Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt
Die Erschließung mit Gütergleisen etwa 1870 bis 1930
Eine Annäherung
1872 und 1893/94 wurden die beiden ersten Industriestammgleise zum Darmstädter Fabrikviertel eingerichtet. Dieses Fabrikviertel bildete sich mit der Westexpansion der Stadt Darmstadt im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts heraus. Von den Mitte der 1950er Jahre noch rund dreißig Anschlußgleisen sind, Stand 2021, auf dem gesamten Darmstädter Gebiet nur noch fünf übriggeblieben: Autologistik, Donges Steeltec, Evonik bzw. Röhm, Hofmann-Rieg und Merck.
Bemerkenswert an der Erschließung des Fabrikviertels ist, daß mit der Hessischen Ludwigsbahn und der Main-Neckar-Eisenbahn zwei voneinander unabhängige Bahngesellschaften hieran beteiligt waren. Mit der Westverlagerung des Hauptbahnhofs, die 1912 abgeschlossen war, erhielt das Fabrikviertel eine neue Zuführung von Westen her.
»» Siehe auch: Als Lokomotivführer im Fabrikviertel Darmstadt in den 1930er Jahren.
1872 – die Blumenthalstraße
1867 verfügte die Hessische Ludwigsbahn auf ihrem gesamten Streckennetz über gerade einmal zwei Industriegleisanschlüsse.
„An derselben sind nur zwei, industriellen Zwecken dienende Nebengeleise vorhanden. Das erste zweigt von der Station Mombach in einer Länge von 0,11 Meilen ab, gehört der Wagenfabrik Gastell & Harig in Mainz und dient zum Transport von fertigen Eisenbahnwagen, sowie zum Bezug von Materialien. Das Anlagecapital beträgt 6500 Thaler; an Betriebsmitteln sind zwei Pferde und zwei Wagen vorhanden. – Das zweite Geleise verbindet die Maschinenfabrik und Eisengiesserei Darmstadt mit dem Darmstädter Bahnhofe der Hessischen Ludwigsbahn und hat eine Länge von 0,06 Meile.“ [1]
Zu den Betriebsmitteln für dieses Anschlußgleis schweigt sich die Mitteilung aus, aber wir dürfen davon ausgehen, daß die Hessische Ludwigsbahn eine Rangierlokomotive vorbeigeschicht hat.
Das Fabrikviertel, dessen östliche Grenze die Blumenthalstraße (heute: Kasinostraße) bildete, war zunächst eine wie gewürfelt aussehende Ansammlung einzelner, zunächst kleiner, Werkstätten auf verstreuten Grundstücken. Die prosperierende Konjunktur bis zum Gründerkrach von 1873 ließ die Zahl der Betriebe schnell anwachsen und verlangte nach einem kostengünstigen Transportmedium. Darmstadt war seit 1846 durch die Main-Neckar-Bahn und seit 1858 durch die Hessische Ludwigsbahn an das immer internationaler werdende europäische Eisenbahnnetz angeschlossen. Folgerichtig brachte der Boom der Gründerzeit auch das Bedürfnis nach einem Wachsen des Schienenstrangs zum Ausdruck. Parallel zur Erschließung des heutigen Johannesviertels durch die Blumenthal'sche Terraingesellschaft wurde zwischen selbigem neuen Wohnviertel und dem Fabrikviertel ein erstes Industriestammgleis angelegt. Da auch im nunmehrigen Blumenthalviertel einzelne Industrie- und Handwerksbetriebe ansässig waren, legte man zudem drei Anschlußgleise in selbiges Viertel hinein. Dieses erste Industriestammgleis zweigte von der damals eingleisigen Odenwaldbahn im nördlichen Gleisvorfeld des Ludwigsbahnhofs ab.

Abbildung 1: Ausschnitt aus dem „Plan der Haupt- und Residenzstadt Darmstadt mit Bessungen“, gefertigt von Ferdinand Heberer, von 1878. Der Plan ist geostet [online ulb darmstadt].
Der Ausschnitt zeigt das Gelände westlich (unten) und östlich (oben) der Blumenthalstraße mit folgenden Hervorhebungen: (1) Wagen-Reparatur-Werkstätte der Hessischen Ludwigsbahn, (2) sogenanntes Mahr'sches Gleis, (3) sogenanntes Schneidemühlgleis, (4) Maschinenfabrik und Eisengießerei, (5) Gasfabrik, (6) Lagerhaus, (7) ungefährer Ort der späteren Einfädelung des vom Main-Neckar-Bahnhof herführenden Industriegleises in die Landwehrstraße, (8) Klenganstalt Conrad Appel, später Nungesser.
Der 1872 erschienene Jahresbericht der Handelskammer Darmstadt für die Jahre 1870/71 verrät uns, wie es zum Bau der ersten Industriegleise in der Blumenthalstraße gekommen ist.
„Schließlich haben wir noch der Unternehmung der Commanditgesellschaft auf Actien Blumenthal und Comp. zu erwähnen, welche bekanntlich die Erweiterung unserer Stadt nach der Nordwestseite nach einem einheitlichen Plane sich zur Aufgabe gesetzt und theilweise auch ausgeführt hat. Dieselbe hat circa 100 Morgen Gelände nach der Nordwestseite Darmstadts in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs der Ludwigsbahn erworben und daselbst sofort Straßen angelegt. Die Gesellschaft verkauft in diesem neuen Stadttheil Bauplätze und läßt außerdem eine größere Anzahl Wohn- und Geschäftshäuser auf eigene Kosten ausführen. In Erkennung der Thatsache, daß sich der Verkehr einer Stadt nur dann heben kann, wenn sich möglichst erleichterte und billige Verkehrsadern bis zu ihr hinstrecken, hat die Gesellschaft die Initiative dahin ergriffen, daß derartige Einrichtungen geschaffen werden; sie hat nämlich von den Hauptgeleisen der hessischen Ludwigsbahn aus eine Anzahl Zweigschienenstränge in ihre Bauquartiere eingeführt, welche für den Verkehr Darmstadts von hoher Bedeutung zu werden versprechen.
Obgleich diese Zweigschienenstränge erst seit Anfang des Monats Juni [1872, WK] vollendet sind, so haben sich doch bereits drei größere mercantile und ein größeres industrielles Unternehmen längs derselben ansäßig gemacht. Die an diesen Strängen sich etablirenden Geschäfte bekommen ihre Waaren gegen Vergütung von ½ bis höchstens 1 Kreuzer per Centner von Seiten der hessischen Ludwigsbahn an ihre Geschäftsplätze gefahren.
