Fabrik. Blick auf das Fabrikgelände. Quelle: Adreßbuch 1908.

Die Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt

Kapitel 5: Ein Lob aus München erreicht Darmstadt

Das seit 1837 als Buschbaum & Comp. bestehende und 1844 zur Maschinenfabrik und Eisengießerei in Darmstadt umfirmierte Unternehmen wurde mit Unterstützung der ebenfalls in Darmstadt ansässigen Bank für Handel und Industrie 1857 in eine Aktien­gesellschaft umgewandelt. Die Liquidation des Unternehmens wurde mit der General­versammlung am 21. Dezember 1878 eingeleitet.

Kapitel 5 behandelt die Unternehmens­geschichte von etwa 1850 bis 1856. Hektor (oder vielleicht auch sein Bruder Friedrich) Rößler bahnt eine langfristige Geschäfts­beziehung mit dem noch recht kleinen Unternehmen von Heinrich Emanuel Merck an, liefert Maschinen für die Hessische Ludwigsbahn nach Mainz und heimst bei einer Industrie­ausstellung 1854 ein Lob aus München ein.


Dieses Kapitel zur Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei ist die Fortsetzung von Kapitel 4 – Eine Fabrik sucht neue Aufträge –, welches den Zeitraum um 1850 herum behandelt hat.

Chemische Forschung benötigt Dampf

Mit der Herausgabe seiner Schrift „Pharmaceutisch-chemisches Novitäten-Cabinet“ legte der Darmstädter Chemiker und Inhaber der Engel-Apotheke Heinrich Emanuel Merck 1827 den Grundstock für ein Industrieunternehmen, das bis heute weitgehend im Familienbesitz verblieben ist und global zu den großen chemisch-pharmazeutischen Betrieben zählt. Aus einzelnen Garten- und Ackergrund­stücken an der östlichen Peripherie des noch kleinen, politisch eher verschlafenen Darmstadt erwuchs eine immer größer werdende Fabrikanlage, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Norden, an die Grenze zur Gemeinde Arheilgen, verlegt wurde. [1]

Symptomatisch für die Anfänge der chemisch-pharmazeutischen Produktion Emanuel Mercks ist es, daß die ersten Labor- und Fabrikgebäude „im Garten“ erbaut wurden und unter selbiger Bezeichnung auch in den ersten Kontenbüchern des Unternehmens erscheinen. Die in den 1830er Jahren beginnende Produktion erstreckte sich nicht nur auf die von Emanuel Merck systematisch erforschten Alkaloide.

Stadtplan um 1846.

Abbildung 5.01: Ausschnitt aus dem „Plan der Residenz Darmstadt“ von Eduard Wagner, gedruckt bei Leske um 1846 [tukart].

Östlich der Altstadt mit den slumartig verwinkelten Gassen und den Buchstaben des Brand­versicherungs­katasters von A bis D befand sich die Stadtmauer, von der heute nur noch wenige Reste vorhanden sind. Der Schloßherr (am linken Bildrand) genoß gewiß einen herrlichen Ausblick auf seine in elenden Behausungen untergebrachten Untertanen. Hinter den alten Mauern erstreckten sich die Acker- und Wiesenflächen entlang des Mühlwegs, auf denen Heinrich Emanuel Merck (M), Georg Friedrich Pabst (P) und andere Fabrikanten ihre Werkstätten, Laboratorien und „Fabriklokale“ eingerichtet hatten. Selbst 1846 ist von der späteren, sich weit ausdehnenden Fabrik noch nicht viel zu sehen. Die im Stadtplan eingezeichneten Rundethurmgasse und Soderstraße mögen Anhaltspunkte für die Lage dieses Geländes geben, das heute mit seinen Straßenschneisen und der Wohnbebauung vollkommen anders aussieht.

Als 1831 dem Großherzogtum eine sich von außen nähernde Choleraepidemie drohte [2], rüstete Emanuel Merck sein Laboratorium schnell auf und mischte in einer improvisierten Fabrik größere Mengen Chlorkalk als Desinfektionsmittel zusammen.

Mit Chlorkalk gegen die Cholera

„Kaum hatte Herr Merk nur Versuche gemacht, etwas mehr Chlorkalk zu erzeugen, als für den Bedarf seiner Apotheke nöthig war, so liefen auch so bedeutende und ängstlich geforderte Aufträge ein, daß, für die gesteckte Zeit, nur eine Fabrik von großer Ausdehnung dieselben zu fördern vermochte. Ist die fabrikmäßige Darstellung des Chlorkalks (wir meinen nämlich den zu 100° Gay-Lussac) an und für sich eine schwierig zu lösende Aufgabe, indem sie den Mineralogen, wie den stöchiometrisch gebildeten Chemiker, im gleichen Grade in Anspruch nimmt, so ist der Plan, eine Chlorkalkfabrik für Darmstadt schnell ins Leben treten zu lassen, für besonders gewagt zu halten. In einem zu den Gartengebäuden des Herrn Merk gehörigem Locale wurde schnell ein Heerd mit 24 kupfernen Kesseln, von denen je 2 eine gemeinschaftliche Feuerung hatten, aufgeführt, und das Ganze mit einem Schornsteinbusen versehen. Die Kessel waren von einer Weite und Tiefe gewählt, daß ein Vitriolöl-Ballon [3], der auf einem Strohkranz in dieselben eingesetzt wurde, sicher darin gehandhabt werden konnte. Jeder der so verwahrten Ballons wurde mit einer Mischung aus Salz- und Schwefelsäure, und zuletzt mit der entsprechenden Menge Manganüberoxyds (Pyrolusits) versehen. Ein bleierner durchbohrter Pfropf verengte die Oeffnung der Flasche; in ihn paßte eine eigenthümlich construirte zweischenkliche bleyerne Röhre, die in eine zweihälsige Woulfische Flasche führte. Die eine Oeffnung dieser letzteren war mit einem gläsernen Rohre versehen, welches unter das Vorschlagswasser reichte; mit dem zweiten ward eine andere, zweischenkliche Röhre verbunden, welche in eine eigenthümlich construirte bleierne kühlgehaltene Vorlage ausmündete, in der die Absorbtion des Chlorgases vom trockenen Kalkhydrate vor sich gehen sollte. Die Schließung der Röhren mit der Zwischenvorlage und des bleiernen Absorbtions-Gefäßes geschah durch Wasser (Wasserlutirung). Nachdem alles luftdicht von den Chlorerzeuger bis zum Kalkhydrate verbunden war, ward dieser selbst, d. i. der Ballon in dem Kessel mit Wasser umgeben, und hierauf langsam, je nach dem Gange der Chlorentwicklung, welcher bequem durch durch die gläserne Zwischenvorlage beobachtet werden konnte, bis zum Kochen erhitzt. Zwei Arbeiter besorgten das Beschicken der Flaschen, und ein dritter das Löschen des Kalks, so wie das Füllen und Leeren der bleiernen Vorlagen.

