Fabrik. Blick auf das Fabrikgelände. Quelle: Adreßbuch 1908.

Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt

Lokomotivbau in Darmstadt

Die Maschinenfabrik und Eisengießerei

1872 und 1893/94 wurden die beiden ersten Industriestammgleise zum Darmstädter Fabrikviertel eingerichtet. Dieses Fabrikviertel bildete sich mit der Westexpansion der Stadt Darmstadt Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts heraus. Von den Mitte der 50er Jahre noch rund dreißig, Anschlußgleisen sind (darmstadtweit) nur noch fünf übriggeblieben.

Noch bevor 1872 das erste Stammgleis die damalige Blumenthalstraße entlanggezogen wurde, erhielt die Maschinenfabrik und Eisengießerei Ende der 1850er Jahre einen Gleisanschluß, zum einen um tonnenweise Kohle für Heizzwecke und das Befeuern der eigenen Maschinen zu beziehen, zum anderen um ihte Produkte mit dem damals immer noch recht neuen Verkehrsmittel Eisenbahn zu verschicken. Zur Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei, so ist allenthalben in der Literatur zu lesen, sei nur wenig bekannt. Diese Darstellung zur Geschichte des Unternehmens wird dies grundlegend ändern. Die systematische Recherche nach Artikeln, Aufsätzen und Dokumenten hat eine Fülle an neuem Material hervorgebracht; und es ist gewiß, daß sich noch weiteres Material finden läßt. Die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse werden auf dieser Seite in Kurzform präsentiert, wobei immer wieder auf die längere, auf rund achtzehn Kapitel (vielleicht werden es auch mehr) verteilte ausführliche Fassung verwiesen wird. Die Langfassung ist noch in Arbeit (im Mai 2020 fehlen noch zwei der insgesamt geplanten neunzehn Kapitel), und somit vereinigt diese Seite die Kurzfassung schon fertiger Kapitel mit der ausführlicheren Fassung der Kapitel, die noch zu schreiben sind. Siehe auch die vorläüfige Gliederung.

Ralph Völger, der die Fahrkartendruckerei im Eisenbahnmuseum in Darmstadt-Kranichstein (mit)betreut, lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Aufsatz von Werner Willhaus zum Lokomotivbau in Darmstadt im Eisenbahn-Kurier, Heft 2/2009. Mein hieraus entstandenes Interesse an der Maschinenfabrik und Eisengießerei setzte einen neuen Schwerpunkt auf meiner Webseite zur Eisenbahn- und Industriegeschichte in Südhessen. [1]


Anstelle einer Einleitung:

„Im Gründungs- und Emissionsgeschäft der Industrie war sicherlich in den ersten 20 Jahren die Bank für Handel und Industrie führend. Im Jahre 1866 gründete sie eine Reihe von Firmen, so die […] Maschinenfabrik und Eisengießerei in Darmstadt mit 100.000 Talern […].“

Manfred Pohl, Die Entwicklung des deutschen Bankwesens zwischen 1848 und 1870, Seite 193.

Die Aussage ist mehrfach unzutreffend. Weder stimmt das Gründungsjahr noch die Kapitalsumme und erst recht nicht die Währung.


Von der Werkstatt des Münzraths Rößler zur Maschinenfabrik

Hektor Rößler wird zu einer Generation junger Männer gehört haben, die sich parallel zur Umgestaltung Europas durch die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege und die reaktionäre Heilige Allianz daran machte, die Grundlagen handwerklicher und manufakturmäßiger Produktion hin zur Fabrikarbeit zu transformieren. Rößler, 1779 als Sohn des Hofdrehers Johann Peter Rößler geboren [2], wird mit 25 Jahren als Universitätsmechanikus in Gießen angestellt. Zuvor hatte er eine Lehrzeit beim Darmstädter Hofmechanikus Fraser absolviert, bevor er den Geist des industriellen Aufbruchs zwischen Jena, Stuttgart und Paris [3] erschnuppern durfte. Mit vielen frischen Eindrücken und wachem, erfinderischen Geist versehen kehrte er zurück, um sich bald auch in Darmstadt als Hofmechanikus einen Namen zu machen.

Die ausführliche Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei für den Zeitraum 1807 bis etwa 1843 ist in den Kapiteln 1 Hektor Rößler richtet eine Werkstätte ein und Kapitel 2 Johann Ludwig Buschbaum schneidet eine preisgekrönte Schraube zu finden.

Darin wird auf den Werdegang Hektor Rößlers und sein Wirken in der Großherzoglichen Münze eingegangen. Das Unternehmen Buschbaum und Comp. wird als Vorläufer der Maschinenfabrik und Eisengießerei näher vorgestellt.

1807 richtete der im Jahr zuvor aus Gießen zurückgeholte Hektor Rößler, vielleicht bei der Großherzoglichen Münze in/an der Infanteriekaserne, seine mechanische Werkstätte ein, die in den kommenden Jahren nicht nur das Münzwesen qualitativ voranbringen sollte. 1817 erhielt er die freiwerdende Stelle eines Münzmeisters, 1832, längst etabliert, wurde er zum Münzrat ernannt. Der technisch überaus versierte Rößler nutzte die Gelegenheit, als die Münze aufgrund einer Erweiterung der Infanteriekaserne umziehen sollte, um das neue Gebäude nach seinen Vorstellungen aufzubauen und mit einer Dampfmaschine zu versehen. Es war die erste Dampfmaschine überhaupt im Großherzogtum und er ließ sie 1830 nach dem Vorbild einer französischen Dampfmaschine in der eigenen Werkstätte fertigen. Für seine Werkstätte kaufte er Ende der 1820er Jahre ein Grundstück an der Frankfurter Chaussee, auf dem einige Jahre zuvor der Ökonom Jakob Alleborn das sogenannte „Neue Chausseehaus“ hatte errichten lassen. Die damit verbundene Hofreite bot mannigfaltig Platz zum Experiment mit der Dampfkraft.

1832 mußte Rößler seine Werkstätte aufgeben, nachdem er durch seine Ernennung zum Münzrat in ein verändertes staatliches Besoldungsverhältnis gekommen war. Sein jüngerer Bruder Friedrich hatte zwischenzeitlich in Schönberg oberhalb von Bensheim die Herrenmühle erworben, um dort einen Eisenhammer zu errichten. Das Vorhaben geriet jedoch aufgrund von Beschwerden mehrerer Mühlenbesitzer und staatlichen Auflagen derart in Schieflage, daß schon bald darauf ein Konkursverfahren gegen ihn eröffnet wurde. Ein weiterer Bruder, Jakob, konnte den Eisenhammer vor dem Zugriff der Gläubiger retten, bevor er 1834 auf Hektor Rößler, den Münzrat, übertragen wurde. Dieser erweiterte den Eisenhammer um eine Eisengießerei. Auch den Streit mit den unterhalb der Mühle gelegenen Müllern um die Nutzung des Bachwassers der Lauter konnte er mit Hilfe eines Gutachtens für sich entscheiden. Die Eisengießerei wird Ende 1841 an das Buschbaum'sche Unternehmen angeschlossen, die Mühle zwei Jahre später weiterverkauft.

Johann Ludwig Buschbaum, der schon in den 1820er Jahren für Hektor Rößler gearbeitet hatte, gründete 1837 auf dem Rößler'schen Gelände an der Frankfurter Chaussee, dem Standort der späteren Maschinenfabrik und Eisengießerei, das Unternehmen Buschbaum und Comp., wobei die Kompagnons wohl zumindest aus dem Mechanikus Johann Ludwig Buschbaum und Hektor Rößler [sen.] bestanden haben dürften. Auch hier wird eine Dampfmaschine errichtet, aber nicht aus eigener Fertigung, sondern sie stammt von Keßler und Martiensen aus Karlsruhe. Die Teilhaber bringen unterschiedliche Ressourcen in das neue Unternehmen ein: das Werksgelände mit Gebäuden, die für eine Fabrik geeignet waren, Geld, Know-how, Geschäftsbeziehungen und ingenieurischen Erfindergeist. Im Frühjahr 1844 scheidet Buschbaum aus unbekannten Gründen aus dem gemeinsamen Unternehmen aus, das sich nunmehr Maschinenfabrik und Eisengießerei in Darmstadt nennt. Im selben Jahr wird das Unternehmen eine transportable Dampfmaschine für den hessischen Baufiskus herstellen.

Planausschnitt.

Abbildung 30.01: Ausschnitt aus dem Geometrischen Plan der Großherzoglichen Residenzstadt Darmstadt von G[eorg] Louis und G[ottlieb] Börner, 1822. Mit „M1“ ist der Platz vor der alten Münze bezeichnet, mit „M2“ die Kaserne, die um 1830 der neuen Münze weichen mußte, und mit „BC“ das Gelände des neuen Chausseehauses, auf dem sich 1837 Buschbaum und seine Kompagnons ansiedelten. Der Plan war ursprünglich genordet, liegt aber als Digitalisat im Querformat vor. Quelle: [tukart].

Das junge Unternehmen Buschbaum und Comp. stellte seine Produkte auf den Gewerbeausstellungen in Darmstadt 1837 und 1839, sowie auf der ersten allgemeinen deutschen Industrieausstellung 1842 in Mainz aus. Das Unternehmen findet auch Erwähnung in einer Stadtbeschreibung von Karl Wagner aus demselben Jahr.

„Die Industrie hat bis jetzt noch kein großes Gedeihen in unserer Mitte gefunden; am meisten Thätigkeit herrscht noch in den Buchdruckereien. Doch liefern einzelne Fabriken : Tapeten, Spielkarten, Zündhölzer, Tabak, Chaisen, musikalische und technische Instrumente, Maschinen (diese vorzüglich für die Agricultur Jordan und für das Münzwesen Rößler und Buschbaum).“ [4]

Wer von den Kompagnons welche Aufgabe im Unternehmen Buschbaum und Comp. gehabt hat, ist nach dem derzeitigen Kenntnisstand unklar. Mit dem Übergang zur Maschinenfabrik und Eisengießerei dürfte auch der 1843 faßbare neue technischer Leiter, der Mechanikus August Wernher, in das Wohngebäude auf dem Fabrikgelände eingezogen sein. 1850 wechselt dieser zur Taunusbahn, sein Nachfolger sollte Franz Horstmann werden. Mit der Umfirmierung uir Maschinenfabrik und Eisengießerei wird Hektors Bruder Friedrich als kaufmännischer Direktor faßbar.

Die ausführliche Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei für die Jahre von etwa 1844 bis 1849 ist in Kapitel 3 Darmstadt entdeckt die Dampfkraft zu finden.

Darin werden die Dampfmaschinen des Großherzogtums Hessen, wie sie 1848 und 1854 festgestellt wurden, mit zum Teil ausführlicherer Beschreibung vorgestellt. Ein Preiscourant, der Eingang in einen Artikel einer landwirt­schaftlichen Zeitung gefunden hat, gibt einen Überblick über Leistung und Preis der von der Maschinenfabrik und Eisengießerei angebotenen Dampfmaschinen.

Die von Hektor Rößler für den Neubau der Groß­herzoglichen Münze gefertigte Dampf­maschine war, wie schon erwähnt, die erste ihrer Art im gesamten Groß­herzogtum. Nur langsam wurde die Industriali­sierung Hessens begleitet von neuen dampfenden Apparaten; eine 1848 durch­geführte Erhebung ergab gerade einmal einund­dreißig Exemplare [5]. Selbst 1854 konnten nur vierundsiebzig gezählt werden. Immerhin war die Maschinen­fabrik und Eisen­gießerei hierbei mit sieben Exemplaren vertreten. Neben der noch in der Münzwerk­stätte gebauten stellte das Unternehmen Dampf­maschinen für die Werkstätte der Main-Neckar-Eisenbahn in Darmstadt (1846?), für die „alte Fabrik“ von Emanuel Merck (1850/51), für den Tapeten­fabrikanten Felix Hochstätter in Darmstadt (1853), für den Leder­fabrikanten Cornelius Heyl in Worms (1853) und für die Werkstätte der Hessischen Ludwigsbahn in Mainz (1853?) her. Ein weiteres Exemplar wurde für den hessischen Baufiskus für ein Pumpwerk beim Bau der Lahnbrücke bei Gießen fabriziert (1844), das später beim Braun­kohlenabbau in Dorheim (Borken) Verwendung finden sollte.

