Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt
Das Industriestammgleis „C“
Geschichte und Spurensuche in der Landwehrstraße
1872 wurde in der damaligen Blumenthalstraße, der heutigen Kasinostraße, ein erstes Industriestammgleis gelegt. Westlich davon entstand im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts eine neue Werkstätten- und Industrielandschaft, das sogenannte Fabrikviertel. Nach jahrelangem Klagen erhielten einige dieser Unternehmen entlang der Landwehrstraße 1894 einen eigenen Gleisanschluß seitens der Main-Neckar-Eisenbahn. Fünf dieser Anschließer werden auf dieser Seite vorgestellt. Die Geschichte der Erschließung des Fabrikviertels mit Gleisanlagen wird gesondert dargestellt.
Abbildung 1: Die bescheidenen Anfänge des Fabrikviertels auf einem Darmstädter Stadtplan von 1878 [online ulb darmstadt]. Typisch sind die langstreifigen Parzellen, welche expandierende Betriebe nur begrenzt begünstigten. Die Dampfkesselfabrik von Theordor Rodberg firmiert hier in der Landwehrstraße 63, hier noch Landwehrweg genannt. Sie erwarb das östlich gelegene Nachbargrundstück Nummer 61, als die projektierte Verlängerung der Feldbergstraße nicht realisiert wurde. Die kleine Fabrik von Venuleth & Ellenberger erweiterte ihr Areal später bis hin zur Pallaswiesenstraße.
Von den Mitte der 1950er Jahre noch rund dreißig Anschlußgleisen sind nur wenige übrig geblieben, keines davon in der Landwehrstraße. 2021 werden nur noch die Autologistik am ehemaligen Bahnbetriebswerk, Hofmann-Rieg und Evonik an der Kreuzung Mainzer und Landwehrstraße mit der Kirschenallee, sowie am Nordbahnhof Merck angefahren. Ob Donges wenigstens ab und zu noch bedient wird, ist mir nicht bekannt; theoretisch wären hier zwei Gleiszuführungen nutzbar.
Zum Zwecke der Darstellung habe ich den Industriestammgleisen fiktive Buchstaben von A bis H zugewiesen. Sie tauchen daher weder in zeitgenössischen Planungen noch in Plänen und Dokumenten auf. Für das Gleis in der Landwehrstraße verwende ich den Buchstaben „C“. Es beginnt an der Kirschenallee als Fortsetzung des Gleises „B“ in der ehemaligen Weiterstädter und heutigen Mainzer Straße. 1894 endete es an der Main-Neckar-Eisenbahn, die etwa auf Höhe der sogenannten Zeppelinhalle die Landwehrstraße gekreuzt hat. Beim Umbau der Bahnanlagen im Zuge der Errichtung eines neuen Hauptbahnhofes wurde 1912 diese Verbindung gekappt und statt dessen eine neue Verbindung über das Gleis „G“ zu den vorherigen Gleisanlagen der Hessischen Ludwigsbahn an der Knell hergestellt.
Abbildung 2: Sieht etwas verwirrend aus, aber: Grundlage dieses Plans ist eine Flurkarte von 1906 aus dem Stadtarchiv Darmstadt. Kristof Doffing hat sie mit Hilfe von OpenStreetMap überlagert mit der heutigen Bebauung. Die Ziffern bedeuten: 1 Anschlußgleis der Palmkernölfabrik und später der Motorenfabrik, 2 Anschlußgleis von Venuleth und Ellenberger, 3 Anschlußgleis der Tapetenfabrik und später der Herdfabrik, 4 Anschlußgleis der Dampfkesselfabrik Arthur Rodberg und 5 Anschlußgleis von Carl Schenck.
In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die umfangreichen Rangierfahrten auf den verschiedenen Stammgleisen von Dampflokomotiven der Baureihe 74 und später von Dieselloks der Baureihe V 60 durchgeführt.
Außer einem quasi museal erhaltenen Gleisstück ist vom Industriestammgleis in der Landwehrstraße nichts mehr vorhanden. Die Darstellung orientiert sich an erhaltenen Gleisplänen vor allem aus den 1950er und 1960er Jahren. Selbstredend hat es hier im Detail in mehr als einhundert Jahren so manche Änderung gegeben. Auf einem an anderer Stelle dieser Webseite benutzten Lageplan von 1906 befindet sich dieses Stammgleis beim Punkt [⇒ L10], auf der Übersichtskarte zum Fabrikviertel ist es mit dem Buchstaben „C“ bezeichnet.
Die Motorenfabrik
Abbildung 3: Motorenfabrik an der Kirschenallee anno 1906.
Ein wenig idyllisch kommt diese stilisierte Darstellung des Geländes der Motorenfabrik an der Kirschenallee daher. Zwar hat auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Stahlbauer Donges schon seine Halle hochgezogen, doch hier trübt kein rauchender Schornstein das Bild. Dabei muß es zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch östlich der Kirschenallee schon einige Bauten mehr gegeben haben, wie ein Stadtplan von 1902 verrät. Weder sehen wir die Fabrikhallen von Venuleth und Ellenberger noch die Werkshallen der Dampfkesselfabrik Rodberg. Auch die Eisenbahnstrecke der Main-Neckar-Bahn sollte im Hintergrund zu erkennen sein. Der Grafiker, vielleicht auch die Grafikerin, hat hier wohl den Auftrag erhalten, sich voll und ganz auf die Ursprünge der Motorenfabrik zu konzentrieren und überflüssiges Beiwerk schonend zu eliminieren. Aus derartigen Bildern Rückschlüsse auf eine tatsächliche Bebauung ziehen zu wollen, wäre demnach höchstproblematisch.
Abbildung 4: Stilisierte Darstellung der Motorenfabrik 1931.
Ein Vierteljahrhundert später rauchen im Hintergrund die Schlote artig in derselben Weise. Der Gleisanschluß wurde seit der Erstanlage 1894 grundlegend verändert. Damals gehörte das Gelände an der Landwehrstraße noch einer Palmkernölfabrik und das Backsteingebäude, in dem heute [2021] die Haarfabrik untergebracht ist, ist ein letztes Überbleibsel aus dieser Zeit. Wie auf der obigen Grafik zu ersehen ist, gehen von der Drehscheibe im Hof drei Binnengleise ab; dies entspricht den Angaben der Flurkarte von 1906. Ein halbes Jahrhundert später finden wir die Drehscheibe weiter östlich vor und ein Gleis geht von hier in eine Werkshalle ab.
Abbildung 5: Anschlußplan für die Motorenfabrik in der Landwehrstraße 1960.