Mit jedem Chlorerzeuger konnten alle 36 Stunden 18 bis 20 Pfund Chlorkalk zu 100° G. L. gefertigt, folglich mit den 24 Chlorerzeugern alle 2 Tage über 4 Centner dieses Präparats gefördert werden.

Obgleich die ganze Fabrik eine Nothanlage war, denn statt der kupfernen Kessel hätten eiserne, statt des Wasserbades das Sandbad, statt des Vitriolöl-Ballons eigenthümliche Kolben und an die Stelle der bleiernen Vorlage solche aus Steingut bei weitem mehr Vortheil gewährt, so calculirte sich, bei dem damaligem Stande der Dinge das Fabrikat dennoch, und konnte in dieser Hinsicht mit dem französischen concurriren, abgesehen davon, daß das französische oft um 33 % an Qualität geringer war. Mit Zeit und Muße hätte also Herr Merk das Fabrikat vervollkommnen und bei anderweitig günstig bleibenden Umständen, namentlich hinsichtlich des Preises der Säuren dem Lande ein Etablissement sichern können, dessen Mangel täglich fühlbarer wird *). In der Anlieferung der Säuren traten jedoch Verhältnisse ein, die Herrn Merk veranlassen mußten, die Fabrik aufzugeben, wenn gleich dieses für die kurze Dauer des Bestehens derselben – vom Oct. 1831 bis zum Dec. desselben Jahres – nicht ohne Verlust geschehen konnte.“

In der mit Stern versehenen Anmerkung heißt es:

„Vermittelst der eigenthümlichen Methode war es Herrn Merk nämlich möglich, Chlorkalk bis zu 100° G. L. anzufertigen, d. i. zu einer Qualität, wie dasselbe selbst bis jetzt noch, nur von der Fabrik zu Dieuze [4] geliefert werden kann. Die Consumenten befreundeten sich auch mit diesem, zur Zeit der Merk'schen Fabrik in den Bleichereien und den Papierfabriken noch wenig gekannten Präparate sehr bald, und in einem solchen Umfange, daß gegenwärtig der Bedarf darin für das Großherzogthum um 10 Mal größer als vor 3 Jahren anzuschlagen ist.“

Quelle: Nachricht von mehreren chemischen Fabriken im Großherzogthum Hessen, 1835, [5].

Annonce Pabst.
Abbildung 5.02: Annonce der Chemischen Fabrik von Pabst & Comp. in der Groß­herzoglich Hessischen Zeitung vom 8. Dezember 1836.

Ende der 1830er Jahre ließ Emanuel Merck durch Arbeiter aus Darmstadt und wohl auch der näheren Umgebung große Mengen an Stearinkerzen herstellen. Sein Partner in diesem durchaus lukrativen Geschäft war Georg Friedrich Pabst, ein Geschäft, das Merck 1841 ungern nur deshalb wieder aufgab, weil es ihm an der Zeit fehlte, das Geschäft selbst ausreichend zu überwachen. Pabst scheint das Geschäft alleine nicht weitergeführt zu haben, denn im September 1841 bot er das Firmengelände am Mühlweg zum Verkauf oder zur Vermietung an. Demnach bestand das Gelände unter anderem aus einem 100x70 Fuß großen Haus:

„Der untere Stock ist zu Geschäftsräumen eingerichtet; der mittlere Stock enthält 5 schöne Zimmer nebst Küche und dergl[eichen]; der Kniestock ebenfalls 5 Zimmmer [sic!] mit anderen Räumen;“

Hinzu kam ein kleineres Haus mit Stallungen und Nebengebäuden, sowie weitere zu Fabriklokalen eingerichtete Nebengebäude mit einem 102 Fuß hohen Kamin für Dampfkessel­feuerung. Ein Dampfkessel könne mit abgegeben werden. Eine zugehörige Hofreite wird ausdrücklich mit fließendem Wasser und zwei Brunnen angepriesen, was in einer Stadt, in der sich insbesondere in den Sommermonaten regelmäßig größerer Wassermangel bemerkbar machte, ein wichtiges Accessoire gewesen sein wird. [6]


Firmenkurzgeschichte.

Abbildung 5.03: Kurzer Abriß der frühen Merck'schen Unternehmens­geschichte mit der Erwähnung der ersten Dampfmaschine von 1843. Quelle: Das Merck-Blatt, Jahrgang 1952, Nr. 1, Seite 18 (Merck-Archiv).


Ob Emanuel Merck das hier angebotene Grundstück oder Teile davon selbst übernommen hat? Jedenfalls reicht ihm Anfang der 1840er Jahre der unstete Zufluß des Darmbachs als Antriebskraft nicht mehr aus, so daß er beim Fabrikanten und Stadtbaumeister Johannes Jordan eine Dampfmaschine in Auftrag gibt. Der Gedanke des folgenden bei Berthold Matthäus vorzufindenden Zitates …

„Der äußerst umtriebige Hector Rößler senior hat von höchster Stelle das Privileg erhalten, auch eine mechanische Werkstatt betreiben zu dürfen, die sich dann sehr schnell zu einer Maschinenfabrik entwickelt, in der die neuesten und besten Einrichtungen für das gesamte Münzwesen produziert werden und die sich des besten Rufs erfreut. Es ist durchaus möglich, daß die zweite Dampfmaschine in Darmstadt 1843 für die Merck'sche Fabrik in diesem Werk des ‚Großherzoglichen Münzraths‘ Rößler gebaut wird.“ [7]

… hat zwar etwas für sich, ist aber unzutreffend. Wie aus der in Kapitel 3 ausführlich vorgestellten Dampfmaschinen­liste von 1849 hervorgeht, wurde die Merck'sche Dampfmaschine von 1843 durch die Arbeiter des Maschinen­fabrikanten Johannes Jordan hergestellt. Ohnehin hatte der als Münzmeister fungierende und 1832 zusätzlich mit dem Titel (dem sogenannten „Charakter“) eines Münzrats versehene Hektor Rüßler seine Werkstätte nur von 1807 bis 1832 betrieben. Das anschließende Vakuum wurde erst von Johann Ludwig Buschbaum 1837 mit einer Fabrik auf der Rößler'schen Hofreite an der Arheilger Chaussee gefüllt (siehe Kapitel 2). Auch war diese Dampfmaschine nicht die zweite, sondern die dritte in Darmstadt, denn die zweite wird irgendwann zwischen 1837 und 1842 von Keßler und Martiensen in Karlsruhe an die Buschbaum'sche Fabrik geliefert worden sein.

