstraße 24, der heutigen Kasinostraße. Werk II war das Gelände südlich der Landwehrstraße rund um die beiden etwa 1923 errichteten Hallen, deren Tragkonstruktion einer von Zeppelinen bevölkerten Luftschiffhalle entstammte, die in den Nähe des ostpreußischen Olsztyn, damals Allenstein, genauer bei Dywity gestanden hatte. Das Gelände für Werk II konnte die Bahnbedarf A.-G. nach der Auflassung der ehemaligen Hauptbahnhöfe, bestehend aus dem Main-Neckar-Bahnhof und dem Ludwigsbahnhof, 1922 erwerben. Werk III schließlich bezeichnete das ursprüngliche Fabrikgelände der Dampfkesselfabrik vorm. Arthur Rodberg A.-G. an der Landwehrstraße 61.
Bilder 3 und 4: Baustelle für die aus Ostpreußen geholte Tragkonstruktion der beiden Werkshallen der Bahnbedarf A.-G. Das linke Bild wurde vermutlich von der Landwehrstraße aus aufgenommen und blickt nach Süden. Der Standort des Fotografen für das rechte Bild dürfte sich zwischen beiden zu errichtenden Hallen befunden haben, der Blick geht gen Norden. Wenn die Interpretation zutrifft, sehen wir auf dem rechten Bild linkerhand eine Maschinenfabrik an der Pallaswiesenstraße, während rechterhand die ehemalige Maschinenfabrik und Eisengießerei hervorragt. Quelle: Denkmalarchiv Darmstadt.
Auszug aus der Dienstanweisung von 1961
„Der Anschluß besteht aus den Verbindungsgleis und den Gleisen 1 bis 6. Außerdem liegen in den Werksanlagen noch 22 Arbeitsgleise mit einer nutzbaren Gesamtlänge von 1,505 km, die in den westlich und östlich der Übergabestelle gelegenen Hallen beginnen und enden. Die Arbeitsgleise können nur durch eine Schiebebühne von 18,0 m Breite bedient werden.
Der Privatgleisanschluß dient zum Zustellen und Abholen der für den Anschließer ein- und ausgehenden Wagen.
Die Werksanlagen südlich und nördlich der Landwehrstraße sind besonders eingezäunt. Die über die Landwehrstraße von Norden nach Süden führenden drei Werksgleise sind durch Gleistore (nördlich 6,40 m und südlich 9,00 m und 5,00 m breit) gesichert.
Die Übergänge werden von Osten und Westen her durch Warnkreuze (liegend), rechts der Straße aufgestellt, in Abstand von 6 m, von der ersten Schiene angezeigt.
Weitere Ankündigungen der Bahnübergänge sind nicht vorhanden.
Das Verbindungsgleis des Anschließers zweigt an der Weiche 520 von den Rangieranlagen des „Alten Bahnhofs“ ab, führt in südlicher Richtung nach 70 m hinter der Weiche 515 durch ein 4,8 m breites Gittertor (Beginn des eigentlichen Anschlusses) und verläuft nach weiteren 182 m hinter der Weiche 511 durch ein weiteres Gittertor nit 5,7 m Breite. Alsdann führt es in einen leichten Linksbogen in südöstlicher Richtung über die befestigte Betonfahrbahn für Kranmobile der Firma Schenck AG und endet nach weiteren 85 m an der Weiche 509 nördlich der Landwehrstraße. […] Es hat zwischen der Weiche 515 und 511 eine nutzbare Länge von 165 m und zwischen den Weichen 511 und 509 eine solche von 63 m.
Gleis 1 ist Abholgleis. Es zweigt an der Weiche 509 in südlicher Richtung ab, führt durch zwei Gleistore über die Landwehrstraße in den Werkshof und teilt sich im südlichen Teil an der Weiche 507 in zwei Stunpfgleise, die beide nach einer nutzbaren Länge von 41 m an Prellböcken enden. Am südlichen Stunpfgleis ist eine Wagenhebe angebracht. Zwischen den Weichen 506 und 507 befindet sich eine Gleiswaage mit einer Brückenlänge von 6,5 m und 30 to Tragkraft. […] Die nutzbare Länge zwischen Weiche 508 und 506 beträgt 74 m. An der Weiche 506 zweigt das Gleis 50 in nordwestlicher Richtung ab, das durch die Weiche 505 die Verbindung mit dem ersten östlichen Arbeitsgleis herstellt und die Fahrbahn der Schiebebühne durchschneidet.
Bild 5: Weiche 508 östlich der direkt an der Landwehrstraße gelegenen Zeppelinhalle, Hersteller: Bahnbedarf-Rodberg. Aufnahme vom September 2010.
Gleis 2 ist Zustellgleis, Es zweigt an der Weiche 508 innerhalb des Werkhofes aus Gleis 1 ab, führt in südlicher Richtung und endet an einem Prellbock. Es liegt auf seiner ganzen Länge horizontal (1:∞) und hat eine nutzbare Länge von 164 m.
Gleis 3 ist Verschiebegleis. Es zweigt an der Weiche 509 aus dem Verbindungsgleis ab, führt in südöstlicher Richtung durch zwei Gleistore über die Landwehrstraße und endet im südlichen Teil des Werkgeländes mit einem Gleisabschluß. Es liegt horizontal (1:∞) und hat eine nutzbare Länge von 106 + 68 = 174 m. Durch die Weichen 601 und 602 ist es mit dem östlich liegenden Arbeitsgleis 4 verbunden.