1960 zweigte der Gleisanschluß der Motorenfabrik mittels einer Weiche in das Werksgelände ab und wurde dort als Gleis 1 auf eine im Durchmesser 8 Meter große Drehscheibe geführt. Gleis 2 besaß eine nutzbare Länge von elf Metern und führte über eine Gleiswaage mit einer Tragfähigkeit von 50 Tonnen. Nach Westen hin verlief Gleis 3 25,7 Meter weit (in Richtung der ursprünglichen und vielleicht hier wiederverwendeten Drehscheibe von 1894), während Gleis 4 in die Werkhalle (mechanische Werkstatt) geleitet wurde und dort nach 67,3 Metern endete. Aber dies war nicht immer so gewesen.
Abbildung 6: Werbeannonce der Motorenfabrik in der „Darmstädter Zeitung“ am 11. Mai 1912 [online ulb darmstadt].
Doch blicken wir erst einmal anderthalb Jahrhunderte zurück. Laut Adreßbuch vom Januar 1873 finden wir auf dem Gelände Nummer 75 (zuvor Landwehrweg Nummer 53) zunächst die Maschinenfabrik von Adolph Metzger und Wilhelm Venuleth, der sich 1875 statt dessen mit Gustav Ellenberger zusammantat. Im Sommer 1876 stellten sie auf der Darmstädter Industrieausstellung mehrere kleine Dampfmaschinen, eine Maisquetsche und einen Maischapparat aus. Vier Jahre nach dem Tod Gustav Ellenbergers wurde das Unternehmen am 8. Juli 1889 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. [1]
Im Juni 1883 erweiterten Gustav Ellenberger und Wilhelm Venuleth ihr Anwesen um den Bereich mit der Hausnummer 79 und errichteten dort eine Palmkernölfabrik. Diese ging 1893 an Wilhelm Wölcke über und etwa 1902 an Joseph Heinrich Finger [2]. Während des Ersten Weltkrieges finden wir hier die Apparate- und Maschinenbaufabrik von Richard Rieder und Giulio Peratoner. Diese ging jedoch in Konkurs und wurde 1919 aus dem Handelsregister gelöscht [3]. Folglich finden wir im Adreßbuch für 1920 das Gelände im Eigentum der Bank für Handel und Industrie, von der oder über die es die Motorenfabrik erwerben konnte. So sieht es nach den Einträgen im Adreßbuch aus, doch der Erwerb des Grundstücks erfolgte wohl schon 1917.
Diese Motorenfabrik wurde 1906 als Aktiengesellschaft gegründet. Zum 25-jährigen Geschäftsjubiläum rekapitulierte eine firmeneigene Denkschrift die bescheidenen Anfänge des Werks.
„Der eigentliche Gründer des Werkes ist der Ingenieur August Koch. Er erbaute im Jahr 1902 in der Kirschenallee 9 eine kleine Werkstätte für Molkerei-Maschinen und fabrizierte hauptsächlich Milchzentrifugen mit Schnurantrieb und Milchkühler. Die Belegschaft bestand aus einem Werkmeister und 8 Arbeitern. Absatzgebiete waren vorwiegend der Odenwald, Westfalen, Schlesien und Rußland.“
Nun wird August Koch das Werk sicher nicht eigenhändig errichtet haben, sondern hat andere für sich malochen lassen. Die Konkurrenz schlief jedenfalls nicht, und so mußte er aufgrund von Absatzschwierigkeiten auf die Produktion von Verbrennungskraftmaschinen umsatteln. Der Bau von zunächst kleinen Motoren mit 10 PS Leistung und aufgrund der Nachfrage auch bald größeren Exemplaren erforderte den Bau einer neuen großen Werkhalle (im idyllischen Bild von 1906 rechts), der nur durch frisches Kapital zu bewerkstelligen war. Doch auch das nun als G.m.b.H. firmende Werk erwies sich bald als zu klein, weshalb der Kaufmann Friedrich May in das Unternehmen eintrat, es in eine Aktiengesellschaft umwandelte, deren Leitung er zusammen mit dem Firmengründer übernahm. Weitere Gesellschafter waren der Rentner Emil Pistor aus Freiburg, sowie der Apotheker Fritz Schmitz und der Ingenieur Oskar Findeisen, beide aus Darmstadt. Diese Fünf brachten die bisherige Fabrik als Sacheinlage ein, während der Bankier Jakob Wolff aus Frankfurt 210.000 Reichsmark beisteuerte. Das Gesamtkapital bestand aus 500.000 Mark, aufgesplittet in fünfhundert Aktien. 1907 wird es um 100.000 Mark aufgestockt, um die Solos Motoren G.m.b.H. in Wiesbaden beteiligen zu können. Diese Geschichte wird weiter unten fortgesetzt.
Zunächst schauen wir uns aber die Örtlichkeiten an.
Abbildung 7: Innenansicht der mechanischen Werkstätte der Motorenfabrik, Ende 1920er Jahre. Es handelt sich hierbei um dieselbe Halle, die auch heute noch entlang der Kirschenallee als architektonischer Ausdruck der Zwanziger Jahre zu bewundern ist. Aufgenommen vermutlich zur Mittagszeit und mit Blick auf das südliche Ende.
Bild 8: Außenansicht der Westfassade der Motorendabrik. Aufnahme vom Juni 2016.
Bild 9: Seit wenigen Jahren ziert die Vorderfront des Gebäudes das leicht veränderte Logo der früheren Motorenfabrik. Damit ist allerdings eine Event-Location in den Innenräumen gemeint, die seit 2016 angekündigt ist, aber [2021] immer noch nicht funzt. Gründe dürften Probleme im Umgang mit der Seveso-II-Richtlinie und der Corona-Pandemie sein. Aufnahme vom Mai 2019.
Bild 10: Die Motorenfabrik und davor das Geschäftslokal der heute dort residierenden Haarfabrik. Aufnahme vom Dezember 2014.
Bild 11: Dieses Gebäude ist älter als die Motorenfabrik und diente vermutlich schon der Palmkernölfabrik als Büro- und Lagergebäude. Aufnahme vom Dezember 2013.
Begeben wir uns nun auf die Spurensuche nach den sichtbaren Resten des ehemaligen Gleisanschlusses. Die folgende Aufnahme zeigt die „Spinne“. Hier kreuzten die Landwehrstraße, die Mainzer Straße und die Kirschenallee die verschiedenen Industriestammgleise. Im Juni 1956, als die folgende Aufnahme entstand, war der Verkehr noch mäßig und benötigte keine Ampelschaltung. Das Industriestammgleis „C“ liegt am linken Straßenrand der Landwehrstraße. Die Weiche zur Motorenfabrik ist noch intakt.
Bild 12: Die „Spinne“ im Juni 1956. Quelle: Evonik Industries AG, Konzernarchiv; mit freundlicher Genehmigung.
Bild 13: Die Landwehrstraße. Dort, wo der Asphalt liegt und an Werktagen Automobile vor sich hinrosten, lag das Industriestammgleis. Mich würde es nicht wundern, wenn es noch unter der Teerdecke schlummert. Aufnahme vom Juni 2015.