Nebenher erwarb die Maschinenfabrik und Eisengießerei von Wendelin Braun aus Mainz eine Maschine zum Enthülsen von Raps, die sie sich 1846 mit Patent zum alleinigen Vertrieb auf fünf Jahre sicherte.

Wie groß Ende der 1840er Jahre die Maschinenfabrik und Eisengießerei gewesen ist, läßt sich schwer abschätzen. Neben der eigentlichen Maschinenfabrik betrieb sie drei Kupolöfen für verschiedenerlei Eisenguß. 1847 sollen darin etwa 1200 Zentner leichte Handelsware und 3300 Zentner Maschinenteile gegossen worden sein. Die allein in der Gießerei beschäftigten vierundzwanzig Arbeiter erhielten für ihren langen Arbeitstag je nach Qualifikation vier bis zehn Gulden Lohn pro Woche. Angaben über die Beschäftigten der eigentlichen Maschienfabrik liegen hingegen nicht vor; die Gesamtzahl der Arbeiter von Buschbaum und Comp. wird für 1842 mit „im Durchschnitt“ vierzig angegeben.

Während für 1844 mit Friedrich Rößler und August Wernher wenigstens die Namen der beiden Direktoren des Unternehmens überliefert sind, so bleibt die Eigentümerstruktur im Dunkeln. Es spricht einiges dafür, daß der Münzrat Hektor Rößler in seinen späten Jahren der alleinige oder einer der Eigentümer gewesen ist. Für die Phase des Übergangs hin zur Umwandlung als Aktiengesellschaft gibt es jedoch wenig verläßliche Anhaben.

Buschbaum & Comp. hatte zunächst an die alte Werkstätte des Hektor Rößler angeknüpft und Werkzeuge für die Münzprägung verfertigt. In den 1840er Jahren kamen Dampfmaschinen zur Produktpalette hinzu. Der Bau der ersten hessischen Eisenbahn, der Main-Neckar-Bahn, erweiterte diese Palette um Werkzeug­maschinen, die in der Darmstädter Werkstätte der Eisenbahn­gesellschaft Verwendung finden konnten. Hiermit wurden auch die Pfälzische Ludwigsbahn, die Main-Weser-Bahn und die Hessische Ludwigsbahn beliefert. Glücklicherweise ist im Hessischen Staatsarchiv in Darmstadt ein Aktenbestand erhalten geblieben, aus dem hervorgeht, wie sehr die hessischen Fabrikanten auf Staatsaufträge angewiesen waren. Der hessische Staat sah es angesichts der für Kapitalbesitzer schwierigen wirtschaftlichen Verhältnisse in der zweiten Hälfte der 1840er Jahre als seine Aufgabe an, selbigen Fabrikanten unter die Arme zu greifen. Das geschah nicht reibungslos, da die für die Auftragsvergabe der Main-Neckar-Bahn und Main-Weser-Bahn entscheidenden Männer, Vater und Sohn Laubenheimer, weniger die Interessen der Kapitalbesitzer vertraten als vielmehr das Interesse an modernster Technologie zum günstigen Preis. So sehr sich die Maschinenfabrik und Eisengießerei auch um Aufträge für die Betriebseinrichtung der Werkstätte in Gießen bemühte, so gelang es August Laubenheimer, die Dampfmaschine bei Henschel in Kassel zu bestellen und die Darmstädter Fabrik mit der Lieferung einiger Werkzeug­maschinen zufriedenzustellen.

Die ausführliche Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei für den Zeitraum von etwa 1850 bis 1856 ist in den Kapiteln 4 Eine Fabrik sucht neue Aufträge und Kapitel 5 Ein Lob aus München erreicht Darmstadt zu finden.

Darin wird der Schriftverkehr zwischen der Maschinenfabrik und Eisengießerei, dem Baurat Laubenheimer in Gießen und dem hessischen Finanzministerium vorgestellt und ausgewertet, die Fehldeutung eines Eigennamens beleuchtet, auf die Anfänge der Merck'schen Fabrik eingegangen und die Medaillenvergabe der Münchener Industrieausstellung von 1854 unter die Lupe genommen.

1849 begann eine rund dreißigjährige Geschäfts­beziehung mit dem zunächst langsam expandierenden Unternehmen von Heinrich Emanuel Merck an der östlichen Peripherie der Residenzstadt mit der Bestellung einer Dampfmaschine. Der zugehörige Vertrag zwischen Merck und der Maschinenfabrik ist erhalten geblieben. Mit der Umwandlung der Maschinenfabrik in eine Aktien­gesellschaft sollte sich diese Beziehung intensivieren. 1854 nahm die Maschinenfabrik und Eisengießerei an der groß angelegten Gewerbeausstellung in München teil und erhielt eine belobende Erwähnung „wegen guter Arbeit an den ausgestellten Maschinen“. Der Wert dieser drittrangigen Auszeichnung wird dadurch getrübt, daß in der Regel bei derartigen Veranstaltungen auf die Aussteller ein Medaillenregen darniederging, bei dem nicht einmal notwendigerweise das ausgestellte Produkt prämiert wurde, sondern durchaus auch das schon vorhandene Image eines Unternehmens.

1854 erscheint nun auch im Darmstädter Adreßbuch unter der genannten Adresse erstmals neben dem Münzrath Rößler der Firmenname Maschinenfabrik und Eisengießerei.

Für die beiden Folgejahre 1855 und 1856 liegen keine Informationen zur Maschinenfabrik und Eisengießerei vor. Merck verbuchte überhaupt keine Rechnung des Unternehms, im Gegensatz zu den Jahren davor und danach, so daß es plausibel zu sein scheint, daß die Maschinenfabrik und Eisengießerei entweder auf Sparflamme produzierte oder den Betrieb weitgehend eingestellt hatte, zumindest solange, bis Interessenten bereit waren, das Unternehmen aufzukaufen und neu aufzustellen. Zu berücksichtigen ist, daß Hektor Rößler [sen.] 1854 ein Dreivierteljahrhundert alt geworden war und sich im Familienkreis kein Nachfolger fand. Oder gab es ein Kapitalproblem? Vielleicht findet sich hierzu noch eine Angabe; für den Moment bleibt die Phase des Übergangs auf Vermutungen angewiesen.

Die Anfänge der Aktiengesellschaft

Auch wenn wir nicht so genau wissen, wie der Übergang von der alten Rößler'schen Maschinenfabrik zur erneuerten Aktiengesellschaft vonstatten gegangen ist, so können wir doch den ungefähren Zeitrahmen, die Akteure und vor allem die dahinterstehende Motivation benennen. Irgendwann 1856 werden die Bank für Handel und Industrie und die Hessische Ludwigsbahn bei der Lösung eines logistischen Problems auf die Idee gekommen sein, die zu diesem Zeitpunkt wohl brachliegende Fabrik zu übernehmen. Als weitere Investoren kamen die Geschäftsleute Prosper Bracht und Reinhard Ludwig Venator hinzu.

Die Vorgeschichte vor der Begründung der Aktiengesellschaft 1857 gehört zu den bislang unergründeten Forschungsdesideraten. An dieser Stelle ist es vielleicht nützlich, den bisherigen Forschungsstand zur Maschinenfabrik und Eisengießerei zu rekapitulieren und dabei mit so manchen fehlerhaften Angaben und Vermutungen aufzuräumen. Insbesondere wird der Frage nachzugehen sein, weshalb auch fünfundachtzig Jahre nach Arthur Ueckers Dissertation zur Industrialisierung Darmstadts von 1928 keine brauchbaren Informationen zu diesem Unternehmen zu finden waren. Es ist ja, wie meine Arbeit zeigt, nicht so, als habe es keine verwetbaren Quellen gegeben. Dies ist der Inhalt von Kapitel 6, der Abschweifung zur Forschungsgeschichte mit dem Titel 100.000 Thaler machen sich auf den Weg.

Die ersten Jahre der Maschinenfabrik und Eisengießerei als Aktiengesellschaft von etwa 1857 bis 1859 behandelt Kapitel 7 Die Aktiengesellschaft entsteht. Darin werden die handelnden Akteure und ihre Motive, soweit ergründbar, genauer vorgestellt. Weiter geht es mit einer näheren Beschreibung der alten Fabrik an der Frankfurter Straße und der neuen Fabrik an den Gleisen der Hessischen Ludwigsbahn, bevor die Ergebnisse dieser ersten Geschäftsjahre vorgestellt werden.

Die Hessische Ludwigsbahn hatte Anfang 1856 die Konzession für den Bau zweier miteinander verbundener Eisenbahn­strecken erhalten. Zum einen ging es um die Anbindung ihrer 1853 fertiggestellten Stammstrecke von Mainz nach Worms an die von Köln aus nach Süden geführte linksrheinische Eisenbahn­strecke bis Bingen, zum anderen um eine Querverbindung von Rheinhessen nach Bayern, also von Mainz nach Aschaffenburg über Darmstadt. Mainz war jedoch Bundesfestung, weshalb jede nach außen geführte Eisenbahnstrecke eine potentielle Gefahr bei feindlicher, also imaginierter französischer Belagerung darstellte. Hier galt es besondere Baumaßnahmen zur Minimierung dieser Gefahr zu ergreifen, die entsprechend kostenintensiv ausfielen. Weiterhin sollte beim Bau einer Eisenbahnbrücke über den Rhein die Schiffahrt nicht behindert werden. Es war also abzusehen, daß die Brücke erst Jahre nach der Inbetriebnahme der neuen Strecken fertiggestellt sein würde. Für den isolierten rechtsrheinischen Bahnbetrieb der Hessischen Ludwigsbahn mußte demnach eine eigene Eisenbahn­werkstätte bei Darmstadt errichtet werden. Um die damit verbundenen Kosten zu minimieren, kam man auf die Idee, die in Eisenbahnsachen erfahrene Maschinenfabrik und Eisengießerei anzukaufen, an einen neuen Standort direkt an den Bahngleisen zu verlegen und selbige für die zu erwartenden Aufgaben zu erweitern. Diese Investition erforderte größere Kapitalsummen und so gründete man eine Aktiengesellschaft, um das benötigte Kapital aufzutreiben.

Bankgebäude.
Abbildung 30.02: Das 1875 fertiggestellte Gebäude der Bank für Handel und Industrie auf einer Ansichtskarte aus dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Quelle: Undatierte, 1902 gelaufene Ansichtskarte von Schaar & Dathe, Trier.

Die Bank für Handel und Industrie, auch Darmstädter Bank genannt, kam dazu, weil sie mit der Regierung über die Einrichtung einer Zettelbank verhandelte, die wiederum nur dann genehmigt werden sollte, wenn die Bank der Regierung einen Gefallen tat: nämlich die Finanzierung der Eisenbahn von Bingen nach Aschaffenburg sicherzustellen.

Durch einen Aufruf zur Subskription der neu auszugebenden Anteilsscheine im März 1857 kamen mindestens drei weitere Aktionäre hinzu, die größere Summen zeichneten: der Hofgerichts­advokat und Landtags­abgeordnete Karl Johann Hoffmann II. aus Darmstadt, der finanzielle Leiter des chemisch-pharmazeutischen Unternehmens Merck, Carl Merck, und der jüdische Bankier Carl Wolfskehl aus Darmstadt. August Parcus, Direktor der Bank für Handel und Industrie, vertrat selbige im Verwaltungsrat des neugründeten Unternehmens.

Die Aktiengesellschaft begann ihr Geschäftsjahr zum 1. April 1857, ihre Statuten wurden vom hessischen Innenministerium im Juli 1857 genehmigt. Diese Statuten weisen eine wichtige Änderung gegenüber den ursprünglichen Absichten aus: anstelle der Hessischen Ludwigsbahn wird nunmehr als einer der Gründer des neuen Unternehmens der Mainzer Kaufmann Franz Werner genannt. Dieser, Präsident des Verwaltungsrats der Bahngesellschaft, sprang ein, als sich die Ludwigsbahn aufgrund nicht erfüllbarer Anforderungen des Ministeriums aus dem Geschäft zurückziehen mußte. Sie baute dann doch mit eigenen Mitteln eine eigene Werkstätte auf.