Gleis 4 ist Arbeitsgleis. Es erstreckt sich östlich parallel zum Gleis 3 verlaufend nach Süden und endet im Süden durch einen Gleisabschluß, während der nördliche Teil des Gleises durch ein Tor in die Spritzhalle führt und ohne besonderen Gleisabschluß endet. Es liegt auf seiner ganzen Länge horizontal und hat eine nutzbare Länge von 117 + 38 = 159 m. [sic!]
Gleis 5 ist Arbeitsgleis und verläuft östlich des Gleises 4, Durch die Weichen 603 und 604 sind beide Gleise miteinander verbunden. Gleis 5 beginnt im Norden der Sandstrahlhalle und verläuft durch ein Gleistor nach Süden, wo es mit einem Prellbock abschließt. Es liegt auf seiner ganzen Länge horizontal und hat eine nutzbare Länge von 90 + 61 = 151 m. Östlich des Gleises 5 befinden sich noch die beiden Arbeitsgleise 5a nördlich und 5b südlich, Sie können nur durch die Schiebebühne bedient werden. Beide Gleise liegen horizontal und haben (5a) eine nutzbare Länge von 72 m, während Gleis 5b eine solche von 98 m hat. Sie beginnen und enden ohne besonderen Gleisabschluß.
Gleis 6 zweigt an der Weiche 511 aus dem Verbindungsgleis ab, führt durch ein 4,5 m breites Gittertor nach Südwesten über die Weiche 510, kreuzt die Betonfahrbahn für Kranmobile, führt anschließend über die Landwehrstraße durch ein 5 m breites Gleistor und endet chne Prellbock. Das Gleis darf von Bundesbahnlok nicht befahren werden und dient nur dem inneren Werkverkehr. […] Seine nutzbare Länge innerhalb des Werkhofes beträgt 287 m. Aus dem Gleis 6 zweigt an der Weiche 510 das Verbindungsgleis zu dem Industriestammgleis in der Landwehrstraße ab. Es liegt horizontal und darf wegen seines kleinen Krümmungshalbmessers nur von Triebfahrzeugen der Anschließerin zwischen Werk II und III befahren werden. In der Zeit von 7.00 bis 9.00 Uhr und 16.00 bis 18.00 Uhr dürfen wegen des Bedienens der Privatgleisanschlüsse durch die Rangierabteilung des Bahnhofs Darmstadt Hbf Fahrten zwischen Werk II und III mit eigenen Triebfahrzeugen nicht stattfinden.
Als Übergabe- und Übernahmestelle durch die Bundesbahn dienen die Werksgleise 1 und 2. Sie dürfen von Bundesbahnlck nur bis zu dem im Werkshof angebrachten Schild ‚Halt für Bundesbahn-Lokomotiven‘ befahren werden. Das weitere Bewegen von Fahrzeugen innerhalb des Werkhofes auf den Verschiene- und Arbeitsgleisen ist durch Triebfahrzeuge und Schiebebühne des Anschließers durchzuführen. Hierbei ist die besondere Betriebsdienstanweisung zu beachten. Die in den Anschlußanlagen befindlichen Weichen sind handbedient und während der Dunkelheit nicht besonders beleuchtet. Das südlich der Landwehrstraße gelegene Gleistor ist wegen seines geringen Abstandes vom Gleis (216 m [sic!]) mit besonderem Gefahrenanstrich – Ne 8 – beiderseits der Torpfosten gekennzeichnet. Beim Bewegen von Fahrzeugen ist besondere Vorsicht geboten.“
Bei Weiche 515 (auf dem Plan in Abbildung 1 links) war bei der Anlieferung von Güterwagen das Tor aufzuschließen. Der Schlüssel wurde vom Posten 45 an der Pallaswiesenstraße verwaltet. Bei den anderen Werkstoren oblag es Bahnbedarf-Rodberg, nach telefonischer Ankündigung der Zulieferung, diese zu öffnen. Die Überfahrt über die Landwehrstraße war in Zusammenarbeit eines Rangierers mit dem Pförtner der Fabrik abzusichern. Für die Pflege der Gleisanlagen, also der Schnitt wuchernder Pflanzenund das Beseitigen von Eis und Schnee, war die Anschließerin verantwortlich.
Bild 6: Zweiachsiger Kesselwaggon für Säuren und Laugen 556 416 der Farbwerke Hoechst auf der Schiebebühne zwischen den beiden Hallen. Quelle: Sammlung W. Bauer.
»» Zur Dampfkesselfabrik vormals Arthur Rodberg A.-G. siehe mein ausführlicheres, aber dennoch „Fragment“ zu deren Geschichte.
Abbildung 7: Werbeannonce der Bahnbedarf-Rodberg GmbH 1965. Quelle: Jahrbuch des Eisenbahnwesens 1965.
Die 1935 aus der Dampfkesselfabrik Rodberg und der Bahnbedarf hervorgegangene Bahnbedarf-Rodberg GmbH schloß Ende März 1969 ihre Tore. Das Gelände wurde anschließend von einer Rodberg'schen Immobiliengesellschaft verwaltet und teilweise an Schenck und andere Interessenten abgegeben. Eine der beiden Zeppelinhallen brannte am 29. Oktober 1977 ab, an deren Stelle traten neue Gebäude. Die andere, vordere Halle beherbergte Mitte der 80er bis Mitte der 90er Jahre das Logistikunternehmen Rhenus, ehe sie zu einem mehrstöckigen Parkhaus umgewidmet wurde. Von zwei Übergaben an Rhenus 1990 gibt es Bilder.
