Fabrik. Blick auf das Fabrikgelände. Quelle: Adreßbuch 1908.

Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt

Die Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt

Kapitel 10: Eine kleine Lokomotive bringt Dampf ins untere Neckartal

Das seit 1837 als Buschbaum & Comp. bestehende und 1844 zur Maschinenfabrik und Eisengießerei in Darmstadt umfirmierte Unternehmen wurde mit Unterstützung der ebenfalls in Darmstadt ansässigen Bank für Handel und Industrie 1857 in eine Aktien­gesellschaft umgewandelt. Die Liquidation des Unternehmens wurde mit der General­versammlung am 21. Dezember 1878 eingeleitet.

Kapitel 10 behandelt den Lokomotivbau des Darmstädter Unternehmens in den Jahren 1861 bis 1870. Die in diesem Jahrzehnt gebauten zweiundzwanzig kleinen Tender­lokomotiven werden, soweit rekonstruierbar, mit ihren Erwerbern näher vorgestellt. Hierbei waren der Aufsatz von Werner Willhaus zu den Lokomotiven der Maschinenfabrik im Eisenbahn-Kurier 2/2009, die Lokomotivlisten von Jens Merte und das Gesamt­verzeichnis deutscher Lokomotiven von Ingo Hütter und Oskar Pieper eine wertvolle Hilfe. Ein besonderer Dank geht an Jens Merte für das Überlassen einer Kopie der zugrunde liegenden maschinen­schriftlichen (Abschrift einer) Liste von Bernhard Schmeiser.


Dieses Kapitel zur Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei ist die Fortsetzung von Kapitel 9 – Die Handelskammer zieht eine Augenbraue hoch. Zunächst liefen die Geschäfte noch ganz passabel, doch seit 1861 wurden derart schwere Verluste eingefahren, welche die Existenz des Unternehmens aufs Spiel setzten. Eine Lösung wurde gefunden. Zudem beteiligte sich das Unternehmen mit Erfolg an der Landesgewerbe­ausstellung 1861 in Darmstadt und nutzte die Weltausstellung 1862 in London, um ihre neueste Entwicklung, eine kleine Dampflokomotive, zu präsentieren. Allerdings nicht vor Ort, sondern nur im Ausstellungskatalog. Diesem verdanken wir die Ansicht eines dampfenden, nun ja, Getüms.

Von der Schwierigkeit, einen Namen zu entziffern

Der Wiener Ingenieur Bernhard Schmeiser (1893–1958) fertigte eine Reihe von Lieferlisten verschiedener Hersteller an. Seine maschinen­schriftliche Aufzeichnung der Lieferungen der Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt befindet sich auf den Seiten 311 und 312. Da das Unternehmen in den 1880er Jahren von der Bildfläche verschwunden ist, stellt sich die Frage, woher Bernhard Schmeiser sein Wissen bezogen haben mag. Vielleicht ist es so, daß die technischen Unterlagen der Maschinenfabrik in den Besitz der nachfolgend auf dem Fabrikgelände an der Blumenthal­straße produzierenden Unternehmen gelangt sind. Dafür spricht, daß die für die Lokomotiven verwendeten Fabriknummern fortgesetzt wurden mit daran anschließenden Nummern für Ersatz­dampfkessel, die an die Main-Neckar-Eisenbahn gelieferten wurden. Als mögliche Nachfolger kämen die Maschinenfabrik und Eisengießerei der Gebrüder Seck in Frage; die Mühlenbauanstalt, Maschinenfabrik und Eisengießerei, vormals Gebrüder Seck; das Unternehmen G. Luther aus Braunschweig; und in den 1920er und 1930er Jahren die Bahnbedarf A.-G. bzw. Bahnbedarf als Darmstädter Niederlassung der Aquila A.-G.

