Luftbild auf das Fabrikviertel 1966.
Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt
Walter Kuhl
Luftbild auf das Fabrikviertel 1966.
Das Fabrikviertel 1966.
Notgeld der Bahnbedarf A.-G.
Die Bahnbedarf A.-G.
Die mechanische Werkstätte der Motorenfabrik Darmstadt.
Die Motorenfabrik.
Die Schlachthof-Restauration.
Die Schlachthof-Restauration.
Die Waggonbauhalle der Möbelfabrik Ludwig Alter.
Waggonbauhalle von Ludwig Alter.

Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt

Die Holzwerke Jonas Meyer

als Annonce und mit Hintergrund

1872 und 1893/94 wurde das Fabrikviertel mit zwei Industrie­stamm­gleisen an die Eisenbahn angebunden. Von den Mitte der 1950er Jahre noch rund dreißig Anschluß­gleisen sind (Stand 2020) nur vier oder fünf übrig geblieben.

Der damalige Lagerplatz des Holzhandels Jonas Meyer auf OpenStreetMap

Zum Einstieg eine Annonce

Die Nachfolger von Jonas Meyer betrieben am nordwestlichen Ende der damaligen Weiterstädter und heutigen Mainzer Straße eine Holz­handlung mit Dampf­sägewerk. In einem landwirt­schaftlichen Bautenbuch von 1926 fand sich eine Werbeannonce, die einen – wenn auch leicht stilisierten – Einblick auf das Firmengelände und seine Anschluß­gleise bietet.

Am 13. Juni 1913 wurde den Unternehmen Jonas Meyer und Reinhardt & Comp. „die widerrufliche Erlaubnis erteilt, an die Industrie­gleis­anlage auf der Südseite der Weiterstädter Straße zu Darmstadt ein gemein­schaftliches Anschlußgleis anzulegen und mit Lokomotiven zu betreiben. Im Zusammenhang hiermit haben wir der Stadt Darmstadt die widerrufliche Erlaubnis erteilt, das städtische Industriegleis in der Weiterstädter Straße in nord­westlicher Richtung zu verlängern.“. Dies ist einer der seltenen Fälle, in denen die Errichtung einer Gleisanlage recht genau zu datieren ist.

Werksgelände Jonas Meyer.

Abbildung 1: Ansicht der Anlagen der Holzhandlung und Dampfsägewerk von Jonas Meyer in Darmstadt, Fellheim und Friesenhofen. Quelle: Annonce im Buch „Landbau Hessen“.

Betrachten wir auf diesem Bild allein das Darmstädter Firmengelände, so erstreckt es sich vom Landwehrweg in Höhe des heutigen Weststadtcafés über die heutige Mainzer Straße bis hin zur Pallaswiesen­straße. Die nachfolgenden Detailansichten belegen, mit welcher Detailtreue der Grafiker gearbeitet hat.

Werksgelände Jonas Meyer.

Abbildung 2: Firmengelände zwischen damaligem Landwehrweg und damaliger Weiterstädter Straße.

Im Vordergrund verläuft neben den beiden Industrie­stammgleisen entlang der Weiterstädter / Mainzer Straße am Zaun entlang ein weiteres Abstellgleis, das ab den 1950er Jahren in keinem mir bekannten Gleisplan abgebildet ist. Ein weiteres Gleis, auf dem am rechten Bildrand eine Lokomotive vor sich hindampft, war später ein Stumpfgleis. Leider gbt uns die vom Grafiker gewählte Perspektive keinen näheren Aufschluß über den weiteren Verlauf der Gleise nach rechts. Am oberen Bildrand sind die beiden Halbrunde der Lokomotiv­schuppen des Bahnbetriebs­werkes wiedergegeben. Am linken Bildrand schieben einige Arbeiter einen Wagen auf dem Schmalspur­gleis. Der Güterzug, der im Bild rechts unten Tender voraus die Straße quert, hat weder mit der Eisengießerei noch mit dem Holzhandel etwas zu tun, sondern beliefert möglicherweise den Lumpen- und Schrotthandel von Wolf Strauß an der Gräfenhäuser Straße oder die Möbelfabrik Alter an der Kirschenallee; oder (mit Blick auf die Rauchfahne) hat dort Güter abgeholt.

Werksgelände Jonas Meyer.

Abbildung 3: Versuch, das Firmengelände angand der grafischen Darstellung der Annonce auf einen heutigen Plan (OpenStreetMap) zu übertragen.