Diese fehlerhafte Zuordnung soll das Verdienst von Berthold Matthäus nicht schmälern, der mit seinen Büchern über die Energieversorgung bei Merck einiges an Pionierarbeit geleistet hat [8]. Ohne seine Vorarbeit zur Energieversorgung der Merck'schen „alten Fabrik“ wäre ich weder auf die Bedeutung der Dampfmaschinen für die Entstehung der Maschinenfabrik und Eisengießerei noch auf den Zusammenhang mit dem Unternehmen Buschbaum & Comp. aufmerksam geworden. Die Maschinenfabrik und Eisengießerei wird in den Dokumenten und Kontobüchern der frühen Merck'schen Fabrik erstmalig 1849 faßbar. Ob schon zuvor Kontakte bestanden haben, läßt sich anhand der Unterlagen aus dem Merck-Archiv nicht beantworten. Bemerkenswert hingegen ist, daß die 1843 gelieferte Dampfmaschine in der zweiten hessischen Dampfmaschinen­liste von 1854 nicht mehr aufgeführt wird. Auch in den Unterlagen des Merck-Archivs wird sie schon 1851, bei der Anlage des Hauptkontobuchs, nicht mehr erwähnt. Ob sie sich als untauglich erwiesen hat, stillgelegt oder verkauft wurde, ist somit unklar.

Am 27. November 1849 schließen Emanuel Merck und Hektor Rößler [9] einen Vertrag zum Bau und zur Lieferung einer weiteren Dampfmaschine für das am Ostrand der Stadt expandierende Unternehmen. Das Digitalisat des Vertragstextes ist als Anlage zur Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei publiziert.

Vertrag

zwischen Herrn Medicinalrath Merk dahier einerseit's und der Maschinenfabrik & Eisengießerei zu Darmstadt anderseit's wurde heute nachstehender Vertrag abgeschlossen.

§ 1.

Die Maschinenfabrik & Eisengießerei zu Darmstadt liefert dem Herrn Medicinalrath Merk eine Dampfmaschine ohne Kessel von 8 Pferdekräfte zum Betrieb seines dahier gelegenen Etablissementes.

Dieselbe soll mit der größten Solidität Eleganz verbinden & speziell in folgender Art construirt sein.

Die Maschine wird eine sogenannte Hochdruckmaschine mit veränderlicher Expansion zwischen 3/16 & ½ des Kolbenlaufes und mit der Einrichtung zur Benutzung des Dampfes während des ganzen Kolbenlaufes; dabey wird dafür Sorge getragen die Maschinentheile der stärksten Kraftentwicklung entsprechend stark genug zu machen.

§ 2.

Demzufolge begreift die Lieferung in sich:

Die eigentliche Maschine /: ohne Kessel :/ mit Expansion Vorrichtung, Dampfkessel­speisegänge für beide vorhandene Dampfkessel zugleich an[ge]wandter mit Vorwärmer bis inclusiv Schwungrad & dessen Welle nebst hinteres Wellenlager mit Fundamentplatte, aller Fundament & Befestigungs­schrauben und mit 20 Fuß Dampfröhren.

§ 3.

Die Lieferung und Aufstellung [… ?] Ingangsetzung soll vom Tage der Unterzeichnung des Vertrages in 5 Monaten erfolgen und zwar ganz auf Kosten der Maschinenfabrik & Eisengießerei.

Hingegen wird sich Herr Medicinalrath Merk verpflichten alle Steinhauer & Maurer Arbeiten die zur Aufstellung der Maschine nothwendig sind auf seine Kosten herzurichten.

§ 4.

Für die ganze Lieferung erhält die Maschinenfabrik & Eisengießerei zu Darmstadt die Summe von fl. 3400. geschrieben Dreitausend vierhundert Gulden, & zwar

§ 5.

Dagegen garantirt die Maschinenfabrik & Eisengießerei für die von Ihr gelieferten Maschine hinsichtlich der Stärke, der Kraftäußerung, so wie für die Güte der Construction & des Materials 18 Monate vom Tage der Ingangsetzung an.

§ 6.

Die Fabrik übernimmt ohne Vergütung anzusprechen in ihrem eigenen Lokale das Anlernen eines Maschinisten.

§ 7.

Alle Zeichnungen die zur Aufstellung nothwendig sind werden gratis geliefert.

§ 8.

Der Vertrag ist doppelt ausgefertigt, von beiden contrahirenden Theilen unterschrieben, und von jedem ein Exemplar zur Hand genommen.

So geschehen.

Darmstadt der 27te November 1849.

Roeßler           Albert Frey [10]

Emanuel Merck gründete 1850 mit seinen Söhnen Carl, Georg und Wilhelm eine Geschäftssozietät und bereitete so den Übergang des von ihm begründeten Unternehmens in die Hände seiner Söhne vor. Im selben Jahr lieferte die Maschinenfabrik und Eisengießerei vertragsgemäß die Dampfmaschine, die vielleicht erst Ende des Jahres abgenommen worden sein dürfte, denn die Verbuchung der Zahlung der Gesamtsumme erfolgte am 7. Juni 1851. Dieser Vorgang ist auch schon deshalb von Interesse, weil diese Dampfmaschine zusammen mit zwei von J. S. Fries Sohn in Sachsenhausen gelieferten Dampfkesseln die ersten Buchungen der Rubrik „Fabrik­utensilien & Maschienen im Garten“ des 1851 neu angelegten Konten­hauptbuchs „Mobilien & Geraethschaften Conto“ sind.

Ausschnitt des Kontenbuchs.

Abbildung 5.04: Verbuchung der von der Maschinenfabrik und Eisengießerei gelieferten Dampfmaschine im Hauptkontenbuch. Quelle: Merck-Archiv S7/1180, fol. 88.

Den hier vorliegenden Buchungen zufolge scheint die Maschinenfabrik und Eisengießerei zusätzlich Röhrenleitungen im Wert von 425,59 Gulden und eine Dampfleitung ins Laboratorium für 210,34 Gulden geliefert zu haben. Die Gesamtsumme von 4036,33 Gulden wurde offenbar auf 3000 Gulden gerundet. Zu berücksichtigen ist, das ausweislich einer Notiz auf dem Liefervertrag schon am 1. Dezember 1849 1.133,20 Gulden bezahlt worden waren. Dennoch bleibt eine Differenz von 96,47 Gulden, die nicht näher erklärt wird.

Ob die nachfolgend verbuchte Steinmühle nebst Transmission ebenfalls von der Maschinenfabrik und Eisengießerei geliefert wurde, ist zwar möglich, aber hier nicht zu entscheiden. Dasselbe gilt für die zum 7. Juni 1851 ebenfalls verbuchte Lieferung von zwei Platten und einer Kaminkappe für den Schornstein, wohl des zugehörigen Dampf­kesselhauses. Leider werden bei den ersten Buchungen dieser Rubrik des Hauptkontenbuchs die Lieferanten nur vereinzelt genannt. [11]

In den Folgejahren scheint die Maschinenfabrik und Eisengießerei nur zu kleineren Lieferungen herangezogen worden zu sein. Dies sollte sich mit ihrer Umwandlung in eine Aktiengesellschaft 1857 grundlegend ändern, wobei dies wohl eher der forcierten Expansion der Fabrik der Gebrüder Merck geschuldet sein dürfte. Im Hauptkontobuch von Merck sind 1852 und 1853 folgende Lieferungen erfaßt:

Bei der ersten Buchung fällt auf, daß das Altmaterial mit der neuen Lieferung verrechnet worden ist. Dieser Vorgang scheint wohl üblich gewesen zu sein und ergibt auch Sinn, wenn die Maschinenfabrik und Eisengießerei das Altmaterial in ihren Kupolöfen wieder einschmelzen konnte. Für 1854 bis 1856 gibt es keine weiteren Buchungen für Lieferungen der Maschinenfabrik und Eisengießerei.