Wo könnte Bernhard Schmeiser oder sein Zuträger nun auf die Listen gestoßen sein? Da wäre an die Motorenfabrik Oberursel als Seitenzweig der Gebrüder Seck zu denken, an die (1944 zerstörten) Luther-Werke in Braunschweig oder an die Bahnbedarf-Rodberg AG bzw. GmbH, die aus der „arisierten“ Bahnbedarf hervorgegangen ist. [1]

Wie die Aufzeichnungen der Maschinenfabrik ausgesehen haben, werden wir wohl nie erfahren. Sicher ist jedenfalls, daß diese noch handschriftlich angefertigt worden sind, und dies mit hoher Wahrschein­lichkeit in Kurrentschrift. Damit fangen aber die Probleme erst richtig an. Manche Schreiber hatten eine durchaus lesbare Handschrift, bei anderen setzt das große Raten ein, welche Buchstaben­kombinationen, die das Deutsche so hergibt, im konkreten Text einen Sinn ergeben. Bei Eigennamen wird es ganz schwierig. Behörden haben sich oftmals damit beholfen, die Eigennamen nicht in Kurrent, sondern in lateinischer Schrift aufzuschreiben, um eine – auch rechtlich – eindeutige Identifizierung zu ermöglichen. Dies dürfte bei einem privaten Unternehmen eher nicht der Fall gewesen sein. [2]

Bernhard Schmeiser dürfte mit einer Abwandlung dieser Kurrentschrift, dem Sütterlin, großgeworden sein. Die Kenntnis des Sütterlin ist demnach hilfreich, aber nicht immer ausreichend. Manche Buchstaben und Ligaturen sind verschieden und verführen zu teilweise erstaunlichen Fehllesungen. In Kapitel 4 hatte ich von der Kunst, den verschnörkelten Buchstaben „ß“ richtig zu deuten, geschrieben. Anlaß war, daß der heutige Gießener Stadtarchivar Ludwig Brake in seiner Dissertation über den Bau der ersten hessischen Eisenbahnen die Unterschrift „Rößler“ in den Eigennamen „Kaehsler“ umgedeutet und nun versucht hatte, selbiger fiktiven Person Leben einzuhauchen. [3]

Versteigerung Hummel.
Abbildung 10.01: Am 9. und 10. Oktober 1879 sollte in Wiesbaden Bahn­material aus dem Vermögen des Philipp Hummel aus Bauschheim versteigert werden. Darunter waren drei neue Lokomotiven und 107 Rollwagen der Spurweite 900 mm. Quelle: Darmstädter Zeitung vom 2. Oktober 1879 [online].

Nun steht Ludwig Brake damit nicht alleine da. Auch die damaligen zeitgenössischen Setzer von Zeitungen, Zeitschriften und Büchern hatten ihre liebe Not damit, die passenden Lettern in ihrem Setzkasten zu den ihnen handschriftlich als Manuskript vorgelegten Eigennamen zu finden. Dabei ist auch nicht auszuschließen, daß beim Einordnen der Lettern recht ähnlich aussehende Buchstaben einfach in das falsche Fach gelangten und der Setzer das nicht bemerkt hat.

Die von Bernhard Schmeiser vorliegenden Lieferlisten zur Maschinenfabrik offenbaren einen großzügigen Umgang mit der Deutung der abgeschriebenen Unterlagen. Dies kann jedoch neben der fehlerhaften Lesung des Originals auch ganz banale Gründe haben, etwa Vertipper beim Abschreiben der Listen. In Werner Willhaus' Aufsatz findet sich beispielsweise zu den 1877 und 1878 gelieferten Lokomotiven mit den Fabriknummern 82 und 94 die Angabe: „Ph. Hammel, Bamertzheim (Ort bislang nicht identifiziert)“ mit der zugehörigen Fußnote: „Wahrscheinlich Schreibfehler bei Übertragung aus der handschriftlichen Niederschrift: Bommersheim (Oberursel), Heimerzheim (Swisttal) oder Lampertsheim (Südhessen) denkbar.“ Der Bauunternehmer Philipp Hummel hatte seinen Handel jedoch in Bauschheim bei Rüsselsheim [4]. Deshalb wird im folgenden Text neben der Angabe der Lieferliste der richtige identifizierbare Empfänger vermerkt. Vielleicht helfen diese Angaben anderen Forscherinnen und Forschern auf der Suche bei ihrem Sujet weiter. [5]