Bild 14: Die linke Schiene des Anschlußgleises an der Haarfabrik. Aufnahme vom September 2014.
Bild 15: Die Umrisse der ersten Drehscheibe spiegeln sich in den Asphaltrissen wieder. Das Anschlußgleis verlief am Fahrradständer entlang und tangierte die alte Drehscheibe. Aufnahme vom Januar 2013.
Wann der Gleisanschluß der Motorenfabrik verändert und die Drehscheibe verlegt wurde, ist unklar. Daß dies geschehen ist, zeigen die erhaltenen Planunterlagen. Die Umrisse der alten Drehscheibe im Asphalt, eine Aufnahme der neuen Drehscheibe (siehe unten) und einzelne Schienen belegen diesen Wandel. Vermutlich wird bei dem Umbau auch der alte Gleisanschluß von Venuleth & Ellenberger verschwunden sein. Und dann gibt es noch ein Gleis weit hinten im Hof, das auf den ersten Blick vollkommen unmotiviert herumliegt. Sein Sinn erschließt sich mit Blick auf die alte Drehscheibe. Denn von dort führte es schnurgerade nach Norden und endete wohl auf dem alten Gelände der Motorenfabrik.
Bild 16: Das Gleis im Hinterhof. Aufnahme vom Januar 2016.
Bild 17: Wenn der Frost der Asphalt aufsprengt, kommen die Überreste von Gleis 3 wieder zutage. Aufnahme vom September 2010.
Die folgende Aufnahme ist der Knaller schlechthin. Sie zeigt den Werkswagen Nummer 1 der Motorenfabrik auf der neuen Drehscheibe an der Landwehrstraße. Der Witz bei dieser Numerierung ist, daß es nur diesen einen Werkswagen gegeben hat. Diese Aufnahme soll 1951 oder 1952 entstanden sein und zeigt die damaligen Auszubildenden, damals noch Lehrlinge genannt. Die Anlage der Gleise an der Drehscheibe entspricht dem Lageplan, wobei das linke von der Drehscheibe abgehende Gleis bis in die Werkshalle verlängert gewesen ist. Die rechte Seite des noch aus der Länderbahnzeit stammenden Güterwaggons verdeckt das „Rößler Eck“ an der Kreuzung der Landwehr- mit der Rößlerstraße.
Bild 18: Der Werkswagen Nummer 1 der Motorenfabrik auf der Drehscheibe, 1951/52. Quelle: Sammlung Karl-Heinz Dingeldein, Darmstadt. Vielen Dank dafür.
Kehren wir zu den Anfängen der Motorenfabrik zurück. Schon bald wurde die Herstellung von Milchzentrifugen aufgegeben. Statt dessen produziertem die Arbeiter der Fabrik Motoren, Lokomobile und selbstfahrende Brennholzsägen. August Koch schied 1907 als Vorstandsmitglied aus. Der Erste Weltkrieg erforderte die Umstellung der Produktion auf allerlei Tötungsgerät als profitablen Beitrag der Heimatfront zum ersehnten Sieg; und natürlich stimmte dann auch die Dividende, während das einfache Volk verblutete, hungerte und fror.
„In den folgenden Monaten belebte sich das Motorengeschäft allmählich wieder, was auch besonders darauf zurückzuführen ist, daß wir von verschiedenen Heeresverwaltungen Aufträge auf stationäre und fahrbare Motoren erhielten. Im Dezember 1914 nahmen wir die Bearbeitung von Granaten mit auf, und waren, nachdem wir unsere Fabrikationseinrichtungen diesen Erfordernissen angepaßt hatten, den ganzen Rest des Geschäftsjahres mit Tag- und Nachtbetrieb beschäftigt.“
So die Ausführungen im Geschäftsbericht 1914/15. Alsbald wurden auch Frauen und Mädchen eingestellt und mann machte hiermit „befriedigende Erfahrungen“. Das Geschäftsjahr 1916/17 war besonders erfolgreich, denn für die Inhaber gab es 10% Dividende, im Jahr darauf sogar 12%. Ende 1917 konnte man „preiswert“ das Fabrikanwesen Landwehrstraße 79 mit seinen 6731 Quadratmetern aufkaufen.
Nach der Niederlage konnte das Motorenbauprogramm wieder neu aufgelegt werden. Im Herbst 1920 richtete man die Werkstätten zur Reparatur von Eisenbahnwaggons ein. Das Fabrikgelände war nun etwa einen Hektar groß. 1923 wurde mit dem Bau der langen Werkhalle an der Kirschenallee begonnen, die zwei Jahre später bezogen werden konnte. Seit 1927 arbeitete das Unternehmen mit der zum Krupp-Konzern gehörenden Germaniawerft in Kiel zusammen. Das Standbein der Rüstungsproduktion sicherte den Erfolg des Unternehmens ab. Im November 1937 stieg die Denag in das Unternehmen ein, wozu das Gesellschaftskapital von inzwischen 540.000 auf eine Million Reichsmark erhöht wurde. Im Oktober 1939 wurde das Kapital verdoppelt, wobei die Demag alle neuen Aktien zeichnete. 1937/38 erwarb die Motorenfabrik zwei angrenzende Grundstücke, womit wohl das Areal von Venuleth und Ellenberger an der Landwehrstraße gemeint sein dürfte. Dort wurde die mechanische Werkstätte erweitert und 1939/40 der erste Bauabschnitt einer rund 7.000 Quadratmeter große Montagehalle durchgeführt; den zweiten hoffte man (1940), nach Kriegsende angehen zu können. Auf einer außerordentlichen Hauptversammlung am 16. März 1942 sollte die Gesellschaft ohne Liquidation auf den Hauptgesellschafter, die Firma Kämper Motoren Aktiengesellschaft in Berlin-Marienfelde, überführt werden.
1960 wurde die Motorenfabrik durch den Demag-Konzern vollständig übernommen, doch der Standort wurde als Folge der Übernahme durch Mannesmann 1973 stillgelegt. Die Gelände wurden anschließend an Schenck verkauft; die große Halle dient heute als Spielpark und („coming soon“) als Event-Location. Die Südfassade an der Landwehrstraße wurde modernen ästhetischen Vorstellungen angepaßt, was sie nicht unbedingt sehenswerter macht. [4]
Es gab vielleicht auch ein werkseigenes Schmalspurgleis entlang der Ostfassade der großen Halle. Vermutlich liegt es (verschüttet) immer noch dort.
Bild 19: Schmalspurgleis neben der großen Halle, wohl 600 mm. Aufnahme vom April 2012.