»»  Eine ausführliche Darstellung der Geschäftsbeziehung zwischen der Maschinenfabrik und Eisengießerei und der Merck'schen Fabrik wird Kapitel 8 – Ein Monteur geht zu Merck – für den Zeitraum von etwa 1849 bis 1879 bieten.

Der Kristallpalast lockt … nicht

Als Darmstädter Münzrat galt Hektor Rößler als Experte auf dem Gebiet der Metallurgie. Im Indizienprozeß gegen den Diener Johann Stauff in Darmstadt, der die Gräfin von Görlitz 1847 ermordet haben soll, als sie ihn beim Diebstahl ihres Schmucks ertappt hatte, wurde er am 27. März und am 2. April 1850 zweimal gehört. [13]

Im Londoner Hyde Park wurde 1851 die erste Weltausstellung abgehalten. Die Great Exhibition lockte vom 1. Mai bis zum 11. Oktober über 17.000 Ausstteller aus 27 Ländern. Auch aus dem Großherzogtum Hessen kamen 74 Aussteller, davon vierzehn aus Darmstadt.

Möglicherweise hatte die Darmstädter Maschinenfabrik ursprünglich vor, sich an dieser Welt­ausstellung mit einer Münzmaschine zu beteiligen. Ob diese Absichts­erklärung in eine verbindliche Anmeldung mündete oder gar in einer Teilnahme, ist nicht so recht klar. Das nachfolgend gedruckte Amtliche Verzeichnis für die Zollvereins­staaten vermeldet jedenfalls keine Anmeldung oder gar Anwesenheit der Rößler'schen Maschinenfabrik. Ähnliches wird uns elf Jahre später bei der zweiten Londoner Weltausstellung begegnen. [14]

Ein Auftrag aus Mainz

Was bei der Eisenbahnwerkstätte der Main-Weser-Bahn in Gießen nicht zu erreichen war, nämlich eine Dampfmaschine unterzubringen (siehe Kapitel 4), sollte in Mainz gelingen.

Von 1848 bis 1853 ließ die Hessische Ludwigsbahn – mit zeitlichen Unterbrechungen und Verzögerungen durch die bürgerliche Revolution von 1848/49 und eigene finanzielle Probleme – durch ihre Arbeiter einen Schienenstrang von Mainz nach Worms und weiter bis an die pfälzische Grenze legen. Dort schloß das Gleis der Pfälzischen Ludwigsbahn bis Ludwigshafen an. Diese Stammstrecke der in Mainz ansässigen Aktien­gesellschaft sollte in den Folgejahren Ergänzungen nach Alzey, Bingen, Frankfurt, Darmstadt und Aschaffenburg erhalten. Der Streckenbau wurde ergänzt durch die zentralen Bahnhofs- und Werkstatt­einrichtungen in Mainz. Hierbei kam die Maschinenfabrik und Eisengießerei aus Darmstadt mit der Lieferung einer Dampfmaschine und mehrerer Werkzeug­maschinen zum Zuge. Der detaliierte Tätigkeitsbericht des Verwaltungsrates der Gesellschaft für die Aktionärs­versammlung am 29. Mai 1854 nennt die Maschinenfabriken in Darmstadt, Karlsruhe und Pforzheim als Lieferanten. Mit der Karlsruher dürfte Keßler und mit der Pforzheimer Fabrik Benckiser gemeint sein. [15]

Bericht des Verwaltungsrates (Auszug).

Abbildung 5.05: Auszug aus dem Bericht des Verwaltungsrates der Hessischen Ludwigsbahn zur Erbauung und Einrichtung der Werkstätten, vorgelegt 1854.

So detaliiert der Bericht auf der einen Seite Lieferungen und ihre Kosten auflistet, so ungenau ist er in Bezug darauf, welches der drei Unternehmen welche Maschinen und Werkstatt­einrichtungen geliefert hat. Nur bei der Dampfmaschine herrscht Klarheit – sie stammte aus Darmstadt und kostete mitsamt der Transmission 5.656 Gulden und 52 Kreuzer. Diese Lieferung ging schon aus der zweiten Dampfmaschinenliste hervor, die Hektor Rößler (jun.) 1854 zusammengestellt hatte, auch wenn er seltsamerweise als Abnehmer die Pfälzische Ludwigsbahn benennt.

Weshalb die Hessische Ludwigsbahn ein Darmstädter Unternehmen für die Einrichtung ihrer zentralen Werkstätte herangezogen hat und keines aus Mainz, werden wir wohl nicht mehr erfahren. Vielleicht half es der Maschinenfabrik und Eisengießerei, daß sie Referenzen der Main-Neckar-Eisenbahn, der Pfälzischen Ludwigsbahn und der Main-Weser-Bahn vorweisen konnte. Die beiden Dampfmaschinen­listen von 1849 und 1854 erwähnen immerhin die Mainzer Maschinen­fabrikanten Michael und Martin Aleiter. Aber waren diese auch in der Lage, die benötigten Maschinen in der erforderlichen Qualität herzustellen? Gab es deren Unternehmen überhaupt noch? Interessant wäre es zu erfahren, ob das Finanzministerium zugunsten von Rößlers Maschinenfabrik intervenierte, zumal der hessische Staat als Aktionär und Kontrollorgan Einfluß auf die Vergabepraxis des Unternehmens ausüben konnte. Unterlagen hierzu sind mir (bislang) nicht bekannt. Die Lieferung der Dampfmaschine und einiger nicht näher spezifizierter Werkzeug­maschinen belegen zwar den Ruf des Darmstädter Unternehmens, das hier in einem Atemzug mit Keßler und Benckiser erwähnt wird, aber außer der Tatsache der Lieferung selbst erfahren wir nichts. Bald darauf treffen wir das Unternehmen in München an.

Ein Lob aus München

Am 15. Juli 1854 wurde in München die „allgemeine deutsche Industrie-Ausstellung“ mit einem Festakt und den üblichen Lobhudeleien auf das bayrische Königspaar eröffnet. In den folgenden drei Monaten sollten knapp 200.000 Menschen die Ausstellung im eigens für rund eine Million Gulden hergerichteten Glaspalast (einschließlich der Nebengebäude) besuchen, obwohl zu dieser Zeit in München die Cholera grassierte. Die Ausstellung wurde um drei Tage bis zum 18. Oktober 1854 verlängert. [16]

Der Katalogband zur Ausstellung enthält 6897 Nummern, die oftmals aber als nicht belegt gekennzeichnet sind, was darauf verweist, daß einzelne Anmeldungen nicht durch die Teilnahme an der Ausstellung wahrgenommen worden sind. Gesichert ist die Anwesenheit von 5966 Ausstellern. Darunter waren mehrere Unternehmen aus Darmstadt, so auch die Maschinenfabrik und Eisengießerei. Unter der Katalognummer 3094 wird eine Münzpräge­maschine und eine Feilmaschine der Fabrik aufgeführt. Abweichend hiervon vermerkt der Bericht der Beurteilungs­kommission – vermutlich anstelle der Feilmaschine oder zu deren Präzisierung – eine Rundhobelmaschine, die beschrieben wird als

„in großen Dimensionen ausgeführt mit verticaler und horizontaler Bewegung des Tisches, selbstgehender Kreishobelung und Meißelspannung mit Charnierstück, sowie mit Vor- und Rückgang des Tisches“.