An Vorstehendes anknüpfend bemerken wir, daß jetzt die Stadt Darmstadt in gleicher Weise vorangehen wird, indem dieselbe auf der verlängerten Casinostraße gleichfalls ein derartiges Zweigschienengeleis legen läßt und zur Seite dieses Strangs einen größeren Gebäudecomplex gegen billige Vergütung an Geschäftstreibende zur Lagerung von Rohproducten ablassen will.
Der städtische Viehmarktplatz und die Gasfabrik sollen gleichfalls vermittelst solcher Stränge direkt mit dem Bahnhof der Ludwigsbahn verbunden werden.“ [2]
Aus dem obigen Stadtplan und dem zitierten Jahresbericht der Handelskammer lassen sich für das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts folgende Gleisanschlüsse erschließen:
- das sogenannte Mahr'sche Gleis zum Sägewerk von Wilhelm Mahr, gelegen zwischen der Blumenthalstraße und Liebigstraße entlang der heutigen Parcusstraße.
- das sogenannte Schneidemühlgleis, benannt nach dem Standort einer vormaligen Mühle, zum Lagerplatz des Eisenhandels von Jacob Scheid, eventuell auch zur benachbarten Holzhandlung von Meyer Fulda.
- mittels einer Drehscheibe angebunden die zunächst seit 1855 als private Aktiengesellschaft agierende und seit 1880 sich in städtischem Eigentum befindliche Gasfabrik auf der heutigen Schulinsel. Auf halbem Weg zwischen Blumenthalstraße und Gasfabrik befand sich der städtische Viehmarkt.
- vermutlich schon seit 1859, wenn auch im 1878er Stadtplan nicht eingezeichnet [3], die Maschinenfabrik und Eisengießerei in der Blumenthalstraße 24, die zwischen 1861 und 1879 insgesamt 107 kleinere Tenderlokomotiven herstellte. Die Hessische Ludwigsbahn gab 1877 die Länge des Anschlußgleises mit 358 Metern an.
- das gemeinsame Lagerhaus der Stadt Darmstadt und der Hessischen Ludwigsbahn zwischen der Landwehrstraße und Lagerhausstraße (heute Julius-Reiber-Straße).
- ab einem unbekannten Zeitpunkt die Klenganstalt von Conrad Appel zwischen Lagerhausstraße und Promenadestraße (heute Bismarckstraße).
»» Ausführlich wird das Industriestammgleis in der Blumenthalstraße bzw. Kasinostraße auf einer eigenen Seite vorgestellt.
1893/94 – die Landwehrstraße
Rund zwanzig Jahre lang scheint es mit einer Ausnahme zu keiner Neuanlage von Gütergleisen in Darmstadt gekommen zu sein. Bei der Errichtung eines neuen Gasbehälters nördlich der damaligen Trasse der Odenwaldbahn und westlich der Frankfurter Straße 1889/90 wurde selbiger zur Beschickung mit Brennmaterial mittels eines eigenen Gleisanschlusses angebunden, der einige Jahre später zum ebenfalls neu errichteten Schlachthof verlängert wurde. Bedarf an weiteren Gleisanschlüssen war jedoch vorhanden.
Zweiggeleise im Fabrikviertel
Ein Bericht der Handelskammer Darmstadt belegt ein länger bestehendes Interesse der Stadt wie der dortigen Industriellen, auch die westlichen Teile des Fabrikviertels mit Anschlußgleisen zu versehen.
„Eine schon mehrere Jahre schwebende Frage, die Anlage eines Zweigschienengeleises für die im nordwestlichen Theile der Stadt jenseits der Main-Neckar-Bahn gelegenen zahlreichen Fabriken wird hoffentlich einer baldigen befriedigenden Lösung entgegengehen. Die Hessische Ludwigsbahn war Willens, die Anlage unter Benutzung der Gräfenhäuser Straße auszuführen, mußte jedoch trotz der bereits mit der städtischen Verwaltung gepflogenen ersprießlichen Verhandlungen hiervon Abstand nehmen, denn ein inzwischen von der Main-Neckar-Bahn ausgearbeitetes Projekt hatte die Genehmigung der betheiligten Regierungen gefunden.
Das Projekt der Main-Neckar-Bahn bedingt eine vollständige Umgestaltung des dermalen für den erwähnten Stadttheil in Kraft befindlichen Bebauungsplanes. Ein neuer Entwurf desselben, der sich jenem Projekt anpaßt, liegt bereits vor. Nach den Verhandlungen zwischen den betheiligten Fabrikbesitzern und der Main-Neckar-Bahn steht der Anschluß der sämmtlichen Etablissements in Aussicht. In Bezug auf Aufbringung der Kosten kann nach den Anschauungen der städtischen Verwaltung und ihrer Prüfungskommissionen im vorliegenden Falle das Gesetz über die Nebenbahnen nicht Platz greifen, weil es sich hier um ein reines Industriegeleise, beziehungsweise in gewissem Sinne um eine Erweiterung des Bahnhofs der Main-Neckar-Bahn handle. Jene städtischen Organe sind indessen bereit, der Stadtverordneten-Versammlung die Abänderung des Bebauungsplanes und die unentgeltliche Ueberlassung des für die Gleisanlagen erforderlichen Straßengeländes vorzuschlagen, soweit dasselbe bereits Eigenthum der Stadt ist oder um den ortststutarischen Preis von 70 Pf. per [Quadrat-] Meter in das Eigenthum der Stadt übergehen kann. Da die Stadtverordneten-Versammlung einen Beschluß nicht fassen wird, ehe feststeht, ob Letzteres auch möglich ist, so hat die städtische Verwaltung hiervon die Direktion der Main-Neckar-Bahn mit dem Ersuchen verständigt, zunächst feststellen lassen zu wollen, ob das Straßengelände des ganzen Bauquartiers, soweit es noch nicht Eigenthum der Stadt ist, zum Preis von 70 Pf. per [Quadrat-] Meter in das Eigenthum der Stadt übergehen kann, bezw. ob die betheiligten Faktoren bereit sind, die etwa entstehenden Mehrkosten für dasselbe zu übernehmen oder sicherzustellen.
Sobald hierüber die Erklärungen der Main-Neckar-Bahn und die erforderliche Entscheidung des Finanzministeriums im Sinne der städtischen Vorschläge erfolgt ist, wird mit Zustimmung der Stadtverordneten-Versammlung die Offenlegung des abgeänderten Bebauungsplans und die Einleitung des Enteignungsverfahrens stattfinden können.