Venuleth und Ellenberger
Die Maschinenbauanstalt Venuleth und Ellenberger begann ihr Geschäft an der Landwehrstraße. Sie ließen sich bald nach der 1894 erfolgten Anlage des dortigen Industriestammgleises einen eigenen Gleisanschluß herstellen. Im Rechenschaftsbericht des Vorstands zur 7. ordentlichen Generalversammlung am 13. Mai 1896 für das Geschäftsjahr vom 15. Februar 1895 bis zum 15. Februar 1896 findet sich ein erster Hinweis hierauf. Das „Fuhrwesen-Conto“
„kam zur Auflösung durch Verkauf von Pferd und Wagen, welche durch Bahnanschluss entbehrlich geworden.“
Im Jahr darauf vermerkt der Vorstand zur 8. ordentlichen Generalversammlung am 14. Mai 1897 in Bezug auf das „Immobilien-Conto“:
„Es wurde ein Bahnanschluss und ein Fabrik-Geleise hergestellt und die Kosten dafür mit Mk. 3.279,18 dem Immobilien-Conto belastet […].“
Bild 20: Halle von Venuleth und Ellenberger an der Rößlerstraße, heute innen umgebaut als Atelier von Vera Röhm. Aufnahme vom März 2014.
Ende der 1930er Jahre scheint sich Venuleth und Ellenberger von der Landwehrstraße zurückgezogen zu haben, als die Motorenfabrik das dortige Gelände kaufte. Venuleth und Ellenberger besaß jedoch weiterhin ein großes Areal entlang der Rößlerstraße und natürlich die Fabrikhallen von Göhrig und Leuchs an der Pallaswiesenstraße, die man Anfang der 1920er Jahre im Zuge einer Fusion erworben hatte. Dort bestand seit Anfang der 1920er Jahre ein weiterer Gleisanschluß über das Industriestammgleis „F“. Dieser wurde über eine Drehscheibe weit nach Süden parallel zur Rößlerstraße geführt.
Die Herdfabrik
Auch der Gleisanschluß dre Herdfabrik erfuhr eine Veränderung. Die schon erwähnte Flurkarte von 1906 zeigt eine Weiche östlich der Rößlerstraße, von der der Gleisanschluß zu einer Drehscheibe geführt hat. Anders war um die Jahrhundertwende die starke Krümmung des Gleisradius in das schmale Werksgelände nicht zu bewerkstelligen. Ein halbes Jahrhundert später hingegen liegt die Weiche westlich der Rößlerstraße und die Drehscheibe ist verschwunden.
Abbildung 21: Anschlußplan für die Herdfabrik Saxo-Westfalia von 1956. Der Plan ist gewestet.
Der Gleisanschluß der Herdfabrik Meisterbrand Saxo-Westfalia, Kapp & Co., zweigte auf der Nordseite der Landwehrstraße ab. Die zugehörige Weiche befand sich noch westlich der kreuzenden Rößlerstraße. Das Anschlußgleis 1 verlief in einer Auflaufkurve von 35 Metern Halbmesser, durchquerte eine Werkhalle und endete mit einer Nutzlänge von 200 Metern innerhalb des Werksgeländes ohne festen Gleisabschluß. Gleis 2 war ein Stumpfgleis, ebenfalls ohne festen Abschluß. Der Zwischenraum zwischen beiden Gleisen war teilweise mit Pflastersteinen und Beton ausgefüllt. Vor dem 4,55 Meter breiten Einfahrtstor 1 befand sich eine Gleissperre. Die Rößlerstraße durfte nur bei Absicherung durch einen Rangierbediensteten und viel Geläute und Pfeiferei gequert werden. Die Rangierabteilung wurde ins Werksgelände geschoben. Logisch, die Lokomotive mußte ja wieder herauskommen können. Wie die Wagen von der Übergabestelle in das Werksgelände gelangten, war Sache der Herdfabrik.
Allerdings war es nicht die Herdfabrik, die sich den Gleisanschluß einrichten ließ. Um die Jahrhundertwende finden wir hier eine Tapetenfabrik. Übernommen hat diesen Anschluß die 1911 gegründete Herdfabrik und Emaillierwerke G.m.b.H. als „Sonderfabrik für Kochherde jeder Art und Größe“. Sie beschäftigte nach eigenen Angaben Mitte der 1920er Jahre rund 300 Arbeiter und 45 Beamte (Angestellte) im Stanzwerk, der Blechnerei, der Autogenschweißerei, der elektrischen Schweißerei, der Vernickelungsanstalt, der Naß- und Trockenschleiferei, der Poliererei, der Verzinnerei und Kupferschmiede, der Metallbeizanstalt, dem Emaillierwerk, der Emaillierschmelze, der Emailliermalerei und der Modellwerkstätte. Täglich wurden hier einhundert Kochherde der verschiedensten Art produziert. [5]
Abbildung 22: Ansicht des Fabrikgeländes mit dem Gleisanschluß am rechten Bildrand. Quelle: Kunst und Leben im Darmstadt von heute [1925, online ulb darmstadt].
Abbildung 23: Ansicht des Fabrikgeländes auf dem Deckblatt einer Meisterbrand-Broschüre, vermutlich aus den frühen 1960er Jahren.
Bild 24: Die Bauten der Herdfabrik sind verschwunden. Heute stehen hier moderne Hallen und Bürogebäude von Schenck. Aufnahme vom Mai 2011.
Tapeten, Herde und unerwünschte Nichtarier
Die Herdfabrik befand sich auf einem langgezogenen Streifen Erde zwischen Landwehr- und Pallaswiesenstraße, das von der Landwehrstraße zugänglich war. Es trug die Hausnummer 63, später auch 63–67. Laut Darmstädter Adreßbuch gehörte das Gelände zunächst dem aus Belgien stammenden Ingenieur und Kesselfabrikanten Theodor Rodberg (1815–1884); der erste diesbezügliche Eintrag datiert von 1873. Dort finden wir, noch unter der Bezeichnung Landwehrweg 47, erstmals auch seinen Sohn Arthur (1849–1914) als Kesselschmied vor. 1876 ist das Geschäft wohl auf Arthur übergegangen; folglich wird im Adreßbuch für 1878 Theodor als Kesselschmied und Arthur als Inhaber genannt. 1880 scheint Arthur auf das benachbarte Anwesen Nummer 61 gewechselt zu sein, während Theodor noch in Nummer 63 geführt ist. 1885 ist nur noch Arthur aufgeführt, der seine Werkstätte oder vielleicht auch schon Fabrik auf dem Gelände des Privatiers Adolph Klein errichtet hatte.
In demselben Adreßbuch von 1885 ist nunmehr der Tapetenfabrikant und (seit 1876) Hoflieferant Philipp Renn als Eigentümer des Anwesens Landwehrstraße 63 geführt. 1906 ist ein Wilhelm Ehrhardt der Inhaber der Darmstädter Tapetenfabrik, letztmals im 1912er Adreßbuch aufgeführt.