Von der alten Gleisanlage künden einige bewußt liegen gelassene Gleisreste. Die beiden nachfolgenden Bilder zeigen den einstigen Bahnübergang. Das linke Bild zeigt linkerhand das Gleis 3 und in der Mitte die Weiche 508, mit den nachfolgenden Gleisen 2 und 1. Auf dem rechten Bild sehen wir das fabrikinterne Gleis 6, das dem Verkehr zwischen den Werken II und III gedient hat.
Im November 2023 ließ die Stadt Darmstadt die Fahrbahn der Landwehrstraße zwischen der Kasinostraße und der Rößlerstraße erneuern. Hierbei wurden die die Straße querenden Schienen und damit auch ein (nicht wirklich wichtiges) Stück Industriegeschichte beseitigt.
Bilder 8 und 9: Gleisreste des Anschlusses der sogenannten Zeppelinhallen von Bahnbedarf-Rodberg.
Wiegen und Wägen mit Schenck
Vor dem Umbau der Bahnanlagen im Westen Darmstadts wurde die elektromechanische Firma von Carl Schenck seit 1893/94 über das Industriegleis [das Stammgleis „C“] an die Main-Neckar-Bahn angebunden. Nach 1912 expandierte Schenck auf das nun frei gewordene Areal östlich des vorhandenen Fabrikgeländes und verlegte [wann ??] dorthin auch seinen Gleisanschluß. Diese Anbindung dürfte spätestens im letzten Jahrzehnt des vergangenem Jahrtausends aufgegeben worden sein.
Abbildung 10: Annonce der Carl Schenck, Eisengießerei und Maschinenfabrik, Darmstadt, G.m.b.H. im Organ für die Fortschritte des Eisenbahnwesens in technischer Beziehung [1894, online ulb darmstadt].
Eine Kurzfassung der Unternehmensgeschichte von Carl Schenck ist in der Wikipedia nachzulesen. Die offiziöse und noch mehr geraffte Fassung dieser Geschichte ist auf der Website des nun zum Dürr-Konzern gehördenden Schenck-Nachfolgers zu finden. Nett finde ich die dort verklausulierte Beschreibung dessen, weshalb Schenck seine Eigenständigkeit verloren hat:
„Neue wirtschaftliche Entwicklungen stellen die Carl Schenck AG vor große Herausforderungen. Umstrukturierungen und Neugliederungen sind die Folge.“
Man oder frau könnte auch sagen, die Firma hat in den 1980er und 1990er Jahren den Zug verpaßt, sich vielleicht auch einfach nur verhoben; jedenfalls fehlte es wohl am nötigen Kleingeld, um unabhängig weiter wirtschaften zu können. Sie landete zunächst beim Mischkonzern VIAG und anschließend 2000 auf dem Wege des Aktienkaufs bei Dürr.
2005 wurde ein Teil von Schenck im Zuge eines management buy-outs ausgegliedert und wirkt als Schenck Process im Bereich Meß und Verfahrenstechnik. Seit 2017 gehört das Unternehmen der Heuschrecke Blackstone.
Abbildung 11: Werbeanzeige der Carl Schenck Maschinenfabrik GmbH 1965. Quelle: Jahrbuch des Eisenbahnwesens 1965.
Wann und weshalb der Gleisanschluß von der Landwehrstraße zur Pallaswiesenstraße hin verlegt worden ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Die zum nachfolgenden Plan gehörige Dienstanweisung vom 10. Juni 1955 (gültig ab 1. Februar 1956) spricht jedoch explizit von einem „neue[n] Privatgleisanschluß“. Zudem wird der Anschluß über eine Weiche 4a geleitet, die zwischen den Weichen 4 und 5 der wohl ursprünglichen Weichenfolge eingefügt wurde. Es liegt somit nahe, daß nach dem Zweiten Weltkrieg der Gleisanschluß von der Südseite des Schenck-Geländes auf die Ostseite verlegt worden ist.
Wenn wir die auf dieser Seite gezeigten Gleisanschlußpläne gedanklich zusammentragen, dann wird deutlich, daß der im Eisenbahner-Volksmund oft zitierte Rundkurs von den Gleisanlagen der Bundesbahn über die Mainzer Straße, die Landwehrstraße, die Deutschlandkurve, über die Pallaswiesenstraße und dann am Ausbesserungswerk vorbei wieder zurück auf die Gleisanlagen der Bundesbahn ohne Sägefahrt auf der Rangieranlage „Alter Bahnhof“ nicht möglich war. Abgesehen davon war die Deutschlandkurve ausdrücklich nur einem Rangiergerät, eventuell einer Lokomotive von Bahnbedarf-Rodberg vorbehalten.
Abbildung 12: Auszug aus dem Anschlußplan der Firma Carl Schenck, aufgestellt am 16. Februar 1954 von der Bahnmeisterei Darmstadt-Nord.
Die dickeren Linien des obigen Gleisanschlußplans bezeichnen die zum Gleisanschluß Schenck gehörenden Gleise und Weichen. Ganz links handelt es sich um die Weiche 4a in der Verlängerung des vom Güterbahnhof Darmstadt über die Schenckallee herkommenden Gütergleises auf der Trasse der einstens nach Mainz und Worms führenden Strecken der Hessischen Ludwigsbahn. Das Gleis reicht über den rechten Bildrand hinaus und endet an einem Prellbock noch vor der Landwehrstraße. Das zweite Gleis führt bis vor die Werkhalle. Die Weiche 4a mußte für eine Anlieferung aufgeschlossen werden, den Schlüssel verwaltete der Schrankenposten 45 an der Pallaswiesenstraße.