Es ist dringen zu wünschen, daß das für die Gesammtinteressen der Stadt so wichtige Verbindungsgeleise in aller Kürze hergestellt werde. Denn die Förderung der Industrie wirkt rascher und nachhaltiger auf das Emporblühen und Gedeihen einer Stadt, als die bloße Förderung des Fremdenverkehrs, weßhalb in unseren Nachbarstädten Frankfurt, Mannheim u. s. w. die umfassendsten Einrichtungen für Handel und Gewerbe getroffen worden sind. Wir bezweifeln aber sehr, daß es möglich sein wird, das gesammte Straßengelände für den neuen Bebauungsplan zu dem Preise von 70 Pf. per [Quadrat-] Meter zu erwerben, da mehrere nicht industrielle Grundbesitzer in dem betreffenden Viertel seiner Zeit selbst zu bedeutend höheren Preisen kauften. In diesem Falle dürfte es sich empfehlen, auf das Projekt der Hessischen Ludwigsbahn zurückzukommen und die Gräfenhäuser Straße zur Anlage des Verbindungsgeleises mit zu benitzen.“
Quelle: Jahresbericht der Großherzoglich Hessischen Handelskammer zu Darmstadt 1890, erschienen 1891, Seite 46–47.
Fortschritte gibt es zunächst keine. Und so beklagt die Handelskammer im Jahresbericht für 1891:
„Seit einer Reihe von Jahren ist die Herstellung eines Schienengeleises von der Main-Neckar-Bahn nach dem Fabrikviertel unserer Stadt projektiert. In unserem letzten Jahresberichte (Seite 46) haben wir über den damaligen Stand dieser Angelegenheit berichtet, auf die Wichtigkeit dieser Anlage für unsere Industrie hingewiesen und den dringenden Wunsch ausgesprochen, daß dieses auch für die Gesammtinteressen der Stadt so wichtige Verbindungsgeleise in Kürze hergestellt werden möge. Inzwischen ist wieder ein Jahr vergangen und von einem Fortgange in dieser Sache Nichts zu bemerken. Die Gründe, warum diese Angelegenheit in's Stocken gerathen ist, dürften aus unserem vorigjährigen Berichte wohl ersichtlich sein. Unseres Erachtens beruhen sie auf selbst geschaffenen Schwierigkeiten und wir möchten wiederholt und dringend bitten, das baldige Zustandekommen dieses Geleises von Seiten aller Betheiligten möglichst zu erleichtern.“ [4]
Auch der Jahresbericht für 1892 sieht kein Vorankommen des Projekts.
„Das Verbindungsgleis von der Main-Neckar-Bahn nach dem Fabrikviertel unserer Stadt, über dessen Nichterscheinen trotz mehrjähriger Verhandlungen wir seit zwei Jahren in unseren Jahresberichten klagen, ist leider auch noch nicht zur Ausführung gekommen.“ [5]

Abbildung 2: Die Main-Neckar-Bahn annonciert die Eröffnung der Anbindung ins Fabrikviertel zum 1. April 1894 [online ulb darmstadt].
Im Jahr darauf muß Bewegung in die Angelegenheit gekommen sein, denn der Geschäftsbericht der Main-Neckar-Bahn für 1894 vermeldet, daß „eine Theilstrecke von dem Geleise nach dem Fabrikviertel von der Wagenhalle bis zur Landwehrstraße verlegt“ verlegt worden sei. Folglich nahm die Main-Neckar-Bahn am 1. April 1894 den Güterverkehr auf dem Gleis in der Landwehrstraße auf. Im selbigen Jahr betrug das Frachtvolumen ins Fabrikviertel 3.241,7 Tonnen, während 1.369,7 Tonnen Fracht das Fabrikviertel verließen. Im Geschäftsbericht der Gesellschaft heißt es hierzu lapidar:
„In Darmstadt wurde eine weitere Theilstrecke des Geleises nach dem Fabrikviertel von der Landwehrstraße bis zur Kirschenallee mit Anschluß an 5 Fabriken hergestellt und ebendaselbst mit der Erweiterung des Güterbahnhofs am Südende (Station Bessungen) fortgefahren.“ [6]
Dies war ein guter Anfang, aber so recht zufrieden zeigte sich die Handelskammer in ihrem Jahresbericht für 1895 mit der Anbindung noch nicht.
„Bezüglich des Ausbaues der Eisenbahngeleise in dem Fabrikviertel unserer Stadt, zur Verbindung desselben mit der Main-Neckar-Bahn, sind uns von Seiten noch nicht angeschlossener Etablissements Klagen darüber zugegangen, daß man mit neuen Anschlüssen allzu langsam vorgehe.“ [7]
Für die Jahre 1894 bis 1899 liegen in den Jahresberichten der Handelskammer Angaben zum Frachtaufkommen vor. Ab 1900 wurde das Güteraufkommen des Fabrikviertels unter den Angaben für den Main-Neckar-Bahnhof subsummiert.
Frachtaufkommen im Fabrikviertel | ||||||
Jahr | 1894 | 1895 | 1896 | 1897 | 1898 | 1899 |
Abgehende Güter in Tonnen | 1.369,7 | 5.332,9 | 5.173 | 6.471 | 1.551 | 421 |
Ankommende Güter in Tonnen | 3.241,7 | 6.995,0 | 8.882 | 8.896 | 2.440 | 1.075 |
Auch wenn für die Folgejahre keine auf das Fabrikviertel zugeschnittene Tonnagen mehr statistisch erfaßt werden (oder die erfaßten Daten nicht mehr verbreitet werden), so gibt eine bürokratisch durchexerzierte Meldung doch einen kleinen Einblick in die Geschäftigkeit auf den Gleisen im Fabrikviertel.
„Stückgutbeförderung nach dem Fabrikviertel. Nach einer der Großh. Handelskammer Darmstadt von der Eisenbahndirektion Mainz zugegangenen Mitteilung erfolgt die Zuführung der Stückgüter nach dem Fabrikviertel in Darmstadt durch die Güterabfertigung Darmstadt M.-N.-B. 2mal täglich, und zwar um 10 Uhr vormittags und 4 Uhr nachmittags. Mit der Fahrt um 10 Uhr werden außer den bis 9 Uhr auf der Güterabfertigung Darmstadt M.-N.-B. entladenen noch die bis vormittags ½6 Uhr auf dem früheren Hessischen Ludwigsbahnhof aufgekommenen Güter befördert, während die nach ½6–11 Uhr auf dem letztgenannten Bahnhof für das Fabrikviertel eingehenden Stückgüter, genügende Mengen vorausgesetzt, um 11 Uhr nach Darmstadt M.-N.-B. geschickt werden zur Beiladung in den um 4 Uhr nach dem Fabrikviertel gehenden Wagen, der die bis 12 Uhr Darmstadt M.-N.-B. eingehenden Güter enthält. Es ist hiernach gegen früher in der Zuführung eine bedeutende Verbesserung insofern eingetreten, als jetzt die bis morgens ½6 Uhr (früher abends vorher) auf dem Hessischen Ludwigsbahnhof eingegangenen Güter bereits mit der Fahrt um 10 Uhr und die bis 11 Uhr auf diesem Bahnhof vorhandenen Güter, genügende Mengen vorausgesetzt, bereits nachmittags um 4 Uhr zugestellt werden.“ [8]
1898 hatte die Main-Neckar-Bahn „das Fabrikgleis verlängert und ein Anschlußgleis für die Seifenfabrik Jacobi hergestellt“ [9]. Die Stadtverordnetenversammlung befaßte sich am 10. Januar 1901 mit der Unterhaltung der Gleisanlagen.
