Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt
Mit der Buslinie W ins Fabrikviertel
Ihre Fahrtrouten und ein Fahrplan
1872 wurde in der damaligen Blumenthalstraße, der heutigen Kasinostraße, ein erstes Industriestammgleis gelegt. Westlich davon entstand im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts eine neue Werkstätten- und Industrielandschaft, das sogenannte Fabrikviertel. Die Geschichte der Erschließung des Fabrikviertels mit Gleisanlagen wird gesondert dargestellt. Von den Mitte der 50er Jahre rund dreißig, Anschlußgleisen sind nur noch vier oder fünf übriggeblieben.
Die zahlreichen Gewerbebetriebe, die sich hier angesiedelt hatten, suchten in den 1950er und 1960er Jahren nach neuen, frischen Arbeitskräften, die zum Teil von weither kamen. Damit diese zu ihrem Arbeitsplatz gelangen konnten, wurde 1962 eine eigene Buslinie mit dem Buchstaben „W“ eingerichtet.
Abbildung 1: Utsch-Werbeeintrag 1970, im Original s/w.
Am 7. Mai 1962 nahm die HEAG auf einer neuen Buslinie „W“ den Verkehr auf. „Ein alter Wunsch der Anlieger“, so das Darmstädter Echo am Tag darauf, “vor allem der Betriebe des Industriegebietes im Nordwesten der Stadt ging gestern in Erfüllung: Die HEAG eröffnete die neue Omnibuslinie W von der Kreuzung Rhein-/Neckarstraße zur ‚Windmühle‘. Diese Linie verkehrt nur morgens und abends.“. Das zugehörige, hier leider aus Urheberrechtsgründen nicht reproduzierbare Bild zeigt einen Mercedes-Bus an der Wendeschleife an der Windmühle.
Diese Linie „W“ besaß eine recht eigenartige Linienführung. Sie begann vor dem Geschäft von Paul Utsch in der Rheinstraße 47 und führte zunächst Richtung Westen, querte die Hindenburgsträße an der Kunsthalle und bog vor der Tankstelle in die Feldbergstraße ein. Weiter ging es die Feldbergstrße entlang, an Sankt Fidelis vorbei bis zur Dolivostraße, in die nach links eingebogen wurde. Unter dem Bogen von Röhm & Haas hindurch fuhr der Bus dann nach rechts in die Kirschenallee hinein und drehte an der Windmühle auf einem kleinen Wendeplatz. Auch die Rückfahrt führte über die Feldbergstraße bis zu deren Ende. Der überhöhte Bahnkörper in der Rheinstraße existierte noch nicht, so daß der Bus nach links in die Rheinstraße einbiegen konnte. Zwischen dem Haus des Handwerks und dem Gewerkschaftshaus ging die Streckenführung rechts in die Hindenburgstraße, dann wieder links in die Adelungstraße, um nach einem weiteren Abbiegen nach links in die Neckarstraße zu gelangen. Auf dem Straßenbahnkörper ging es zur Kreuzung mit der Rheinstraße, dort nach links wieder in die Ausgangsposition bei Paul Utsch zurück. Diese Linie verkehrte nur werkstags außer samstags und nur im Berufsverkehr.
Abbildung 2: Fahrplan der Buslinie „W“, Sommerfahrplan 1963 der HEAG, gültig ab 26. Mai 1963. Quelle: Sammlung Andreas Kohlbauer.
Recht offenherzig benennt das „Darmstädter Echo“ den wahren Grund der Einrichtung einer kleinen Buslinie, die nicht einmal das Zentrum der Stadt berührte. Nicht etwa die alten Wünsche der Anlieger, die in einer Schlichtwohnsiedlung ausquartiert worden waren, waren ausschlaggebend. Sollen diese doch zu Fuß gehen, um in die Innenstadt zu gelangen, erst recht an Samstagen und Sonntagen! Erst als das florierende Fabrikviertel seinen Bedarf an Arbeitskräften nicht mehr aus der unmittelbaren Umgebung befriedigen konnte, wurde eine Zubringerlinie eingerichtet. Der Fahrpreis vom Luisenplatz zur Windmühle betrug sagenhafte 50 Pfennige. Einer der HEAG-Busfahrer wurde „Windmühlen-Harry“ genannt, weil er ständig auf dieser neuen Buslinie eingesetzt war.
Ab dem 14. Januar 1974 wurde die Linie „W“ an beiden Enden verlängert. Sie begann nun auf dem Luisenplatz im Zentrum Darmstadts und führte zunächst über die Bleichstraße und ein kurzes Stück der Kasinostraße zur ursprünglichen Endehaltestelle in der Rheinstraße vor der Firma Utsch. Auf dem Rückweg wurde der Umweg über die Adelungstraße eingespart und der Luisenplatz direkt über die Rheinstraße erreicht. Am anderen Ende verlängerte sich der Fahrweg über die Gräfenhäuser Straße und die Otto-Röhm Straße bis zur Haltestelle Schenckalle / Otto-Röhm-Straße in das neu erschlossene Gewerbegebiet direkt am Gleisbogen, der sich vom Hauptbahnhof zum Bundesbahn-Ausbesserungswerk zog. Auf dem Rückweg wurde die Haltestelle an der Jacobistraße bedient und die Windmühle über die Schleife der Straße „Im Tiefen See“ erreicht. Gleichzeitig wurden die Verkehrszeiten erweitert, auch wenn vormittags und abends weiterhin kein Bus zum Einsatz kam. 1976 wurde die Strecke sogar am Samstagvormittag bedient. Zum 14. Oktober 1978 wurde die Linie „W“ eingestellt und mit der Buslinie „S“ (Böllenfalltor – Südbahnhof) zur neuen Ringbuslinie „R“ vereinigt. Diese neue Linie war auf Empfehlung eines Verkehrsgutachtens eingerichtet worden und führte allein im ersten Betriebsjahr zu einer Steigerung des Fahrgastaufkommens um 20 Prozent gegenüber den beiden Vorgängerlinien.