Bild 13: Mittagspause bei Schenck. Bildautor: Peter Wöllert, 1989.
Auf dieser Aufnahme verläuft rechts das Zufahrtsgleis zu Schenck von der Knell, links befinden sich die zwei im nachfolgenden Planausschnitt verzeichneten Ladegleise an der Versandhalle. Die Güterwagen, meist waren es Rungenwagen, wurden zunächst durch Gabelstapler, später auch durch einen Unimog verschoben.
Abbildung 14a/b: Auszug aus dem Anschlußplan der Firma Carl Schenck, aufgestellt am 22. Dezember 1961 von der Bahnmeisterei Darmstadt.
Auffällig ist auf diesen beiden Planausschnitten das durch eine Doppelkreuzungsweiche angebundene zweite Werksgleis, die Verlängerung des ersten, sowie eine Verbindung zwischen beiden durch die Weichen 553 und 554. Der Umbau dürfte 1961 stattgefunden haben, denn ein Berichtigungsblatt des Betriebsamts Darmstadt vom 16. Januar 1962 fordert dazu auf, die Lagepläne „bis zur Neuaufstellung der Dienstanweisung“ auszutauschen. In den mir vorliegen und vermutlich vollständigen Unterlagen ist selbige noch zu erstellende Dienstanweisung nicht vorhanden. Nach einem weiteren, recht schematischen Lageplan vom 14. November 1988 scheint sich dieser Gleiszustand bis zum Ende der 1980er Jahre nicht verändert zu haben.
Bilder 15 und 16: Zwei Rangierfahrten auf dem Ausziehgleis des Ausbesserungswerks, aufgenommen 1984 von Peter Wöllert
Auf dem linken Bild erkennen wir im Hintergrund die Einfädelung des Schenck-Anschlusses. Hier ist die Köf 323 746-8 am Werk. Auf dem rechten Bild ist in ähnlicher Rangierposition ist 260 773-7 unterwegs.
Intermezzo mit Dampf
Bild 17: Am 5. Juli 1968 lichtete Harald Schönfeld die Darmstädter Rangierlokomotive 65 005 auf dem Bahnübergang 45 Pallaswiesenstraße ab. Am rechten Bildrand lugt noch der Gasometer der Südhessischen ins Bild, der seither einem Müllheizkraftwerk gewichen ist. Ob hierbei Schadwagen dem Wagenausbesserungswerk zugestellt werden sollten oder Güterwagen für die Firmen Bahnbedarf-Rodberg oder Schenck zuzustellen waren, läßt sich fast ein halbes Jahrhundert später nicht mehr aufklären.
Das Ausbesserungswerk
Als im Herbst 2008 das folgende Bild entstand, war der Bahnübergang längst Geschichte. Ob die Schienen komplett entfernt oder nur mit einer Deckschicht aus Asphalt überzogen wurden, ist (aus der Erinnerung) nicht mehr zu sagen. Als der Bahnübergang abgebaut wurde, hatte mich das noch nicht interessiert. Ein Relikt dieses Bahnübergangs ist jedoch erhalten geblieben. Dort, wo heute blauweiße Verkehrszeichen aufgehängt sind, befanden sich einst Ampeln, die bei einer Überquerung des Bahnübergangs durch eine Rangiereinheit den Straßenverkehr daran hindern sollten, bis zur Kreuzung vorzupreschen.
Bild 18: Ehemaliger Bahnübergang Pallaswiesenstraße [⇒ J1]. Aufnahme vom September 2008.
In den 1870er Jahren legte die Hessische Ludwigsbahn auf der Fläche zwischen ihren damaligen Strecken nach Mainz bzw. Worms auf der einen und nach Aschaffenburg auf der anderen Seite ihre Wagenreparaturwerkstätte an. Diese wurde von der Reichsbahn und Bundesbahn fortgeführt, bis der neoliberalen BWL-Prinzipien gehorchende Konzern, der zur Versilberung an die Börse gebracht werden sollte, um die Jahrtausendwende diese Abteilung schloß. Die Werkstätte war durch mehrere Gleisanschlüsse mit dem Industriegleis verbunden.
Der Bahnübergang trug die Nummer 45.
»» Einen Gleisplan der Wagenreparaturwerkstätte der Hessischen Ludwigsbahn aus den 1870er Jahren gibt es auf der Spurensuch-Unterseite Vom Ludwigsbahnhof zum Riedbahnabzweig.
Abbildung 19: Plan des Bundesbahn-Ausbesserungswerks 1960, linker Teil.