Die in Darmstadt hergestellte Münzprägemaschine stand ein wenig im Schatten ihres Vorbildes, das ursprünglich von Diedrich Uhlhorn konstruiert worden war.

„Unter den Münzprägmaschinen nimmt die gangbar aufgestellte Kniehebelpresse zum Prägen von Doppelthalern in glattem Ringe von Heinrich Uhlhorn (Firma Dietrich Uhlhorn Nr. 5409) mit der Fabriknummer 90, die erste Stelle ein. In ihrer ganzen Einrichtung als ausschließlich deutsche Erfindung zu bezeichnen, hat diese Prägmaschine außer in den Münzstätten fast des ganzen Continentes auch im fernsten Auslande Geltung, und in England im Jahre 1851 die höchste Auszeichnung erlangt. Ebenso sinnreich und zweckentsprechend als das Constructionsprincip im Allgemeinen, sind die einzelnen Einrichtungen zur Hemmung des Ganges bei vorgekommenen Unregelmäßigkeiten und zur Erzielung schärferen Druckes. Die Vollendungsarbeit kann kaum durch eine andere Leistung überboten werden. – Nach gleichem Systeme ausgeführt war die kleinere Münzprägmaschine von der Maschinenfabrik und Eisengießerei in Darmstadt (Nr. 3094) für Scheidemünze und halbe Gulden bestimmt; nur war bei derselben die Auflagerung des Kniehebels kugelförmig und die Keilstellung befand sich nicht im Kniehebel, sondern oberhalb an den Widerlagern desselben.“

Folgerichtig erhielt die Uhlhorn'sche Maschine die Große Denkmünze „wegen Originalität der Erfindung, und der anerkannt ausgezeichneten Leistungen seiner Münzpräge­maschine, sowie wegen neuerer wesentlicher Verbesserungen an derselben“. Für die Maschinenfabrik und Eisengießerei sprang hingegen nur eine „belobende Erwähnung“ heraus „wegen guter Arbeit an den ausgestellten Maschinen“. Ein Mitglied der zwölfköpfigen Beurteilungs­kommission war der Darmstädter Stadtbaumeister und Maschinen­fabrikant Johannes Jordan.

Diese drittrangige Auszeichnung nach der Großen Denkmünze und der Ehrenmünze sollte daher nicht überbewertet werden. Neben der Maschinenfabrik und Eisengießerei aus Darmstadt erhielten in der V. Gruppe „Maschinen“ aus dem Großherzogtum Hessen die Gebrüder Heim aus Offenbach eine Ehrenmünze „für die ausgezeichnet ausgeführten und mit einzelnen zweckmäßigen Verbesserungen versehenen Maschinen für Buchdrucker, Buchbinder und Portefeuille­arbeiter“ und die Gebrüder Schmaltz aus Offenbach eine belobende Erwähnung „wegen lobenswerther Ausführung der Werkzeugmaschinen“. Die in derselben Kategorie untergebrachte Firma Dick und Kirschten aus Offenbach erhielt die Große Denkmünze nicht nur für die geschmackvolle und solide Ausführung der ausgestellten Wagen, sondern auch „wegen der bekannten verdienstlichen Leistungen dieser Fabrik im Wagenbau“, womit deutlich wird, daß auch das außerhalb der Ausstellung angesiedelte Image des Unternehmens mitbewertet wurde. Wir werden bei der Besprechung späterer Ausstellungen immer wieder sehen, daß die Auszeichnungen geradezu inflationär verteilt wurden. Beurteilt wurden nominell 6.798 Aussteller (vorhanden waren ja nur 5966); es wurden 287 große Denkmünzen, 1.036 Ehrenmünzen und 1.627 ehrenvolle Erwähnungen vergeben, was einer Belobigungsquote von fast 50% entspricht! Besonders anspruchsvoll und differenzierend sieht solch ein Bewertungssystem nun wahrlich nicht aus.

Eine genauere Untersuchung über dieses Phänomen inflationsartig vergebener Medaillen und Preise scheint es bislang nicht zu geben, von einer kritischen Würdigung ganz zu schweigen. Immerhin läßt sich dem Begleitband zur Ausstellung „Rauchende Schlote – Die Industrialisierung Südhessens im Spiegel historischer Briefköpfe“ des Hessischen Wirtschaftsarchivs 2012 ein leichtes Unbehagen entnehmen, wenn Ulrich Eisenbach in der Einleitung anmerkt, daß es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Mode wurde, „Medaillen abzubilden, die auf den zahlreichen Industrie- und Gewerbe­ausstellungen großzügig vergeben wurden“. [17]

Der „Führer im Glaspallaste zu München“ erwähmt bei seinem auf fünf Tage angesetzten Rundgang durch die gesamte Ausstellung „eine Münzprägmaschine aus Darmstadt“, nachdem der Verfasser, Joseph Gerstner, zuvor angemerkt hatte, er wolle den Ausstellern nicht zu nahe treten, könne aber nur beispielsweise einige aufzählen: „[Ue]brigens muß man bemerken, daß die meisten Gegenstände neuer Erfindung und alle mit ungemeinem Fleiße bearbeitet sind.“ Wer da so fleißig war, nämlich die oftmals schlecht bezahlten und von langen Arbeitszeiten heimgesuchten Arbeiter, fällt – wie bei derartigen Darstellungen üblich – unter den Tisch. Eberhard Jonák hingegen erwähnt in seinem Bericht an die Handels- und Gewerbekammer in Prag die Feilmaschine aus Darmstadt.

Hektor Rößlers (sen.) Verbindungen nach München datieren weiter zurück. Wohl aufgrund seiner Verdienste um das bayerische Münzwesen erhielt er das Ritterkreuz des St. Michaels-Ordens, zu dessen Annahme er am 16. Juni 1845 von Großherzog Ludwig II. ermächtigt wurde. [18]

Das Elend der Untertanen

Während sich Adlige und Bürger ein durchaus komfortables Leben leisten konnten, galt dies für weite Teile der (nicht nur) hessischen Bevölkerung keineswegs. Die 1840er und 1850er Jahre waren Zeiten bitterster Armut.

