Luftbild auf das Fabrikviertel 1966.
Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt
Walter Kuhl
Luftbild auf das Fabrikviertel 1966.
Das Fabrikviertel 1966.
Deutschlandkurve in der Landwehrstraße.
Eine Deutschlandkurve.
Kreuzung Straßenbahn- mit Industriegleis.
Einfahrt zur Kirschenallee.
Abholung eines Kesselwaggons.
Ein Kesselwaggontransport.
Gleisabbau an der Schenckallee.
Abgewrackt.

Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt

Die Erschließung mit Güter­gleisen etwa 1870 bis 1930

Eine Annäherung

1872 und 1893/94 wurden die beiden ersten Industrie­stamm­gleise zum Darm­städter Fabrik­viertel einge­richtet. Dieses Fabrik­viertel bildete sich mit der West­expansion der Stadt Darm­stadt im letzten Viertel des 19. Jahr­hunderts und in den ersten Jahr­zehnten des 20. Jahr­hunderts heraus. Von den Mitte der 1950er Jahre noch rund dreißig Anschluß­gleisen sind, Stand 2021, auf dem gesamten Darm­städter Gebiet nur noch fünf übrig­geblieben: Auto­logistik, Donges Steeltec, Evonik bzw. Röhm, Hofmann-Rieg und Merck.

Bemerkens­wert an der Erschlie­ßung des Fabrik­viertels ist, daß mit der Hessischen Ludwigsbahn und der Main-Neckar-Eisenbahn zwei vonein­ander unab­hängige Bahn­gesell­schaften hieran betei­ligt waren. Mit der West­verlage­rung des Haupt­bahnhofs, die 1912 abge­schlossen war, erhielt das Fabrik­viertel eine neue Zufüh­rung von Westen her.

»»  Siehe auch: Als Lokomotiv­führer im Fabrikviertel Darmstadt in den 1930er Jahren.


1872 – die Blumenthalstraße

1867 verfügte die Hessische Ludwigsbahn auf ihrem gesamten Streckennetz über gerade einmal zwei Industrie­gleis­anschlüsse.

„An derselben sind nur zwei, industriellen Zwecken dienende Nebengeleise vorhanden. Das erste zweigt von der Station Mombach in einer Länge von 0,11 Meilen ab, gehört der Wagenfabrik Gastell & Harig in Mainz und dient zum Transport von fertigen Eisenbahn­wagen, sowie zum Bezug von Materialien. Das Anlagecapital beträgt 6500 Thaler; an Betriebsmitteln sind zwei Pferde und zwei Wagen vorhanden. – Das zweite Geleise verbindet die Maschinenfabrik und Eisengiesserei Darmstadt mit dem Darmstädter Bahnhofe der Hessischen Ludwigsbahn und hat eine Länge von 0,06 Meile.“ [1]

Zu den Betriebsmitteln für dieses Anschlußgleis schweigt sich die Mitteilung aus, aber wir dürfen davon ausgehen, daß die Hessische Ludwigsbahn eine Rangier­lokomotive vorbeigeschicht hat.

Das Fabrikviertel, dessen östliche Grenze die Blumenthalstraße (heute: Kasinostraße) bildete, war zunächst eine wie gewürfelt aussehende Ansammlung einzelner, zunächst kleiner, Werkstätten auf verstreuten Grundstücken. Die prosperierende Konjunktur bis zum Gründerkrach von 1873 ließ die Zahl der Betriebe schnell anwachsen und verlangte nach einem kostengünstigen Transport­medium. Darmstadt war seit 1846 durch die Main-Neckar-Bahn und seit 1858 durch die Hessische Ludwigsbahn an das immer internationaler werdende europäische Eisenbahnnetz angeschlossen. Folgerichtig brachte der Boom der Gründerzeit auch das Bedürfnis nach einem Wachsen des Schienenstrangs zum Ausdruck. Parallel zur Erschließung des heutigen Johannesviertels durch die Blumenthal'sche Terrain­gesellschaft wurde zwischen selbigem neuen Wohnviertel und dem Fabrikviertel ein erstes Industrie­stammgleis angelegt. Da auch im nunmehrigen Blumenthal­viertel einzelne Industrie- und Handwerksbetriebe ansässig waren, legte man zudem drei Anschlußgleise in selbiges Viertel hinein. Dieses erste Industrie­stammgleis zweigte von der damals eingleisigen Odenwaldbahn im nördlichen Gleisvorfeld des Ludwigs­bahnhofs ab.

Ausschnitt Stadtplan 1878.

Abbildung 1: Ausschnitt aus dem „Plan der Haupt- und Residenzstadt Darmstadt mit Bessungen“, gefertigt von Ferdinand Heberer, von 1878. Der Plan ist geostet [online ulb darmstadt].

Der Ausschnitt zeigt das Gelände westlich (unten) und östlich (oben) der Blumenthal­straße mit folgenden Hervor­hebungen: (1) Wagen-Reparatur-Werkstätte der Hessischen Ludwigsbahn, (2) sogenanntes Mahr'sches Gleis, (3) sogenanntes Schneidemühl­gleis, (4) Maschinenfabrik und Eisengießerei, (5) Gasfabrik, (6) Lagerhaus, (7) ungefährer Ort der späteren Einfädelung des vom Main-Neckar-Bahnhof herführenden Industrie­gleises in die Landwehr­straße, (8) Klenganstalt Conrad Appel, später Nungesser.

Der 1872 erschienene Jahresbericht der Handelskammer Darmstadt für die Jahre 1870/71 verrät uns, wie es zum Bau der ersten Industriegleise in der Blumenthalstraße gekommen ist.

„Schließlich haben wir noch der Unternehmung der Commandit­gesellschaft auf Actien Blumenthal und Comp. zu erwähnen, welche bekanntlich die Erweiterung unserer Stadt nach der Nordwest­seite nach einem einheitlichen Plane sich zur Aufgabe gesetzt und theilweise auch ausgeführt hat. Dieselbe hat circa 100 Morgen Gelände nach der Nordwest­seite Darmstadts in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs der Ludwigsbahn erworben und daselbst sofort Straßen angelegt. Die Gesellschaft verkauft in diesem neuen Stadttheil Bauplätze und läßt außerdem eine größere Anzahl Wohn- und Geschäfts­häuser auf eigene Kosten ausführen. In Erkennung der Thatsache, daß sich der Verkehr einer Stadt nur dann heben kann, wenn sich möglichst erleichterte und billige Verkehrsadern bis zu ihr hinstrecken, hat die Gesellschaft die Initiative dahin ergriffen, daß derartige Einrichtungen geschaffen werden; sie hat nämlich von den Hauptgeleisen der hessischen Ludwigsbahn aus eine Anzahl Zweigschienen­stränge in ihre Bauquartiere eingeführt, welche für den Verkehr Darmstadts von hoher Bedeutung zu werden versprechen.