Zur Lage des Gleisanschlusses macht die „Dienstanweisung für die Bedienung des Gleisanschlusses Bundesbahnausbesserungswerk Darmstadt“ [⇒ J2] vom 13. Februar 1961 folgende Aussagen:
„Das Ausbesserungswerk Darmstadt liegt östlich des Bahnhofs Darmstadt Hbf und wird begrenzt im Osten durch das Gelände des Städtischen Gaswerks, im Süden durch die Pallaswiesenstraße, im Westen durch den Sensfelderweg und im Norden durch den Karl-Schenck-Weg. Die Gleisanlagen sind vollständig eingezäunt und nur durch besondere Gleistore vom Süden und Westen her bedienbar. Im Süden ragen über die Pallaswiesenstraße 3 Werksgleise in die Rangieranlagen des sogenannten ‚Alten Bahnhofs‘ hinein. Durch die Weiche 3 ist das Gleis 1, durch die Weiche 4 das Gleis 2 und durch die Weiche 5 das südliche Gleis 7 mit den Anlagen des Alten Bahnhofs verbunden. Auf der Westseite sind das nördliche Gleis 7 und das Zustellgleis 42 durch die Weichen 9 und 21 an das Verbindungsgleis Darmstadt Hbf – Alter Bahnhof angeschlossen.“
Mittels Weiche 6 wurde das Industriestammgleis auf der Kasinostraße angebunden. Das vom Hauptbahnhof herführende Verbindungsgleis führte zum Zeitpunkt dieser Beschreibung noch als Ausziehgleis bis zur Landwehrstraße; über die Weiche 4a führte der Gleisanschluß der Firma Carl Schenck.
Abbildung 20: Plan des Bundesbahn-Ausbesserungswerks 1960, mittlerer Teil.
Die Dienstanweisung fährt mit der Beschreibung der Anlage fort:
„Der Gleisanschluß dient den Belangen der Deutschen Bundesbahn. Als Zustellgleis dienen die beiden Gleise 41 und 42 innerhalb der Werksanlagen, unmittelbar an der Westumzäunung. Sie sind über die Weiche 21 und 29 durch das Gleistor 6 (lichte Weite 4,8 m) [im Plan unterhalb des Schriftzugs ‚Sensfelderweg‘, WK] von dem Verbindungsgleis Damstadt Hbf – Alter Bahnhof aus bedienbar
Das Zustellgleis 41 zweigt an der Weiche 29 aus dem Gleis 42 ab, verläuft in einem schwachen S-Bogen über die Weichen 32, 33, 36, 37, 39 und 43 in nördlicher Richtung und endet nach Überqueren von 2 Schiebebühnen an einen Prellbock. Es liegt ab Weiche 29 (Gleistor 6) auf eine Länge von 50 m in einem Gefälle von 1:505 und anschließend auf 560 m horizontal (1:∞). Die nutzbare Länge bis zur Schiebebühne 1 beträgt 151 m. Das Bewegen von Fahrzeugen über die Schiebebühne 1 hinaus ist dem Rangierpersonal des Bahnhofs Darmstadt Hbf nicht gestattet.
Das Zustellgleis 42 zweigt an der Weiche 21 aus dem Verbindungsgleis Darmstadt Hbf – Alter Bahnhof ab, verläuft in einem schwachen S-Bogen in nördlicher Richtung und endet nach Kreuzung der beiden Schiebebühnen 1 und 2 an einem Prellbock. Es liegt ab Weiche 21 auf eine Länge von 101 m in einem Gefälle von 1:505 und weiter auf 560 [m] bis zu seinem Abschluß horizontal. Gleis 42 hat bis zu Schiebebühne 1 eine nutzbare Länge von 363 m. Zur Zustellung von Wagen für das Ausbesserungswerk dürfen durch das Rangierpersonal des Bahnhofs Darmstadt Hbf alle Gleise in Verbindung mit dem Rangierleiter des AW Darmstadt benutzt werden. Ein Befahren der Schiebebühnen ist nicht gestattet.“
Abbildung 21: Plan des Bundesbahn-Ausbesserungswerks 1960, rechter Teil.
Vor Abfahrt der Rangierabteilung vom Darmstädter Güterbahnhof hatte der Aufsichtsbeamte des Güterbahnhofs telefonisch Kontakt mit dem Wärter des Schrankenpostens 45 aufzunehmen. Die für das Ausbesserungswerk bestimmten Schad- und Güterwagen liefen am Schluß des Zuges mit. Nach dem telefonischen Kontakt öffnete der Wärter das Gleistor 6 und schloß die Schranken des Bahnübergangs Pallaswiesenstraße. An der Toreinfahrt zum Ausbesserungswerk betrug die Höchstgeschwindigkeit aufgrund der unübersichtlichen Verhältnisse 5 km/h. Nach Zuführung der Wagen für das Ausbesserungswerk bediente die Rangierabteilung die anderen Anschlüsse auf dem Gelände des Alten Bahnhofs. Wobei hier anzumerken ist, daß es sich nicht im eigentlichen Sinne um das Gelände der alten Bahnhöfe gehandelt hat, sondern um deren nordöstliches Gleisvorfeld.
Bild 22: Die Reste von Tor 6, 2009. Vergleiche Bild 24.
Die Dienstanweisung regelte selbstredend auch die Rückführung von Wagen zum Güterbahnhof Darmstadt:
„Nach Ankunft an der Übergabesteile sind die angebrachten Wagen grenzzeichenfrei abzustellen und durch Radvorloger und Anziehen der vorhandenen Handbremsen zu sichern. Sofern sich unter den zugestellten Schadwagen Wagen mit Ladungen befinden, die für das AW bestimmt sind, hat der Rangierleiter unter Hinzuziehung des Umtriebmeisters des AW diese besonders zu übergeben. Festgestellte Mängel sind der Güterabfertigung und dem Bahnhof Darmstadt Hbf zu melden. Soweit Schäden nicht gemeldet werden, gelten die Wagen vom AW als unbeschädigt übernommen. Nach der Zustellung der Wagen in Anschluß haben weitere Rangierbewegungen durch Lok- und Rangierpersonal des Bf Darmstadt Hbf zu unterbleiben. Die weitere Behandlung der zugestellten Wagen erfolgt durch Betriebsmittel und Personal des Ausbesserungswerkes.