Die erste Aufgabe der neugeschaffene Aktiengesellschaft bestand in der Wieder­inbetriebnahme der Räumlichkeiten an der Frankfurter Straße. Hierein mußten 14.000 Gulden investiert werden. Gleichzeitig begannen die Planungen für die notwendigsten Neubauten auf dem neuen Fabrikgelände. Die hierfür erforderliche Dampfmaschine von 50 Pferdekräften wurde in den eigenen Werkstätten gebaut. Aufträge scheint es zunächst ausreichend gegeben zu haben. Im Frühjahr 1859 gab es einen Auftragsbestand für die kommenden neun Monate, was auf der General­versammlung am 30. April 1859 mit Befriedigung vermerkt wurde. Der Bau der „neuen Fabrik“ ging 1858 und 1859 voran, so daß ein Teil des Betriebs aus der Frankfurter Straße umgezogen werden konnte. Ein eigener Gleisanschluß an die Gleise der Hessischen Ludwigsbahn stand kurz vor der Ausführung. [6]

Eine detaillierte Übersucht zu den geschäftlichen Verflechtungen zwischen der Maschinenfabrik und Eisengießerei und Merck bietet Kapitel 8. Hierbei geht ein Monteur zu Merck.

Schon 1849 hatte die Rößler'sche Maschinenfabrik mit Heinrich Emanuel Merck einen Vertrag über die Lieferung einer Dampfmaschine abgeschlossen. Die hieraus erwachsene Geschäftsbeziehung sollte die kommenden dreißig Jahre mit mehr oder weniger großer Intensität fortgeführt werden. Einer der Söhne Heinrich Emanuel Mercks verschaffte sich durch den Kauf einer größeren Anzahl Aktien einen Sitz im Verwaltungsrat und besaß hierdurch einen gewissen Einblick in und Einfluß auf die Geschäftspolitik. Das Unternehmen E. Merck Darmstadt erwarb 1859 zudem Schuld­verschreibungen der Maschinenfabrik und Eisengießerei, was ihm im Verlauf von fast zwanzig Jahren Zinseinnahmen in Höhe des eingesetzten Kapitals verschaffen sollte. Weit interessanter ist jedoch der durch die erhaltenen Merck'schen Kontenbücher gewonnene Einblick auf die Lieferungen und Leistungen der Maschinenfabrik. Es werden Zubehörteile zu liefernder Dampfkessel aufgelistet, angeschlossene Rohre centimetergenau aufgeführt oder der Lohnsatz der zur Montage ausgerückten Arbeiter berechnet. Daraus erfahren wir, daß ein zwölfstündiger Arbeitstag als angemessen galt.

Die ersten Geschäftsjahre scheinen für die Aktionäre noch zufriedenstellend gelaufen sein. Sogar von einer Lieferung nach Ungarn wird berichtet. Dann aber verlassen in kurzer Folge zwei kaufmännische „Dirigenten“ das Unternehmen, das hierdurch, aber auch angesichts der allgemein drückenden wirtschaftlichen Lage, in Schieflage gerät. Die bis zum Juni 1863 eingefahrenen Verluste sind derart groß, daß eine Auffrischung des Kapitalstocks mittels neuer Prioritätsaktien im Nennwert von 150.000 Gulden notwendig wird. An der Qualität der hergestellten Produkte scheint es nicht gelegen zu haben. 1861 wagt das Unternehmen den Sprung, in den Lokomotivbau einzusteigen. Hierbei handelt es sich um ein Nischenprodukt, nämlich um kleine Tender­lokomotiven für Bauunternehmen oder Kohlengruben. Neuer kaufmännischer Direktor wird 1863 Ludwig Weber. Von den neuen Prioritätsaktien sichert sich die Darmstädter Bank im gleichen Jahr selbige in Höhe von 43.000 Gulden.

Die Jahre von 1859 bis 1863 behandelt Kapitel 9. Die Handelskammer zieht eine Augenbraue hoch.

Darin wird zunächst auf die positive Geschäftsentwicklung eingegangen, bevor es Anfang der 1860er Jahre beinahe zum Zusammenbruch des Unternehmens kommt. Anläßlich der Gewerbe­ausstellung 1861 in Darmstadt wird ausführlich die Art und Weise dargelegt, wie bei einer solchen Veranstaltung die Preisverleihung zustande kommt.

Das nachfolgende Kapitel 10 – Eine kleine Lokomotive bringt Dampf ins untere Neckartal – schließt an die Präsentation der ersten Dampfl­okomotive der Maschinenfabrik im Ausstellungs­katalog des deutschen Zollvereins für die Weltausstellung in London 1862 an. Dabei wird der Versuch unternommen, die Empfänger der ersten zweiund­zwanzig bis 1870 hergestellten Lokomotiven zu identifizieren. Bei manchen Exemplaren gelingt es sogar, den Verwendungs­zweck zu bestimmen.

Das Unternehmen veröffentlicht keine Zahlen, erst recht keine Bilanz für das Geschäftsjahr 1862/63, was die Darmstädter Handelskammer mit einem leichten Hochziehen der virtuellen Augenbraue in ihrem Rechenschafts­bericht vermerkt. [7]

Zur Steigerung des Bekanntheitsgrades und des Absatzes nimmt die Maschinenfabrik an der Darmstädter Landesgewerbe­ausstellung 1861 teil und erringt dort einen der Hauptpreise. Da die Preismedaillen jedoch recht inflationär vergeben wurden, sind – wie bei anderen Ausstellungen auch – derartige Preise mit Vorsicht zu betrachten. Vorgeführt werden u. a. eine Dampfmaschine, eine Lokomobile und Kanonenkugeln für Kanonen mit gezogenem Lauf nach preußischem, österreichischem und whitworth'schen System. Im folgenden Jahr findet in London eine Weltausstellung statt, zu der die Maschinenfabrik meldet. Ob sie je vorgehabt hat, sich auch mit Produkten vor Ort zu zeigen, ist unklar, jedenfalls wird ihr Fehlen bemerkt. Vielleicht hatte sie auch nur auf eine günstige Möglichkeit gewartet, im offiziellen Spezialkatalog der Zollvereins­staaten annoncieren zu knnen. Dort warb das Unternehmen für seine neue kleine Tenderlokomotive und einen Dampfpflug. [8]

Tenderlokomotive.
Abbildung 30.03: Darstellung der ersten Tender­lokomotive der Maschinen­fabrik und Eisen­gießerei. Quelle: Ausstellungs­katalog des Zollvereins [1862], Seite LXVI.

Zwischen 1861 und 1870 werden in den Fabrikhallen des Unternehmens zweiundzwanzig dieser Lokomotiven zusammengebaut. Zunächst erscheint die Fertigung eher sporadisch. Wer eine Dampfmaschine herstellen kann, versucht sich auch an einer fahrbaren Version derselben; das ist dann eine Lokomobile. Etwas mehr Fertigkeit ist erforderlich, um von der Straßen- und Ackerversion einer fahrbaren Maschine zu einer sich auf Schienen bewegenden Apparatur überzugehen. Erst zu Beginn der 1870er Jahre wird man im Lokomotivbau den Hauptzweck des Unternehmens sehen [9]. Der Gründerboom wirkt sich auch auf den Eisenbahnbau aus, und hierzu werden Lokomotiven für den Bau genauso benötigt wie Personen- und Güterzugloks. Gerade beim Bau von Nebenbahnen kommt es nicht unbedingt auf die Fahr­geschwindigkeit an, so daß hier sogar verbesserte Exemplare der Maschinenfabrik zum Einsatz gelangen werden.

Der Bauunternehmer Ferdinand Elert aus Wehlheiden wird 1861 der erste sein, der für Erdarbeiten beim Bau der badischen Odenwaldbahn von der Maschinenfabrik zwei kleine zweiachsige Tender­lokomotiven bezieht. Andere Bauunternehmer werden folgen. Hierbei erweist sich die Spurweite von 900 Millimetern, die, soweit bekannt, erstmals für eine Lokomotive der Maschinenfabrik Verwendung findet, als geradezu richtungsweisend. Allerdings liefert die Maschinenfabrik seine spezielle Auffassung davon, wie eine Lokomotive auszusehen hat, in verschiedenen Spurweiten, je nach Anforderung und Verwendungszweck. Für die Aachen-Höngener Bergwerls-Actien-Gesellschaft beispielsweise liefert sie 1865 drei Exemplare mit der Spurweite von 707 Millimetern zum oberirdischen Verschub von Steinkohlen zum Bahnhof Stolberg an der Bahnstrecke von Aachen nach Köln. [10]

Bislang konnten noch nicht alle Käufer der schmalspurigen Lokomotiven aus Darmstadt identifiziert werden, die in der Dekade von 1861 bis 1870 produziert worden sind.

Wechselhafte sechziger Jahre

Nach der Reorganisation des Unternehmens, sprich: der Berufung eines neuen kaufmännischen Leiters und der Zufhtung frischen Kapitals, gingen die Geschäfte zwar nicht mehr so glänzend wie in den ersten Jahren der Aktien­gesellschaft, aber passabel genug, daß zumindest die in ihren Polstersesseln Zigarren schmauchenden Aktionäre ihr Auskommen hatten. Schon im ersten nachfolgenden Geschäftsjahr war die Fabrik derart gut ausgelastet, daß sie händeringend nach erfahrenen Arbeitern suchte. In einer monatelang anhaltenden Anzeigenserie suchte das Unternehmen „[t]üchtige Monteure, Schlosser, Kesselschmiede, Sandgießer und Modellschreiner für den dauernde Beschäftigung bei angemessenem Verdienste“. Was der gemeine Arbeiter dieser Fabrik in diesen Jahren „angemessen“ verdient hat und wie lange er dafür hat malochen müssen, findet sich (direkt angegeben) nirgends. [11]

Das elfte Kapitel nimmt den Faden dort wieder auf, wo ihn die General­versammlung im Mai 1863 hat fallen lassen. Mit frischem Kapital geht es durch die rauen 1860er Jahre, bevor gegen Ende des Jahrzehnts die Konjunktur anzieht. Es werden vielerlei Dampfkessel, Dampfmaschinen und Lokomobile produziert. Das Unternehmen führt seine Dreschmaschine öffentlich vor. Selten sind Informationen zu Lieferungen an das Militär. Die Hessen-Nassauische Armee wollte ihre Pontons modernisieren und stieß hierbei auf die Maschinenfabrik als geeigneten Lieferanten. Das Kapitel endet mit dem Deutschen Krieg von 1866.