Obgleich diese Zweigschienen­stränge erst seit Anfang des Monats Juni [1872, WK] vollendet sind, so haben sich doch bereits drei größere mercantile und ein größeres industrielles Unternehmen längs derselben ansäßig gemacht. Die an diesen Strängen sich etablirenden Geschäfte bekommen ihre Waaren gegen Vergütung von ½ bis höchstens 1 Kreuzer per Centner von Seiten der hessischen Ludwigsbahn an ihre Geschäfts­plätze gefahren.

An Vorstehendes anknüpfend bemerken wir, daß jetzt die Stadt Darmstadt in gleicher Weise vorangehen wird, indem dieselbe auf der verlängerten Casinostraße gleichfalls ein derartiges Zweig­schienengeleis legen läßt und zur Seite dieses Strangs einen größeren Gebäudecomplex gegen billige Vergütung an Geschäftstreibende zur Lagerung von Rohproducten ablassen will.

Der städtische Viehmarkt­platz und die Gasfabrik sollen gleichfalls vermittelst solcher Stränge direkt mit dem Bahnhof der Ludwigsbahn verbunden werden.“ [2]

Aus dem obigen Stadtplan und dem zitierten Jahresbericht der Handelskammer lassen sich für das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts folgende Gleis­anschlüsse erschließen:

  1. das sogenannte Mahr'sche Gleis zum Sägewerk von Wilhelm Mahr, gelegen zwischen der Blumenthalstraße und Liebigstraße entlang der heutigen Parcusstraße.
  2. das sogenannte Schneidemühlgleis, benannt nach dem Standort einer vormaligen Mühle, zum Lagerplatz des Eisenhandels von Jacob Scheid, eventuell auch zur benachbarten Holzhandlung von Meyer Fulda.
  3. mittels einer Drehscheibe angebunden die zunächst seit 1855 als private Aktien­gesellschaft agierende und seit 1880 sich in städtischem Eigentum befindliche Gasfabrik auf der heutigen Schulinsel. Auf halbem Weg zwischen Blumenthal­straße und Gasfabrik befand sich der städtische Viehmarkt.
  4. vermutlich schon seit 1859, wenn auch im 1878er Stadtplan nicht eingezeichnet [3], die Maschinenfabrik und Eisengießerei in der Blumenthal­straße 24, die zwischen 1861 und 1879 insgesamt 107 kleinere Tender­lokomotiven herstellte. Die Hessische Ludwigsbahn gab 1877 die Länge des Anschlußgleises mit 358 Metern an.
  5. das gemeinsame Lagerhaus der Stadt Darmstadt und der Hessischen Ludwigsbahn zwischen der Landwehrstraße und Lagerhausstraße (heute Julius-Reiber-Straße).
  6. ab einem unbekannten Zeitpunkt die Klenganstalt von Conrad Appel zwischen Lagerhausstraße und Promenadestraße (heute Bismarckstraße).

»»  Ausführlich wird das Industriestamm­gleis in der Blumenthalstraße bzw. Kasinostraße auf einer eigenen Seite vorgestellt.

1893/94 – die Landwehrstraße

Rund zwanzig Jahre lang scheint es mit einer Ausnahme zu keiner Neuanlage von Gütergleisen in Darmstadt gekommen zu sein. Bei der Errichtung eines neuen Gasbehälters nördlich der damaligen Trasse der Odenwald­bahn und westlich der Frankfurter Straße 1889/90 wurde selbiger zur Beschickung mit Brennmaterial mittels eines eigenen Gleis­anschlusses angebunden, der einige Jahre später zum ebenfalls neu errichteten Schlachthof verlängert wurde. Bedarf an weiteren Gleis­anschlüssen war jedoch vorhanden.

Zweiggeleise im Fabrikviertel

Ein Bericht der Handelskammer Darmstadt belegt ein länger bestehendes Interesse der Stadt wie der dortigen Industriellen, auch die westlichen Teile des Fabrikviertels mit Anschluß­gleisen zu versehen.

„Eine schon mehrere Jahre schwebende Frage, die Anlage eines Zweig­schienengeleises für die im nordwestlichen Theile der Stadt jenseits der Main-Neckar-Bahn gelegenen zahlreichen Fabriken wird hoffentlich einer baldigen befriedigenden Lösung entgegengehen. Die Hessische Ludwigsbahn war Willens, die Anlage unter Benutzung der Gräfenhäuser Straße auszuführen, mußte jedoch trotz der bereits mit der städtischen Verwaltung gepflogenen ersprießlichen Verhandlungen hiervon Abstand nehmen, denn ein inzwischen von der Main-Neckar-Bahn ausgearbeitetes Projekt hatte die Genehmigung der betheiligten Regierungen gefunden.

Das Projekt der Main-Neckar-Bahn bedingt eine vollständige Umgestaltung des dermalen für den erwähnten Stadttheil in Kraft befindlichen Bebauungsplanes. Ein neuer Entwurf desselben, der sich jenem Projekt anpaßt, liegt bereits vor. Nach den Verhandlungen zwischen den betheiligten Fabrikbesitzern und der Main-Neckar-Bahn steht der Anschluß der sämmtlichen Etablissements in Aussicht. In Bezug auf Aufbringung der Kosten kann nach den Anschauungen der städtischen Verwaltung und ihrer Prüfungskommissionen im vorliegenden Falle das Gesetz über die Nebenbahnen nicht Platz greifen, weil es sich hier um ein reines Industriegeleise, beziehungsweise in gewissem Sinne um eine Erweiterung des Bahnhofs der Main-Neckar-Bahn handle. Jene städtischen Organe sind indessen bereit, der Stadtverordneten-Versammlung die Abänderung des Bebauungsplanes und die unentgeltliche Ueberlassung des für die Gleisanlagen erforderlichen Straßengeländes vorzuschlagen, soweit dasselbe bereits Eigenthum der Stadt ist oder um den ortststutarischen Preis von 70 Pf. per [Quadrat-] Meter in das Eigenthum der Stadt übergehen kann. Da die Stadtverordneten-Versammlung einen Beschluß nicht fassen wird, ehe feststeht, ob Letzteres auch möglich ist, so hat die städtische Verwaltung hiervon die Direktion der Main-Neckar-Bahn mit dem Ersuchen verständigt, zunächst feststellen lassen zu wollen, ob das Straßengelände des ganzen Bauquartiers, soweit es noch nicht Eigenthum der Stadt ist, zum Preis von 70 Pf. per [Quadrat-] Meter in das Eigenthum der Stadt übergehen kann, bezw. ob die betheiligten Faktoren bereit sind, die etwa entstehenden Mehrkosten für dasselbe zu übernehmen oder sicherzustellen.