Das Ausstellungsstück

1861 baute die Maschinenfabrik laut Lieferliste für F. H. Ehlert ihre ersten beiden kleinen Tenderlokomotiven. Diese waren in gewisser Weise die Nachfahren der frühen noch unverkleideten Dampflokomotiven, nur eben kleiner und gedrungener. Nichtsdestotrotz erfüllte diese Miniaturversion durchaus ihren Zweck, wie weitere Bestellungen zeigen. Im Laufe der Jahre entwickelte die Maschinenfabrik ihre Auffassung davon, wie eine für kleinere Arbeiten entwickelte Lokomotive auszusehen habe, weiter. Die beiden Exemplare, die 1873 auf der Wiener Weltausstellung zu sehen waren, unterscheiden sich vom Erstling dann doch sehr.

Es ist nicht bekannt, wie die Darmstädter Maschinenfabrik dazu gekommen ist, Dampf­lokomotiven herzustellen. Allerdings lag der Schritt von der stehenden Dampfmaschine über die transportable bzw. fahrbare Dampfmaschine (Lokomobile) hin zur auf Schienen rollenden Dampfmaschine durchaus nahe. Er setzte allerdings neu zu erwerbende Kenntnisse über die Steuerung und Triebwerke eines auf Schienen gesetzten Dampfrosses voraus. Hier mag die Kontakt­aufnahme zur nahe gelegenen Zentral­werkstätte der Main-Neckar-Eisenbahn genauso hilfreich gewesen sein, wie die sich langsam entwickelnde Literatur zum Aufbau und zur Funktionsweise einer Dampf­lokomotive. Derartige Literatur wurde in den einschlägigen Gewerbeblättern zwecks Förderung der lokalen Industrie ausführlich vorgestellt; und praktischerweise lag die Geschäfts­stelle und Bibliothek des hessischen Landes­gewerbevereins quasi vor der eigenen Haustüre.

Insofern wird die Anfrage des Bauunternehmers Ferdinand Elert aus Wehlheiden bei Kassel nur eine weitere Möglichkeit dargestellt haben, die eigene Produktpalette zu erweitern. Schon allein die Tatsache, daß die Maschinenfabrik in den 1860er Jahren nur ab und zu eine Lokomotive produziert hat, verrät, daß dies nicht ihr Kerngeschäft war und daß sie den Lokomotivbau nicht als eigenes Geschäftsfeld begriffen hat, sondern wohl eher als Anhängsel der Dampfmaschinen- und Dampfkessel­herstellung. Das sollte sich zu Ende des Jahrzehnts ändern, als der durch den Gründerboom befeuerte (und mit Aktienspekulation verbundene) Eisenbahnbau neue Absatzmöglichkeiten auftat. Viele neue Eisenbahnen sollten nicht nur gebaut werden, dazu gab es dann schmalspurige Baulokomotiven, sondern ihr Betrieb erforderte auch neues rollendes Material. Da viele dieser neuen Eisenbahnen Nebenbahnen mit relativ niedrigen Anforderungen waren, konnten die kleinen Tenderlokomotiven der Maschinenfabrik durchaus auf erweiterten Absatz hoffen. Doch noch schreiben wir das Jahr 1861, und alles geht erst einmal zögerlich voran.

Ferdinand Elert war als Bauunternehmer schon früher am Bau von Eisenbahn­strecken beteiligt; etwa am 1845 begonnenen Bau der Friedrich-Wilhelms-Nordbahn; von den zwölf Sektionen hatte Elert fünf erhalten. Es folgen Aufträge beim Bau der Main-Weser-Bahn und der Rhein-Lahn-Bahn, sowie an der in Etappen zwischen 1852 und 1854 eröffneten bayrischen Ludwigs-Westbahn von Bamberg nach Hanau mit mehreren Baulosen bei Hain (heute Ortsteil von Poppenhausen) und Lohr. Als im August 1860 die Vergabe von Erdarbeiten und Felssprengungen als Teil der zu errichtenden Badischen Odenwaldbahn auf den Gemarkungen Neckarelz, Obrigheim, Mörtelstein, Asbach und Daudenzell mit einem Wert von etwa 800.000 Gulden ausgeschrieben wurde, war der Bauunter­nehmer auch einer Aufgabe dieser Größenordnung gewachsen. Was ihm noch gefehlt haben mag, waren Maschinen, um die zu erwartenden gewaltigen Erdmassen bewegen zu können. [6]