Eine vom Darmstädter Tabakfabrikanten Friedrich August Wenck erdachte und von der Maschinenfabrik in seinem Auftrag gebaute Trockenapparatur fand auch in der überregionalen technischen Fachpresse Aufmerksamkeit. Eine ausgiebig beschriebene Versuchsreihe, Tabak und Malz schonend und effektiv zu rösten, zeigte, daß die Arbeiter der Maschinenfabrik nicht nur Lokomotiven bauen, sondern auch nützliche Geräte abfertigen konnten, die den Drogenkonsum weiter Bevölkerungs­schichten in verschiedenerlei Hinsicht zu fördern halfen. Alkohol und Tabak waren und sind wichtige Begleiter der globalen Industrialisierung, und sie lindern ein wenig den damit verbundenen Schmerz. [12]

Im Dreijahresbericht der Handelskammer Darmstadt für 1864 bis 1866 heißt es, die Maschinenfabrik habe durchschnittlich 258 bis 287 Arbeiter beschäftigt und in den Geschäftsjahren 1863/64 bis 1865/66 einen Umschlag (Umsatz) von 312.967, 355.969 bzw. 396.778 Gulden erwirtschaftet. So interessant es ist, Zahlen zum Unternehmen aus den 1860er Jahren in der Hand zu haben, die vermutlich den nicht mehr vorhandenen Geschäftsberichten des Unternehmens entnommen wurden, so merkwürdig mutet es an, wenn im Geschäftsbericht der Direktion für die ordentliche General­versammlung 1878 in einer summarischen Auflistung aller Geschäfts­kennziffern von 1863 bis 1878 teilweise ganz andere Zahlen präsentiert werden. Deshalb wird es ratsam sein, diese divergierenden Zahlen möglichst nebeneinander zu stellen. Weshalb die 1878 präsentierten Kennziffern sich von früheren Angaben unterscheiden, ist unklar. [13]

Nebenher stellt sich bei dieser Betrachtung der Datenlage heraus, daß der oft zitierte Gewährsmann für die Industrialisierung Darmstadts, Arthur Uecker, ab und an seine verwendete Quelle mißverstanden hat, und daher in seiner 1928 als Buch erschienenen Dissertation einige Fehler enthalten sind. So behauptet er beispielsweise, die Maschinenfabrik habe in den 1860er Jahren Brennerei- und Brauerei­maschinen geliefert, allerdings fehlt bislang außer einer Werbeanzeige, genau dies tun zu wollen, jeglicher Nachweis. [14]

In den 1860er Jahren besaß das Unternehmen eine breite Produktpalette, die sich jedoch im wesentlichen auf die Nutzung der Dampfkraft konzentrierte. Neben (vermutlich) selbst entwickelten Lokomotiven produzierten die Arbeiter der Fabrik Dampfmaschinen, Dampfkessel und Lokomobile. Zu den Dampfkesseln sind mehrere Beschreibungen und Prüfungszeugnisse überliefert. Von Dampfmaschinen angetriebene Ventilatoren bzw. Turbinen ließen sich als Entwässerungs­anlagen nutzen. Eine „Spezialität“, mit der das Unternehmen auch anderen Darmstädter Maschinenbau­fabriken Konkurrenz machte, waren fahrbare Dreschmaschinen, aufgebaut als bewegliche Lokomobile mit einer hiervon angetriebenen Dreschvorrichtung. Hierzu hatte die Maschinenfabrik eine Lizenz des führenden englischen Unternehmens Ransomes and Sims erworben, baute das Modell nunmehr selbst nach und bewarb es auf zwei landwirtschaftlichen Maschinen­ausstellungen in Darmstadt 1868 und 1869.

Ein Unternehmen wir die Maschinenfabrik und Eisengießerei benötigte zum Betrieb seiner Dampfmaschinen größere Mengen Kohlen, die vermutlich per Eisenbahn direkt auf das Fabrikgelände verschickt wurden. In den 1860er Jahren, vielleicht auch schon vorher, entwickelte das Unternehmen hieraus einen weiteren Geschäftszweig, der im Verkauf der ohnehin reichlich angelieferten Kohlen bestand. 1869 beispielsweise fand sich im Durchschnitt einmal pro Woche in den „Hessischen Volksblättern“ eine diesbezügliche Annonce. Darmstadt scheint zu dieser Zeit vorwiegend aus dem Ruhrgebiet und nicht aus dem saarländischen Kohlenrevier beliefert worden zu sein. Der innerdeutsche Krieg von 1866 hatte die Zufuhr der für Produktion und Heizung wichtigen Kohlen unterbrochen, weshalb das Unternehmen den Verkauf selbiger Kohlen aussetzte:

„Nachdem das Verbot der Kohlen-Ausfuhr von den kgl. preuß. Saargruben, nach den an Ort und Stelle eingezogenen Erkundigungen, sich leider bestätigt hat, liegt die Wahrschein­lichkeit der Verfügung einer ähnlichen Maaßregel für die Gruben an der Ruhr sehr nahe und haben wir in Folge dessen den Verkauf von Kohlen bis zur bevorstehenden Ankunft der neuen Zusendungen einstellen müssen.“ [15]

Annonce für Ruhrkohlen.

Abbildung 30.04: Annonce für den Verkauf von Ruhrkohlen in verschiedener Qualität. Ein weiterer Kohlenhändler informiert über die Tagespreise. Quelle: Hessische Volksblätter vom 29. Oktober 1867. [16]

In den Jahren 1867 und 1868 lieferte das Unternehmen u. a. Dampframmen und Luftmaschinen, welche beim Bau der Eisenbahn­brücken von Düsseldorf nach Neuß und von Harburg nach Hamburg eingesetzt wurden. Geliefert wurden sie an die Bergisch-Märkische- und die Cöln-Mindener-Eisenbahn­gesellschaften. Der Kundenstamm umfaßte weitere fünf Eisenbahnen, aber auch Kohlengruben und die regionalen Fabriken.

Ein in der „Darmstädter Zeitung“ teilweise referierter Geschäftsbericht für 1867/68 nennt nicht nur produzierte Maschinen und andere Gerätschaften, sondern auch die zugehörigen Kunden. Dieser Sachverhalt wird näher untersucht. Zudem werden einzelne von den Arbeitern der Maschinenfabrik gefertigte Dampfkessel vorgestellt; von manchen liegen Beschreibungen, Prüfungszeugnisse und eine Blaupause vor, die auf einer eigenen Dokumentationsseite wiedergegeben werden. Das 12. Kapitel für den Zeitraum von etwa 1866 bis 1869 endet mit der Beteiligung der Maschinenfabrik an drei Ausstellungen und einer in Paris gewonnenen Silbermedaille. Das Kapitel enthält eine Liste aller bekannten Ausstellungen, an denen sich die Maschinenfabrik in irgendeiner Weise beteiligt hat.

„Die Benutzung der Dampfkraft im landwirthschaftlichen Betriebe gewinnt im Großherzogthum eine immer größere Bedeutung. Während vor etwa 12 Jahren die erste Dampfmaschine hierzu durch Herrn J. Möllinger in Pfeddersheim aufgestellt wurde, sind jetzt mindestens 100 solcher Maschinen in unserem Lande in Thätigkeit und haben sich die Maschinenfabriken des Großherzogthums, namentlich zu Mainz, Offenbach und Darmstadt durch ihre vorzüglichen Leistungen in dieser Branche einen weitverbreiteten Ruf und ein reiches Absatzgebiet erworben. In den letzten 5 Jahren wurden allein in Darmstadt mehr als 200 Locomobilen von 4 bis 16 Pferdekräften, hauptsächlich von den Fabriken der Herren Blumenthal, Kleyer und Beck, sowie der Maschinenfabrik und Eisengießerei gefertigt.

Eine besondere Empfehlung der Anwendung der Dampfkraft für landwirth­schaftliche Zwecke bedarf es bei dem stets wachsenden Mangel an Arbeitskräften und den dadurch bestimmten hohen Löhnen nicht mehr; man hat sich zur Genüge von ihrer Zweckmäßigkeit, ja ihrem Bedürfniß überzeugt und selbst der weniger opulente Landwirth vermag sich ihrer gewichtigen Vortheile nicht länger zu entschlagen.“ [17]

Was die hohen Löhne angeht, so mag dies die Ansicht der Knauserer gewesen sein, denen jeglicher Lohn zu hoch erscheint, weil er ihren Profit drückt; die Arbeiterinnen und Arbeiter werden das ganz anders gesehen haben. Sie mußten schauen, wie sie mit den kärgkichen Löhnen irgendwie über die Runden kamen.

Annonce für Dreschmaschine.

Abbildung 30.05: Annonce für den Lagerverkauf vorhandener Dreschmaschinen. Quelle: Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt vom 21. August 1869. Dieselbe Grafik nutzte das Unternehmen bei ähnlichen Annoncen in der „Darmstädter Zeitung“ und den „Hessischen Volksblättern“ im Sommer 1864.

Fünf Jahre nach ihrer Nicht-Teilnahme an der Londoner Weltausstellung von 1862 beteiligte sich die Maschinenfabrik 1867 an der Weltausstrellung in Paris. Dort erhielt sie für ihre Lokomobile eine Silbermedaille. Angesichts der geradezu inflationären Preisvergabe läßt sich allenfalls auf eine zweitklassige Beurteilung schließen. Allerdings war das Unternehmen in guter Gesellschaft. Von den 116 Ausstellern aus dem Großherzogtum kehrten drei mit einer goldenen, 21 mit einer silbernen und 33 mit einer bronzenen Medaille heim, und fünfzehn weitere erhielten noch eine ehrenvolle Erwähnung. Die Erfolgsquote von 61 % läßt entweder auf eine hoch entwickelte hessische Industrie schließen, oder aber auf eine recht beliebige Zuteilung innerhalb eines Medaillenregens.

Die 1868 in Darmstadt ausgetragene landwirtschaftliche Thier-, Maschinen- und Producten­ausstellung zog hieraus eine eigenwillige Konsequenz. Während das Zuchtvieh nach althergebrachten Kriterien begutachtet und prämiert wurde, sah sich die Kommission außerstande, die zahlreichen ausgestellten Maschinen zu bewerten. Die Gründe lagen schon immer auf der Hand, hier wurden sie ausgesprochen. Nicht vergleichbare Maschinen, die nur angedeutet ihre Leistungsfähigkeit beweisen können, lassen sich nicht ausreichend genau und in Konkurrenz zueinander prüfen. Folglich gab es hier auch keine Medaillen. Die eigentliche Bedeutung dieser Ausstellung wie auch der im Folgejahr von sechs lokalen Industriellen veranstalteten landwirt­schaftlichen Maschinen­ausstellung lag ohnehin darin, die regionalen Agrarier vom Nutzen und der Verfügbarkeit von neuen, kostensenkenden Maschinen zu überzeugen. Dieser Aufgabe scheinen beide Ausstellungen gerecht geworden zu sein. Die Maschinenfabrik war hier mit verschiedensten Gerätschaften vertreten. Zu der zwar lokal ausgetragenen, aber auch nach Rheinhessen ausstrahlenden Ausstellung 1869 wurden 27.000 Besucherinnen und Besucher gezählt.

Es ist nicht auszuschließen, daß sich das Unternehmen bis zur Wiener Weltausstellung an weiteren regionalen und internationalen Ausstellungen beteiligt hat; Hinweise hierauf gibt es bis dato nicht. Geradezu bemerkenswert ist, daß sich die Maschinenfabrik an der landwirt­schaftlichen Maschinen­ausstellung in Darmstadt von 1870 nicht beteiligt zu haben scheint.

Konflikte

Die für den Norddeutschen Bund 1869 verabschiedete Gewerbeordnung ermöglichte nach zwei Jahrzehnten finsterster Reaktion auch den Arbeiterinnen und Arbeitern ein gewisses Maß an Koalitionsfreiheit. Streiks und Gewerkschaften waren nunmehr nicht länger illegal, wenn auch weiterhin Einschränkungen galten und die Obrigkeit wachsam blieb. Das Großherzogtum Darmstadt war hier gespalten. Die Gebiete nördlich des Mains gehörten zum Norddeutschen Bund, die Region um Darmstadt hingegen nicht. Das hinderte die dortigen Arbeiter nicht daran, die neuen Freiheiten zaghaft auszuprobieren. Sie verließen den Dunstkreis des 1863 gegründeten Arbeiter­bildungsvereins und schlossen sich mehrheitlich der neu entstehenden sozialistischen Partei um Wilhelm Liebknecht und August Bebel an.

Eine Streikwelle erfaßte 1869 und 1870 auch Darmstadt. Den Anfang, soweit die Chroniken dies überhaupt überliefert haben, machten im Februar die Arbeiter an der Odenwaldbahn, die im Darmstädter Norden einen Einschnitt in das Gelände ausheben sollten. Streiks waren zu dieser Zeit mangels organisierter und gefüllter Streikkassen kurz und heftig. Entweder gaben die Meister oder Fabrikanten nach oder aber der Streik brach in sich zusammen; dies hing nicht zuletzt von einer konjunkturell bedingten Verhandlungsmacht ab. Bei der Maschinenfabrik und Eisengießerei waren die Auftragsbücher prall gefüllt, als die dortigen Arbeiter im September 1869 „feierten“. Anlaß scheinen verspätete Lohnzahlungen gewesen zu sein, herausgekommen ist wohl auch eine kräftige Lohnerhöhung.