„Im gesamten Großherzogtum wuchs die Einwohnerzahl zwischen 1824 und 1852 von 671.789 auf 854.000. Die gewerbliche und industrielle Entwicklung war bis zur Jahrhundert­mitte bei weitem nicht in der Lage, diesem Bevölkerungs­überschuss dauerhaft Lohn und Brot zu verschaffen. Armut und Verelendung zahlreicher Bauern und Handwerker in jenen Jahren bis zur Jahrhundert­mitte waren keine Frage eines ungezügelten Wirtschafts­liberalismus. Im Gegenteil: Weil es noch zu wenige Erwerbs­möglichkeiten im großgewerb­lichen und industriellen Bereich gab und weil das Wirtschafts­wachstum mit der Bevölkerungs­zunahme nicht Schritt hielt, nahm die Verarmung weiterer Bevölkerungs­kreise zu, die ihre letzte Hoffnung immer häufiger in der Auswanderung sahen. Hungersnöte und Missernten waren in den 1830er und 1840er Jahren die häufigsten Gründe, die Heimat zu verlassen; ein Entschluss, der in der Provinz Starkenburg häufig durch die rigide Haltung vieler Standesherren befördert wurde.“ [19]

Rainer Maaß nennt hier ebenso die mit der Aufhebung der spätfeudalen Frondienste und Besitz­verhältnisse verbundenen unerträglichen Ablöse- und Entschädigungs­zahlungen. Zudem eigneten sich die Grundherren nunmehr auch frühere Rechte der Land­bevölkerung an, wie etwa das Sammeln von Holz zum Heizen in den kalten Wintern, und monetarisierten den Zugang hierzu durch teure Abgaben. Wenn dann die Ernten nicht so ausfielen wie erhofft, fehlte den Bäuerinnen und Bauern nicht nur der Zugang zu freien Ressourcen, um den Winter zu überleben, hinzu kam, daß nunmehr zusätzliches Geld erwirtschaftet werden mußte, um den Wegfall früherer Rechte zu kompensieren. Die Hungersnöte sind so gesehen nur zum Teil den Ernteausfällen geschuldet, zu einem großen Teil aber auch der Raffgier des hessischen Adels.

Die Auswanderung eines Teils der Bevölkerung war ein Ventil, um den Unmut über die als ungerecht empfundenen repressiven und wirtschaftlichen Verhältnisse einzuhegen. Mancherorts wurden die Auswander­willigen sogar finanziell unterstützt. Das war ganz praktisch gedacht, denn sonst hätten sie der dörflichen Armen­fürsorge auf der Tasche gelegen. Jährlich verließen so Tausende das hessische Elend, um es gegen die Ungewißheit einer neuen Existenz weit im Westen einzutauschen.

Zeitungsannoncen.

Abbildung 5.06: Gleich zwei Agenten umwarben die Auswander­willigen im Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt vom 5. Juni 1852 [online ulb darmstadt].

Zeitungsannonce.

Abbildung 5.07: Annonce zur Auswanderung geeigneter neuer Postschiffe im Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt vom 22. Oktober 1853 [online ulb darmstadt].

Ein weiterer Grund zum Auswandern bestand bei jungen Männern darin, sich damit dem verhaßten Militärdienst zu entziehen. Sie hatten nicht vor, sich den obrigkeits­staatlich erwünschten Untertanen­geist einbläuen zu lassen. Obwohl es ein offizielles Prozedere gab, um mit ordnungs­gemäßen Papieren das ungeliebte Vaterland verlassen zu dürfen, zogen es nicht wenige junge Burschen vor, sich einfach zu verdünnisieren. Das sah der hessische Staat gar nicht gerne und machte die Bevölkerung darauf aufmerksam, daß diese Art von Fahnenflucht geahndet werde.

Bekanntmachung.

Abbildung 5.08: Bekanntmachung von Maßregeln gegen die heimliche Auswanderung im Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt vom 26. März 1853 [online ulb darmstadt].

Rainer Maaß macht es sich allerdings zu einfach, einen ungezügelten Wirtschafts­liberalismus als Grund für die weit verbreitete Verelendung in Stadt und Land in Abrede zu stellen. Nach der Aufhebung der napoleonischen Kontinental­sperre strömten maschinell erzeugte englische Textilprodukte massenhaft ins Land. Sie traten in Konkurrenz zu den in Heimarbeit erzeugten lokalen Textilprodukten und drückten den Preis immens. Der Aufstand der Weber in Schlesien war nur ein Reflex dieser Entwicklung, die aber auch in Hessen den Verarmungs­prozeß förderte. Der ungezügelte Wirtschafts­liberalismus brach sich in England im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert Bahn. Dort waren schon Jahrhunderte zuvor die Bauern von ihren Feldern und Weiden vertrieben worden und bildeten das Proletariat in den neuen industriellen Zentren. Die Löhne, die dort gezahlt wurden, reichten nicht zum Leben; und – um Karl Marx in Erinnerung zu rufen – das industriell entwickeltere Land zeigte dem minder entwickelten nur das Bild der eigenen Zukunft. Tatsächlich sollten auch in den weniger entwickelten deutschen Fabriken Hungerlöhne mit langen Arbeitszeiten und Kinderarbeit einhergehen, ganz nach englischem Vorbild. Die Knute von Polizei und Militär sorgte für die Absicherung dieser unerträglichen Ausbeutungs­bedingungen, gegen die sich die Arbeiter, als sie 1870 ein einge­schränktes Streikrecht erhielten, auch sofort zur Wehr setzten. Selbst dann also, wenn es schon in den 1850er Jahren mehr gewerbliche Arbeitsplätze gegeben hätte, so hätten sie an Armut und Elend nichts geändert, sondern nur mehr davon erzeugt.

Lutz Ewald und Angela Gabel zeigen anhand der Darmstädter Buchdrucker­gesellen, wie qualifizierte handwerks­mäßige Arbeit durch die Einführung von Schnellpressen recht bald durch angelernte Kräfte und „Knaben“ ersetzt worden ist, mit drastischen Folgen für die Löhne:

„Obwohl die im Buchdruck beschäftigten Gehilfen neben den Bergleuten die am besten entlohnten Arbeiter waren, muß davon ausgegangen werden, daß mehrköpfige Familien in der Großstadt um die Jahrhundert­mitte vom Einkommen eines Setzers oder Druckers ohne Mitarbeit der Frauen nicht existieren konnten.“ [20]

Reinhard Ludwig Venator, der in die Buchdrucker­familie Wittich hinein­geheiratet hatte und als Geschäftsführer dieser Darmstädter Hofbuch­druckerei agierte, konnte durch den vermehrten Einsatz von Maschinenkraft bei gleichzeitiger Lohndrückerei ein ansehliches Vermögen erwirtschaften, das er durch Beteiligungen an der Aktien­gesellschaft für Gasbeleuchtung und 1857 als Aktionär der Maschinenfabrik und Eisengießerei zu vermehren trachtete. Die allgemeine Not hatte demnach ihre wirtschafts­liberalen Profiteure, worüber Rainer Maaß in seinem Aufsatz still­schweigend hinweggeht.

Zeitungsannonce.

Abbildung 5.09: Annonce zur Errichtung einer Suppenanstalt in Darmstadt im Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt vom 30. Dezember 1854 [online ulb darmstadt].