Nunmehr übernimmt die 1911 gegründete Herdabrik und Emaillierwerk G.m.b.H. den Betrieb. Ihr Markenzeichen sind die Alkoda-Herde. Das Stammkapital von zunächst 110.000 Mark zeichneten der Rentner Cerf Hanau und die Kaufleute Albert Konzelmann, Hugo Strauss und Adolf Trier, alle aus Darmstadt. 1912 steigt Joseph Renn als Nachfolger des verstorbenen Philipp Renn ein. Nach mehreren durch die Inflation erzwungenen Kapitalerhöhungen wird das Kapital der Gesellschaft am 8. Januar 1925 mit 306.110 neuen Reichsmark festgestellt.
Abbildung 25: Werbeannonce der Herdfabrik und Emaillierwerke. Quelle: nicht bekannt, vermutlich Ende der 1920er Jahre.
Bis 1937 hält das Unternehmen seine jüdischen Gesellschafter. Dann aber nimmt der Druck von außen zu. Von interessierter Seite wird das Amtsgericht Darmstadt mobilisiert. Der Bergwerksdirektor a.D. Heinrich Donath aus Leipzig fordert am 5. Januar 1937 Einsicht in das Gesellschafterverzeichnis und schiebt einige Tage später hinterher:
„Ich bin durch beständige Bezüge von Herden an dem Unternehmen interessiert. Mit der Geschäftsführung, insbesondere mt der Behandlung der Kundschaft kann ich nicht einverstanden sein. Deshalb will ich mit einem Hauptbeteiligten mich ins Benehmen setzen, evtl. mit dem Aufsichtsrat. Ich halte meinen Antrag daher für berechtigt.“
Ganz offensichtlich hatten die Gesellschafter bis dahin dem äußeren Druck standgehalten. Wenn alle deutschen Unternehmen so gehandelt hätten, wären den Nazis deutliche Grenzen gesetzt worden; doch Opportunismus und Profitgier erwiesen sich als handlungsmächtiger. Anderthalb Jahre später gab auch die Herdfabrik mit Schreiben vom 4. Juli 1937 an das Amtsgericht Darmstadt nach.
„Wir bitten um Berichtigung des Eintrags betreffend unsere Firma Herdfabrik und Emaillierwerk, Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Darmstadt aufgrund beiliegenden Protokolls über die Gesellschafterversammlung vom 18.6.1938. Die Geschäftsanteile sind aufgrund dieses Protokolls nun wie folgt:“
Es folgt als Auflistung: Albert Konzelmann, Arier, RM. 158.195,– (bis 18.6.1938 104.530,–), Geschäftsführer und Betriebsführer der Firma; Josef Renn, Kempten im Allgäu, Arier, RM 72.325,– (18.660,–), Vorbesitzer eines Teils der Firmengrundstücke vor Gründung der Firma; Hugo Strauss, Darmstadt, Nichtarier, RM 23.330,– (65.330,–); Otto Adler, Frankfurt am Main (als Nachfolger des 1919 verstorbenen Adolf Trier), Nichtarier, ausgeschieden (65.330,–); und C. Hanau, Darmstadt, Nichtarier, RM 52.260,– (52.260,–). Insgesamt beträgt das Gesellschaftskapital weiterhin 306.110 Reichsmark. Und weiter:
„Die beiden Arier Konzelmann und Renn verfügen über arische Anteile RM. 230.520,–, die nichtarischen Anteile über RM 75.590,–, die Arier haben also mehr als 75% des gesamten Stammkapitals.
Das Weitere wird Sie wohl nicht interessieren, immerhin wollen wir es bemerken: Es sind Verhandlungen im Gang, dass in Bälde der Restbetrag der Anteile Strauss mit RM. 23.330,– in die Hände der Arier Konzelmann und Renn gegen Barzahlung übergeht; daraufhin kommt rasch nacheinander der Anteil Hanau.
Heil Hitler!“
Am 6. Februar 1939 wurde dem Amtsgericht Vollzug gemeldet. Konzelmann hielt nunmehr 195.990 RM und Renn 110.120 RM. Cerf Hanau war am 23. November 1938 in Darmstadt gestorben und seine Erben waren wohl entsprechend unter Druck gesetzt worden, ihre Anteile zu verkaufen. Daß die Anteile weit unter Wert abgegeben werden mußten, versteht sich angesichts des politischen Drucks von selbst.
Durch den verheerenden Bombenangriff auf Darmstadts im September 1944 sollen die Unterlagen des Unternehmens, auch die im Panzerschrank, verbrannt sein. Das Amtsgericht forderte zur Erneuerung des Handelsregisters einige Unterlagen an. Dazu sah sich die Herdfabrik mit einer sehr eigenwilligen Begründung vom 31. Januar 1946 nicht in der Lage:
„Der ganze Briefwechsel wurde nach dem Einmarsch vernichtet und verschleppt, so dass wir keine Unterlagen haben für das, was in Ihrem Schreiben zur Erledigung aufgegeben ist.“
Nach Ende der Naziherrschaft wollten die Überlebenden bzw. Erbinnen und Erben der ehemaligen jüdischen Eigentümer ihren Anteil am Unternehmen zurückerhalten. Vor der Wiedergutmachungskammer am Amtsgericht Darmstadt ergab ein Vergleich am 10. Oktober 1951 den Verzicht der Beteiligten „auf Nutzungen und Verwendungen sowie auf die Rückgewähr des Kaufgeldes“. Zudem entschied das Gericht die Wiedereinsetzung der vorherigen Eigentümer bzw. ihrer Nachfolger. Dies lief daraif hinaus, daß nunmehr die Gesellschaftsanteile wie folgt verteilt waren. Carl Albert Konzelmann Erben 104.530,– RM/DM; Josef Renn Erben 18.660,– RM/DM; Frau Luise Adler. geb. Trier 65.330,– RM/DM; Frau Elisabeth von Hye-Kerkdal, geb. Strauß 65.330,– RM/DM; die Erben hinter Cerf Hanau in ungeteilter Erbengemeinschaft 52.260,– RM/DM. Doch es gab nichts mehr zu verteilen. Aufgrund der „nichtarischen“ Ansprüche war von der US-amerikanischen Militärverwaltung Vermögenskontrolle und Treihänderschaft angeordnet worden. Wer sich nach 1945 dann wie bereichert hat, ist aus den Akten nicht eindeutig zu klären; das daraus resultierende Konkursverfahren lief bis 1959, anschließend wurde die Firma im Handelsregister gelöscht.