„Die Unterhaltung des seit 1893 bestehenden Verbindungsgleises der Main-Neckar-Bahn im Fabrikviertel, bezw. in der Landwehrstraße wurde seither durch die Stadt besorgt und wird nach nachträglicher Verständigung nunmehr pro Jahr 140 Mk., zusammen 980 Mk., und für Instandsetzung der Beleuchtung 340 Mk., zusammen 1320 Mk., seitens dieser Bahn vergütet. Diese Vereinbarung, sowie ein neuer, auf gleicher Basis bestehender Vertrag findet nach einem Referat des Herrn Stadtv[erordneten] G. Mahr keine Beanstandung. – Herr Stadtv[erordneter] Jacobi beanstandet hierbei den durch das Schienengeleise veranlaßten schlechten Uebergang der Landwehrstraße.“ [10]
Fabrikgleise können nicht nur die Beförderung von Gütern aller Art befördern, sie können auch tödlich sein. Denn in unmittelbarer Nähe zum Industriestammgleis durch die Landwehrstraße waren einige – für die damalige Zeit sogar gut ausgestattete – Wohnhäuser errichtet worden, um den Arbeitern ein nettes Heim, den Ehefrauen eine arbeitsreiche Aufgabe und den Kindern einen Freiluftspielplatz zu geben. Derlei Arbeiter, so dachte man sich das, sind besonders resistent gegen die „Verleumdungen“ der als bosartig empfundenen Sozialdemokratie und die nur allzu berechtigten Lohnkämpfe der Gewerkschaften. Am 13. November 1901, so schildert es uns die sozialdemokratenfeindliche „Darmstädter Zeitung“, geschah ein Unfall:
„Der 10 Jahre alte Wilhelm Matern, Sohn des Schreiners M., wurde gestern nachmittag gegen 5 Uhr auf dem Rangiergeleise im Landwehrweg durch die Rangiermaschine überfahren und so schwer verletzt, daß er am Abend gegen 10 Uhr im städtischen Krankenhaus starb.
Zu dem schweren Unglücksfall wird uns noch näher berichtet: Der Sohn des in der Feldbergstraße wohnenden Stuhlmachers Matern unterhielt sich gestern nachmittag mit mehreren Kindern in der Landwehrstraße mit Spielen und wollte einen Stein von dem Geleise der dort rangierenden Fabrikbahn noch wegholen, als plötzlich die Maschine das Geleis passierte. Er kam dabei zu Fall und wurde von derselben erfaßt, wobei ihm erhebliche Verletzungen am Kopfe und Bein beigebracht wurden.“ [11]
Gegen 17 Uhr wird es im herbstlichen November schon ein wenig dunkel geworden sein. So ein schwarzes Ungeheuer kann dabei schon einmal übersehen und überhört werden, vor allem dann, wenn der Lärmpegel durch die benachbarten Industriebetriebe mangels Schallschutzmaßnahmen erheblich gewesen sein dürfte.
Die ersten Anschließer
Welche Fabriken verfügten somit zur Jahrhundertwende über einen eigenen Gleisanschluß? Aus den Angaben der Geschäftsberichte der Main-Neckar-Eisenbahn lassen sich bis 1901 [12] sechs Gleisanschlüsse herauslesen. Zwei Pläne aus den Jahren 1906 und 1912 mögen bei der Beantwortung dieser Frage weiterhelfen.

Abbildung 3: Ausschnitt aus einem Darmstädter Gleisübersichtsplan. Der Ausschnitt zeigt das Fabrikviertel mit seinen Gleisanlagen etwa 1912 mit folgenden von mir rot eingetragenen Hervorhebungen: (x) ungefährer Ort der Einfädelung des Gütergleises vom Main-Neckar-Bahnhof, (1) Schenck, (2) Rodberg, (3) Tapeten- bzw. Herdfabrik, (4) Palmkernölfabrik, (5) Donges, (6) Gebr. Lutz, (7) Mahr, (8) Lippmann/May, (9) Gebr. Trier, (10) Jacobi. [13]
Während hier zehn Gleisanschlüsse eingezeichnet sind, kennt der „Übersichts-Plan für die Umgestaltung der Bahnhofsanlagen in Darmstadt“ von 1906 nur deren sechs. Demnach verfügten nur die Firmen Schenck, Rodberg, die Plamkernölfabrik, Donges, die Gebrüder Lutz und Jacobi über einen Gleisanschluß.

Abbildung 4: Zum Vergleich der Übersichtsplan der Eisenbahndirektion Mainz für die Umgestaltung der Bahnhofsanlagen in Darmstadt von 1906. Die Zuführung des Industriestammgleises vom Main-Neckar-Bahnhof herführend ist hier eingezeichnet wie auch die zu diesem Zeitpunkt vorhandenen sechs Gleisanschlüsse. Frau und man beachte, daß nach diesem Plan zu diesem Zeitpunkt weder das Unternehmen Venuleth & Ellenberger (zwischen Rodberg und Palmkernölfabrik) noch das Unternehmen Göhrig & Leuchs (der Komplex am Ende der Kirschenallee am linken Bildrand) per Gleis angebunden waren. [14]
Die an der nordwestlichen Ecke der Kreuzung Landwehrstraße und Rößlerstraße residierende Fabrik von Venuleth & Ellenberger trat 1897 eine Fläche von 407 Quadratmetern für die Anlage eines Anschlußgleises ab. Laut Bericht für die Aktionäre wurde im Geschäftsjahr 1895/96 der Fuhrpark mit Pferd und Wagen aufgelöst und im Geschäftsjahr darauf die Kosten des Bahnanschlusses mit 3.279,18 Mark beziffert. Hier stellt sich die Frage, ob es sich hierbei um die Mitbenutzung des Gleisanschlusses der Palmkernölfabrik gehandelt hat oder ein nicht in den Plänen nachvollziehbarer neuer Gleisstrang gelegt wurde. Im Stadtarchiv Darmstadt fand Niels Springer eine Flurkarte von 1906, welche diese Frage beantworten kann.