Sobald hierüber die Erklärungen der Main-Neckar-Bahn und die erforderliche Entscheidung des Finanzministeriums im Sinne der städtischen Vorschläge erfolgt ist, wird mit Zustimmung der Stadtverordneten-Versammlung die Offenlegung des abgeänderten Bebauungsplans und die Einleitung des Enteignungsverfahrens stattfinden können.

Es ist dringen zu wünschen, daß das für die Gesammtinteressen der Stadt so wichtige Verbindungsgeleise in aller Kürze hergestellt werde. Denn die Förderung der Industrie wirkt rascher und nachhaltiger auf das Emporblühen und Gedeihen einer Stadt, als die bloße Förderung des Fremdenverkehrs, weßhalb in unseren Nachbarstädten Frankfurt, Mannheim u. s. w. die umfassendsten Einrichtungen für Handel und Gewerbe getroffen worden sind. Wir bezweifeln aber sehr, daß es möglich sein wird, das gesammte Straßengelände für den neuen Bebauungsplan zu dem Preise von 70 Pf. per [Quadrat-] Meter zu erwerben, da mehrere nicht industrielle Grundbesitzer in dem betreffenden Viertel seiner Zeit selbst zu bedeutend höheren Preisen kauften. In diesem Falle dürfte es sich empfehlen, auf das Projekt der Hessischen Ludwigsbahn zurückzukommen und die Gräfenhäuser Straße zur Anlage des Verbindungsgeleises mit zu benitzen.“

Quelle: Jahresbericht der Großherzoglich Hessischen Handelskammer zu Darmstadt 1890, erschienen 1891, Seite 46–47.

Fortschritte gibt es zunächst keine. Und so beklagt die Handelskammer im Jahresbericht für 1891:

„Seit einer Reihe von Jahren ist die Herstellung eines Schienengeleises von der Main-Neckar-Bahn nach dem Fabrikviertel unserer Stadt projektiert. In unserem letzten Jahresberichte (Seite 46) haben wir über den damaligen Stand dieser Angelegenheit berichtet, auf die Wichtigkeit dieser Anlage für unsere Industrie hingewiesen und den dringenden Wunsch ausgesprochen, daß dieses auch für die Gesammtinteressen der Stadt so wichtige Verbindungsgeleise in Kürze hergestellt werden möge. Inzwischen ist wieder ein Jahr vergangen und von einem Fortgange in dieser Sache Nichts zu bemerken. Die Gründe, warum diese Angelegenheit in's Stocken gerathen ist, dürften aus unserem vorigjährigen Berichte wohl ersichtlich sein. Unseres Erachtens beruhen sie auf selbst geschaffenen Schwierigkeiten und wir möchten wiederholt und dringend bitten, das baldige Zustandekommen dieses Geleises von Seiten aller Betheiligten möglichst zu erleichtern.“ [4]

Auch der Jahresbericht für 1892 sieht kein Vorankommen des Projekts.

„Das Verbindungsgleis von der Main-Neckar-Bahn nach dem Fabrikviertel unserer Stadt, über dessen Nichterscheinen trotz mehrjähriger Verhandlungen wir seit zwei Jahren in unseren Jahresberichten klagen, ist leider auch noch nicht zur Ausführung gekommen.“ [5]

Zeitungsannonce.
Abbildung 2: Die Main-Neckar-Bahn annonciert die Eröffnung der Anbindung ins Fabrikviertel zum 1. April 1894 [online ulb darmstadt].

Im Jahr darauf muß Bewegung in die Angelegenheit gekommen sein, denn der Geschäfts­bericht der Main-Neckar-Bahn für 1894 vermeldet, daß „eine Theilstrecke von dem Geleise nach dem Fabrikviertel von der Wagenhalle bis zur Landwehrstraße verlegt“ verlegt worden sei. Folglich nahm die Main-Neckar-Bahn am 1. April 1894 den Güterverkehr auf dem Gleis in der Landwehrstraße auf. Im selbigen Jahr betrug das Frachtvolumen ins Fabrikviertel 3.241,7 Tonnen, während 1.369,7 Tonnen Fracht das Fabrikviertel verließen. Im Geschäftsbericht der Gesellschaft heißt es hierzu lapidar:

„In Darmstadt wurde eine weitere Theilstrecke des Geleises nach dem Fabrikviertel von der Landwehrstraße bis zur Kirschenallee mit Anschluß an 5 Fabriken hergestellt und ebendaselbst mit der Erweiterung des Güterbahnhofs am Südende (Station Bessungen) fortgefahren.“ [6]

Dies war ein guter Anfang, aber so recht zufrieden zeigte sich die Handelskammer in ihrem Jahresbericht für 1895 mit der Anbindung noch nicht.

„Bezüglich des Ausbaues der Eisenbahn­geleise in dem Fabrikviertel unserer Stadt, zur Verbindung desselben mit der Main-Neckar-Bahn, sind uns von Seiten noch nicht angeschlossener Etablissements Klagen darüber zugegangen, daß man mit neuen Anschlüssen allzu langsam vorgehe.“ [7]

Für die Jahre 1894 bis 1899 liegen in den Jahresberichten der Handelskammer Angaben zum Frachtaufkommen vor. Ab 1900 wurde das Güteraufkommen des Fabrikviertels unter den Angaben für den Main-Neckar-Bahnhof subsummiert.

Tabelle 1: Frachtaufkommen im Fabrikviertel 1894 bis 1899.
Frachtaufkommen im Fabrikviertel
Jahr189418951896189718981899
Abgehende Güter in Tonnen1.369,75.332,95.1736.4711.551421
Ankommende Güter in Tonnen3.241,76.995,08.8828.8962.4401.075

Auch wenn für die Folgejahre keine auf das Fabrikviertel zugeschnittene Tonnagen mehr statistisch erfaßt werden (oder die erfaßten Daten nicht mehr verbreitet werden), so gibt eine bürokratisch durchexerzierte Meldung doch einen kleinen Einblick in die Geschäftigkeit auf den Gleisen im Fabrikviertel.