Das Gelände an der Landwehrstraße ging Mitte der 1950er Jahre auf eine Herdfabrik aus Hannover über. 1949 gründeten dort Marie Ostermann und die mit ihr verschwägerte Anneliese Kapp die Saxo-Westfalia Ostermann & Co., deren Firma im Juli 1952 in Meisterbrand-Herdfabrik Saxo-Westfalia Kapp & Co. geändert wurde. Diese verlegte im Januar 1954 ihren Sitz von Hannover nach Darmstadt, wobei sie das Gelände und die Maschinen für 240.000 DM erwarben. An der Fortführung der Alkoda-Linie war ihr nicht gelegen, denn sie produzierte Heißluftherde, nur am Grundstück und vor allem an den Maschinen war sie interessiert. Marie Ostermann schied 1963 aus, 1976 verstarb der Mitinhaber Walter Kapp. Das Unternehmen wurde daraufhin bis 1980 abgewickelt.
Bald darauf dürfte die Carl Schenck AG das Gelände übernommen haben.
Die Dampfkesselfabrik von Arthur Rodberg
1899 brachte Arthur Rodberg seine Dampfkesselfabrik in eine neu gegründete Aktiengesellschaft ein. Das Unternehmen firmierte nunmehr als Dampfkesselfabrik vormals Arthur Rodberg A.-G. Der Namensgeber blieb der Fabrik noch einige Jahre als Direktor erhalten. Dabei profitierte er bei der Umwandlung finanziell. Er und seine Ehefrau brachten das Grundstück, die Fabrik, Warenvorräte und halbfertige Fabrikate mit 612.479,44 Mark ein. Hierfür erhielt er 400 Aktien im Wert von 400.000 Mark und den Restbetrag bar ausbezahlt. Nach heutiger Kaufkraft war er nunmehr Millionär. Das Grundkapital der Gesellschaft betrug zunächst 500.000 Mark. Anfang der 1920er Jahre kaufte sich die Aquila A.-G., eine Holding von mehreren Rothschild-Brüdern, in die Gesellschaft ein und übernahm sie. 1935 wurde die Dampfkesselfabrik im Zuge einer „Arisierung“ mit der Darmstädter Niederlassung Bahnbedarf der Aquila A.-G. zur Bahnbedarf-Rodberg A.-G. verschmolzen, danach verkauft und 1939 in eine GmbH umgewandelt. Das Unternehmen schloß im März 1969 seine Darmstädter Tore. Auch dieses Fabrikgelände ging Ende der 1960er oder Anfang der 1970er Jahre an die Maschinenfabrik Carl Schenck. [6]
»» Fragmente zur Geschichte der Dampfkesselfabrik Rodberg habe ich auf einer eigenen Unterseite zusammengetragen.
Abbildung 26: Das Fabrikgelände der Dampfkesselfabrik vormals Arthur Rodberg A.-G., links das Industriegleis auf der Landwehrstraße. Die Abbildung entspricht dem Briefkopf, der im IHK-Bändchen „Rauchende Schlote“ 2012 veröffentlicht wurde. Quelle: Annonce des Unternehmens im Band „Monographien deutscher Städte. Band III Darmstadt“ [1913]. Daß das Unternehmen nicht direkt an der Main-Neckar-Eisenbahn gelegen war und dazwischen noch die Maschinenfabrik von Carl Schenck gestanden hat, müssen wir der künstlerischen Freiheit des Grafikers zuschreiben.
Im Zweiten Weltkrieg profitierte auch Bahnbedarf-Rodberg von der Zwangsarbeit kriegsgefangener Männer. So waren zwischen September 1942 und April 1943 29 bzw. 152 Männer im Gemeinschaftslager des Unternehmens untergebracht [7]. Natürlich galt ein solcher Kriegsprofiteur nicht als Nazi, und so kam es, daß am 31. Juli 1948 auf Initiative von Carl-Hugo Jäger, dem Direktor der Bahnbedarf-Rodberg G.m.b.H. in Darmstadt, die Gründungsversammlung der „Bezirksgruppe Darmstadt und Südhessen des Arbeitgeberverbandes der hessischen Metallindustrie“ stattfand. 21 Firmenvertreter der Metallindustrie waren zusammengekommen, und sie konnten sich gewiß Anekdoten über die profitablen Gefangenenlager erzählen, bevor sie Jäger zu ihrem 1. Vorsitzenden wählten. [8]
Abbildung 27: Anschlußplan für Bahnbedarf Rodberg, Werk III, 1963, in der Landwehrstraße 61.
Eine Dienstanweisung beschrieb 1964 die noch vorhandenen Rodberg'schen Gleisanlagen:
„Das Anschlußgleis 2 ist durch die Weiche I mit dem Industriestammgleis der Stadt Darmstadt verbunden. Es verläuft zunächst in östlicher Richtung, biegt dann nach Norden (Halbmesser 35 m) ab und führt nach 75 m durch ein Hallentor von 4,20 m lichter Weite in eine Montagehalle. Das Gleis 2 hat eine nutzbare Länge von 120 m in einem Gefälle von 1:245, anschließend auf eine Länge von 158 m in einem Gefälle von 1:779. Ein behelfsmäßiger Gleisabschluß durch aufgeschweißte Eisenkeile ist vorhanden.“
Von diesem Gleis zweigte in der Halle ein Gleis ins Außengelände ab. Heute ist hiervon nichts mehr zu erkennen, denn die Carl Schenck A.-G. hat das Gelände grundlegend überbaut. Doch wie sah es im Innern der Rodberg'schen Fabrikanlage aus? Am 18. März 1901 besuchten Darmstädter Honoratioren das Werk.
Eine Besichtigungstour
„Nachdem der Gewerbeverein am verflossenen Sonntag das nach neuesten Erfahrungen, wie schon berichtet, eingerichtete elektro-therapeutische Heilinstitut des Herrn Dr. Lossen in der Steinstraße besichtigt hatte, wozu etwa 150 Teilnehmer erschienen waren, unternahm er am Montag nachmittag die Besichtigung zweier hiesiger Fabriketablissements und zwar der Dampfkesselfabrik vormals Arthur Rodberg, A.-G., und der Aktien-Maschinenbauanstalt vorm. Venuleth und Ellenberger. Der erste Rundgang galt der Rodbergschen Fabrik. Dieses Etablissement bedeckt ca. 20.000 Quadratmeter Bodenfläche und ist das größte und bedeutendste Werk dieser Branche am hiesigen Platze und in weitem Umkreise.
Große, prächtige eiserne Hallen, wovon die Haupthalle die respektable Länge von 75 Metern besitzt, überdecken die Fabrik. Schienengeleise vermitteln den Verkehr mit der Main-Neckarbahn und auch innerhalb der Fabrik sind einzelne Abteilungen durch Schienengeleisanlagen miteinander verbunden. Mittels eines großen elektrisch angetriebenen Laufkrahnens von 500 Centner Tragkraft werden die größten Dampfkessel wie Spielzeug hin und her transportiert, bezw. in die Eisenbahnwaggons gesetzt. Außerdem sind für die Transporte noch mehrere andere Lauf- und Drehkrähne vorhanden. Für die Herstellung der Kessel sind Maschinen modernster Bauart vorhanden. In erster Linie ist hervorzuheben die große hydraulische Nietmaschine mit 2,5 Meter Ausladung, die mittelst eines besonderen Krahnens an beliebige Stellen gefahren werden kann.