Abbildung 5: Ausschnitt aus der Flurkarte N.W.IV.12. von 1906. Quelle: Stadtarchiv Darmstadt Bestand 51 Nr. 132/63. [15]
Diese Flurkarte verzeichnet wohl originalgetreu die Gleisanlagen inklusive Weichen und Drehscheiben. Demnach wären alleine nördlich der Landwehrstraße fünf Gleisanschlüsse vorhanden gewesen. Anhand der eingetragenen Hausnummern lassen sich diese auch mit Hilfe des Adreßbuches zuordnen. Ganz links befindet sich der noch zur Weiterstädter Straße zugehörige Anschluß des Stahlbauunternehmens Donges, das demnach bis hart an die Kirschenallee gereicht haben muß. Es folgt (Hausnummer 79) der Anschluß der Palmkernölfabrik mit einer Drehscheibe, von der drei Gleise abgehen. Von dem Zuführgleis sind noch Reste vorhanden und der Umfang der Drehscheibe ist unter dem Asphalt zu erahnen. Alsdann finden wir (Hausnummer 75) den Anschluß von Venuleth & Ellenberger vor. Östlich der Rößlerstraße geht es weiter mit einem Anschlußgleis, das ausweislich des Adreßbuchs (Nummer 63) zur Tapetenfabrik von Philipp Renn gehört, dessen Inhaber nunmehr Wilhelm Ehrhardt ist. Dieses Anschlußgleis wird um 1911 von dem Unternehmen Darmstädter Herdfabrik und Emaillierwerk G.m.b.H. übernommen werden. Hier besitzt das Gleis noch eine kleine Drehscheibe, weil der Kurvenradius ansonsten wohl zu eng gewesen wäre. Das nächst folgende Anwesen (Hausnummer 61) ist die Dampfkesselfabrik vormals Arthur Rodberg A.-G. Von der zugehörigen Drehscheibe gehen drei innerbetriebliche Gleise ab. Das letzte Anschlußgleis vor den Bahnanlagen der Main-Neckar-Eisenbahn gehört (Hausnummer 55) zur Eisengießerei und Maschinenfabrik von Carl Schenck. Demnach hätten wir 1906 alleine in der Landwehrstraße schon fünf Unternehmen an das zum Güterbahnhof führende Gleis angebunden. [16]
In den Bekanntmachungen des Großherzoglich Hessischen Regierungsblatts für 1912 wird erstmals das Industriegleis der Stadt Darmstadt auf der Südseite der Weiterstädter (heute Mainzer) Straße erwähnt. Im selben Jahr werden die Gleisanschlüsse der Unternehmen Lippmann-May und Wilhelm Mahr an diesem Industriegleis genehmigt. 1913 folgt der gemeinsame Gleisanschluß der Unternehmen Jonas Meyer und Reinhardt & Comp. am westlichen und hierzu auch verlängerten Ende des südlichen Gleises. Ebenfalls 1913 erhalten die Gebrüder Trier und die Darmstädter Konsum-, Spar- und Produktionsgenossenschaft ihre Anbindung an das südliche Gleis der Weiterstädter Straße. Damit können mit Sicherheit für die Jahrhundertwende Anschlußgleise für Lippmann-May, Gebr. Trier und Wilhelm Mahr ausgeschlossen werden.
Der Ausbau des Gleisnetzes
Die schwächelnde Konjunktur und die damit verbundene Arbeitslosigkeit erforderten im Winter 1911/12 einige Notstandsmaßnahmen. Diese scheinen nicht ausgereicht zu haben, so daß die Stadtverordnetenversammlung am 1. Februar 1912 die Planierung des südlichsten Teils der Kirschenallee zwischen Bachgangweg und Dornheimer Weg (heute an dieser Stelle: Bismarckstraße) für 2.500 Mark beschloß. Auf derselben Sitzung wurden der Fabrik der Gebrüder Lutz der Bau einer provisorischen Halle am Weiterstädter Weg und dem Unternehmen Reinhardt & Comp. der Bau eines Fabrikgebäudes am Landwehrweg unter Gestattung einer Ausnahme von den Bestimmungen des Ortsbaustatuts gestattet. Die darauf folgende Stadtverordnetenversammlung am 15. Februar 1912 wird über die Erweiterung des Gleisnetzes im Fabrikviertel in Kenntnis gesetzt und heißt dies gut.
„Nach eingehenden Verhandlungen mit der Eisenbahndirektion Mainz, der Großh. Handelskammer und den Interessenten ist nunmehr ein Projekt über die gesamte Industriegleisanlage im neuen Fabrikviertel ausgearbeitet worden, das die Zustimmung der beteiligten Faktoren gefunden hat. Im Interesse der Hebung von Industrie und Handel werden die Kosten des Stammgleises in der Weiterstädter Straße im Betrage von 30.000 Mark auf die Stadt übernommen, während die Kosten der Anschlüsse von diesem Stammgleis ab nach den einzelnen Grundstücken von den Anschlußnehmern zu tragen sind. Die Benutzung des Stammgleises soll den Angeschlossenen unentgeltlich gestattet werden.“ [17]
Knapp drei Monate später, am 25. April 1912, befaßt sich die Stadtverordnetenversammlung auch mit dem nördlichen Gleis der Weiterstädter Straße.
„Nachdem die Stadtverordneten-Versammlung den Ausbau des zweiten Stammgleises auf der Südseite der Weiterstädter Straße auf Kosten der Stadt beschlossen hat, wird zur Herbeiführung einer einheitlichen Regelung in der Berechnung der Anschlußgebühren das auf der Nordseite der Weiterstädter Straße liegende, der Bahn gehörige Gleis ebenfalls in das Eigentum der Stadt übernommen. […] Der Entwurf einer Polizeiverordnung über den Betrieb der Industriegleisanlage in der Weiterstädter Straße wird genehmigt.“ [18]
In der Stadtverordnetenversammlung am 23. Mai 1912 wird nochmals die Kirschenallee behandelt. Diese soll nun von der Weiterstädter Straße bis zum Dornheimer Weg durchgeführt werden. Wird das Gelände nicht unentgeltlich abgegeben, soll es auf dem Weg der Enteignung erworben werden. Bis dato verliief die Kirschenallee nur in ihrem heute nördlichen Teil von der Pallaswiesenstraße bis zur „Spinne“, der Kreuzung von Landwehrstraße, Weiterstädter (Mainzer) Straße und Kirschenallee. [19]
Umgestaltung der Bahnhofsanlagen in Darmstadt.