Stückgutbeförderung nach dem Fabrikviertel. Nach einer der Großh. Handelskammer Darmstadt von der Eisenbahn­direktion Mainz zugegangenen Mitteilung erfolgt die Zuführung der Stückgüter nach dem Fabrikviertel in Darmstadt durch die Güterabfertigung Darmstadt M.-N.-B. 2mal täglich, und zwar um 10 Uhr vormittags und 4 Uhr nachmittags. Mit der Fahrt um 10 Uhr werden außer den bis 9 Uhr auf der Güterabfertigung Darmstadt M.-N.-B. entladenen noch die bis vormittags ½6 Uhr auf dem früheren Hessischen Ludwigsbahnhof aufgekommenen Güter befördert, während die nach ½6–11 Uhr auf dem letztgenannten Bahnhof für das Fabrikviertel eingehenden Stückgüter, genügende Mengen vorausgesetzt, um 11 Uhr nach Darmstadt M.-N.-B. geschickt werden zur Beiladung in den um 4 Uhr nach dem Fabrikviertel gehenden Wagen, der die bis 12 Uhr Darmstadt M.-N.-B. eingehenden Güter enthält. Es ist hiernach gegen früher in der Zuführung eine bedeutende Verbesserung insofern eingetreten, als jetzt die bis morgens ½6 Uhr (früher abends vorher) auf dem Hessischen Ludwigsbahnhof eingegangenen Güter bereits mit der Fahrt um 10 Uhr und die bis 11 Uhr auf diesem Bahnhof vorhandenen Güter, genügende Mengen vorausgesetzt, bereits nachmittags um 4 Uhr zugestellt werden.“ [8]

1898 hatte die Main-Neckar-Bahn „das Fabrikgleis verlängert und ein Anschlußgleis für die Seifenfabrik Jacobi hergestellt“ [9]. Die Stadt­verordneten­versammlung befaßte sich am 10. Januar 1901 mit der Unterhaltung der Gleisanlagen.

„Die Unterhaltung des seit 1893 bestehenden Verbindungsgleises der Main-Neckar-Bahn im Fabrikviertel, bezw. in der Landwehrstraße wurde seither durch die Stadt besorgt und wird nach nachträglicher Verständigung nunmehr pro Jahr 140 Mk., zusammen 980 Mk., und für Instandsetzung der Beleuchtung 340 Mk., zusammen 1320 Mk., seitens dieser Bahn vergütet. Diese Vereinbarung, sowie ein neuer, auf gleicher Basis bestehender Vertrag findet nach einem Referat des Herrn Stadtv[erordneten] G. Mahr keine Beanstandung. – Herr Stadtv[erordneter] Jacobi beanstandet hierbei den durch das Schienengeleise veranlaßten schlechten Uebergang der Landwehrstraße.“ [10]

Fabrikgleise können nicht nur die Beförderung von Gütern aller Art befördern, sie können auch tödlich sein. Denn in unmittelbarer Nähe zum Industrie­stammgleis durch die Landwehr­straße waren einige – für die damalige Zeit sogar gut ausgestattete – Wohnhäuser errichtet worden, um den Arbeitern ein nettes Heim, den Ehefrauen eine arbeitsreiche Aufgabe und den Kindern einen Freiluft­spielplatz zu geben. Derlei Arbeiter, so dachte man sich das, sind besonders resistent gegen die „Verleumdungen“ der als bosartig empfundenen Sozial­demokratie und die nur allzu berechtigten Lohnkämpfe der Gewerkschaften. Am 13. November 1901, so schildert es uns die sozial­demokraten­feindliche „Darmstädter Zeitung“, geschah ein Unfall:

„Der 10 Jahre alte Wilhelm Matern, Sohn des Schreiners M., wurde gestern nachmittag gegen 5 Uhr auf dem Rangiergeleise im Landwehrweg durch die Rangiermaschine überfahren und so schwer verletzt, daß er am Abend gegen 10 Uhr im städtischen Krankenhaus starb.

Zu dem schweren Unglücksfall wird uns noch näher berichtet: Der Sohn des in der Feldberg­straße wohnenden Stuhlmachers Matern unterhielt sich gestern nachmittag mit mehreren Kindern in der Landwehr­straße mit Spielen und wollte einen Stein von dem Geleise der dort rangierenden Fabrikbahn noch wegholen, als plötzlich die Maschine das Geleis passierte. Er kam dabei zu Fall und wurde von derselben erfaßt, wobei ihm erhebliche Verletzungen am Kopfe und Bein beigebracht wurden.“ [11]

Gegen 17 Uhr wird es im herbstlichen November schon ein wenig dunkel geworden sein. So ein schwarzes Ungeheuer kann dabei schon einmal übersehen und überhört werden, vor allem dann, wenn der Lärmpegel durch die benachbarten Industriebetriebe mangels Schallschutz­maßnahmen erheblich gewesen sein dürfte.

Die ersten Anschließer

Welche Fabriken verfügten somit zur Jahrhundert­wende über einen eigenen Gleisanschluß? Aus den Angaben der Geschäfts­berichte der Main-Neckar-Eisenbahn lassen sich bis 1901 [12] sechs Gleis­anschlüsse herauslesen. Zwei Pläne aus den Jahren 1906 und 1912 mögen bei der Beantwortung dieser Frage weiterhelfen.

Ausschnitt Stadtplan etwa 1912.

Abbildung 3: Ausschnitt aus einem Darmstädter Gleisüber­sichtsplan. Der Ausschnitt zeigt das Fabrikviertel mit seinen Gleisanlagen etwa 1912 mit folgenden von mir rot eingetragenen Hervorhebungen: (x) ungefährer Ort der Einfädelung des Gütergleises vom Main-Neckar-Bahnhof, (1) Schenck, (2) Rodberg, (3) Tapeten- bzw. Herdfabrik, (4) Palmkernölfabrik, (5) Donges, (6) Gebr. Lutz, (7) Mahr, (8) Lippmann/May, (9) Gebr. Trier, (10) Jacobi. [13]

Während hier zehn Gleisanschlüsse eingezeichnet sind, kennt der „Übersichts-Plan für die Umgestaltung der Bahnhofsanlagen in Darmstadt“ von 1906 nur deren sechs. Demnach verfügten nur die Firmen Schenck, Rodberg, die Plamkernölfabrik, Donges, die Gebrüder Lutz und Jacobi über einen Gleisanschluß.

Ausschnitt Übersichtsplan von 1906.

Abbildung 4: Zum Vergleich der Übersichtsplan der Eisenbahn­direktion Mainz für die Umgestaltung der Bahnhofsanlagen in Darmstadt von 1906. Die Zuführung des Industriestamm­gleises vom Main-Neckar-Bahnhof herführend ist hier eingezeichnet wie auch die zu diesem Zeitpunkt vorhandenen sechs Gleisanschlüsse. Frau und man beachte, daß nach diesem Plan zu diesem Zeitpunkt weder das Unternehmen Venuleth & Ellenberger (zwischen Rodberg und Palmkernöl­fabrik) noch das Unternehmen Göhrig & Leuchs (der Komplex am Ende der Kirschenallee am linken Bildrand) per Gleis angebunden waren. [14]

Die an der nordwestlichen Ecke der Kreuzung Landwehr­straße und Rößlerstraße residierende Fabrik von Venuleth & Ellenberger trat 1897 eine Fläche von 407 Quadratmetern für die Anlage eines Anschlußgleises ab. Laut Bericht für die Aktionäre wurde im Geschäftsjahr 1895/96 der Fuhrpark mit Pferd und Wagen aufgelöst und im Geschäftsjahr darauf die Kosten des Bahn­anschlusses mit 3.279,18 Mark beziffert. Hier stellt sich die Frage, ob es sich hierbei um die Mitbenutzung des Gleisanschlusses der Palmkernöl­fabrik gehandelt hat oder ein nicht in den Plänen nachvoll­ziehbarer neuer Gleisstrang gelegt wurde. Im Stadtarchiv Darmstadt fand Niels Springer eine Flurkarte von 1906, welche diese Frage beantworten kann.