Nachdem die angebrachten Wagen ordnungsmäßig gesichert sind, ist die Lok abzukuppeln. Sie verläßt anschließend die Übergabeanlagen und fährt bis zum Pallaswiesenübergang vor und hält bis die Schranken geschlossen sind. Zuvor ist die Weiche 21 wieder in die Grundstellung zu legen und zu verschließen. Den Schlüssel hat der Rangierleiter an den Wärter des Schrankenpostens 45 zurückzugeben, der ihn am Schlüsselbrett aufbewahrt. Sind alle Voraussetzungen erfüllt, setzt die Lok ihre Fahrt über den Pallaswiesenübergang nach den Anlagen des Alten Bahnhofs fort.
Die für den Abgang bestimmten Wagen werden von dem AW mit eigenen Triebfahrzeugen und Rangierpersonal zusammengestellt und nach den Rangieranlagen des Alten Bahnhofs überführt. Nachdem die Rangierabteilung des Bahnhofs Darmstadt Hbf die abgehenden Wagen der übrigen Anschlußinhaber zusammengestellt hat, werden die Wagen vom AW der vorgezogenen Abteilung im Verbindungsgleis durch Betriebsmittel und Personal des AW am Schluß beigestellt. Hierbei ist besonders darauf zu achten, daß die Abteilung des Bahnhofs im Verbindungsgleis soweit vorzieht, damit während der Beistellung der Wagen durch die Abteilung des AW der Bahnübergang Pallaswiesenstraße nicht unnötig für den Straßenverkehr gesperrt wird. Nach ordnungsmäßiger Kupplung und Bremsprobe kann die Rückfahrt der wieder zu ziehenden Abteilung nach dem Bahnhof Darmstadt Hbf durchgeführt werden.“
Abbildung 23: Bahnübergang Pallaswiesenstraße, Skitte vermutlich aus den 1980er Jahren.
Diese vermutlich aus den 1980er Jahren stammende „Skizze zum Bahnübergang Nr. 45 in km 4,284 der Strecke Darmstadt Hbf – AW Darmstadt“ zeigt eine Konstellation, die ein wenig Fingerspitzengefühl verlangte. Als der Bahnübergang mit dem Bau der Bahnstrecken von Mainz bzw. Aschaffenburg nach Darmstadt angelegt wurde, ahnte noch keine und niemand, daß sich an der (damals noch gar nicht vorhandenen) nebstgelegenen Kreuzung ein Verkehrsschwerpunkt entwickeln würde. Nachdem mehr als ein Jahrhundert lang ein Schrankenwärter hier seinen Dienst verrichtete, wurde (wann ?) der Schrankenposten durch Lichtzeichen ersetzt. Hier war dafür zu sorgen, daß von der Kasinostraße her der in die Pallaswiesenstraße einströmende Verkehr aufgehalten werden konnte, während in der Gegenrichtung kein Stau vor der beampelten Kreuzung entstehen sollte. Möglicherweise gehört diese Skizze als Anlage zur nachfolgenden Beschreibung; dies ist den von mir verwendeten Unterlagen nicht zu entnehmen.
In einer weiteren Dienstanweisung nämlich wird die Nutzung der Gleisanlagen (und des Bahnübergangs) nochmals detailliert dargelegt. Hieraus ergeben sich zudem Hinweise, welche Teile der Gleisanlagen Ende der 1970er Jahre zu welchem Zweck noch genutzt wurden.
Bild 24: 236 408–1 [lebenslauf mit bild] schiebt einige Güterwagen durch Tor 6. Sammlung Rainer Grobe, 1974 oder früher.
Zu den vielen Geschichten, die über das und rund um das Ausbesserungswerk auf der Knell zu erzählen wären, gehört, daß die außerhalb Darmstadts wohnenden Arbeiter des Werkes zeitweise direkt per Bahn vor Ort gebracht wurden. So ist in der „Hessischen Landes-Zeitung“ am 21. Januar 1936 zu lesen:
„Eine besondere Zugverbindung besteht auch für die Arbeiterschaft der Eisenbahnwerkstätten. Für sie kommt ein Zug von Pfungstadt aus (Pfungstadt ab 6.19 Uhr) und geht, ohne daß in Eberstadt umgestiegen werden muß, über den Hauptbahnhof Darmstadt, wo er weitere Arbeiter aus anderen Orten aufnimmt, unmittelbar bis zum Wagenausbesserungswerk in der Frankfurter Straße.“
Über eine eventuelle Rückleistung schweigt sich der Zeitungsbericht aus.
Bundesbahn-Ausbesserungswerk
Darmstadt
T 3 / U 1
Darmstadt, 04.12.79
351
Anweisung für die Ausführung von Rangierarbeiten im AW Darmstadt
I. Allgemeines
1. Grundlagen für die vorliegende Anweisung sind die „Dienstanweisung für die Bedienung des Gleisanschlusses AW Darmstadt“ vom 13.02.1961 [auszugsweise weiter oben zitiert, WK], der jeweils gültige Bahnhofsbedienungsplan des Bf Darmstadt Hbf, die Fahrdienstvorschrift DS 408, das Signalbuch DS 301, Schutzregelheft 11 „Verhalten im Bereich der Gleisanlagen“ und Sohutzregelheft 13 „Verhalten im Rangier- und Zugbegleitdienst“.