Gleisanschlüsse. Der Gleisanschluß von dem früheren Main-Neckarbahnhof im westlichen Stadtteil, in der Landwehr- und Weiterstädter Straße mit den Abzweigungen in die dortigen Fabriken ist erhalten geblieben. Seine Verbindung mit dem neuen Güterbahnhofe erfolgt von der Weiterstädter Straße aus, indem das daselbst im nördlichen Straßenteil befindliche Stumpfgleis verlängert und mittels einer Kurve an die auf der Ostseite des Bahnhofs zwischen Pallaswiesen- und Gräfenhäuser Straße angeordnete Übergabegleise angeschlossen ist. Am Westende der Weiterstädter Straße zweigt ein zweites, südliches Stammgleis ab und gewährt dadurch den südlich des Weiterstädter Weges neu errichteten Fabriken und Lagerplätzen Gleisanschlüsse. Die vorhandene Wagenreparaturwerkstätte an der Frankfurter Straße und die in deren Nähe befindlichen Gleisanschlüsse der Städtischen Gasanstalt und des Schlacht- und Viehhofes, sowie die Gleisanschlüsse im Blumentalviertel sind durch die Güterbahn Darmstadt – Kranichstein und das daraus bei Blockstelle Löcherwiese abzweigende Anschlußgleis mit den neuen Bahnhofsanlagen wieder verbunden. Schließlich sind im westlichsten Teil des neuen Bahnhofes in der Nähe des Dornheimer Weges noch die zwei Übergabegleise für den Anschluß des neuen Elektrizitätswerks angeordnet, das von der Stadt in dem Waldgelände westlich des Personenbahnhofes und südlich des Dornheimer Weges neu erbaut ist und den Werkstätten unmittelbar gegenüber liegt.
Auszug aus der Darstellung in der „Zeitschrift für Bauwesen“, Jahrgang LXII, Heft VII bis IX, Spalte 444–460, hier: 458.
Die Verlegung des Hauptbahnhofs nach Westen und die damit verbundene Verleging der Güterbahnhöfe der Hessischen Ludwigsbahn und der Main-Neckar-Eisenbahn erforderten einige Änderungen an der städtischen Infrastruktur:
„Brückenwage an der Kreuzung der Weiterstädter Straße und des Landwehrwegs. Die Verlegung der Kohlenlagerplätze nach dem neuen Güterbahnhof und die Möglichkeit, die Kohlen durch das nordöstliche Tor des Güterbahnhofes abzufahren, machen die Errichtung einer Brückenwage an der Kreuzung der Weiterstädter Straße und des Landwehrwegs erforderlich. Die seither an der Erhebestelle in der Elisabethenstraße befindliche Wage konnte für diese Verwiegestelle Verwendung finden, nur war die Erneuerung der Wagenbrücke nebst Untergestell erforderlich. Die Entlastung der Wage mit Sicherheitskurbel wurde gleichzeitig mit eingerichtet.
Als Wiegehaus ist das seither am alten Bessunger Bahnhof stehende Wellblechhaus verwendet worden, während als Oktroiaufseherhäuschen und für die Unterbringung eines Abortes die Aufseherhäus'chen an der Bismarckstraße und der Pallaswiesenstraße Verwendung fanden. Durch die Stadtverordnetenversammlung wurden am 25. April 1912 für benannte Herstellungen 4000 Mk. und für die erforderlichen Pflasterungs- und Chaussierungsarbeiten 2400Mk., zusammen 6400 Mk. bewilligt. Die Kosten für die Wage und die übrigen Bauarbeiten betragen 2050 Mk. 70 Pf., für die Kanalisation und Installation wurden 1169 Mk. 99 Pf., und für Pflaster- und Chaussierungsarbeiten wurden 1792 Mk. 46 Pf. verausgabt.“ [20]
Die Darmstädter Handelskammer vermerkt zufrieden für 1913:
„Anerkennenswerterweise hat die Stadtverordnetenversammlung in Darmstadt die Ausführung eines weiteren Industriestammgleises, abzweigend von den vorhandenen Gleisanlagen in der Weiterstädterstraße nach Norden bis zum Gräfenhäuserweg genehmigt und die erforderlichen Mittel für den Geländeerwerb und die Ausführungen der Anlage zur Verfügung gestellt. Durch die neue Gleisanlage, die das Gelände zwischen Weiterstädterstraße und Gräfenhäuserweg durchschneidet, wird die Möglichkeit für weitere Gleisanschlüsse geboten und ein weiteres Gebiet für Industriezwecke eröffnet. Hoffentlich wird diese Maßnahme die Industrieentwickelung Darmstadts weiter fördern.“ [21]
Für die folgenden Jahre können wir bei neuen Gleisanschlüssen auf die Bekanntmachungen im Großherzoglich Hessischen Regierungsblatt und seinem demokratisch verfaßten Nachfolger zurückgreifen. Die nachfolgende Tabelle listet genehmigte Industriegleise und Anschlußgleise zwischen 1912 und 1925 auf.