Ausschnitt aus der Flurkarte von 1906.

Abbildung 5: Ausschnitt aus der Flurkarte N.W.IV.12. von 1906. Quelle: Stadtarchiv Darmstadt Bestand 51 Nr. 132/63. [15]

Diese Flurkarte verzeichnet wohl originalgetreu die Gleisanlagen inklusive Weichen und Drehscheiben. Demnach wären alleine nördlich der Landwehr­straße fünf Gleis­anschlüsse vorhanden gewesen. Anhand der eingetragenen Hausnummern lassen sich diese auch mit Hilfe des Adreßbuches zuordnen. Ganz links befindet sich der noch zur Weiterstädter Straße zugehörige Anschluß des Stahlbau­unternehmens Donges, das demnach bis hart an die Kirschenallee gereicht haben muß. Es folgt (Hausnummer 79) der Anschluß der Palmkernölfabrik mit einer Drehscheibe, von der drei Gleise abgehen. Von dem Zuführgleis sind noch Reste vorhanden und der Umfang der Drehscheibe ist unter dem Asphalt zu erahnen. Alsdann finden wir (Hausnummer 75) den Anschluß von Venuleth & Ellenberger vor. Östlich der Rößlerstraße geht es weiter mit einem Anschlußgleis, das ausweislich des Adreßbuchs (Nummer 63) zur Tapetenfabrik von Philipp Renn gehört, dessen Inhaber nunmehr Wilhelm Ehrhardt ist. Dieses Anschlußgleis wird um 1911 von dem Unternehmen Darmstädter Herdfabrik und Emaillierwerk G.m.b.H. übernommen werden. Hier besitzt das Gleis noch eine kleine Drehscheibe, weil der Kurvenradius ansonsten wohl zu eng gewesen wäre. Das nächst folgende Anwesen (Hausnummer 61) ist die Dampf­kessel­fabrik vormals Arthur Rodberg A.-G. Von der zugehörigen Drehscheibe gehen drei inner­betriebliche Gleise ab. Das letzte Anschlußgleis vor den Bahnanlagen der Main-Neckar-Eisenbahn gehört (Hausnummer 55) zur Eisengießerei und Maschinenfabrik von Carl Schenck. Demnach hätten wir 1906 alleine in der Landwehr­straße schon fünf Unternehmen an das zum Güterbahnhof führende Gleis angebunden. [16]

In den Bekanntmachungen des Groß­herzoglich Hessischen Regierungs­blatts für 1912 wird erstmals das Industriegleis der Stadt Darmstadt auf der Südseite der Weiterstädter (heute Mainzer) Straße erwähnt. Im selben Jahr werden die Gleis­anschlüsse der Unternehmen Lippmann-May und Wilhelm Mahr an diesem Industriegleis genehmigt. 1913 folgt der gemeinsame Gleisanschluß der Unternehmen Jonas Meyer und Reinhardt & Comp. am westlichen und hierzu auch verlängerten Ende des südlichen Gleises. Ebenfalls 1913 erhalten die Gebrüder Trier und die Darmstädter Konsum-, Spar- und Produktions­genossen­schaft ihre Anbindung an das südliche Gleis der Weiterstädter Straße. Damit können mit Sicherheit für die Jahrhundert­wende Anschlußgleise für Lippmann-May, Gebr. Trier und Wilhelm Mahr ausgeschlossen werden.

Der Ausbau des Gleisnetzes

Die schwächelnde Konjunktur und die damit verbundene Arbeitslosigkeit erforderten im Winter 1911/12 einige Notstands­maßnahmen. Diese scheinen nicht ausgereicht zu haben, so daß die Stadtverordneten­versammlung am 1. Februar 1912 die Planierung des südlichsten Teils der Kirschenallee zwischen Bachgangweg und Dornheimer Weg (heute an dieser Stelle: Bismarckstraße) für 2.500 Mark beschloß. Auf derselben Sitzung wurden der Fabrik der Gebrüder Lutz der Bau einer provisorischen Halle am Weiterstädter Weg und dem Unternehmen Reinhardt & Comp. der Bau eines Fabrikgebäudes am Landwehrweg unter Gestattung einer Ausnahme von den Bestimmungen des Ortsbau­statuts gestattet. Die darauf folgende Stadtverordneten­versammlung am 15. Februar 1912 wird über die Erweiterung des Gleisnetzes im Fabrikviertel in Kenntnis gesetzt und heißt dies gut.

„Nach eingehenden Verhandlungen mit der Eisenbahn­direktion Mainz, der Großh. Handelskammer und den Interessenten ist nunmehr ein Projekt über die gesamte Industrie­gleis­anlage im neuen Fabrikviertel ausgearbeitet worden, das die Zustimmung der beteiligten Faktoren gefunden hat. Im Interesse der Hebung von Industrie und Handel werden die Kosten des Stammgleises in der Weiter­städter Straße im Betrage von 30.000 Mark auf die Stadt übernommen, während die Kosten der Anschlüsse von diesem Stammgleis ab nach den einzelnen Grundstücken von den Anschluß­nehmern zu tragen sind. Die Benutzung des Stammgleises soll den Angeschlossenen unentgeltlich gestattet werden.“ [17]

Knapp drei Monate später, am 25. April 1912, befaßt sich die Stadt­verordneten­versammlung auch mit dem nördlichen Gleis der Weiterstädter Straße.

„Nachdem die Stadtverordneten-Versammlung den Ausbau des zweiten Stammgleises auf der Südseite der Weiterstädter Straße auf Kosten der Stadt beschlossen hat, wird zur Herbeiführung einer einheitlichen Regelung in der Berechnung der Anschluß­gebühren das auf der Nordseite der Weiterstädter Straße liegende, der Bahn gehörige Gleis ebenfalls in das Eigentum der Stadt übernommen. […] Der Entwurf einer Polizeiverordnung über den Betrieb der Industriegleis­anlage in der Weiterstädter Straße wird genehmigt.“ [18]

In der Stadtverordneten­versammlung am 23. Mai 1912 wird nochmals die Kirschenallee behandelt. Diese soll nun von der Weiterstädter Straße bis zum Dornheimer Weg durchgeführt werden. Wird das Gelände nicht unentgeltlich abgegeben, soll es auf dem Weg der Enteignung erworben werden. Bis dato verliief die Kirschenallee nur in ihrem heute nördlichen Teil von der Pallas­wiesen­straße bis zur „Spinne“, der Kreuzung von Landwehr­straße, Weiterstädter (Mainzer) Straße und Kirschenallee. [19]

Umgestaltung der Bahnhofsanlagen in Darmstadt.