2. Der Ranglerdienst ist der technischen Abteilung unterstellt. Die Leitung und Überwachung sind dem Förderingenieur und dem Fördermeister übertragen. Sie sind verantwortlich für die plan- und ordnungsgemäße Ausführung der Rangiergeschäfte in enger Zusammenarbeit mit dem Steuerungsmeister. Der Fördermeister regelt den Einsatz des ihm zugeteilten Personals und die sichere und zweckmäßige Durchführung des Rangiergeschäftes (s. FV § 78 (2)).
3. Die Rangieranweisung gilt im Werkgelände des AW Darmstadt (außer den Werkhallen) und auf den zu befahrenden Werk- und Uuml;bergabegleisen südlich des BÜ 45 einschließlich des Verbindungsgleises von und nach Dst Hbf.
4. Zur Umstellung von Wagen für das AW Darmstadt dürfen durch das Rangierpersonal des Bf Dst Hbf alle Gleise in Verbindung mit einem Rangierleiter des AW Darmstadt benutzt werden. Das Befahren der Schiebebühnen ist nicht gestattet.
II. Lage des Gleisanschlusses
1. Das AW Darmstadt liegt östlich des Bf Dst Hbf. Die Gleisanlagen sind vollständig eingezäunt und nur durch besondere Gleistore vom Süden und Westen her bedienbar.
Im Süden ragen über den BÜ 45 (Kasinostraße / Pallaswiesenstraße) hinaus 3 Werkgleise, die durch die Weichen 5, 4 und 3 mit dem Übergabegleis von und nach Dst Hbf verbunden sind.
Auf der Westseite sind die Gleise 7 (DK-Weiche 10) und 42 (Weiche 29) an das Übergabegleis angeschlossen (siehe Lageplan).
2. Die Ausgangsgleise 41 und 29 sind vor dem ersten Westausgang mit dem Zustellgleis 42 durch Weiche 29 verbunden. Die Gleise 33-40 sind ebenfalls Zustellgleise und zweigen von Gleis 42 ab.
3. Die Verbindung zum nordöstlichen Werkgelände (Schrottbansen, Radsatzhof) wird durch das den Schiebebühnenbereich kreuzende Gleis 6 hergestellte.
III. Rangierabteilungen
1. Das AW Darmstadt ist in zwei Gleisbereiche aufgeteilt, deren Gleisanschlüsse von zwei Rangierabteilungen je nach Zuständigkeit bedient werden.
Die Gleisbereiche überschneiden sich teilweise, d. h. das Gleis 7 wird von beiden Ranglerabteilungen befahren (siehe Lageplan).
2. Der Bereich der Rangierabteilung 1 (Lok 1) reicht vom Gleis 7 bis zum Gleis 43 und umfaßt u. a. den Sehadwagenzulauf (Gleise 33-40) und die Zustellung der Wagen für Kesselhaus, Stofflager, Eisenlager, Holzplatz über Gleis 42. Begrenzt wird der Bereich durch die Schiebebühnen A bzw. F.
Personell setzt sich die Rabt 1 aus einem Lokführer, der vom Bw Darmstadt zugeteilt ist, einem Rangierleiter und zwei Rangierern zusammen.
3. Für die Werkgleise 1 bis 7 ist die Rangierabteilung 2 (Lok 2) zuständig. Sie befährt außerdem den Gleisbereich südlich des BÜ 45 und bedient über Gleis 6 das Farbenlager, den Radsatzhof und den Schrottverladeplatz.
Die Rabt 2 setzt sich zusammen aus einem Kleinlokbediener, einem Rangierleiter und einem Rangierer.
4. Die Rangierleiter sind als Vorarbeiter der Rangierer für die Einhaltung und Beachtung der sicherheitstechnischen Vorschriften und Maßnahmen in ihrem Arbeitsbereich zuständig.
IV. Ablauf dar Rangierfahrten
1. Das AW Darmstadt wird nach dem jeweils gültigen Bedienungsplan des Bf Dst Hbf bedient, in dem täglich drei Bedienungs- und Abholungsfahrten (Übergabefahrten) vorgesehen sind.
2. Bei der ersten Übergabefahrt läßt die Bf-Lok die für das AW bestimmten Wagen auf dem Übergabegleis (Zubringer) stehen und bedient dann die übrigen Anschließer. Bis zur Rückkehr der Bf-Lok muß die Rabt 1 des AW Darmstadt den Zubringer räumen, wobei die einzelnen Wagen auf die entsprechenden Gleise verteilt werden.
Schadwagen in Gleise 33 - 40 [zweite Zahl ist schwer lesbar]
Kesselwagen in Gleise 8 - 10
Radsatzwagen in Gleis 7
sonstige Transportwagen in Gleise 7 und 43
Nach Rückkehr der Bf-Lok werden die Ausgangswagen (nur Leerwagen) durch die Rabt 2 über den Gleisanschluß südlieh des BÜ 45 zur Abholungsfahrt auf den Zubringer beigestellt. Die Rabt 1 bringt weitere Wagen von Gleis 29 und Achssenke.
3. Die zweite Übergabefahrt bringt nur Schadwagen, die wiederum von der Rabt 1 auf die entsprechenden Gleise verteilt werden (s. Pkt. 2).