Folgerichtig finden wir Ende 1854 in Darmstadt die Einrichtung einer Suppenanstalt vor, die das Elend zu kanalisieren sucht. Am 1. Dezember 1854 fanden sich einige Honoratioren zusammen, die dazu aufriefen, eine Speiseanstalt zu gründen, um „die Noth eines harten Winters zu mildern“. Hierbei ging es nicht um die Belämpfung der Armut, sondern um eine lindernde Maßnahme, um auch im Folgejahr gesunde und kräftige Exemplare der benötigten Arbeitskräfte vorzufinden. Ein Vierteljahr­hundert später gibt es die Suppenanstalt immer noch; und die städtischen Honoratioren preisen ihre bigotte Veranstaltung als Wohltätigkeit. [21]

Die erste durchgeführte Saison der Suppenanstalt war ein voller Erfolg. Insgesamt wurden von Januar bis April 1855 107.425 Portionen verkauft. Jawohl, verkauft! Selbst von den Ärmsten der Armen, die nun wirklich nichts mehr abzugeben hatten, nahm man zwei oder drei Kreuzer pro Mahlzeit. Das ist wahre christliche Gesinnung: Abpressen, wo immer es geht. Folglich warf die Suppenanstalt auch einen Gewinn in Höhe von 462 Gulden und 56 Kreuzern ab. Und während diese Ärmsten die Hälfte des Budgets beisteuerten, durften sich die Herzogsfamilie und die bürgerlichen Honoratioren für ihre Wohltätig­keit feiern lassen. Insgesamt wurden 275 fünfpfundige Brote, 2881 Pfund Ochsenfleisch, 291¾ Malter Kartoffeln, 7767 Pfund Erbsen, 7608 Pfund Linsen, 10.050 Pfund Bohnen, 3894 Pfund Reis und 4158 Pfund Mehl verbraucht. Salz hab es auch jede Menge, nämlich 2536 Pfund. Für das Kartoffel­schälen und das Lesen der Hülsenfrüchte wurden einige der Armen eingestellt, selbstredend auch Kinder, die einen Großteil der hierfür insgesamt aufgewendeten 745 Gulden und 23 Kreuzer erhielten. Wie hoch der Arbeitslohn für diese Tätigkeit gewesen ist, wurde beim Bericht über die Tätigkeit der Suppenanstalt nicht verraten. Aber immerhin, es machte satt. Als ein Mitglied des Comités für Haushaltung wird der Name Rößler genannt; leider bleibt unklar, wer gemeint gewesen ist. [22]

Wem gehörte das Unternehmen?

Im Ausstellungsjahr 1854 führt das Darmstädter Adreßbuch erstmals explizit die Maschinenfabrik und Eisengießerei unter der Anschrift Lit. F Nr. 209 auf.

Fabrikantenliste.
Abbildung 5.10: Auszug aus dem Darmstädter Adreßbuch von 1850 mit der Auflistung der Darmstädter Fabrikanten. Quelle: Digitales Archiv der ULB Darmstadt [online]. Die Maschinenfabrik und Eisengießerei wird hier einem Rößler zugewiesen. Der ehemalige Miteigentümer Johann Ludwig Buschbaum wird – wie auch August Wernher – auf Seite 132 als Mechaniker geführt.

1850 wird hier im Häuserverzeichnis noch der Münzrat Rößler (als Eigentümer ?) genannt, während im Einwohner­verzeichnis weiterhin der Fabrikant Friedrich Rößler angegeben ist wie auch der Mechanikus Franz Wernher, der von 1843 bis vermutlich 1850 als technischer Direktor fungiert. Ihm wird in dieser Funktion Franz Horstmann folgen, der für die folgenden drei Jahrzehnte die Wohnung auf dem Gelände der Fabrik übernimmt. Anzunehmen ist, daß diese Wohnung und vielleicht auch die Büroräume in dem Gebäude untergebracht waren, das im Stadtplan von 1822 als „Neues Chaussee Haus“ bezeichnet wurde. Es dürfte sich um dasselbe Gebäude handeln, in dem sich heute unter der Anschrift Kahlertstraße 1 das Restaurant „Sardegna“ befindet.

Bei der in der Zeitung annoncierten Vorstellung der Maschinenfabrik und Eisengießerei als Nachfolge von Buschbaum & Comp. im Juni 1844 waren als Direktoren Friedrich Rößler und August Wernher genannt worden. Über die Eigentümerstruktur hingegen erfahren wir in den nachfolgenden zwölf Jahren nichts. Allein aus späteren Andeutungen, wenn vom früheren Rößler'schen Unternehmen die Rede ist, dem Schreiben von Franz Horstmann an den Münzrat Hekltor Rößler von 1851 und der Angabe der Adreßbücher, wonach Hektor Rößler (sen.) der Eigentümer des Grunstücks gewesen ist, auf dem die Fabrik errichtet worden war, läßt sich ableiten, daß der Münzrat der alleinige oder einer der Eigentümer des Unternehmens gewesen ist. Auf dieser Voraussetzung ist die Darstellung dieses Kapitels aufgebaut [23]. Ob sich beispielsweise August Wernher finanziell am Unternehmen beteiligt hat, ist nicht zu entscheiden, aber möglich [24]. Franz Horstmann hingegen dürfte als technischer Direktor ohne eigene Kapitalbeteiligung fungiert haben. Er wird 1857 von der Aktiengesellschaft übernommen werden, gehört jedoch nicht wie der designierte kaufmännische Leiter Reinhard Ludwig Venator zu den Gründern der Kapital­gesellschaft.

Der technische Direktor Franz Horstmann

Franz Horstmann war vom Herbst 1850 bis 1878/79 der technische Direktor der Maschinen­fabrik und Eisen­gießerei und von 1879 bis 1883 einer der beiden von den Aktionären des Unternehmens bestimmten Liquidatoren.

Franz Anton Horstmann wurde am 14. Juli 1816 in Höchst am Main (heute Stadtteil von Frankfurt) als elftes Kind des vermögenden Kaufmanns und Fabrikanten Johannes Horstmann (1774 Hausen im Hunsrück bis 1856 in Wiesbaden) und der Kaufmanns­tochter Maria Theresia Berna (1778 in Mainz bis 1848 in Wiesbaden) geboren. Seine Eltern heirateten in Höchst und Theresia brachte insgesamt vierzehn Kinder zur Welt. Sein Vater war evangelischen Glaubens, seine Mutter Katholikin, er selbst wurde katholisch getauft. Sein Großvater mütterlicher­seits, Karl Anton Berna, stammte vermutlich aus Prato im Tessin, dessen Ehefrau Katharina Ackermann wurde in Mainz geboren.

