Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt
Das Industriestammgleis „D“ zur Pallaswiesenstraße
Geschichte und Spurensuche an der westlichen Pallaswiesenstraße
1912 erhielt das Fabrikviertel im Zuge der Westverlegung des Hauptbahnhofs einen neuen gleisseitigen Zugang zum Güterbahnhof. Das vorhandene Industriestammgleis an der Nordseite der Weiterstädter (heute: Mainzer) Straße wurde verlängert und parallel hierzu ein zweites Industriegleis auf der Südseite der Straße errichtet. 1914 wurde die Anlage durch ein drittes Gleis erweitert. Mit diesem Gleis sollte die Brache entlang der südlichen Pallaswiesenstraße und hin zur Gräfenhäuser Straße für neue Gewerbeansiedlungen erschlossen werden. Um einen weiteren Betrieb an der westlichen Pallaswiesenstraße anzubinden, wurde – was aufgrund militärischer Prioritäten bemerkenswert ist – noch im Herbst 1918 das hier besprochene Stammgleis genehmigt (und wohl erst 1919 gebaut).
Von den Mitte der 1950er Jahre noch rund dreißig Anschlußgleisen im Fabrikviertel sind nur wenige übrig geblieben; das hier besprochene Gleis ist seit rund zehn Jahren nicht mehr genutzt und wohl Anfang 2022 aufgegeben worden. Zum Zwecke der Darstellung habe ich den Industriestammgleisen fiktive Buchstaben von A bis H zugewiesen. Sie tauchen daher weder in zeitgenössischen Planungen noch in Plänen und Dokumenten auf.

Abbildung 1: Ausschnitt aus einem vergilbten, bis 1981 fortgeschriebenen Bundebahn-Gleisplan zum Darmstädter Hauptbahnhof. Markiert sind die vier Industriestammgleise an der Mainzer Straße, sowie: (1) die Rampe von den Hauptgleisen hinunter ins Fabrikviertel, (2) der Gleisanschluß Reinhardt & Comp., (3) die Mainzer Straße, (4) das dort seit 1998 bestehende Weststadtcafé, (5) Die Hauptgleise in Richtung Güter- und Hauptbahnhof.
Auf dem Lageplan von 1906 befindet sich dieses Stammgleis bei [⇒ H2], auf der Übersichtskarte zum Fabrikviertel ist es mit dem Buchstaben „D“ bezeichnet.
Metallschrott, Betonkunst und edle Möbel
Im September 1918 erteilte das hierfür zuständige hessische Finanzministerium in zwei eigenen Vorgängen der Dampf-Teigschmelze des Hermann Joseph und der Holzhandlung mit Sägewerk des Jonas Meyer die Erlaubnis, ein Anschlußgleis anzulegen und mit Lokomotiven zu betreiben, das vom nördlichen Gleis der damaligen Weiterstädter und heutigen Mainzer Straße (mein Gleis „B“) abging. Während der Gleisanschluß für Hermann Joseph keine Fragen aufwirft – er wurde zum Anwesen Pallaswiesenstraße 153 am der Nordseite gelegt –, ist dies für den Gleisanschluß von Jonas Meyer etwas undurchsichtiger. Es könnte sich um einen Abladeplatz auf der Gleiskurve zwischen der Mainzer und der Pallaswiesenstraße gehandelt haben; so wie Jahrzehnte später beim Gleisanschluß von Heckmann und Assmuth. Das Gleis führte an der Ostseite des Anwesens von Jonas Meyer vorbei. Andererseits hatte die Stadtverordnetenversammlung am 14. März 1918 beschlossen, der Firma Jonas Meyer die Anlage eines Schmalspurgleises an der Weiterstädter Straße zu genehmigen. Schmalspurgleise, die sogar die Straße queren, sind auf einer grafisch gestalteten Geschäftsannonce des Holzunternehmens belegt. Sie verbanden das Sägewerk im Zwickel von Rampe und Weiterstädter Straße mit dem riesigen Holzlager auf der östlichen Straßenseite. Ob es sich um denselben Vorgang oder um zwei verschiedene Örtlichkeiten gehandelt hat, ist nicht ersichtlich. [1]

Abbildung 2: Ausschnitt aus einer Annonce der Holzhandlung von Jonas Meyer aus einer 1926 erschienen Zeitschrift. Die beiden die Straße querenden Gleise sowie der mögliche Ladeplatz sind mit einem „x“ markiert.
Das Industriestammgleis „D“ zweigt als eigenes Stammgleis vom Gleis „B“ ab, kreuzt nach einigen Metern das von der Ramoe herführende Gleis „F“, führt in einem Bogen zur Pallaswiesenstraße, die einst überquert wurde, und endete einige Meter weiter nördlich. Die Kreuzung mit der Straße wurde wohl vor einem halben Jahrhundert beseitigt; ein genaues Datum kenne ich nicht.