Ist die Zubringerstrecke frei, stellt die Rabt 1 die Ausgangswagen (Leerwagen und Wagenladungen) aus Gleis 41, 29 und von der Achssenke auf die Bf-Lok. Anschließend werden von Rabt 2 nochmals Ausgangswagen über den Gleisanschluß südlich des BÜ 45 der Abholungsfahrt zugeführt.
4. Bei der dritten Übergabefahrt stellt die Bf-Lok die AW-Wagen vorerst in Gleis 41 ab und bedient dann die Privatanschlüsse. Für die anschließende Abholung beginnt jetzt die Rabt 2 mit der Zusammenstellung des Zuges, der durch Rangierabteilung 1. vervollständigt wird.
5. Zuständigkeiten
Die Steuerungsmeister des AW Darmstadt koordinieren den Zugang und Abgang der Schad- bzw. Fertigwagen.
Der Fördermeister m 3 ist für alle Wagenladungen (Schrottlager, Radsatzhof, Farbenlager, Stofflager, Eisenlager, Holzplatz) zuständig.
Alle Beteiligten stehen über Rangierfunk in ständiger Verbindung miteinander.
V. Betriebliche Anweisungen
[…]
4. Die zulässige Rangiergeschwindigkeit für Rangierbewegungen beträgt höchstens 25 km/h. Die Gleise 5 und 6 nördlich der Schiebebühne „F“ bis zum Schrottverladekran sind mit höchstens 10 km/h zu befahren. In den Übergabegleisen darf wegen der schlechten Übersicht durch die Tore und die dort befindlichen Gleiskrümmungen höchstens mit einer Geschwindigkeit von 5 km/h gefahren werden.
[…]
16. Zur Sicherung des BÜ 45 (Kasinostraße / Pallaswiesenstraße) sind die Hilfs-Einschalter und Ausschalttasten (HET/HAT) der Straßenverkehrssignalanlage am Übergang zu betätigen. Die Betätigung bewirkt eine Teilbeeinflussung der Straßensignale, d. h. alle in Richtung Bahnübergang weisenden Straßensignale werden unter Einhaltung der Mindest-Grün-Zeiten auf Rot geschaltet.
Schaltberechtigt sind die Rangierleiter oder die von ihnen beauftragten Rangierer. Die Bedienungsanweisung für den BÜ 45 und darüber hinausgehende weitere besondere Anweisungen sind zu beachten.
Es ist verboten, mit mehr als einer Rangierabteilung den Übergang gleichzeitig zu befahren. Der BÜ ist vorsichtig zu befahren.
Bei Störung der Signalanlage ist der BÜ durch 2 Posten des Rangierpersonals zu sichern. Der Rangierleiter verständigt in diesem Falle sofort fmdl. AA T 3 des AW (Ruf 351).
Die vom BA Darmstadt erstellte Anweisung für das Befahren des Bahnüberganges Kasino-/ Pallaswiesenstraße ist Anlage 1 dieser Anweisung.
[…]
VI. Unfallverhütungsmaßnahmen bei Rangierarbeiten
[…]
5. Besondere Vorsicht ist auch bei Rangierbewegungen in Gleisen geboten, in denen Wagen abgestellt sind und an denen Personen arbeiten.
Hierzu gehören:
Gleis 1, 2 und 3: Bema-Abnahmedienst,
die Gleise im Bereich der Kesselwagenreinigungsanlage,
Gleis 11 an der Achssenke,
Gleis 29 und 30 Richthalle und Stahlkiesstrahlanlage,
Gleise 33 bis 43 westlich der Richthalle,
die Gleisanlagen im Bereich des Radsatzhofes und des Schrottverladekranes.
[…]
8. Der Genuß von Alkohol vor und im Dienst ist verboten.
[gezeichnet/Unterschrift]
Manchmal geht das Rangieren dennoch übel aus. So schreibt der „Griesheimer Anzeiger“ am 2. August 1961, einem Eisenbahner sei am Bahnübergang in der Pallaswiesenstraße der Fuß abgefahren worden, weil er der Rangierlok zu nahe gekommen war.
Anmerkungen
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- Ob es eine solche werkseigene Lokomotive gegeben hat und, wenn ja, was für eine dies gewesen ist, ist vollkommen unklar. ⏎
- In den 1990er Jahren hätte ich vielleicht selbst solch eine Übergabe forografieren können, sofern ich a) davon gewußt und b) mich das damals interessiert hätte. Tat es aber nicht. ⏎
- Wissenschaftsstadt Darmstadt erneuert ab 6. November Fahrbahnoberfläche in der Landwehrstraße zwischen Kasinostraße und Rößlerstraße in zwei Bauabschnitten, Pressemeldung vom 17. Oktober 2023 [online]. ⏎
- Ich bin nach 1992 Dutzende Male am Bahnübergang an der Pallaswiesenstraße gewesen und hätte den Abbau der Gleisanlagen beobachten können. Aber auch hier gilt: es hatte mich damals nicht interessiert. ⏎
- Achim Preu : Schenck Process nun bei Blackstone, in: Darmstädter Echo, war online am 22. September 2017. ⏎
- Zu den Kleinlokomotiven: Der Lebenslauf der Köf ist hier und hier nachzulesen; der Lebenslauf des größeren Exemplars hier. ⏎
- Die Skizze ist am Blattrand mit Anlage 3 oder 5 bezeichnet, während in der nachfolgenden Dienstanweisung eine Anweisung zum Befahren des Bahnübergangs als Anlage 1 geführt wird. ⏎