Gleis/Fabrik | genehmigt | verkündet | Blatt | wo? | Anschrift | Bemerkung |
Südseite Weiterstädter Straße mit Anschluß zum neuen Hauptbahnhof | 4. April 1912 | 20. April 1912 | 16/1912 | A | – | Polizeiverordnung vom 5. Juli 1912 „[b]etreffend: den Betrieb der Industriegleisanlage in der Weiterstädter Straße zu Darmstadt“. |
Lippmann May | 25. Mai 1912 | 10. Juni 1912 | 22/1912 | A | Wei 70, 1912 | |
Wilhelm Mahr | 15. Juni 1912 | 29. Juni 1912 | 24/1912 | A | Wei 80, 1912 | |
Jonas Meyer und Reinhardt & Comp., zugleich Verlängerung des Gleises südlich der Weiterstädter Straße | 13. Juni 1913 | 21. Juni 1913 | 16/1913 | A | Wei 98, 1914 (JM); Wei 100, 1914 (Rei) | |
Gebrüder Trier G.m.b.H. | 24. September 1913 | 9. Oktober 1913 | 22/1913 | A | Wei 46, 1912; Wei 52, 1914 | |
Darmstädter Konsum-, Spar- und Produktionsgenossenschaft e.G.m.b.H. | 20. Oktober 1913 | 31. Oktober 1913 | 24/1913 | A | Wei 78, 1927 | Vorgänger des späteren Bezirkskonsumvereins bzw. der Bauhütte Darmstadt ? |
??, von der Weiterstädter zur Gräfenhäuser Straße | 4. März 1914 | 31. März 1914 | 9/1914 | F und E | – | In der Ausgabe des Regierungsblatts auf dem Server des Hessischen Landtags fehlt die entsprechende Seite. – Die zugehörige Polizeiverordnung vom 11. Februar 1915 befindet sich im Amts-Blatt des Großherzoglichen Polizeiamts Darmstadt No. 192. |
Wolf Strauß | 19. Mai 1914 | 12. Juni 1914 | 14/1914 | E | Gr 75, 1912 | |
Gandenberger'sche Maschinenfabrik Georg Göbel | 15. März 1918 | 30. März 1918 | 7/1918 | B | Gw 57, 1912 | Von der Stadtverordnetenversammlung am 14. März 1918 beschlossen; die Kosten in Höhe von 80.000 Mark tragen die Firmen Goebel und Roeder. Gehörte hierzu auch die Neuanlage des Industriestammgleises entlang der Kirschenallee? |
Erste Darmstädter Herdfabrik und Eisengießerei Gebrüder Roeder | 15. März 1918 | 30. März 1918 | 7/1918 | B | All 47, 1912 | Siehe vorherigen Eintrag zu Goebel. |
Hermann Joseph, Dampf-Talgschmelze | 12. September 1918 | 7. Oktober 1918 | 24/1918 | D | Pw 153, 1921 | Anschluß an das Industriegleis nördlich der Weiterstädter Straße. |
Jonas Meyer, Holzhandlung und Dampfsägewerk | 13. September 1918 | 7. Oktober 1918 | 24/1918 | D | Wei 98, 1914 | |
Ludwig Alter, Hofmöbelfabrik | 5. August 1919 | 15. August 1919 | 24/1919 | F | Ki 88,1921 | Polizeiverordnung vom 12. November 1919 „betr[effend] den Betrieb der Industriegleisanlage südlich der Pallaswiesenstraße in Darmstadt“. |
Maschinenbauanstalt und Dampfkesselfabrik A.-G. Darmstadt, vormals Venuleth & Ellenberger und Göhrig & Leuchs | 29. Juli 1920 | 13. August 1920 | 19/1920 | F | Lw 75, vor 1900; Pw 122, 1927 | |
Darmstädter Holzindustrie, Inhaber Albert Feuchtwanger | 30. Juli 1920 | 13. August 1920 | 19/1920 | A | Wei 80, 1914 | Anschluß an das Stammgleis in der Weiterstädter Straße. Zurückgezogen am 15. Oktober 1924, vgl. Nr. 23/1924 vom 24. Oktober 1924. |
Jakob Hoffmann, Holzgeschäft | 27. Februar 1922 | 17. März 1922 | 5/1922 | E oder F | Pw 172, 1927 | Anschluß an das Stammgleis nach der Gräfenhäuser Straße. Mitbenutzung durch Odoma? |
Wilhelm Köhler, Kohlen- und Holzgroßhandlung G.m.b.H. | 9. Juni 1922 | 23. Juni 1922 | 13/1922 | B | ?? | Anschluß an das Stammgleis in der Kirschenallee. |
Bahnbedarf A.-G. | G | Lw 50, 1927 | Polizeiverordnung, betr. den Betrieb der die Landwehrstraße durchschneidenden Anschlußgleise der Firma J. Adler jun., Gesellschaft für Bahnbedarf m.b.H. in Darmstadt vom 8. Oktober 1923, veröffentlicht in der „Darmstädter Zeitung“ am 9. Oktober 1923 [online ulb darmstadt]. Vermutlich handelt es sich hierbei um die beiden Gleise seitlich der sogenannten Zeppelinhallen. | |||
Simon Neumann | 24. September 1925 | 26. Oktober 1925 | 18/1925 | E oder F | Pw 154, 1927 |
Die Erschließung des westlichen Fabrikviertels umfaßte demnach nach der Herstellung des ursprünglichen Gleises in der Landwehrstraße und seiner Verlängerung auf der Nordseite der Weiterstädter (heute Mainzer) Straße folgende Erweiterungen und Ausbauten: Südliche Weiterstädter Straße (1912), von der nördlichen Weiterstädter zur Gräfenhäuser Straße (1914), entlang der südlichen Kirschenallee (1918), vom nördlichen Gleis auf der Weiterstädter Straße nach Nordwesten über die Pallaswiesenstraße (1918), sowie der Abzweig des Gleises zur Gräfenhäuser Straße über die nördliche Kirschenallee (1919/20). Damit war das Gleisnetz vollständig hergestellt, das – erstaunlicherweise – auch ein Jahrhundert später noch weitgehend erhalten ist. Abgebaut wurde das Gleis in der Landwehrstraße bis auf einen museal erhaltenen, aber nutzlosen Abschnitt, das Gleis zur Gräfenhäuser Straße, sowie Endstücke der Gleise zur nördlichen Kirschenallee, über die Mornewegstraße und über die westliche Pallaswiesenstraße.
Die weiterhin bestehenden Industriestammgleise befinden sich im Eigentum der Stadt und werden, selbst wenn dort wohl nie wieder eine Rangierlokomotive verkehren wird, auch regelmäßig gepflegt.

Abbildung 6: Ausschnitt aus einem Darmstädter Stadtplan von 1933. Eingetragen sind die bekannten oder begründet vermuteten Standorte der in der Tabelle 2 genannten Betriebe. Nachzutragen wäre noch der Anschluß von Venuleth & Ellenberger neben der Palmkernölfabrik in der Landwehrstraße, aber da habe ich bei der Erstellung der Grafik vor rund zehn Jahren keinen Platz gelassen. [22]
Die erratische Konjunktur der 1920er Jahre bis hin zur Weltwirtschaftskrise und die anschließende, von interessierten politischen und wirtschaftlichen Kreisen bewußt herbeigeführte (und von einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung bejubelte) tausendjährige Barbarei ließ Unternehmen pleite gehen, erzwang Eigentumswechsel oder „arisierte“ jüdisches Vermögen. Dementsprechend gehören in den 1930er Jahren die Gleisanschlüsse mitunter zu neuen Fabriken oder anderen Eigentümern.