Ein Problem bei der Erfassung derartiger Arbeitskämpfe liegt darin begründet, daß oftmals nur die Lebensumstände und Interessen der herrschenden und begüterten Kreise überliefert sind. Ihre Ansichten und Handlungen spiegeln sich in Urkunden, Verlautbarungen, Büchern und eben auch der Tagespresse. Die Lebenswelt der hart arbeitenden Menschen in den Fabriken oder auf dem Land interessierte da wenig, allenfalls einmal wenn sie aufbegehrten. Insofern ist uns weitgehend nur eine Geschichte der „oberen Zehntausend“ zugänglich, die selbstredend auch aus der Sicht dieser prozentual kleinen Gruppierung geschrieben ist. Das Problem wird dadurch verschärft, daß auch moderne Autorinnen und Autoren sich dieser Gruppierung zugehörig fühlen und folgerichtig nur das erforschen, was dieser Sichtweise entspricht. Eine Geschichts­schreibung konsequent aus der Sicht der übrigen neunzig Prozent der damaligen Bevölkerung fehlt schlicht. Sie ist auch nicht wirklich erwünscht. So bleibt es Geschichts­werkstätten, Gewerkschaften oder (auch schon wieder „ausgestorben“) linken Dozentinnen und Dozenten überlassen, zumindest einzelne Facettern herauszuarbeiten. Dabei ist die Quellenlage so schlecht nun auch wieder nicht, aber sie sprudelt natürlich nicht so sehr wie bei der Selbstdarstellung der Durchlauchten von Gottes Gnaden, des Adels oder des begüterten Bürgertums.

Die Streiks 1869 und 1870 werden ausführlich in Kapitel 13 behandelt. Interessierte Honoratioren tun sich zusammen und gründen den Bauverein für Arbeiterwohnungen, weniger um die Wohnungsnot zu lindern, das auch, sondern um sich einen Stamm zufriedenerer Arbeiter zu schaffen. Eine Dividende springt dabei auch heraus.

Auch die hier vorliegende Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei kommt nicht umhin, weitgehend das Unternehmen und nicht so sehr die darin Beschäftigten zu behandeln. Von Arbeitskonflikten erfahren wir nämlich nur, wenn sie öffentlich verhandelt wurden; und das ist nicht nur selten der Fall, sondern erfordert ein ganz anderes Quellenstudium als die in allerlei Büchern festgehaltene Hagiografie der herrschenden Kreise. Für die Jahre 1869 und 1870 liegen derartige Quellen vor. Die damalige Streikwelle wurde recht gut in zumindest einer in Darmstadt erscheinenden Zeitung festgehalten, vor allem durch Annoncen, welche die streitenden Parteien dort plaziert hatten.

Jedenfalls streiken die Arbeiter der Maschinenfabrik einen Tag lang und scheinen damit Erfolg gehabt zu haben. Die Reaktion der Geschäftsleitung sollte nicht lange auf sich warten lassen; ihr fehlte nur der passende Anlaß. Diesen ermöglichte der Deutsch-Französische Krieg 1870/71. Die zivile Wirtschaft mußte sich den Erfordernissen des Militärs fügen. Züge beförderten keine Rohstoffe und Waren mehr, sondern Soldaten, Pferde und Kanonen. Arbeiter wurden eingezogen und fehlten in der Produktion. Kredite wurden benötigt, um bei dieser Produktions­stockung liquide bleiben, aber auch das Geld wurde knapp gehalten. Spekulanten aller Art traten auf die Bühne, um als Kriegsgewinnler den Rahm abzuschöpfen. In Darmstadt erhöhten Gastwirte und Kohlenhändler die Preise und trafen damit auch die Arbeiter, die auf günstige Mahlzeiten und Brennstoffe angewiesen waren.

Im Juli 1870 erklärte die Direktion der Maschinenfabrik, aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage die Hälfte der Arbeiter entlassen zu müssen und den Lohn der anderen Hälfte um ein Sechstel zu senken, dabei die Arbeitszeit drastisch zu verkürzen. Damit kassierten sie die Lohnerhöhung vom Vorjahr. Dieses Vorgehen war auf einem gemeinsamen Treffen unter den Darmstädter Fabrikanten abgesprochen, die somit alle den für sie günstigen Ausnahmezustand ausnutzten. Auch hierbei handelt es sich um Kriegsgewinnler. Dabei hatte die Lohnerhöhung von 1869 dem Unternehmen keineswegs geschadet, denn die Aktionäre konnten sich eine derart üppige Dividende auszahlen wie nie zuvor.

Am 31. August 1870 kamen alle Arbeiter zusammen und setzten der Geschäftsführung eine Frist von acht Tagen, den vorherigen Zustand wiederherzustellen. Die Geschäftsführung antwortete ebenso öffentlich und erklärte, vom Tonfall der Petition der Arbeiter verletzt worden zu sein. Die Mimöschen auf ihren warmen Sesseln erklärten zudem, ihr Handeln sei doch eine Wohltat gewesen, zumindest für einige der Arbeiter. Und überhaupt: die Wortführer der Eingabe an die Geschäftsleitung seien doch diejenigen, die am besten bezahlt worden seien und versuchten die anderen, vor ihren Karren zu spannen. Da auch andernorts Arbeiter auf die Straße gesetzt worden waren, nutzten die beiden Direktoren der Maschinenfabrik die Situation, selbige anzuheuern und als Streikbrecher einzusetzen. Der Streik brach alsbald in sich zusammen und irgendwann kehrten die meisten der Arbeiter wieder an ihren Arbeitsplatz zurück, nur eben zu schlechteren Bedingungen. Die Dividende dieses Geschäftsjahres übertraf folgerichtig die des Vorjahres. Dennoch blieb es nicht aus, daß angesichts der bald wieder brummenden Konjunktur des Gründerbooms auch die Löhne in den Folgejahren erheblich stiegen. Inwieweit hiervon eher die qualifizierten Arbeiter profitiert haben, ist nicht zu erkennen. Die diesbezüglichen Zahlen, die 1878 in einem Geschäftsbericht vorgelegt wurden, nennen nur Durchschnittswerte.

Aufgeklärtere Fabrikanten und Direktoren sehen Teuerung und Wohnungsnot in Darmstadt als ein Problem an, das zur Unzufriedenheit der Arbeiter führt. Sie geben sich als Philanthropen, die nur Gutes wollen, und gründen 1864 den Bauverein für Arbeiterwohnungen. Nach und nach entstehen entlang der Blumenthal­straße und der Feldbergstraße einzelne Wohnblöcke, die durchaus damals modernen Erkenntnissen über behagliches und gesundes Wohnen entsprechen. Das Ganze ist als Aktiengesellschaft aufgezogen, so daß die Initiatoren auch einen ganz eigenen Nutzen davon haben. Beteiligt an diesem Unternehmen sind mehrere Aktionäre der Maschinenfabrik sowie ihr kaufmännischer Leiter Ludwig Weber. Einige Jahre später sollte die Hessische Ludwigsbahn maßgeblich mit einsteigen.

Eine Beteiligung von Arbeitern war in diesem Honoratiorenklub nicht vorgesehen. Sie organisierten daher ein eigenes Projekt, die Baugenossen­schaft. Dieses Unternehmen erhielt nicht, wie der Bauverein, Geldpräsente aus dem englischen Königshaus oder von anderen erlauchten Herrschaften. Die Arbeiter mußten es sich vom Munde absparen. Folglich reichte das Kapital nur zum Bau eines Doppelhauses in der heutigen Liebfrauenstraße. Zwei weitere Projekte gesellten sich während des Gründerbooms hinzu. Eine Baugesellschaft auf Aktien erwarb ein großes Gelände im Nordosten der Altstadt, um dort nicht zu kleckern, sondern zu klotzen. Gleich einhundert neue Häuser sollten hier entstehen, und das Zielpublikum waren auch keine Arbeiter, sondern besser situierte Kreise. Wesentlich näher an der Altstadt lag das Gelände, das die Blumenthal'sche Terraingesellschaft erschloß. Nördlich der Promenadestraße und westlich der Frankfurter Straße sollte anfangs der 1870er Jahre das Blumenthal­viertel aufgezogen werden. Beide Projekte mußte kürzer treten, als der Gründerboom sich in eine Gründerkrise verwandelte. Das Bedürfnis nach günstigem Wohnraum war da, aber konnte nicht annähernd befriedigt werden. So ist es bis heute, und das ist auch kein Zufall. Wohnraum ist ein Geschäftsmodell, mit dem ein Grundbedürfnis abgezockt werden soll.

Auf der Weltausstellung in Wien

Anfangs der 1870er Jahre hat sich die Maschinenfabrik endgültig auf kleine Tenderlokomotiven spezialisiert. Die meisten davon dürften beim Eisenbahnbau eingesetzt worden sein, denn die Erdmassen, die beim Anlegen von Einschnitten und Dämmen, aber auch beim Tunnelbau bewegt werden mußten, waren enorm. Manche dieser Bauunternehmer, die ihre Bauzug­lokomotiven aus Darmstadt bezogen haben, lassen sich identifizieren, manche nicht. Daß die Maschinenfabrik durchaus nützliche Maschinen zu liefern imstande war, beweist das damals bedeutende Unternehmen C. Vering (zunäcgst mit dem Partner A. H. Varnholt aus Elberfeld), das immer wieder auf die Darmstädter Produkte zurückgriff.

Drei Lokomotiven sollten im Verlauf der 1870er Jahre zur Steinkohlen­grube nach Hostenbach bei Völklingen gehen. Dort war 1873 eine Schmalspurbahn errichtet worden, um die geförderte Kohle an die nahe gelegene Saar zu transportieren. Die Rheinische Eisenbahn hingegen bezog vier dieser Lokomotiven für den Rangierdienst und führte akribisch Buch über die erbrachten Leistungen, den Verbrauch an Kohlen und die Kosten, die beim Putzen der Maschinen entstanden waren. Im regionalen Starkenburger Provinzial­anzeiger wird sogar von einer Probefahrt kurz vor der Ablieferung in Richtung Köln berichtet. Ebenfalls drei Lokomotiven bezog der Wiesbadener Bauunternehmer Lothar von Köppen, um sie bei Baustellen überall im Reich zum Einsatz zu bringen.

Kapitel 14 befaßt sich mit den Lokomotiven, die vor der Wiener Weltausstellung geliefert worden waren. In diesem und einem weiteren Kapitel wird versucht, für die 1870er Jahre die dürren überlieferten Einträge der Lieferlisten mit den rekonstruierten Namen der Empfänger, dem Einsatzzweck und Hintergrund­material zu füllen. Die beiden in Wien ausgestellten Lokomotiven sollten in der Fachwelt eine Kontroverse darüber auslösen, ob die in Darmstadt produzierten Maschinen klobig, niedlich, häßlich oder einfach nur funktional sind.

Carl Schaltenbrand tadelte drei Jahre später in seinem Werk über die „Die Locomotiven“ die teils ungenaue, teils ohne Argument vorgetragene Abkanzelung. Seine Ausführungen zu den beiden Lokomotiven sind als Anlage 13 nachzulesen.

Die Wiener Weltausstellung wirft ihre Schatten voraus. Im Vorgriff auf das große Ereignis gelingt es der Maschinenfabrik, ihre kleinen Tenderlokomotiven geschickt im Organ der Fachwelt zu plazieren. Der Ingenieur Franz Büxler preist ihre Vorteile auf schmaler und breiter Spur:

„Die Maschinenfabrik und Eisengiesserei Darmstadt, welche leichtere Locomotiven mit schmaler und breiter Spur als Specialität baut, hat unter Anderem leichte, 2achsige gekuppelte Tender­locomotiven mit normaler Spur für die rheinische Eisenbahn zum Theil kürzlich abgeliefert, zum Theil noch in Arbeit, welche durch die Leichtigkeit und Sicherheit, mit welcher sie die garantirte Arbeit leisten, den Beweis liefern, dass die Ausführung gut und die Verhältnisse günstig gewählt sind.

Außenansicht.
Abbildung 30.06: Die im Text benannte Außen­ansicht einer Darmstädter Tender­lokomotive [online bsb münchen].

Fig. 10 Taf. 5 giebt eine Aussenansicht dieser Locomotive.