Was in der Grafik großzügig erscheint, war tatsächlich eher ein langer Streifen. Die Eisengießerei Reinhardt & Co. dürfte sich im Zwickel der Einmündung der Landwehrstraße in die Mainzer Straße befunden haben.

Werksgelände Jonas Meyer.

Abbildung 4: Firmengelände an der Weiterstädter bzw. Mainzer Straße.

Das Büro der Holzwerke GmbH befand sich in dem kleinen Haus am linken Bildrand, in dessen oberen Stockwerk der Werkmeister wohnte. Rechts daneben das Dampfsägewerk, das durch zwei Schmalspur­gleise mit dem Holzlager auf der anderen Straßenseite verbunden war. Am 13. September 1918 wurde der Firma Jonas Meyer „die widerrufliche Erlaubnis erteilt, von dem Industriegleis nördlich der Weiterstädter Straße aus ein Anschlußgleis anzulegen und mit Lokomotiven zu betreiben.“ Die Darmstädter Stadt­verordneten­versammlung hatte ein halbes Jahr zuvor, am 14. März 1918, beschlossen, der Firma Jonas Meyer zu gestatten, ein Schmalspurgleis zu legen. Ob es sich hierbei um denselben Vorgang handelt? – Der längliche Bau oberhalb des Firmenschildes „Jonas Meyer“ dürfte die Eisengießerei Reinhardt & Comp. beherbergt haben.

Werksgelände Jonas Meyer.

Abbildung 5: Firmengelände zwischen Weiterstädter und Pallaswiesenstraße.

Betrachten wir zunächst die Bahnanlagen in der oberen Bildhälfte. Hier scheint ein Güterzug seine Ladung die Rampe hinauf auf das nördliche Gleisvorfeld der Darmstädter Haupt- und auch Güter­bahnhofs zu befördern, während dahinter ein Personenzug, möglicher­weise der Odenwaldbahn, nach links Richtung Haupt­bahnhof entschwindet. In dem Gebäude befand sich 1926 die Geräte­sammelstelle der Deutschen Reichsbahn-Gesellschaft. Das Holzlager in der unteren Bildhälfte wird begrenzt durch ein weiteres Industriegleis, auf das leere Güterwagen geschoben werden. Sollte sich die Genehmigung vom September 1918 nicht auf die firmeninternen Schmal­spurgleise bezogen haben, wofür einiges spricht, dann wurden auf diesem Gleis verschiedene Sorten Güterwaggons zum Holztransport der Holzwerke Jonas Meyer bereitgestellt. Die Wagen verdecken die Sicht auf den dann zu vermutenden Ladeplatz.

Ein Detail wäre noch zu erwähnen. Mit der Westverlegung des Haupt­bahnhofs wurden um 1910 herum auch bestehende Straßen­verbindungen entweder gekappt oder neu gestaltet. Die Weiterstädter bzw. heute Mainzer Straße verlief einstens schnurgerade weiter in Richtung Groß-Gerau und wurde durch die Aufschüttung des Bahndamms unterbrochen. Deshalb macht sie am Büro der Holzwerke einen Knick und wird zur Pallaswiesen­straße geleitet. Selbige unterquert den Bahndamm mittels mehrerer einzelner Brücken und wird anschließend als Weiterstädter bzw. Mainzer Straße fortgeführt. Diese Brücken werden hier im Bild nicht gezeigt, weil der Grafiker an die Grenzen seiner das Gelände verzerrenden Darstellung gekommen war. Dort, wo das Holzfuhrwerk auf die Pallaswiesen­straße am rechten Bildrand stößt, müßten diese Brücken eingezeichnet sein. Sie fehlen, weil sie nicht mehr in das Gesamtgefüge passen.

Rampe.

Bild 6: Rampe von der Mainzer Straße zu den Gütergleisen.

Fast ein Jahrhundert später hat sich zweifellos einiges geändert. Die Anzahl der Gleise ist geschrumpft, aber die Zusammenführung der drei Industrie­stammgleise in der Höhe des Holzwerkebüros ist geblieben. Vielleicht ist das Wohnhaus nur umgebaut und heutigen Bedürfnissen angepaßt worden, vielleicht handelt es sich auch um einen Nachkriegs­neubau auf dem Grundstück des ehemaligen Bürogebäudes. Auf oder neben dem Weg, der direkt zur ehemaligen Geräte­sammelstelle führt, lagen zwei weitere Gleise. Die Eisengießerei wird sich auf dem Gelände links vom Container (und hinter der heutigen Betonmauer) befunden haben.