Bild 3: Weiche in der Mainzer Straße. Geradeaus geht es zur Rampe auf die Bahnanlagen des nördlichen Gleisvorfeldes des Hauptbahnhofs; nach rechts zweigt das Gleis „D“ ab. Die Weiche war kurz zuvor wieder hergerichtet worden. Aufnahme vom März 2011.

Bild 4: In dem Wohngebäude neben der Weiche residierte laut Transparent am Hoftor ein Bauunternehmen Rhein. Das Haus wurde im April 2013 abgerissen. Danach tummelten sich dort einige Autobastler. Aufnahme vom Mai 2011.

Bild 5: Im Juni 2021 begannen an dieser Stelle die Bauarbeiten zur Errichtung eines städtischen Kunstdepots. Veranschlagt waren Baukosten in Höhe von 14 Millionen Euro. Das städtische Kunstverständnis wird vom Kostengesichtspunkt aus bestimmt und so entsteht hier bis 2023 ein weiterer häßlicher Kubus mit Kantenlängen von 52, 24 und 17 Metern Länge. Kunstliebhaberinnen späterer Jahrhunderte werden sich fragen, mit welch eckiger Optik die Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihre Umwelt betrachtet haben mögen. Aufnahme vom Januar 2022, Bildautor: Andreas Kohlbauer.

Bild 6: Die Baustelle erstreckt sich bis zu unserem Gleis. Dort wurde zu Jahresbeginn 2022 eine sogenannte Sh2-Scheibe aufgestellt, um zu dokumentieren, daß Güter nicht auf die Schiene gehören. Die Stadt Darmstadt hat diesen Gleisanschluß nun auch offiziell aufgegeben. Aufnahme vom März 2022, Bildautor: Andreas Kohlbauer.

Bild 7: Kurz vor der Zufahrt zum Schrotthandel von Heckmann und Assmuth kreut unser Gleis das zur Gräfenhäuser Straße und zur Kirschenallee führende Gleis „F“. Der hier abgeladene Müll versinnbildlicht die Wertschätzung öffentlichen Eigentums. Nein, der Müll wurde nicht vom Schrottplatz herübergeweht. Das machen unsere Kinder des Neoliberalismus von ganz alleine, denn sie sind lernfähig. Wenn weltweit Ressourcen unter Einsatz von Giften und anderen Chemikalien geschürft werden (AKW-Uran und Frackinggas aus den USA zum Beispiel) und der Zivilisationsmüll in Meeren und auf Gebirgen verklappt wird, dann sagen sie sich: das können wir auch. Aufnahme vom August 2008.

Bild 8: Güterwaggon auf dem Firmengelände von Heckmann und Assmuth. Claus Völker stellte mir freundlicherweise dieses im genannten „Echo“-Artikel verwendete Bild zur Verfügung. Weitere Aufnahmen scheinen nicht zu existieren, auch nicht im Firmenarchiv des Schrotthandels.
Die Stadt Darmstadt befand Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, es sei notwendig, den lokalen Schienengüterverkehr zu stärken. Dieses durchaus sinnvolle Ansinnen wurde jedoch durch die individuellen ökonomischen Interessen der angebundenen Unternehmen konterkariert. Heckmann und Assmuth [2] ließ sich nur einmal noch auf den Versuch, Schrott mit Güterwaggons zu transportieren, ein. Das Stahlbauunternehmen Donges schloß im Dezember 2006 mit einer der diversen Unterabteilungen der Deutschen Bahn einen Vertrag ab, seine Stahllieferungen von einem Terminal am Güterbahnhof just in time per LKW abzuwickeln. Bleiben im Grunde nur noch Evonik/Röhm und Hofmann-Rieg an der Kirschenallee. Ob sich das wirklich rechnet, alle paar Tage einmal einen Güterwaggon auf den Gleisen verkehren zu lassen, muß sich zeigen. Die Aussichten sind nicht wirklich gut. Aber immerhin, die Standortfritzen der Stadt Darmstadt taten etwas, um das ihrige dazu beizutragen. Ende November 2009 ließ die Stadt Darmstadt nämlich verlauten, in diese Infrastruktur investieren zu wollen:
„Die Wissenschaftsstadt Darmstadt betreibt in der Mainzer Straße / Kirschenallee eine Industriegleisanlage mit fünf Gleisen. Auch wenn die Nutzung der Anlage besonders durch logistische Veränderungen bei den Nutzern in den vergangenen Jahren eher rückläufig war, wird die Stadt Darmstadt künftig weiter in die Anlage investieren: Rund 50.000 Euro wurden in der jüngeren Vergangenheit ausgegeben, um die Anlage betriebssicher zu machen, weitere 250.000 Euro werden in den kommenden beiden Jahren fällig werden. ‚Wir haben uns aus Gründen der Wirtschaftsförderung und des Klimaschutzes dazu entschieden, die Gleisanlage zu erhalten und der rückläufigen Entwicklung entgegenzutreten‘, so Darmstadts Verkehrs- und Planungsdezernent, Stadtrat Dieter Wenzel.
Neben den seitherigen Nutzern (Donges SteelTec GmbH, EVONIK Röhm GmbH, Hofmann-Rieg GmbH), für die diese Industriegleise als Infrastrukturangebot der Stadt im Sinne einer nachhaltigen Standortsicherung unverzichtbar sind, hat nun auch die Heckmann & Assmuth GmbH & Co. KG wieder mit der Verladung von Eisenschrott über die Schiene begonnen. Dies sei ein Zeichen dafür, dass das auch von der Stadt Darmstadt forcierte Ziel ‚Von der Straße auf die Schiene‘ bei den Unternehmen ankomme, so Stadtrat Dieter Wenzel.“
Birgit Femppel nahm am 1. Dezember 2009 im „Darmstädter Echo“ die Pressemitteilung der Stadt zum Anlaß, näher auf die Wiederaufnahme des Schrotthandels einzugehen. Erstmals seit sieben Jahren seien wieder 50 Tonnen Stahlschrott per Güterwaggon nach Österreich geliefert worden. Während noch Mitte der 1980er Jahre bis zu siebzehn Güterwaggons pro Monat Schrott brachten oder abholten, scheint das über die Bahn abgewickelte Geschäft später stark rückläufig gewesen zu sein. Mit der Pünktlichkeit soll die Bahn auch so ihre Probleme gehabt haben, so daß sich das Unternehmen etwa 2002 dazu entschlossen hatte, seinen Schrotthandel lieber den flexibleren Lastkraftwagen zu überlassen. Die Wiederaufnahme des Güterverkehrs per Bahn war jedoch nur von kurzer Dauer. Etwas scheint beim im Bild von Claus Völker angedeuteten Transport schiefgegangen zu sein. Der dort abgestellte Waggon sollte nämlich der letzte sein, der auf diesem Gleis transportiert wurde. Bald darauf stapelten sich die Schrottberge demonstrativ vor dem Einfahrtstor zum Werksgelände.