Mit dieser Maschine, die eine der vollkommensten Erfindungen der Neuzeit ist und von Breuer, Schumacher & Co. in Kalk stammt, werden Nieten bis zu 30 Millimeter Dicke verarbeitet. Außerdem ist eine Nietmaschine für kleinere Gegenstände vorhanden. Die Nietmaschinen arbeiten mit 200 Atmosphären, sodaß also auf die Nieten mit einem Druck von 90.000 Kilogramm gedrückt wird. Die Maschinen arbeiten sehr exakt und werden die Nietköpfe innerhalb einiger Sekunden tadellos dicht und sauber an das Blech angedrückt. Mit hydraulischem Drucke werden auch mittelst einer besonderen Presse die Kesselbleche an den Enden angebogen, welche Arbeit sonst durch Hämmern erfolgt, wobei aber die Bleche stark notleiden und zu Nietrissen oft Veranlassung gegeben ist. Das Biegen geschieht in kaltem Zustande der Bleche, was bei dem stahlartigen Gefüge der ausschließlich zur Verwendung kommenden Siemens-Martin-Bleche von besonderer Wichtigkeit ist, weil dieses Material eine ungleichmäßige Erwärmung nicht vertragen kann.
Zum Bohren der Nietlöcher für die Kessel dienen eine ganze Reihe von Spezialbohrmaschinen amerikanischen und deutschen Ursprungs, wovon diejenige von der Firma Heyligenstaedt in Gießen die größte Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Diese Maschine ist mit 4 Bohrspindeln versehen, die von einer Welle aus angetrieben werden, womit also 4 Nietlöcher auf einmal gebohrt werden.
Der betreffende zu bohrende Kessel ist in einem besonderen Bette in Eisenkonstruktion auf Rädern gelagert und wird maschinell um seine Axe sowohl, als auch vor- und rückwärts bewegt. Das Bohren der Feurrohre an den Enden, wo dieselben mit der Stirnwand des Kessels verbunden werden, erfolgt mittelst elektrischer, fahrbarer Bohrmaschine. Die sonstigen Maschinen, wie Lochmaschinen zum Stanzen von Blechen für Behälter und Gefäße, Blechscheren, Kreissägen zum Abschneiden von Eisenteilen jeder Stärke, Hobel- und Shapingmaschinen, Drehbänke u. s. w. sind sämtlich moderner Bauart.
Eine interessante des Fleißes und der hohen Geschicklichkeit der Arbeiter bildet die schöne, geräumige und mit vorzüglicher Ventilation versehene Schmiede- und Schweißerei-Werkstätte mit ihrem elektrisch angetriebenen Riesengebläse. Die darin zur Ausführung gelangenden schwierigen Feuerarbeiten zeugen davon, daß die Firma darin Erstaunliches leistet, und daß deren ausgedehnter guter Ruf in geschweißten Arbeiten vollkommen gerechtfertigt ist. Ein Schaustück dieser Art bildete eine durch Wassermangel an mehreren Stellen eingedrückte Feuerbüchse eines stehenden Kessels mit Querröhren, denn trotz der enormen Einbeulungen zeigte sich an den Schweißstellen nicht eine einzige gerissene Stelle. Für dieses Stück wurde die Firma mit der bayerischen Staatsmedaille ausgezeichnet.
Die in der Fabrik liegenden fertigen und angefangenen Dampfkessel zeugen von exakter und solider Ausführung, und waren darunter drei Röhrenkessel für je 800 Pferdekrädte für das städtische Elektrizitätswerk in Worms, vier Cornwallkessel à 90 qm Heizfläche für das Großh. Landeshospital und ein Röhrenkessel von 200 qm Heizfläche für die Brauerei von Gebrüder Wiener hier durch ihre Riesendimensionen besonders bemerkbar. Von Interesse waren auch die vorgezeigten Pläne der durch die Firma ausgeführten großen Dampfkesselanlagen für die Badischen Staatseisenbahnen, die Main-Neckar-Bahn, sowie das hiesige Elektrizitätswerk, die Elektrizitätswerke in Auerbach und Heppenheim. Die Betriebskraft der Firma besteht aus einem Röhrenkessel mit Ueberhitzer nebst einer hundertpferdigen Gritznerschen Tandem-Heißdampfmaschine, deren Hochdruckcylinder mit auf 350° Celsius erhitztem Dampf arbeitet. Die Maschine ist ferner mit Kondensation versehen und erfolgt die Kühlung des hierfür zur Verwendung kommenden Kondenswassers durch einen Kühlturm, sog. Gradierwerk. Die Uebertragung der Kraft wird auf zwei Dynamomaschinen bewirkt, wovon die eine für Licht, die andere für Kraftzwecke bestimmt ist; von letzterer aus werden die in dem Werke befindlichen sechs Elektromotoren gespeist. Maschinen- und Kesselhaus allein schon bilden eine Sehenswürdigkeit für sich und dürften jedem Betriebe als Musteranlage modernsten Stils dienen.
Die zahlreich erschienenen Mitglieder des Gewerbevereins werden es dem verdienten Direktor der Aktiengesellschaft, Herrn Rodberg, Dank wissen, daß er ihnen Gelegenheit gab, ein Werk von so bedeutendem Umfange – es beschäftigt ca. 150 Arbeiter – und von so großartigen Einrichtungen kennen zu lernen. Dem Danke gaben die Herren Rockel und Möser am Schlusse bei einem frischen Trunk Bier, den die Firma gespendet, besonderen Ausdruck.
Den Schluß dieser Besichtigungen bildete ein Besuch des Feilenfabrik des Herrn Michel [Landwehrstraße 67]. Hier konnte man sehen, wie aus kleinen Anfängen ein fabrikmäßiger Betrieb mit 15 Arbeitern entstanden ist. – Der ganze Ausflug verlief in befriedigendster Weise.“
Quelle: Darmstädter Zeitung vom 21. März 1901 [online ulb darmstadt].
Logisch. Es gab ja technischen Schnickschnack und sicherlich ausreichend Bier. Was wollen Honoratioren mehr? [9]
Bild 28: Dampfkessel Nr. 2057 der Kesselschmiede von Arthur Rodberg von 1888 mit 6 Atmosphären. Quelle: Merck-Archiv, Bildnr. 22360-01. Mit freundlicher Genehmigung.
Bild 29: Transport eines Rodberg-Dampfkessels an oder durch das Baugeschäft Heinrich Reuss in Friedberg, möglicherweise noch vor dem Ersten Weltkrieg; Hoffotograf Ludwig Schmidt aus Friedberg.