Die Locomotive hat Dampf­cylinder von 300 mm Durchm. bei 500 mm Hub und Gussstahl-Scheibenräder von 1000 mm Durchm. im Laufkreis. Der Radstand der Locomotive beträgt 2000 mm und das Gewicht derselben im Dienst­zustand mit ganz gefülltem Tender 358 Centner, welches sich gleichmässig auf beide Achsen vertheilt. Der Kessel, welcher eine gesammte innere Heizfläche von 33 Quadrat­meter hat, ist mit kupferner Feuerkiste versehen, und von schmied­eisernen Siederohren mit vorgeschuhten Kupferstutzen durchzogen. Der Wasserkasten liegt zwischen den Rahmen und ist derart construirt, dass die Rahmen zugleich Wände des Wasserkastens sind, die Cisterne fasst 40 Centner Wasser, kann jedoch, wenn die Verhältnisse dazu nöthigen, leicht vergrößert werden. Die Steuerung, welche wegen des Wasserkastens natürlich ausserhalb der Räder liegt, ist nach Allan mit Taschencoulisse, hat 40° Voreilungs­winkel und 45 mm Excentricität.

Derartige leichte Locomotiven eignen sich für Erdtransporte, da die Baugleise doch nicht so solide ausgeführt werden, um sie mit Vortheil und Sicherheit durch schwere Locomotiven zu befahren, auch für den Rangirdienst auf kleineren Stationen und für grosse Hütten- und Stahlwerke. Für industrielle Etablissements empfehlen sich besonders schmalspurige Gleise, welche weniger Raum beanspruchen und sehr scharfe Curven gestatten, so dass man häufig ganz ohne Drehscheibe oder doch mit wenigen und ganz leichten Drehscheiben auskommt.

Oben genannte Fabrik baut solche kleine Locomotiven mit Spur bis herunter auf 500 mm und ist es von besonderem Vortheil, dass die Einrichtungen so getroffen werden, um mittelst dieser kleinen schmal­spurigen Locomotiven normalspurige Wagen ziehen zu können, was für solche Etablissements, welche in ihren Werkstätten schmale Spur haben, aber auch durch normalspuriges Gleis mit dem Bahnhof verbunden sind, von Wichtigkeit ist.“ [18]

In Wien stellte die Maschinenfabrik eine normalspurige Lokomotive, die sich „Darmstadt“ nannte, und eine schmalspuruge Lokomotive aus.

Längsschnitt.
Abbildung 30.07: Längsschnitt durch die Lokomotive „Darmstadt“. Quelle: Tafel XXII zum Buch „Die Locomotiven“ von Carl Schaltenbrand [1876, online].

Die beiden Lokomotiven sollten sich in Wien der Konkurrenz von weiteren 45 Lokomotiven, vorwiegend aus deutscher, österreichischer oder belgischer Produktion, stellen. Das Urteil der versammelten Fachwelt war nicht gerade gnädig. Weil offensichtlich keine konstruktiven Mängel gefunden werden konnten, mußte das äußere Erscheinungsbild für die despektierlichen Urteile der Fachwelt herhalten. Hiergegen wandte sich der in Berlin wirkende Ingenieur Carl Schaltenbrand. In seinem als Anschauungs­material für angehende und erfahrene Konstrukteure mit ausführlichen Beschreibungen und einen großem Bildteil verfaßten Grundlagenwerk über Lokomotiven ging er auch auf die beiden Lokomotiven aus der Darmstädter Produktion ein. Zwar meinte er eine gewisse Über­dimensionierung feststellen zu können, die vielleicht auf die frühere „Spezialität“ der Fabrik, den Bau von Dampframmen, herrühren könne. Andererseits habe diese Ausführung durchaus eine Berechtigung, wenn man den Einsatzzweck betrachte. Eine schöne Lokomotive werde er sicher nicht verachten, aber hier sei die Wahl der Form durch den Zweck und den Preis gerechtfertigt. [19]

Die englische Fachzeitschrift „Engineering“ beschreibt ein weiteres Ausstellungsstück der Maschinenfabrik, eine Lokomobile mit Dampfwinde und Zentrifugalpumpe. Obwohl es durchaus möglich ist, daß die Maschinenfabrik derartiges produziert haben mag, so liegt hier mit Sicherheit eine Verwechslung vor. Die einschlägigen Kataloge und Abhandlungen erwähnen nämlich kein weiteres Ausstellungsstck der Maschinenfabrik, wohl aber eine Dampfpumpe der kürzlich nach Darmstadt übergesiedelten Fabrik Lossen und Schäffer. [20]

In Kapitel 15 werden die nach der Wiener Weltausstellung ausgelieferten Lokomotiven behandelt. Soweit rekonstruierbar werden den Einträgen der Schmeiser-Liste die tatsächlichen Abnehmer und deren Einsatzgebiete zugewiesen. Hierbei zeigt sich, daß die Liste nicht ganz ohne Fehler ist, die vermutlich durch wiederholtes Abschreiben vermehrt worden sind. Eine Reihe von in der Liste genannten Abnehmern läßt sich derzeit nicht eindeutig zuordnen.

Insgesamt lassen sich in den zwei Jahrzehnten von 1861 bis 1880 einhundertsieben Lokomotiven aus den Werkshallen der Maschinenfabrik nachweisen, für zwei weitere scheinen im Lieferbuch nur Basisangaben eingetragen worden zu sein [21]. Nur wenige dieser Maschinen waren normalspurig ausgelegt. Als die Maschinenfabrik 1861 damit begann, kleine Tender­lokomotiven herzustellen, mußte sich der entsprechende Markt erst herstellen. Bei Bauarbeiten waren bis dahin Güter- ider Rangierlokomotiven abgestellt worden und in Fabriken, Gruben oder Steinbrüchen reichten bis dato pferdebespannte Transportwagen aus. Das sollte sich mit zunehmender Massenproduktion ändern. Die Bauunternehmer, welche sich auf das Einebnen von Bahntrassen, das Aufschütten von riesigen Dämmen oder das Ausschachten von Einschnitten eingelassen hatten, konnten die gewaltigen Erdmassen längst nicht mehr mit Pferde­fuhrwerken bewältigen. Die Darmstädter Maschinenfabrik, aber auch die in Heilbronn ansässige Maschinenbau­gesellschaft leisteten hier Pionierarbeit. Feldbahnen mit leichten Transport­lokomotiven setzten sich mehr und mehr durch. Dies animierte auch andere Unternehmen dazu, sich dieser Nische anzunehmen, wie etwa Hagans in Erfurt oder Krauß in München. Solange die Konjunktur anzog und sich der Markt erweiterte, bedeutete die zunehmende Konkurrenz kein größeres Problem. Die sollte sich mit dem Einsetzen der Gründerkrise ändern; der Marktbereinigung fiel die Maschinenfabrik Ende der 1870er Jahre zum Opfer.

Die Maschinenfabrik lieferte ihre Lokomotiven in den Norden bis Bremen, in den Osten bis Ostpreußen und Oberschlesien, in den Westen ins Ruhrgebiet und in den Süden in den Schwarzwald und nach Oberbayern. Exporte in nichtdeutsche Staaten scheint es nicht gegeben zu haben. Daß sie sich konstruktiv bewährt haben, ist nicht zuletzt daraus zu ersehen, daß manche Kunden bis in die Liquidationsphase des Unternehmens immer wieder auf die Darmstädter Lokomotiven zurückgriffen.

Zum Einsatz der kleinen Karlsruher Tender­lokomotive beim Bau des Naenser Tunnels siehe die ausführliche Darstellung im zehnten Kapitel.

Zudem scheint es einen nur schwer faßbaren Sekundär­markt für derartige Lokomotiven gegeben zu haben. War nämlich ein Eisenbahn­bauprojekt beendet worden, wie etwa nach der ersten Bauphase der hessischen Odenwald­bahn, so konnte es vorkommen, daß die hierbei verwendeten Lokomotiven, Schienen und Loren über Händler zum Verkauf angeboten wurden. In Darmstadt traten diesbezüglich die Eisenwaren­handlung Jacob Scheid und die Gebrüder Trier in Erscheinung.

Eines der wohl frühesten Beispiele für diesen Sekundärmarkt läßt sich schon 1864 finden. Damals annoncierte die Braun­schweigische Staats­eisenbahn eine kleine Tender­lokomotive, die sie zwei Jahre zuvor von der Maschinenbau-Gesellschaft Karlsruhe erworben hatte. Der Bauleiter Franz von Ržiha setzte die Lokomotive zum Transport der beim Tunnelbau zu Naensen und bei der Errichtung einer Brücke benötigten Steinquader aus einem nahe gelegenen Steinbruch ein. Es handelt sich um einen der ganz frühen Einsätze einer schmalspurigen Dampf­lokomotive für den Eisenbahnbau, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa.

Die Krise des Darmstädter Maschinenbaus

Zu Beginn der Weltausstellung in Wien platzte im Mai 1873 die Spekulationsblase auf dem Immobilien- und Eisenbahn­sektor. Die Auswirkungen waren auch in der beschaulichen Provinz­metropole Darmstadt zu spüren. Der dortige Maschinenbau, der vom Eisenbahnboom profitierte, geriet ins Trudeln. Neue Aufträge waren nur schwer zu erhalten. Bei Submissionen hatte man es mit Kampfpreisen anderer Unternehmen zu tun. Gerade die Maschinenfabrik und Eisengießerei, die sich kurz zuvor erst auf den Bau kleiner Tender­lokomotiven, insbeondere für Eisenbahn­bauunternehmer, spezialisiert hatte, war betroffen. Zunächst konnte noch das Auftragspolster abgearbeitet werden, doch spätestens 1875 brachen die Gewinne ein und die ersten Arbeiter wurden entlassen. Doch während die 1874/75 im Unternehmen beschäftigten Arbeiter im Jahres­durchschnitt 24,36 Mark weniger verdienten, konnten sich die Aktionäre noch aus dem Gewinn bedienen. Denn die Hälfte des Gewinns entstammte den eingesparten Löhnen.

Die Arbeiter der Maschinenfabrik stellten nicht nur Lokomotiven her, sondern auch Dampfmaschien, Dampfkessel, Dampframmen, Zentrfugal­pumpen, und vielerlei bahnspezfsche Artikel wie etwa Weichen. Markant sei, so schreibt Arthur Uecker in seiner Dissertation zur Industrialiserung Darmstadts aus den 1920er Jahren unter Bezugnahme auf die Produktionslisten von 1873 und 1875,

„neben dem relativ großen Umfange der Produktion ihre außerordentliche Mannigfaltigkeit. Die Bedeutung diese Werkes liegt keineswegs auf dem Gebiete der Massenproduktion, vielmehr geht aus den beiden Aufstellungen mit Deutlichkeit hervor, daß hier nach unseren heutigen Begriffen noch eine Herstellungsweise mit relativ geringer Arbeitsteilung vorliegt, insofern, als von einer großen Arbeiterzahl nicht weniger als (im Jahre 1875) über 24 verschiedene Produktionsarten in jeweils geringer Zahl hergestellt wurden, so daß die für eine Herstellung großen Stils in heutiger Zeit typische Konzentration des Produktions­apparates auf relativ wenige Produkte in jener Zeit noch nicht vorhanden ist.“ [22]

Bilanz zum 30. Juni 1875.
Abbildung 30.08: Bilanz zum 30. Juni 1875 [online ulb darmstadt].

Demnach hätte sich das Unternehmen beim Versuch, eine ausreichende Produktion aufrecht­zuerhalten, verzettelt und es zudem versäumt, Produktions­linien zu errichten, die auf Massenproduktion anstelle von Spezialisierung setzte. Der Darstellung Ueckers ist jedoch entgegen­zuhalten, daß er den monopolistischen Produktions­prozeß seiner Zeit, also ein halbes Jahrhundert später, auf eine Zeit überträgt, die geprägt ist vom Übergang manufaktur­mäßiger, handwerklicher Produktion in industrielle Großfertigung. Zudem fragt er nicht danach, ob insbesondere in der Gründerkrise ein Unternehmen jeden Auftrag annehmen mußte, den es bekommen konnte, um wenigstens die Fixkosten abzudecken. Dennoch wird seine Sichtweise mehr als nur ein Körnchen Wahrheit beinhaltet haben.

Schon die Bilanz des Unternehmens zum Ende des Geschäftsjahres 1874/75 zeigt die Problematik auf. Bei den Passiva stechen die Hypotheken und die Kreditoren heraus, während gleichzeitig die fertigen Maschinen und diejenigen, die noch in Arbeit sind, einen Wert von rund 300.000 Mark haben. Tatsächlich wurde hier, in der Hoffnung auf bessere Zeiten, auf Lager gearbeitet. Das kann nur eine beschränkte Zeit lang gut gehen.