Nachträge
Die Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn, damals noch in Offenbach, fragte am 11. Juni 1951 bei ihren Bundesbahndirektionen nach, welche Bahnstrecken neben oder auf dem Straßenplanum verlaufen, welche Einheiten dort verkehren und welche Höchstgeschwindigkeit zugelassen sei (31.312 Baos 87). Dies gelte auch für Rangierfahrten auf Anschlußgleisen, soweit die Bundesbahn den Betrieb führe. Hintergrund der Anfrage waren Überlegungen, „Schienenfahrzeuge, die den Straßenraum benutzen, besonders zu kennzeichnen.“ Die Bundesbahndirektion Frankfurt (Main) meldete am 13. Juli 1951 (31 602 Baos) die Strecke von Nidda nach Schotten, sowie Anschlußgleise in Darmstadt und für Brown Boveri in Ladenburg. Für Darmstadt wurden aufgeführt: die Industriegleise in der Weiterstädter Straße mit 750 Metern, das Industriegleis in der Kirschenallee [im Telegrammbrief „Kirschallee“ genannt, WK] mit 525 Metern und das Industriegleis entlang der Landwehrstraße mit 375 Metern. Außerdem wurde der Anschluß Nungesser im Taunusring mit 460 Metern genannt. Befahren würden diese Gleise nur von Dampflokomotiven mit einer Höchstgeschwindigkeit von 20 km/h.
Die Unternehmen
Die hier angesprochenen, sehr unterschiedlichen Unternehmen, waren nach Angaben der diversen Adreßbücher und anderer Quellen in folgenden Geschäftsfeldern aktiv:
- Alter, Möbelfabrik, im Ersten Weltkrieg Flugzeugbau, Produktion von Eisenbahnwaggons, siehe eigene ausführliche Darstellung.
- Bahnbedarf A.-G., siehe eigene ausführliche Darstellung.
- Darmstädter Holzindustrie, Sägewerk, Holzhandlung.
- Darmstädter Konsum-, Spar- und Produktionsgenossenschaft, Konsumentenselbstorganisation.
- Donges, Stahlbau.
- Gandenberger'sche Maschinenfabrik (Goebel), Fahrkartenmaschinen, Druckmaschinen, im Ersten Weltkrieg Motorenbau für Kampfflugzeuge.
- Göhrig und Leuchs, Dampfkesselfabrik.
- Herdfabrik und Emaillierwerk.
- Jakob Hoffmann, Holzgeschäft.
- August Jacobi, Seifenherstellung, Waschmittel.
- Hernann Joseph, Dampftalgschmelze.
- Wilhelm Köhler, Kohlen- und Holzgroßhandlung.
- Lippmann, May, Schrotthandel.
- Gebrüder Lutz, Lokomobile, Kesselschmiede, Maschinenfabrik.
- Wilhelm Mahr, Dampfsägewerk.
- Jonas Meyer, Dampfsägewerk und Holzhandel, siehe eigene ausführlichere Darstellung.
- Modag, Dieselmotorenbau.
- Simon Neumann, Schrotthandel.
- Palmkernölfabrik.
- Dampfkesselfabrik, vormals Arthur Rodberg, Dampfkesselproduktion.
- Reinhardt & Comp., Eisengießerei.
- Roeder, Herdfabrik.
- Röhm und Haas, chemische Produktion.
- Carl Schenck, Eisengießerei, Maschinenfabrik, Wiegeeinrichtungen.
- Wolf Strauß, Schrotthandel.
- Gebrüder Trier, Eisen- und Stahlhandel.
- Venuleth und Ellenberger, Maschinenbau.
Ungereimtheiten
Der vom Hessischen Wirtschaftsarchiv 2012 herausgegebene kleine Band „Rauchende Schlote“ zeigt „[d]ie Industrialisierung Südhessens im Spiegel historischer Briefköpfe“. Auf Seite 11 wird ein Briefkopf der Dampfkessel-Fabrik vorm. Arthur Rodberg A.-G. wiedergegeben, der das Fabrikgelände an der Landwehrstraße in direkter Nachbarschaft zu Gleisen zeigt, die wohl die Main-Neckar-Bahn darstellen sollen. Befanden sich zwischen dem Rodberg'schen Anwesen und der Eisenbahn nicht die Werkstätten von Schenck? Auf den Seiten 14 und 15 ist ein Briefkopf der Kesselfabrik Göhrig und Leuchs an der Pallaswiesenstraße abgebildet. Der mit dem 17. Oktober 1892 datierte Brief zeigt eine Lokomotive mit Tender und zwei Güterwagen, die auf einem von Norden oder Süden kommenden Gleis neben der Fabrikhalle stehen. Meines Wissens hatte das Unternehmen weder zu dieser noch einer anderen Zeit einen eigenen Güteranschluß; erst, nachdem es von Venuleth & Ellenberger übernommen worden war, wurde das Gelände 1920 von Westen her per Schiene angebunden.

Abbildung 7: Das Fabrikgelände der Dampfkesselfabrik vormals Arthur Rodberg A.-G., links das Industriegleis auf der Landwehrstraße. Die Abbildung entspricht dem Briefkopf. Quelle: Annonce des Unternehmens im Band „Monographien deutscher Städte. Band III Darmstadt“.
Der Gleisanschluß Jacobi endete (ab wann ?) in einem Betriebsgelände südlich der Weiterstädter Straße. Dabei könnte es sich um dasselbe Gleis handeln, das bis heute auf dem Röhm/Evonik-Gelände zwar vorhanden ist, aber nicht mehr genutzt wird. Wer wurde dort angebunden, bevor das Unternehmen Röhm und Haas das Gelände erwarb?
Einige der in obiger Tabelle genannten Unternehmen lassen sich nicht eindeutig einem bestimmten Gleis zuordnen. Im Falle der Kohlen- und Holzgroßhandlung von Wilhelm Köhler kommt hinzu, daß als Geschäftsadresse der Luisenplatz angegeben wird, nicht aber, wo er seinen wohl mit Gleisanschluß versehenen Lagerplatz besaß. Es könnte sich um den späteren Gleisanschluß Nold an der südlichen Kirschenallee handeln, es könnte aber auch das später von Opel genutzte Areal beim Möbelhaus Alter an der nördlichen Kirschenallee gewesen sein.
Am 14. März 1918 gestattet die Stadtverordnetenversammlung „dem Unternehmen Jonas Meyer […], an der Weiterstädter Straße ein Schmalspurgleis auf Widerruf anzulegen.“ Im Herbst 1918 wird demselben Unternehmen die Genehmigung erteilt werden, einen (weiteren) Gleisanschluß anzulegen; damit ist wohl eine Anbindung an das seinerzeit neue Gleisstück hin zur Pallaswiesenstraße gemeint. Auf einem Briefkopf des Unternehmens aus den 1920er Jahren ist der neue Gleisanschluß zu erahnen, während mehrere Schmalspurgleise das Fabrikgelände durchziehen. Insofern kann sich der Beschluß der Stadtverordnetenversammlung durchaus auf diese internen Gleise beziehen, die an einer Stelle auch die Weiterstädter Straße queren.