Am einen frühen Mittwochmorgen im November 1975 kam es an der „Spinne“, der Kreuzung von Kirschenallee, Landwehrstraße und Mainzer Straße, zu einer etwas heftigen Karambolage. Der Unfallverlauf wird in zwei tags darauf erschienenen Zeitungsmeldungen unterschiedlich dargestellt, so daß hier beide Versionen zitiert werden. Das „Darmstädter Tagblatt“ beschrieb den Unfallhergang so:
„Der Fahrer eines schwedischen Lastzuges, der die Kirschenallee in nördlicher Richtung befuhr, beachtete nicht die Vorfahrt eines HEAG-Busses auf der Mainzer Straße. Der Busfahrer versuchte, an dem Lastzug rechts vorbeizukommen und rammte dabei einen zweiten Omnibus, der aus der Kirschenallee in die Mainzer Straße einbiegen wollte. Danach schleuderte der erste Bus über die Kirschenallee hinweg und prallte gegen drei parkende Personenwagen, von denen er einen gegen die Mauer drückte.“
Einer der beiden Busse befuhr die Buslinie „W“, der andere gehörte dem Busunternehmer Wehnert in Griesheim. Verletzt wurde demnach der Fahrer des ersten Busses. Von mehreren Leichtverletzten wußte hingegen das „Darmstädter Echo“ zu berichten, welches dieselbe Geschichte so erklärte:
„Ein aus der Mainzer Straße stadtauswärts rollender Omnibus war auf einen schwedischen Lastzug geprallt, der die Kirschenallee in nördlicher Richtung befuhr. Der aus der bevorrechtigten Mainzer Straße kommende Bus war bei einem versuchten Ausweichmanöver ins Schleudern geraten. So hatte der Fahrer einen Zusammenstoß nicht verhindern können. Der Bus schleuderte nach dem Zusammenprall weiter, stieß gegen einen in der Haltestelle an der Kirschenallee stehenden Bus und prallte schließlich noch gegen drei unmittelbar an der Einmündung Landwehrstraße geparkte Personenwagen. Außer dem Busfahrer erlitten einige Insassen leichte Verletzungen. Die Fahrgäste des bei dem Unfall gerammten HEAG-Busses blieben unverletzt.“
Wenn wir beide Berichte miteinander abgleichen, finden sich einige Ungereimtheiten. Die Durchfahrt unter der Verbindungsbrücke zwischen den Gebäuden von Röhm & Haas über der Mainzer Straße wurde, so legt es eine mir vorliegende Bildlegende nahe, im Oktober 1974 für den Durchgangsverkehr gesperrt. Wie konnte demnach aus der Mainzer Straße stadtauswärts ein Omnibus kommen? Rammte der erste Bus nun den Lastwagen oder nicht? Welcher Bus gehörte der HEAG und welcher der Griesheimer Firma Wehnert, welcher der beiden Busse befuhr welche Richtung? Stand der zweite beteiligte Bus noch an der Haltestelle oder wollte er in die eigentlich für den Durchgangsverkehr gesperrte Mainzer Straße einbiegen? Und wie kann ein Busfahrer einem Lastwagen nach rechts ausweichen und dann links den zweiten Bus treffen?
In einem Punkt sind sich beide Berichte einig: sie erwähnen nicht das auf den Fotos anhand des Schneematsches deutlich erkennbare Schmuddelwetter; möglichweise war die Kreuzung auch vereist. Nicht, daß es mehr als dreißig Jahre später noch wichtig wäre, was an jenem Novembermorgen wirklich geschah, aber derart nicht so recht zusammenpassende Anekdötchen sind der Stoff, aus dem ungelöste Rätsel erwachsen. – Schauen wir uns deshalb lieber den Streckenverlauf etwas näher an.
Abbildung 3: Fahrtroute der Buslinie „W“, dunkelblau von 1962 bis 1974, hellblau verlängert von 1974 bis 1978.
Historischer Rückblick: 1894 verfaßte der für die Main-Neckar-Bahn tätige badische Eisenbahninspektor Ferdinand Scheyrer eine Denkschrift für ein elektrisches Straßenbahnnetz in Darmstadt. Hierbei sah er eine Straßenbahnlinie von Bessungen über den Luisenplatz und die Landwehrstraße ins Fabrikviertel vor. Dieser Vorschlag wurde bei der Einrichtung der ersten Straßenbahnlinien 1897 und in den folgenden Jahren nicht verwirklicht. Die Straßenbahn war in Darmstadt um die Jahrhundertwende geradezu ein Privileg des Bürgertums, was sich anhand der tatsächlich gewählten Streckenführungen zeigen läßt. Diese brachten die Bevölkerungsgruppen, die nicht morgens um 6 Uhr zum Fabrikdienst erscheinen mußten, tagsüber und am Wochenende zu den bevorzugten Ausflusgzielen des Bürgertums in Bessungen oder in der Fasanerie. Für Arbeiter war das neue Verkehrsmittel finanziell schlicht Luxus; sie gingen notgedrungen zu Fuß.