Die Waagenfabrik von Carl Schenck
Im Mai 1870 eröffneten Georg Arnold und Eduard Reuling am Landwehrweg 43 eine Eisen- und Messinggießerei. Sie betrieben eine weitere derartige Gießerei in Mannheim. Elf Jahre später nahm der 1835 in Herborn geborene Carl Schenck die Gelegenheit wahr, die Gießerei zu erwerben und seinen eigenen Bedürfnissen anzupassen. Seine Spezialität waren von ihm selbst konstruierte Waagen, insbesondere Laufgewichtswaagen, die zur Jahrhundertwende zum Besten gehörten, was es an Waagen in Europa gab. 1894 wandelte er sein Unternehmen in eine G.m.b.H. um, geleitet von seinem Schwiegersohn Georg Büchner und seinem Neffen Emil Schenck. Er selbst zog sich in den Aufsichtsrat zurück. Im selben Jahr wurde die Fabrik an das Industriestammgleis entlang der Landwehrstraße angebunden. [10]
Abbildung 30: Gepäck- und Laufgewichtswaage von Carl Schenck. Quelle: Organ für die Fortschritte des Eisenbahnwesens in technischer Beziehung [1894, online ulb darmstadt]. Mit Dank an das Digitalisierungszentrum der ULB.
Abbildung 31: Waggonwaage von Carl Schenck. Quelle: Organ für die Fortschritte des Eisenbahnwesens in technischer Beziehung [1894, online ulb darmstadt]. Mit Dank an das Digitalisierungszentrum der ULB.
Auch Emil Schenck arbeitete mit den Nazis zusammen, um seinem Unternehmen Aufträge zu verschaffen und als heereswichtiger Betrieb zu gelten. Dennoch galt er 1945 von allen Industriellen als noch am ehesten vorzeigbar, um einen neuen Präsidenten der Industrie- und Handelskammer zu benennen. In den ersten Monaten nach dem Einmarsch der US-Armee in Darmstadt war deren Administration noch recht rigide, was den Einfluß alter Nazis in Politik und Wirtschaft betraf. So wurde noch 1945 der Sozialdemokrat Ludwig Metzger als Oberbürgermeister von Darmstadt wieder abgesetzt, nachdem er sich geweigert hatte, die Stadtverwaltung von Nazis zu säubern. Das sollte sich schnell ändern, als mit Beginn des Kalten Krieges das Reich des Bösen nunmehr wieder weiter im Osten lag.
In dem 1950er Jahren befand sich das Anschlußgleis des Unternehmens an der Ostseite und wurde durch das Industriestammgleis „G“ angebunden. Wann der Anschluß an der Landwehrstraße durch Schenck aufgegeben wurde, ist nicht bekannt.
Bild 32: Quasi museal erhaltenes Gleisstück in der Landwehrstraße. Aufnahme vom April 2012.
Bild 33: Aufgehübschter Hauseingang Schenck in der Landwehrstraße 55. Aufnahme vom März 2011.
Dieses Idyll hat gewiß nichts mit den harten Arbeitsbedingungen (hart für die Arbeiter, nicht für die Chefs) der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu tun. Etwa hier, vor der Schenck'schen Haustüre, beginnt ein längerer Gleisabschnitt, der in einer sogenannten Deutschlandkurve endet.
In Höhe der Rodberg'schen Fabrik wurde 1894 eine Gleiskurve zu den Bahnanlagen der Main-Neckar-Eisenbahn gelegt. Diese wurde spätestens 1912 wieder abgebaut, als durch die Westverlagerung der Darmstädter Hauptbahnhofs das Fabrikviertel mit dem neuen Güterbahnhof verbunden worden war. Statt dessen wurde das Industriestammgleis nunmehr nach Norden in Richtung Ausbesserungswerk verlängert. Theoretisch hätte der Güterverkehr ins Fabrikviertel im Kreis gefahren werden können, aber in der Praxis scheint dies nicht vorgekommen zu sein. Vermutlich war die bei Schenck verbaute Deutschlandkurve das Problem. Diese durfte nur mit kleinen Rangierlokomotiven befahren werden. Diese Auflaufkurve der Maschinenfabrik Deutschland konnte zumindest in den 1950er und 1960er Jahren nur mit Triebfahrzeugen befahren werden, die Bahnbedarf-Rodberg gehören; so stand es in einer Dienstanweisung der Bundesbahn. Sie dienten dem Verkehr zwischen den Werksteilen II und III, also den Anlagen an den damals noch beiden vorhandenen sogenannten Zeppelinhallen und dem Werksteil an der Landwehrstraße 61. Eine derartige Lokomotive ist jedoch nicht bekannt. [11]
Bild 34: Die Auflaufkurve für den Gleisbogen Richtung Ausbesserungswerk auf der Knell. Aufnahme vom Mai 2011.
Bild 35: Die verbliebene Zeppelinhalle an der Landwehrstraße. Aufnahme vom April 2010.
Gegenüber dieser Auflaufkurve standen seit 1923 zwei große Fabrikhallen der Bahnbedarf A.-G. Die Stützkonstruktion dieser beiden Hallen entstammte einer großen Luftschiffhalle in der Nähe von Olsztyn (Allenstein in Ostpreußen), die dort aufgrund der Entmiliätarisierungsbestimmungen des Versailler Vertrages komplett abgetragen werden mußte. Daher der Name. Zeppeline standen in Darmstadt zu keiner Zeit hier herum. Eine der beiden Hallen, die als Chemikalienlager gedient hatte, brannte im Oktober 1977 aus und wurde anschließend abgetragen. Heute steht hier ein Bürogebäude mit einer Außenstelle des Amtsgerichts Darmstadt. Diese beiden Hallen wurden nicht über das Industriestammgleis in der Landwehrstraße, sondern von der Knell her angebunden. [12]
Abbildung 36: Anschlußplan für Bahnbedarf-Rodberg von 1960. Der Plan ist geostet. Die Deutschlandkurve befindet sich hierauf links vom „ß“ des Straßennamens. Die beiden Zeppelinhallen befanden sich zwischen den die Landwehrstraße querenden Gleisen.
Wann das Industriestammgleis in der Landwehrstraße zum letzten Male befahren worden ist, ist nicht bekannt. Daß dies nach 1969 der Fall war, ist mangels noch vorhandenen Anschließern eher unwahrscheinlich. Somit hat es den Verkehrsbedürfnissen Darmstädter Fabrikanten rund fünfundsiebzig Jahre gedient.
»» Die Fortsetzung dieses Stammgleises mitsamt den Anschlüssen von Bahnbedarf-Rodberg (hier die „Zeppelinhallen“), der Maschinenfabrik von Carl Schenck, sowie des Bundesbahn-Ausbesserungswerks wird auf der Seite zum Industriestammgleis „G“ dargestellt.