Im August und September 1875 suchte die Maschinenfabrik einen Lehrling „unter günstigen Bedingungen“ für ihr kaufmännisches Bureau. „Nur solche, welche das Zeugniß der Reife für Unter-Prima besitzen, können bei Besetzung dieser Stelle Berücksichtigung finden.“ [23]

In Kapitel 16 werden die Folgen des Wiener Börsenkrachs und dessen Auswirkungen auf den Darmstädter Maschinenbau vertieft. Hier finden sich auch die Kennziffern, die es nahelegen mußten, den Geschäftsbetrieb einzustellen.

Anfang 1876 mußte das Unternehmen weitere Arbeiter entlassen. Seinerzeit fand die Produktion immer noch in der sogenannten „alten Fabrik“ an der Frankfurter Straße und in der „neuen Fabrik“ nahe den Gleisen der Hessischen Ludwigsbahn statt . Der Umzug aus den alten Räumlich­keiten war schon länger geplant, doch er wurde erst knapp zwanzig Jahre nach der Begründung als Aktien­gesell­schaft abgeschlossen. Noch mitten in der Krise hatte man auf dem Gelände der „neuen Fabrik“ neue Hallen errichtet, um die Produktion an einem Standort konzentrieren zu können. Im April 1876 zog als eine der letzten Maßnahmen das Geschäftslokal um; folgerichtig stand bald darauf das Terrain der „alten Fabrik“ mitsamt einer Dampfmaschine und einem Hebekran zum Verkauf. Doch die Hoffnung, aus einem Verkauf frisches Geld in die klammen Kassen bekommen zu können, erfüllte sich nicht. Die Konjunktur war hierfür einfach nicht günstig. Statt dessen mietete die Stadt Darmstadt für einige ihrer überquellenden Mädchen­schulklassen bis zum Neubau von zwei Mädchenschulen einige Räume an.

Von Herbst 1875 bis Mai 1876 bauten die Arbeiter der Maschinenfabrik vier Lokomotiven der Main-Neckar-Eisenbahn um, welche die Eisenbahn­gesellschaft seinerzeit zur Eröffnung der Bahnlinie von Frankfurt nach Heidelberg und Mannheim von dem englischen Lokomotiv­bauunternehmen Sharp Brothers & Co. bezogen hatte. Hier hatte die Maschinenfabrik eine Ausschreibung gewonnen.

Händeringend bemüte sich das Unternehmen, seine Dampfdresch­maschinen abzusetzen. Diese stammten von Ransomes & Sims aus England; ob sie per Schiff und/oder Eisenbahn importiert wurden oder ob es sich um eine Lizenz­fertigung handelte, läßt sich bislng nicht feststellen. Um den Absatz zu fördern, war man sogar bereit, die Maschinen nicht nur einem geneigten Publikum vorzuführen, sondern auf dem Hofgut Kranichstein quasi als Auftrags­fertigung das Getreide zu dreschen. Ob dem Unternehmen hierbei Erfolg beschieden war, läßt sich ebenfalls nicht feststellen.

Ausschnitt aus dem Stadtplan 1874.

Abbildung 30.09: Ausschnitt aus dem Darmstädter Stadtplan von 1874 von Ferdinand Heberer [online ulb darmstadt]. Der Plan ist geostet.

Die „alte Fabrik“ liegt als Gebäudekomplex nördlich der Kahlertstraße zwischen Frankfurter und Viktoriastraße. Die „neue Fabrik“ befindet sich in dem Gebäudekomplex nördlich der Landwehr­straße zwischen den Gleisen der Hessischen Ludwigsbahn und der Blumenthal­straße. Das zugehörige Blumenthal­viertel, später Johannesviertel genannt, ist noch im Entstehen begriffen.

Im August und September 1876 führten die Darmstädter Gewerbetreibenden im Schatten der Weltausstellung in Philadelphia eine eigene kleine Leistungsschau durch. Es war so etwas wie das Pfeifen im Walde. Aus Philadelphia erschall der Ruf der deutscher Produkte als „billig und schlecht“; und so bemühte man sich, regionale Kunden in spe vom Gegenteil zu überzeugen. Die dem Staatswohl verpflichtete „Darmstädter Zeitung“ wurde nicht müde, die Aussteller und ihre wohlfeilen Produkte vorzustellen. Die Aussteller wiederum widmeten sich eifrig dem wichtigsten ihrer Geschäfte, nämlich dem kollektiven Umtrunk. Anschließend wurden die erfolgreichen Aussteller mit Medaillen und Diplomen überhäuft; da mußte man es schon ziemlich dumm anstellen, von diesem Prämienregen nicht bedacht zu werden. Die Maschinenfabrik, so bedauerte man, war leider nicht in der Lage, eine ihrer „Spezialitäten“ vorzuführen, nämlich eine ihrer kleinen Tenderlokomotiven. Ansonsten war sie mit reichtlich Produkten vertreten.

Doch neue Aufträge kamen nur zögerlich herein. Es wurden weitere Arbeiter entlassen und die Arbeitszeit verringert; heute würden wir das wohl Kurzarbeit nennen, damals waren das immer noch acht Stunden Arbeit. Die Verluste wuchsen weiter an, ebenso die Außenstände und Kredite. Als mit dem Jahresabschluß 1877/78 abzusehen war, daß keine Besserung in Siicht ist, ergriff man zwei Maßnahmen. Zum einen versuchte man, durch eine Art kreativer Buchhaltung den Wert des Geländes und der Maschinen neu zu bewerten. Bei den Immobilien war das auch sinnvoll, denn seit 1857 waren die Grundstückspreise durchaus gestiegen. Insgesamt kam man auf eine Wertsteigerung, welche die Verluste der Vorjahre aufwog. Die andere Maßnahme war, die Weichen zur Abwicklung des Unternehmens zu stellen.

Das Unternehmen wird abgewickelt

Mitte November 1878 wurde den Arbeitern und Beamten (Angestellten) gegenüber die Kündigung ausgesprochen. Wenige Tage später vereinbarten die Hauptaktionäre des Unternehmens eine geordnete Liquidation [24]. Auf der Grundlage ihrer wertsteigernden kreativen Buchführung erwarteten sie, durch den Verkauf der Grundstücke, Gebäude, Maschinen und dort produzierten Waren nicht nur den Schuldenberg von etwa einer haben Million Mark abtragen zu können, sondern daß auch für sie noch etwas herausspringt. Die Bank für Handel und Industrie war in diesem Szenario gleich doppelt vertreten. Einerseits war sie zum 31. Dezember 1878 mit Stammaktien im Wert von 54.500 Gulden und Prioritäts­aktien im Wert von 65.750 Gulden der wohl größte Aktionär. Das entsprach etwa 23% der Stammaktien und 44% der Prioritäts­aktien des zur Liquidation bestimmten Unternehmens. Andererseits war sie auch die größte Gläubigerin des Unternehmens. Gerade der Bank mußte an einer Abwicklungs­strategie gelegen sein, in der sie mit dem geringst möglichen Schaden herauskam. Ein gerichtliches Konkursverfahren konnte nicht in ihrem Interesse sein, weil zu befürchten war, daß hierbei die Maschinenfabrik weit unter Wert verkauft werden würde.

Im Vorgriff auf die für den 21. Dezember 1878 einberufene Generalversammlung erschien im „Darmstädter Tagblatt“ am 29. November eine ausführlichere Darstellung zu den Hintergründen des Liquidationsantrages.

„Nachdem die hiesige Maschinenfabrik und Eisengießerei in Folge ungenügender Aufträge schon seit Monaten mit Verminderung der Arbeiterzahl vorgegangen war, wird nunmehr ein Antrag des Aufsichtsraths auf Liquidation des Unternehmens einer auf den 21. December ausgeschriebenen Generalversammlung der Actionäre zur Beschlußfassung vorgelegt werden. Die p[e]r 30. Juni abgeschlossene Bilanz zeigt, daß auch im letzten Jahre, wie in den zwei vorhergehenden in Folge der Verminderung des Umschlags und der stetig rückgängigen Preise der fertigen Maschinen mit einem erheblichen Verlustsaldo gearbeitet worden ist. So bedauerlich ist es, daß die beinahe vollständige Stillegung des Werks gerade bei Beginn des Winters zahlreiche Familien brodlos machen muß, so hat der Aufsichtsrath doch nach mehrjährigem Ankämpfen gegen die Krisis sich dieser harten Nothwendigkeit nicht mehr entziehen können, weil die durch die letzten Verlustjahre herbeigeführte Absorbirung der schon früher unzureichenden Betriebsmittel eine weitere Fortführung des Unternehmens auf nur einigermaßen gesunder Basis unmöglich erscheinen ließ. – Die auf Lager angefangenen werthvolleren Maschinen u. s. w. sollen den Winter über fertig gestellt und damit verkaufsfähig gemacht werden.“

Die Liquidation sollte zum 1. Januar 1879 beginnen, als Liquidatoren waren die beiden bisherigen Direktoren bestimmt. Nicht alle Arbeiter wurden entlassen. Man hatte beschlossen, daß mit einem minimalen zusätzlichen Kapitalaufwand die halb fertigen Maschinen verkaufsreif aufgearbeitet werden sollten. Daher waren im Februar 1879 noch 110 Arbeiter beschäftigt. Ende Januar standen die beiden Fabriken des Unternehmens zum Verkauf. Die Gläubiger hingegen wurden aufgefordert, ihre Ansprüche anzumelden. [25]

Zusammenstellung linker Teil.
Zusammenstellung rechter Teil.

Abbildung 30.10: Zusammenstellung der Hauptbetriebs­resultate aus dem Geschäfts­bericht der Maschinen­fabrik und Eisen­gießerei für 1877/78 für die fünfzehn vergangenen Geschäfts­jahre seit der Aktien­umstellung von 1862/63. [26]

Die Verkaufsannonce blieb ohne Erfolg, weshalb für Miitte April zwei getrennte Versteigerungen angesetzt wurden, auch dies ohne verwertbares Ergebnis. Die für den 21. April 1879 einberufene außer­ordentliche General­versammlung soll angesichts der als hoffnungslos angesehenen Sachlage nur äußerst spärlich besucht gewesen sein. Die Aktionäre beauftragten die Liquidations­kommission damit, eine außer­gerichtliche Beendigung herbeizuführen. Dieser Vorgang sollte vier weitere Jahre beanspruchen. Ein unmittelbares Resultat dieser aus Sicht der Aktionäre und Gläubiger unerfreulichen Entwicklung war, daß die Darmstädter Bank sich die „neue Fabrik“ sicherte und der von ihr begründeten Süddeutsche Immobilien­gesellschaft die „alte Fabrik“ übertragen wurde. Die übrigen Gläubiger wurden ausgezahlt. Nunmehr lag es an den beiden Instituten, sich langfristiger zu orientieren und auf wirtschaftlich bessere Zeiten und darauf folgend auch Käufer zu spekulieren. Wie schwierig die Situation war, wird daran deutlich, daß die Darmstädter Bank erst 1889 einen Käufer fand, während die Süddeutsche Immobilien­gesellschaft bis zur Jahrhundertwende nach und nach einzelne Grundstücke im Blumenthal­viertel verkaufen sollte.

Grundbuchauszug.

Abbildung 30.11: Auszug aus dem Grundbuch, mit dem der Erwerb der „neuen Fabrik“ durch die Bank für Handel und Industrie dokumentiert wurde. Quelle: HStAD G 15 Darmstadt Nr. 30.

Wie vorgesehen wurden die noch unfertigen Maschinen (und vermutlich auch Lokomotiven) nunmehr unter Verwendung vorhandener Rohstoffe und Materialien verkaufsfertig montiert. Im Verlauf des Jahres annoncierte man zudem weiterhin die schon vorher zum Verkauf angebotenen Dampfmaschinen und Transmissionen oder bot an, auch weiterhin Aufträge zum Bau oder zur Reparatur von Maschinen anzunehmen. Am 1. Juli wurde sämtlichen Beamten (Angestellten) des Unternehmens zum Monatsende gekündigt, das entsprechende Schicksal der Arbeiter war noch nicht entschieden, aber nur eine Frage der Zeit. [27]

In Kapitel 17 zeichnet den Vorgang der Liquidation unter Zuhilfenahme von internen Protokollen der Bank nach. Auch auf die Suppenanstalt wird näher eingegangen, zumal sie in den Tafeln von heute ihre in jeder Hinsicht legitimen Nachfolger gefunden hat.