Bild 9: Schrotthügel am Einfahrtstor von Heckmann und Assmuth im Oktober 2015.

Bild 10: Durch das hier geschlossene Tor neben der Grundstücksgrenze von Heckmann und Assmuth wäre vor einem halben Jahrhundert eine Rangierfahrt herausgefahren und hätte die Pallaswiesenstraße überquert. Rechts daneben berfindet sich heute eine Autowaschanlage. Aufnahme vom Oktober 2009.

Bild 11: Auf der gegenüberliegenden Straßenseite läß sich aufgrund des Grundstückzuschnitts noch die ungefähre Lage des Gleisanschlusses erahnen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme im April 2011 hatte links davon ein Gebrauchtwagenhändler seine Freiverkaufsfläche. Vor einem halben Jahrhundert stapelte sich auch dort der Schrott von Heckmann und Assmuth und wurde be- oder entladen.

Abbildung 12: Anschlußplan für die Firma Heckmann und Assmuth von 1958.
Eine Dienstanweisung von 1958 nennt dies das Industriestammgleis „Pallaswiesenstraße“. Anschlußgleis 2 wurde von Heckmann & Assmuth gepachtet, die Möbelfabrik von Eugen Schmidt (Gleis 1) wurde als Mitbenutzerin geführt. Der Anschluß wurde durch eine geschobene Rangierabteilung bedient, deren Lok vor dem Werkstor nördlich der Pallaswiesenstraße zu verbleiben hatte. Im Gegensatz zu ähnlichen Dienstanweisungen anderer Privatanschlüsse des Fabrikviertels erfahren wir hier nicht, ob die Gleisenden durch Prellböcke, Erdhügel oder andere Methoden gesichert wurden.
Mitte der 1930er Jahre war die Sparkasse Darmstadt Eigentümerin des Geländes, das an einen Ernst Otto für eine Rohproduktenhandlung verpachtet wurde. Der wohl daran anschließende Schrotthandel von Heckmann & Assmuth wurde 2015 von Uniroh übernommen.
Eugen Schmidt soll sich 1937 in Darmstadt mit seiner Sitzmöbelfabrik selbständig gemacht haben. In einem Nachruf auf den am 2. November 1975 verstorbenen Fabrikanten wird auf Eugen Schmidts vielfältiges ehrenamtliches Engagement, etwa beim Darmstädter Arbeitsgericht, verwiesen, aber auch auf seine Funktionärstätigkeit für die hessische, die deutsche und die europäische Holzindustrie. Sein Unternehmen wurde nach seinem Tod bis etwa 1989/90 fortgeführt. Die von seinen Arbeitern gefertigten Möbel waren von gehobener Qualität und werden, soweit erhalten, heute teilweise zu Mondpreisen von mehreren Tausend Euro pro Einzelstück angeboten.
Das Gelände des Autohändlers stand 2012 zum Verkauf. Wer mal gerade anderthalb Millionen Euro für 6.000 Quadratmeter locker hatte, konnte sich hier niederlassen. Ein Blick auf ein städtisches Luftbild von 2021 sagt mir, daß das Gelände immer noch von Miefomobilen bevölkert wird.