Gleisanschlüsse. Der Gleisanschluß von dem früheren Main-Neckarbahnhof im westlichen Stadtteil, in der Landwehr- und Weiterstädter Straße mit den Abzweigungen in die dortigen Fabriken ist erhalten geblieben. Seine Verbindung mit dem neuen Güterbahnhofe erfolgt von der Weiterstädter Straße aus, indem das daselbst im nördlichen Straßenteil befindliche Stumpfgleis verlängert und mittels einer Kurve an die auf der Ostseite des Bahnhofs zwischen Pallaswiesen- und Gräfenhäuser Straße angeordnete Übergabegleise angeschlossen ist. Am Westende der Weiterstädter Straße zweigt ein zweites, südliches Stammgleis ab und gewährt dadurch den südlich des Weiterstädter Weges neu errichteten Fabriken und Lagerplätzen Gleisanschlüsse. Die vorhandene Wagenreparatur­werkstätte an der Frankfurter Straße und die in deren Nähe befindlichen Gleisanschlüsse der Städtischen Gasanstalt und des Schlacht- und Viehhofes, sowie die Gleisanschlüsse im Blumentalviertel sind durch die Güterbahn Darmstadt – Kranichstein und das daraus bei Blockstelle Löcherwiese abzweigende Anschlußgleis mit den neuen Bahnhofsanlagen wieder verbunden. Schließlich sind im westlichsten Teil des neuen Bahnhofes in der Nähe des Dornheimer Weges noch die zwei Übergabegleise für den Anschluß des neuen Elektrizitätswerks angeordnet, das von der Stadt in dem Waldgelände westlich des Personen­bahnhofes und südlich des Dornheimer Weges neu erbaut ist und den Werkstätten unmittelbar gegenüber liegt.

Auszug aus der Darstellung in der „Zeitschrift für Bauwesen“, Jahrgang LXII, Heft VII bis IX, Spalte 444–460, hier: 458.

Die Verlegung des Hauptbahnhofs nach Westen und die damit verbundene Verleging der Güter­bahnhöfe der Hessischen Ludwigsbahn und der Main-Neckar-Eisenbahn erforderten einige Änderungen an der städtischen Infrastruktur:

Brückenwage an der Kreuzung der Weiterstädter Straße und des Landwehr­wegs. Die Verlegung der Kohlen­lagerplätze nach dem neuen Güter­bahnhof und die Möglich­keit, die Kohlen durch das nordöstliche Tor des Güter­bahnhofes abzufahren, machen die Errichtung einer Brückenwage an der Kreuzung der Weiterstädter Straße und des Landwehr­wegs erforderlich. Die seither an der Erhebestelle in der Elisabethen­straße befindliche Wage konnte für diese Verwiegestelle Verwendung finden, nur war die Erneuerung der Wagenbrücke nebst Untergestell erforderlich. Die Entlastung der Wage mit Sicherheits­kurbel wurde gleichzeitig mit eingerichtet.

Als Wiegehaus ist das seither am alten Bessunger Bahnhof stehende Wellblech­haus verwendet worden, während als Oktroi­aufseher­häuschen und für die Unterbringung eines Abortes die Aufseherhäus'chen an der Bismarck­straße und der Pallas­wiesenstraße Verwendung fanden. Durch die Stadt­verordneten­versammlung wurden am 25. April 1912 für benannte Herstellungen 4000 Mk. und für die erforderlichen Pflasterungs- und Chaussierungs­arbeiten 2400Mk., zusammen 6400 Mk. bewilligt. Die Kosten für die Wage und die übrigen Bauarbeiten betragen 2050 Mk. 70 Pf., für die Kanalisation und Installation wurden 1169 Mk. 99 Pf., und für Pflaster- und Chaussierungs­arbeiten wurden 1792 Mk. 46 Pf. verausgabt.“ [20]

Die Darmstädter Handelskammer vermerkt zufrieden für 1913:

„Anerkennenswerter­weise hat die Stadtverordneten­versammlung in Darmstadt die Ausführung eines weiteren Industrie­stammgleises, abzweigend von den vorhandenen Gleisanlagen in der Weiterstädter­straße nach Norden bis zum Gräfen­häuserweg genehmigt und die erforderlichen Mittel für den Gelände­erwerb und die Ausführungen der Anlage zur Verfügung gestellt. Durch die neue Gleisanlage, die das Gelände zwischen Weiterstädter­straße und Gräfen­häuserweg durchschneidet, wird die Möglich­keit für weitere Gleis­anschlüsse geboten und ein weiteres Gebiet für Industrie­zwecke eröffnet. Hoffentlich wird diese Maßnahme die Industrie­entwickelung Darmstadts weiter fördern.“ [21]

Für die folgenden Jahre können wir bei neuen Gleisanschlüssen auf die Bekannt­machungen im Großherzoglich Hessischen Regierungs­blatt und seinem demokratisch verfaßten Nachfolger zurück­greifen. Die nachfolgende Tabelle listet genehmigte Industrie­gleise und Anschluß­gleise zwischen 1912 und 1925 auf.