Als nassauisches Landeskind ging Franz Horstmann von 1831 bis 1834 auf das Gymnasium Philippinum im zum Herzogtum gehörenden Weilburg an der Lahn. In Weilburg und Diez lebte ein Seiten­zweig der Familie Horstmann, und so ist es nahe­liegend, daß er dort unterkam. 1847 finden wir ihn als Mechanikus an der Erbacher Fabrik nahe Homburg im Saarland (damals noch Pfalz/Bayern). Wann und wo er seine technische Ausbildung erhalten hat, habe ich nicht feststellen können, möglicher­weise in der aufstrebenden Industrie­region rund um Zweibrücken und Völklingen. Dort gab es auch Verwandt­schaft. Am 20. April 1847 heiratete er die 1827 oder 1828 geborene Helene Didier aus Homburg. Ihr Vater war der Posthalter­besitzer Louis Didier, ihre Mutter Sophie Hanus. Das Ehepaar hatte sechs Kinder: Otto Johann (Rufname: Otto, 1848–1939, Ingenieur), Sophie (1849–1927), Max Jacob (Max, 1851–1923, Ingenieur, später Fabrik­direktor [25]), Franz Carl Maria (Franz, 1853–1899, Kaufmann), Paul Carl Friedrich (Paul, 1857–1923, Regierungs­baumeister) und Therese Helene Maria (Helene, 1861–1945). Sophie, Max, Franz und Paul sollen nicht geheiratet haben, bei Helene ist dies wahr­scheinlich.

Der erste Sohn wurde 1848 in Erbach bzw. Reiskirchen geboren, Sophie in Holzappel bei Diez an der Lahn. Das könnte darauf hinweisen, daß Franz Horstmann 1849 in der Grube Holzappel gearbeitet hat. Von August bis Oktober 1850 war Franz Horstmann „von Dietz“ beim Münzrat Rößler gemeldet, vermutlich solange bis die Wohnung auf dem Fabrik­gelände durch den vorherigen technischen Direktor August Wernher geräumt worden war.

Franz Horstmann war ein Ingenieur mit über­regionaler Reputation. Auf der Tagung des Landes­gewerbe­vereins 1869 in Mainz gehörte er der Kommission an, die den zukünftigen geregelten Umgang bei der Prüfung von Dampf­maschinen und Dampfkesseln vorschlug. Dies war die Geburts­stunde des Vorläufers des Techischen Über­wachungs­vereins in Hessen. Am 11. Oktober 1876 wurde ihm das Ritterkreuz 1. Klasse des Philipps­ordens verliehen. Er starb am 18. Dezember 1887 in Darmstadt, seine Witwe am 20. Juni 1911, ebenfalls in Darmstadt. [26]

Das Geschlechterb­uch führt ihn 1850 als Mitbegründer des Central-Eisenbahn­comitees für eine Lahntal­bahn in Weilburg. Diese Angabe beruht sehr wahr­scheinlich auf einem Satzfehler im Buch. [27]

Wir werden Franz Horstmann in den folgenden Kapiteln immer wieder begegnen.

Vermutlich während des Jahres 1856 wird ein Konsortium unter Führung der Darmstädter Bank für Handel und Industrie die Maschinenfabrik und Eisengießerei aufgekauft haben, um sie als Aktiengesellschaft finanziell besser aufzustellen und um die Produktion in größeren Fabrikhallen zu erweitern. Ohne das Bedürfnis der Hessischen Ludwigsbahn, eine Möglichkeit zu erhalten, Lokomotiven und Wagen zu warten und reparieren, ohne sich hierbei mit der Einrichtung einer eigenen Werkstätte finanziell zu belasten, wäre dieser Ankauf jedoch vermutlich nicht getätigt worden. Weitere Details zur Situation des Unternehmens sind zwischen 1854 und 1856 nicht bekannt; im März 1857 wird dieses Konsortium mit der Aufforderung an die Öffentlichkeit treten, Aktien des neuen Unternehmens zu zeichnen. [28]

Die größeren Aufträge von etwa 1840 bis 1855

Bemerkenswert an der Frühgeschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei ist, daß sie für vier verschiedene Eisenbahn­gesellschaften Dampfmaschinen und/oder andere Werkzeugmaschinen geliefert hat, wovon eine Gesellschaft nicht im Großherzogtum Hessen beheimatet war. Offenkundig war das Darmstädter Unternehmen konkurrenzfähig und/oder die Fähigkeit anderer Maschinenbau­fabriken, entsprechende Dampfmaschinen zu bauen, wurde nicht allzu hoch eingeschätzt. Die Dampfmaschine für die Werkstätte der ersten Eisenbahn im Rhein-Main-Gebiet, der Taunus-Eisenbahn, stammte vom Aachener Unternehmen Edmundts und Herrenkohl, das nur vier Jahre nach der 1839 erfolgten teilweisen Eröffnung der Taunus-Eisenbahn Bankrott machte. [29]

Eine vermutlich unvollständige Liste bekannter größerer Aufträge aus dem Zeitraum von etwa 1840 bis 1855 umfaßt:

Über den Bau weiterer Dampfmaschinen oder andere größere Aufträge bis zur Umwandlung der Maschinenfabrik und Eisengießerei in eine Aktiengesellschaft 1856/57 liegen keine Informationen vor. Im Hauptkontobuch von Merck finden sich in den Jahren 1854 bis 1856 keine Einträge, die auf eine Rechnung der Maschinenfabrik und Eisengießerei hinweisen. Dies ist umso auffälliger, weil in den Jahren zuvor (wenn auch wenige) und danach recht kontinuierlich Leistungen abgerechnet wurden und das Hauptkontobuch zwischen 1854 und 1856 vollständig geführt zu sein scheint. Auch wenn es erst einmal nur spekulativ erscheinen mag, so könnte dies ein Indiz dafür sein, daß das Unternehmen einige Jahre entweder stillstand oder auf sehr kleiner Sparflamme produziert hat.

Annonce der Maschinenfabrik.
Abbildung 5.11: Annonce der Maschinen­fabrik über Garten­möbel und Wasser­klosetts im Darm­städter Frag- und Anzeige­blatt vom 11. Juni 1853 [online ulb darmstadt].

Für 1855 und 1856 gibt es nur sporadische Hinweise auf Arbeiten der Maschinenfabrik. Im September 1855 schaltete sie eine Annonce im Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt, um den Wechsel vom bisherigen Buchhalter Joseph Bauer zu seinem Nachfolger Karl Jöckel anzuzeigen. Im März 1856 suchte sie einen „qualifizierten Schreinermeister für Modellarbeiten“, was auf eine Tätigkeit in der Eisengießerei hinweist. [31]

Damit ist die „Vorgeschichte“ des Unternehmens abgeschlossen. Nur in einigen wenigen der bisherigen Publikationen wird die Maschinenfabrik und Eisengießerei oder ihre Vorgänger aus dem Zeitraum von 1807 bis 1856 kurz erwähnt. Doch fehlt in diesen Darstellungen in der Regel jeglicher Bezug auf die 1857 beginnende Unternehmens­phase als Aktien­gesellschaft. Kapitel 7 wird die Gründung dieser Aktiengesellschaft behandeln.

Die Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei wird fortgesetzt in Kapitel 6 mit einer Abschweifung zur Forschungsgeschichte.

Quellen- und Literaturverzeichnis.


Anmerkungen

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