Sächsische Posse

Am späten Abend des 20. Februar 2016 verwechselte ein junges Paar aus dem sächsischen Coswig die Zufahtsstraße zu einer auf dem ehemaligen Bahngelände gelegenen Vergnügungs­location mit dem Zufahrtsgleis zur Mainzer Straße und rumpelte auf dem Schotter die Rampe hinauf. So jedenfalls vermeldete es zwei Tage später die Pressestelle der Bundespolizei. Der Plot wurde von manchem Hörfunksender begierig aufgegriffen und dem Publikum zur Belustigung nacherzählt.

Nachdem er einige Zeit auf dem Gleis herumgeirrt und von einer S-Bahn überholt worden war, schwante dem Fahrer, der nicht alkoholisiert gewesen sein soll, daß er sich nicht auf einem Straßen­bahngleis befand. Er versuchte zu wenden und stellte sein Fahrzeug derart kunstvoll über das Nachbargleis – Vorder- und Hinterräder jeweils auf der Außenseite des Gleises –, daß er weder vor noch zurück kam. Probleme mit dem Navi sollen Schuld daran gewesen sein.

Stadtlager Jonas Meyer.

Abbildung 7: Das Firmengelände in der Innenstadt.

Die Holzwerke besaßen in der Darmstädter Innenstadt ein kleineres Lager mit Büro in der Zeughaus­straße 3. Hierbei muß es sich um das Gelände linkerhand (westlich) des Hauptbaus des Hessischen Landesmuseums handeln, auf dem der 1984 hingestellte Kargelbau als Anbau steht.

Eine jüdische Unternehmens­geschichte

Annonce Jonas Mayer.

Abbildung 8: Annonce von Jonas Mayer im Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt vom 8. April 1854 [online ulb darmstadt].

Der Handelsmann Jonas Meyer wird im Adreßbuch für 1850 in der Großen Arheilgerstraße Lit. A Nr. 32 geführt und in dem im August 1854 erschienenen Adreßbuch im Mühlweg Lit. H Nr. 201a, wohin er erst kürzlich verzogen war. Er führt das Geschäft gleichen Namens seit 1849 und zieht mit seiner Holzhandlung etwa 1870 in die Zeughausstraße. 1883 stirbt der Namesgeber Jonas Meyer und das Geschäft geht zunächst auf seine Witwe Augustine Meyer über. 1890 übernimmt Max Jonas Meyer das Unternehmen. Etwa 1913 wurde es ins Fabrikviertel ausgedehnt, als hier ein für die Geschäfts­erweiterung nutzbarer Eisenbahn­anschluß entstand. Die krisenhaften Jahre der Weimarer Republik gingen nicht spurlos an dem Unternehmen vorbei. Im Juni 1929 wurde die Liquidation des Geschäfts Jonas Meyer wie auch der damit verbundenen Holzwerke eingeleitet. Max Jonas Meyer stirbt im April 1930, sein Alleinerbe ist der 1896 in Darmstadt geborene Alfred Meyer. Diesem gelang es im Sommer 1933, nach Amsterdam zu entkommen (ob er dort den Naziterror während des Zweiten Weltkriegs überlebt hat, noch zu erforschen). Das Unternehmen Jonas Meyer wurde, nachdem in der Konkursmasse nur geringe Mittel vorhanden waren, 1938 gelöscht. Die Holzwerke wurden 1935 von Amtswegen gelöscht und 1943 nachträglich liquidiert. An wen das Gelände gegangen ist, ist der Handels­registerakte nicht zu entnehmen gewesen. [1]

Die Abwicklung des Unternehmens ist einer der Fälle, bei denen von außen nicht ersichtlich ist, ob es sich einen normalen kapitalistischen Enteignungs­vorgang gehandelt hat oder ob spezifische antijüdische Umstände es geboten sein lassen, von einer „Arisierung“ zu sprechen. Dies, zumal die Liquidation incl. Vergleichs­verhandlungen schon 1929 beginnt. Interessant ist nun, daß in der Liquidations­eröffnungs­bilanz der Ludwig Alter A.-G. vom 1. Juni 1936 eine Forderung an die Liquidation Jonas Meyer in Höhe von 3.733,67 Reichsmark erscheint. Auf der ordentlichen Gesellschafter­versammlung am 28. September 1937 wird verkündet, daß eine Quote von RM 158,40 eingegangen sei. Eigentlich wäre ja zu erwarten gewesen, daß die Holzwerke Holz an die Alter AG geliefert haben und die Forderungen in die andere Richtung erhoben würden. Der Vorgang ist zumindest merkwürdig.