Tabelle 2: Gleisanschlüsse zwischen 1912 und 1925. Die Abkürzungen bedeuten: All: Allee (später Rheinstraße), Gr: Gräfenhäuser Straße, Gw: Griesheimer Weg (später Morneweg­straße), Ki: Kirschenallee, Lw: Landwehr­straße, Pw: Pallaswiesen­straße, Wei: Weiter­städter Straße. Der Straße folgt die Hausnummer, danach das Jahr des Adreßbuchs, in dem die Anschrift nachgewiesen ist. Die Nummerierung wurde im Laufe der Zeit der Verlängerung von Straßen bzw. dem Bedürfnis nach dazwischen gelegenen Hausnummern angepaßt.
Gleis/FabrikgenehmigtverkündetBlattwo?AnschriftBemerkung
Südseite Weiterstädter Straße mit Anschluß zum neuen Hauptbahnhof4. April 191220. April 191216/1912A – Polizeiverordnung vom 5. Juli 1912 „[b]etreffend: den Betrieb der Industrie­gleisanlage in der Weiterstädter Straße zu Darmstadt“.
Lippmann May25. Mai 191210. Juni 191222/1912AWei 70, 1912 
Wilhelm Mahr15. Juni 191229. Juni 191224/1912AWei 80, 1912 
Jonas Meyer und Reinhardt & Comp., zugleich Verlängerung des Gleises südlich der Weiterstädter Straße13. Juni 191321. Juni 191316/1913AWei 98, 1914 (JM); Wei 100, 1914 (Rei) 
Gebrüder Trier G.m.b.H.24. September 19139. Oktober 191322/1913AWei 46, 1912; Wei 52, 1914 
Darmstädter Konsum-, Spar- und Produktions­genossenschaft e.G.m.b.H.20. Oktober 191331. Oktober 191324/1913AWei 78, 1927Vorgänger des späteren Bezirks­konsumvereins bzw. der Bauhütte Darmstadt ?
??, von der Weiterstädter zur Gräfen­häuser Straße4. März 191431. März 19149/1914F und E – In der Ausgabe des Regierungs­blatts auf dem Server des Hessischen Landtags fehlt die entsprechende Seite. – Die zugehörige Polizei­verordnung vom 11. Februar 1915 befindet sich im Amts-Blatt des Groß­herzoglichen Polizeiamts Darmstadt No. 192.
Wolf Strauß19. Mai 191412. Juni 191414/1914EGr 75, 1912 
Gandenberger'sche Maschinenfabrik Georg Göbel15. März 191830. März 19187/1918BGw 57, 1912Von der Stadtverordneten­versammlung am 14. März 1918 beschlossen; die Kosten in Höhe von 80.000 Mark tragen die Firmen Goebel und Roeder. Gehörte hierzu auch die Neuanlage des Industrie­stammgleises entlang der Kirschenallee?
Erste Darmstädter Herdfabrik und Eisengießerei Gebrüder Roeder15. März 191830. März 19187/1918BAll 47, 1912Siehe vorherigen Eintrag zu Goebel.
Hermann Joseph, Dampf-Talgschmelze12. September 19187. Oktober 191824/1918DPw 153, 1921Anschluß an das Industriegleis nördlich der Weiterstädter Straße.
Jonas Meyer, Holzhandlung und Dampf­sägewerk13. September 19187. Oktober 191824/1918DWei 98, 1914 
Ludwig Alter, Hofmöbelfabrik5. August 191915. August 191924/1919FKi 88,1921Polizeiverordnung vom 12. November 1919 „betr[effend] den Betrieb der Industrie­gleisanlage südlich der Pallas­wiesen­straße in Darmstadt“.
Maschinenbauanstalt und Dampfkessel­fabrik A.-G. Darmstadt, vormals Venuleth & Ellenberger und Göhrig & Leuchs29. Juli 192013. August 192019/1920FLw 75, vor 1900; Pw 122, 1927 
Darmstädter Holzindustrie, Inhaber Albert Feuchtwanger30. Juli 192013. August 192019/1920AWei 80, 1914Anschluß an das Stammgleis in der Weiterstädter Straße. Zurückgezogen am 15. Oktober 1924, vgl. Nr. 23/1924 vom 24. Oktober 1924.
Jakob Hoffmann, Holzgeschäft27. Februar 192217. März 19225/1922E oder FPw 172, 1927Anschluß an das Stammgleis nach der Gräfenhäuser Straße. Mitbenutzung durch Odoma?
Wilhelm Köhler, Kohlen- und Holzgroßhandlung G.m.b.H.9. Juni 192223. Juni 192213/1922B ?? Anschluß an das Stammgleis in der Kirschenallee.
Bahnbedarf A.-G.   GLw 50, 1927Polizeiverordnung, betr. den Betrieb der die Landwehr­straße durch­schneidenden Anschluß­gleise der Firma J. Adler jun., Gesellschaft für Bahnbedarf m.b.H. in Darmstadt vom 8. Oktober 1923, veröffentlicht in der „Darmstädter Zeitung“ am 9. Oktober 1923 [online ulb darmstadt]. Vermutlich handelt es sich hierbei um die beiden Gleise seitlich der sogenannten Zeppelinhallen.
Simon Neumann24. September 192526. Oktober 192518/1925E oder FPw 154, 1927 

Die Erschließung des westlichen Fabrikviertels umfaßte demnach nach der Herstellung des ursprünglichen Gleises in der Landwehrstraße und seiner Verlängerung auf der Nordseite der Weiterstädter (heute Mainzer) Straße folgende Erweiterungen und Ausbauten: Südliche Weiterstädter Straße (1912), von der nördlichen Weiterstädter zur Gräfenhäuser Straße (1914), entlang der südlichen Kirschenallee (1918), vom nördlichen Gleis auf der Weiterstädter Straße nach Nordwesten über die Pallaswiesen­straße (1918), sowie der Abzweig des Gleises zur Gräfenhäuser Straße über die nördliche Kirschenallee (1919/20). Damit war das Gleisnetz vollständig hergestellt, das – erstaunlicher­weise – auch ein Jahrhundert später noch weitgehend erhalten ist. Abgebaut wurde das Gleis in der Landwehrstraße bis auf einen museal erhaltenen, aber nutzlosen Abschnitt, das Gleis zur Gräfenhäuser Straße, sowie Endstücke der Gleise zur nördlichen Kirschenallee, über die Mornewegstraße und über die westliche Pallas­wiesenstraße.

Die weiterhin bestehenden Industrie­stammgleise befinden sich im Eigentum der Stadt und werden, selbst wenn dort wohl nie wieder eine Rangier­lokomotive verkehren wird, auch regelmäßig gepflegt.

Ausschnitt Stadtplan von 1933.

Abbildung 6: Ausschnitt aus einem Darmstädter Stadtplan von 1933. Eingetragen sind die bekannten oder begründet vermuteten Standorte der in der Tabelle 2 genannten Betriebe. Nachzutragen wäre noch der Anschluß von Venuleth & Ellenberger neben der Palmkernöl­fabrik in der Landwehr­straße, aber da habe ich bei der Erstellung der Grafik vor rund zehn Jahren keinen Platz gelassen. [22]

Die erratische Konjunktur der 1920er Jahre bis hin zur Weltwirtschafts­krise und die anschließende, von interessierten politischen und wirt­schaftlichen Kreisen bewußt herbei­geführte (und von einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung bejubelte) tausend­jährige Barbarei ließ Unternehmen pleite gehen, erzwang Eigentums­wechsel oder „arisierte“ jüdisches Vermögen. Dement­sprechend gehören in den 1930er Jahren die Gleis­anschlüsse mitunter zu neuen Fabriken oder anderen Eigentümern.