Mitte Oktober war es soweit. Die letzten Kündigungen wurden ausgesprochen.

„Nach einem Beschlusse des Verwaltungs- und Aufsichtsraths der hiesigen Maschinenfabrik und Eisengießerei hat dieses Institut mit Ende dieses Monats seinen Betrieb einzustellen. Damit werden ca. 100 Arbeiter brodlos. Die immer noch darniederliegende Eisenindustrie berechtigt leider nicht zu der Hoffnung, daß diese Leute – wenigstens nicht Viele – alsbald wieder in ihrer Branche anderweite Beschäftigung finden. An nicht Wenige, namentlich an diejenigen, die Familie haben und nicht in der Lage waren, Ersparnisse zu machen, wird die trarige Nothwendigkeit herantreten, an die Thüre der Armenveraltung zu pochen, ein Schritt, der wohl Menschen um so schwerer fallen dürfte, als diese Leute das Bewußtsein in sich tragen dürften, die Besten unter den beschäftigt gewesenen Leuten gewesen zu sein, sind sie ja doch Diejenigen, die man am längsten zu halten gute Veranlassung hatte. Damit wird bei dem bevorstehenden Winter eine tiefernste Aufgabe an unsere Armenverwaltung herantreten. Der ausgegebene Bericht der Handelskammer will die Krisis der Eisenindustrie so gut wie beendet ansehen und die Rückkehr besserer Zeiten in Sicht stellen und wollen wir hoffen, daß diese Anschauungen sich bald verwirklichen werden.

Nachdem sich die mit einem Mannheimer Hause gepflogenen Verhandlungen über den Fortbestand der in Liquidation getretenen Maschinenfabrik und Eisengießerei zerschlagen, wurde dem gesammten, zur Zeit noch beschäftigten Personal vorgestern [demnach am 16. Oktober, WK] per 1. November gekündigt.“ [28]

Diese Kündigungen sollten die Stadtverordneten­versammlung am 30. Oktober 1879 beschäftigen. Aus dem Bericht im „Darmstädter Tagblatt“ lassen sich Überlegungen herauslesen, das Unternehmen finanziell zu stützen, sofern es die nunmehr Arbeitslosen weiter beschäftige.

„Lehr brachte sodann die bevorstehende Schließung der Maschinenfabrik zur Sprache und gab anheim, die Bank um Fortbetrieb während des Winters zu ersuchen, worauf der Oberbürgermeister mittheilte, daß er bereits desfallsige Schritte gethan, die aber leider erfolglos geblieben seien. Hr. Gaulé glaubte, daß die Stadt sich bereit erklären sollte, das Etablissement binnen Jahresfrist um den Preis von etwa 400.000 M. zu erwerben, um es als Schlachthaus, Gasfabrik, Viehmarktstallung und Einquartierungshaus zu benutzen, in welchem Falle sich die Bank zum Fortbetrieb entschließen würde. Der Beschluß ging dahin, dem Antrag Lehr dahin Folge zu geben, daß alsbald eine Deputation, bestehend aus den Herren Beigeordneten Riedlinger und den Stadtverordneten Blumenthal, Gaulé und Lehr, an die Direction der Bank zu entsenden sei, um sie nochmals um einstweiligen Fortbetrieb zu ersuchen.“ [29]

Die Stadtverordneten befürchteten wohl zurecht, daß die Stadt ohnehin über ihre Armenkasse in die Verantwortung genommen würde, wohingegen die Aktionäre nicht weiter Schaden litten. Doch die städtischen Kapitalisten hatten schon ein Vierteljahrhundert zuvor eine wohlfeile Abhilfe ersonnen. Sie richteten für den Winter eine Suppenküche ein. Das war ganz praktisch gedacht. Anstatt den Arbeitern den Lohn fortzuzahlen, damit selbige nicht verhungern und im nächsten Frühjahr womöglich nicht mehr zur Verfügung stehen, entließ man sie. Gleichzeitig zeigte man sich großzügig und spendete einen namhaften Betrag für die Suppenanstalt. Das war gut für das eigene Renommée und kam vor allem wesentlich billiger. So wurden auch in den Wintern 1878/79 und 1879/80 die Arbeiter entlassen, denen dann die Damen der feinen Gesellschaft eine angeblich schmackhafte Suppe kredenzten. Es war kein Zufall, wenn der Patriarch einer Familie die Entlassung betrieb und die Ehefrau oder Tochter die Wohltäterin spielten. Eine bigotte Gesellschaft halt, dieses Darmstadt.

Was danach geschah:

Das Gelände der „alten Fabrik“ geht auf die Eröffnung eines Weinlokals des Jacon Alleborn 1821 zurück. Hektor Rößler erwarb das Gelände und baute dort die erste hessische Dampfmaschine. 1837 wurde hier Buschbaum & Comp. angesiedelt, aus dem die Maschinenfabrik und Eisengießerei hervorging. Über die Zwischenetappen der Mädchenschule in der Eisenschmelze, einer schlagenden Verbindung und der Bäckerinnung beherbergt das Gebäude heute das „Ristorante Sardegna“. In Kapitel 18 wird eine zweihundert­jährige Geschichte ausgerollt.

Kapitel 19 hingegen beleuchtet die Unternehmen, die in der Nachfolge der Maschinenfabrik auf dem Gelände der „neuen Fabrik“ erblühten und wieder verblaßten.

Ende Februar 1883 war die Liqui­dation voll­zogen. Tatsäch­lich gelang es dem Unter­nehmen, alle Schulden zu beglei­chen und für die Aktio­näre der Prioritäts­aktien von 1863 blieb sogar ein kleines Taschen­geld in Höhe von 4,75 Mark pro Aktie übrig.

Danach verblaßte die Erinne­rung an das einst­mals wich­tigste Maschinen­bau­unter­nehmen am Platz recht schnell. Als Mitte der 1920er Jahre der Student Arthur Uecker daran ging, seine Disser­tation über die Industriali­sierung Darm­stadts zu schreiben, ver­mochte er nur noch auf die kargen Aus­sagen der Berichte der Groß­herzog­lichen Handels­kammer zurück­zu­greifen. Mehr als diese Erin­nerung an die einst­mals blühende Maschinen­fabrik war nicht mehr aufzu­finden. Fast ein Jahr­hundert später versucht meine Dar­stellung der Ge­schichte dieses Unter­nehmens, das ver­schüttete Wissen wieder aufzu­schürfen.

Ein vorläufiger Erklärungsansatz

Als die Bank für Handel und Industrie vermutlich 1856 zusammen mit weiteren Interessenten die an der Frankfurter Straße gelegene Maschinenfabrik und Eisengießerei erworben hatte, schien das damit verbundene Geschäft zur Hälfte gesichert. Die Hessische Ludwigsbahn besaß ein großes Interesse an einer Werkstätte, die sie weder bauen noch unterhalten wollte und aus der sie sich zudem, falls opportun, auch wieder herauskaufen lassen konnte. Da der damit verbundene und wohl verschollene Entwurf der Statuten durch die hessische Regierung nicht genehmigt wurde, mußte das auf Aktienbasis gestellte Unternehmen von vornherein auf einen sicheren Auftraggeber verzichten. Das erhoffte Standbein war weggebrochen, bevor die Gleisstränge der Hessischen Ludwigsbahn Darmstadt erreichen konnten. Daraus mag eine mitunter willkürlich erscheinende und breit gestreute Produktion von Maschinen jeglicher Art entstanden sein, bei der ein wirklich tragendes Konzept gefehlt zu haben scheint. Schon 1862 stand das Unternehmen deswegen kurz vor dem Scheitern.

Im Grunde genommen stellt sich die Gründung der Aktien­gesellschaft als ein Paradox heraus. Unter Beteiligung der Hessischen Ludwigsbahn sollte eine Repataur­werkstätte errichtet werden. Selbige Bahngesellschaft hatte aber 1858 den Weg dafür bereitet, daß dem Darmstädter Unternehmen kostengünstig die Konkurrenz frei Haus geliefert wird. Nun mag dies im Sinne des Freihandels begrüßt werden, zwingt es doch die lokalen Produzenten, neue Wege zu kostengünstigerer Produktion einzuschlagen. Solange das Standbein fest einzukalkulieren war, wäre dies vermutlich auch möglich gewesen. So jedoch liefert die Bahn spätestens mit Eröffnung der Rheinbrücke bei Mainz 1862 die Konkurrenz­produkte wie Dampfmaschinen oder Eisenguß­erzeugnisse als Massenware, so daß an eine einheimische Produktion auf erweiterter Stufenleiter kaum zu denken war. Der technologische Vorsprung der Industrien im Rheinland war einfach zu groß. Allerdings verbilligte die neugebaute Eisenbahn auch die zur lokalen Produktion notwendigen Rohstoffe und Vorprodukte.

Ende der 1860er Jahre zeichnete sich ein Eisenbahnbauboom ab, an dem das Unternehmen durch eine Spezialisierung auf den Bau kleinerer Tenderlokomotiven teilhaben wollte. Siese Neuorientierung hätte vielleicht erfolgreich verlaufen können, wäre der Gründerboom nicht nach den Gesetzen der kapitalistischen Produktion einer nachfolgenden Depression zum Opfer gefallen. Hier rächte sich dann die kurze Kapitaldecke; für eine Aufstockung scheinen weder der Wille noch hierzu finanziell fähige Bürger oder Bankiers vorhanden gewesen zu sein. Für Darmstädter Verhältnisse mag das Unternehmen schon fast zu groß geraten zu sein, überregional betrachtet hingegen sicherlich zu klein, um erfolgreich auf einem nunmehr schwierigen Markt operieren und überleben zu können. Weshalb die Darmstädter Bank Ende 1878 die Reißleine zog und nicht auf bessere Zeiten wartete, mag ihr Geheimnis bleiben. Vermutlich jedoch wird ihr eine schonungslose Analyse geraten zu haben, lieber das Ende mit Schrecken als ein Verlustjahr nach dem anderen in Kauf zu nehmen.

Die 1878 vorgenommene Neubewertung von Aktiva und Passiva zeigte einen finanziellen Spielraum auf, der unter den gegebenen Umständen jedoch nicht zu realisieren war. Das Interesse an den feilgebotenen Grundstücken, Fabrikgebäuden und dem Inventar scheint nicht sehr groß gewesen zu sein. Wenn schon die Maschinenfabrik und Eisengießerei ihre Produkte nicht selbst vermarkten konnte, weshalb sollte ein im heutigen Neusprech Investor genannter Käufer hierbei erfolgreicher sein? Also blieb der Bank und den Aktionären nichts anderes übrig, als das Unternehmen Stück für Stück unter Inkaufnahme möglicher Verluste und Abschreibungen loszuwerden. Der Restbetrag von knapp 3.000 Mark mag nicht einmal mehr für das unter den damaligen Honoratioren obligatorische Besäufnis gereicht haben.

Der Nachhall der zumindest größten Darmstädter Maschinenunternehmens, wenn nicht gar des größten Unternehmens seiner Zeit überhaupt, blieb gering. Andere Firmen, wie Rodberg, Schenck, Goebel, Roeder und noch später Röhm und Haas, waren erfolgreicher. Und doch war es die auf Aktienbasis gestellte ehemalige Werkstätte des Münzrats Rößler, ohne welche die Frühgeschichte der Darmstädter Industrialisierung des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nicht geschrieben werden kann. Insofern ist es unverständlich, weshalb in allen Darstellungen seit Arthur Ueckers Buch von 1928 immer wieder darauf verwiesen wird, nur wenig davon zu wissen, obwohl die Quellenlage gar nicht so schlecht ist. Man und frau hätte nur dort suchen müssen, wo die Informationen zu finden sind. Genau dies jedoch wurde unterlassen und lieber ein Bild des Nicht-mehr-Aufspürbarens gepflegt.


Anmerkungen

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Das Quellen- und Literaturverzeichnis befindet sich auf einer eigenen Unterseite.


 
 
 
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