Nachträge

Die Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn, damals noch in Offenbach, fragte am 11. Juni 1951 bei ihren Bundesbahn­direktionen nach, welche Bahnstrecken neben oder auf dem Straßenplanum verlaufen, welche Einheiten dort verkehren und welche Höchst­geschwindigkeit zugelassen sei (31.312 Baos 87). Dies gelte auch für Rangierfahrten auf Anschlußgleisen, soweit die Bundesbahn den Betrieb führe. Hintergrund der Anfrage waren Überlegungen, „Schienenfahrzeuge, die den Straßenraum benutzen, besonders zu kennzeichnen.“ Die Bundesbahn­direktion Frankfurt (Main) meldete am 13. Juli 1951 (31 602 Baos) die Strecke von Nidda nach Schotten, sowie Anschlußgleise in Darmstadt und für Brown Boveri in Ladenburg. Für Darmstadt wurden aufgeführt: die Industriegleise in der Weiterstädter Straße mit 750 Metern, das Industriegleis in der Kirschenallee [im Telegrammbrief „Kirschallee“ genannt, WK] mit 525 Metern und das Industriegleis entlang der Landwehr­straße mit 375 Metern. Außerdem wurde der Anschluß Nungesser im Taunusring mit 460 Metern genannt. Befahren würden diese Gleise nur von Dampf­lokomotiven mit einer Höchst­geschwindigkeit von 20 km/h.

Die Unternehmen

Die hier angesprochenen, sehr unterschiedlichen Unternehmen, waren nach Angaben der diversen Adreßbücher und anderer Quellen in folgenden Geschäftsfeldern aktiv:

  • Alter, Möbelfabrik, im Ersten Weltkrieg Flugzeugbau, Produktion von Eisenbahnwaggons, siehe eigene ausführliche Darstellung.
  • Bahnbedarf A.-G., siehe eigene ausführliche Darstellung.
  • Darmstädter Holzindustrie, Sägewerk, Holzhandlung.
  • Darmstädter Konsum-, Spar- und Produktions­genossenschaft, Konsumenten­selbstorganisation.
  • Donges, Stahlbau.
  • Gandenberger'sche Maschinenfabrik (Goebel), Fahrkartenmaschinen, Druckmaschinen, im Ersten Weltkrieg Motorenbau für Kampfflugzeuge.
  • Göhrig und Leuchs, Dampfkesselfabrik.
  • Herdfabrik und Emaillierwerk.
  • Jakob Hoffmann, Holzgeschäft.
  • August Jacobi, Seifenherstellung, Waschmittel.
  • Hernann Joseph, Dampftalgschmelze.
  • Wilhelm Köhler, Kohlen- und Holzgroßhandlung.
  • Lippmann, May, Schrotthandel.
  • Gebrüder Lutz, Lokomobile, Kesselschmiede, Maschinenfabrik.
  • Wilhelm Mahr, Dampfsägewerk.
  • Jonas Meyer, Dampfsägewerk und Holzhandel, siehe eigene ausführlichere Darstellung.
  • Modag, Dieselmotorenbau.
  • Simon Neumann, Schrotthandel.
  • Palmkernölfabrik.
  • Dampfkesselfabrik, vormals Arthur Rodberg, Dampfkesselproduktion.
  • Reinhardt & Comp., Eisengießerei.
  • Roeder, Herdfabrik.
  • Röhm und Haas, chemische Produktion.
  • Carl Schenck, Eisengießerei, Maschinenfabrik, Wiegeeinrichtungen.
  • Wolf Strauß, Schrotthandel.
  • Gebrüder Trier, Eisen- und Stahlhandel.
  • Venuleth und Ellenberger, Maschinenbau.

Ungereimtheiten

Der vom Hessischen Wirtschaftsarchiv 2012 herausgegebene kleine Band „Rauchende Schlote“ zeigt „[d]ie Industrialisierung Südhessens im Spiegel historischer Briefköpfe“. Auf Seite 11 wird ein Briefkopf der Dampfkessel-Fabrik vorm. Arthur Rodberg A.-G. wiedergegeben, der das Fabrikgelände an der Landwehr­straße in direkter Nachbar­schaft zu Gleisen zeigt, die wohl die Main-Neckar-Bahn darstellen sollen. Befanden sich zwischen dem Rodberg'schen Anwesen und der Eisenbahn nicht die Werkstätten von Schenck? Auf den Seiten 14 und 15 ist ein Briefkopf der Kesselfabrik Göhrig und Leuchs an der Pallaswiesen­straße abgebildet. Der mit dem 17. Oktober 1892 datierte Brief zeigt eine Lokomotive mit Tender und zwei Güterwagen, die auf einem von Norden oder Süden kommenden Gleis neben der Fabrikhalle stehen. Meines Wissens hatte das Unternehmen weder zu dieser noch einer anderen Zeit einen eigenen Güter­anschluß; erst, nachdem es von Venuleth & Ellenberger übernommen worden war, wurde das Gelände 1920 von Westen her per Schiene angebunden.

Fabrikgelände Rodberg.

Abbildung 7: Das Fabrikgelände der Dampfkessel­fabrik vormals Arthur Rodberg A.-G., links das Industriegleis auf der Landwehr­straße. Die Abbildung entspricht dem Briefkopf. Quelle: Annonce des Unternehmens im Band „Monographien deutscher Städte. Band III Darmstadt“.

Der Gleisanschluß Jacobi endete (ab wann ?) in einem Betriebsgelände südlich der Weiterstädter Straße. Dabei könnte es sich um dasselbe Gleis handeln, das bis heute auf dem Röhm/Evonik-Gelände zwar vorhanden ist, aber nicht mehr genutzt wird. Wer wurde dort angebunden, bevor das Unternehmen Röhm und Haas das Gelände erwarb?

Einige der in obiger Tabelle genannten Unternehmen lassen sich nicht eindeutig einem bestimmten Gleis zuordnen. Im Falle der Kohlen- und Holzgroß­handlung von Wilhelm Köhler kommt hinzu, daß als Geschäfts­adresse der Luisenplatz angegeben wird, nicht aber, wo er seinen wohl mit Gleis­anschluß versehenen Lagerplatz besaß. Es könnte sich um den späteren Gleis­anschluß Nold an der südlichen Kirschenallee handeln, es könnte aber auch das später von Opel genutzte Areal beim Möbelhaus Alter an der nördlichen Kirschenallee gewesen sein.

Am 14. März 1918 gestattet die Stadtverordneten­versammlung „dem Unternehmen Jonas Meyer […], an der Weiterstädter Straße ein Schmalspurgleis auf Widerruf anzulegen.“ Im Herbst 1918 wird demselben Unternehmen die Genehmigung erteilt werden, einen (weiteren) Gleis­anschluß anzulegen; damit ist wohl eine Anbindung an das seinerzeit neue Gleisstück hin zur Pallaswiesen­straße gemeint. Auf einem Briefkopf des Unternehmens aus den 1920er Jahren ist der neue Gleisanschluß zu erahnen, während mehrere Schmalspur­gleise das Fabrikgelände durchziehen. Insofern kann sich der Beschluß der Stadt­verordneten­versammlung durchaus auf diese internen Gleise beziehen, die an einer Stelle auch die Weiterstädter Straße queren.