1861 werden daher die ersten beiden Tenderlokomotiven der Maschinenfabrik an den Bauunternehmer Ferdinand Elert mit dem Bestimmungsort Neckarelz geliefert. Die Lieferlisten geben eine Spurweite von 900 Millimetern und eine zweifach gekuppelte Naßdampf­lokomotive mit zwei Zylindern (B-n2t) an. Bemerkenswert ist hier die Spurweite. Diese beiden Baulokomotiven gelten als die ersten in Deutschland für diese Spurweite gebauten Exemplare.

„Die Gründe, welche für das schwere Bauunternehmer­gleis zur Wahl der so gut wie ausschließlich verwendeten Spurweite von 900 und zwar gerade in Deutschland geführt haben, sind nicht klar. Diese Spur kommt im Ausland nur sehr vereinzelt vor und ist dann wohl oft in Zufälligkeiten begründet. Jedenfalls muß diese Spur von 900 mm als ausgesprochen deutsche Spur bezeichnet werden. [7]

Hier könnten badische Besonderheiten eine Rolle gespielt haben. Schon beim Bau der ersten badischen Eisenbahn ging die Eisenbahn­verwaltung des dortigen Großherzogtums einen Sonderweg mit einer Spurweite von 1600 Millimetern, was 5 ⅓ badischen Fuß entsprochen hatte. Insofern ergibt es durchaus einen Sinn, wenn ein badischer Unternehmen für ein Bauvorhaben in Baden (Neckarelz) eine Spurweite wählt, die mit genau drei badischen Fuß seinen Bedürfnissen entgegenkommt. Interessant ist, daß trotz der späteren Empfehlung des Technischen Ausschusses des Vereins Deutscher Eisenbahn­verwaltungen von 1869, nur noch 750 und 1000 mm als Schmalspur zu verwenden, auch weiterhin, gar vermehrt, sich in bestimmten Bereichen die Spurweite von 900 Millimetern etablierte. Auch wenn es vielleicht nicht das Verdienst des Darmstädter Unternehmens gewesen sein mag, so verdient es doch festgehalten zu werden, daß gerade die beiden ersten Tender­lokomotiven der Maschinenfabrik den Weg für eine allgemein verbreitete und offensichtlich praktische Spurweite geebnet haben.

Möglicherweise gibt es sogar eine Abbildung dieses Erstlings mit den Fabriknummern 1 und 2. 1861 meldete die Maschinenfabrik und Eisengießerei zur im Jahr darauf abzuhaltenden Londoner Weltausstellung. Doch anstatt sich vor Ort einem wohl eher britischen Publikum zu präsentieren – vorgesehen waren ohnehin gänzlich andere Exponate aus der eigenen Produktion –, nutzte sie die recht preisgünstige Gelegenheit, ihr neues Produkt im Spezialkatalog der (deutschen) Zollvereins­staaten einem deutschen Fachpublikum anzubieten. Die grafische Darstellung im Annoncenteil mag nicht in jedem Detail der nach Neckarelz gelieferten Maschine entsprechen, doch sie gibt eine durchaus plastische Vorstellung davon, wie die erste Dampf­lokomotive, die in Darmstadt gebaut wurde, ausgesehen haben mag. [8]

Annonce der Lokomotive.

Abbildung 10.02: Annonce der Lokomotive in der deutschen Ausgabe des Zollvereins-Katalogs zur Weltausstellung 1862 in London, Seite LXVI. Quelle: Digitalisat der BSB München.

Die im Werbetext genutzte Formulierung „neue bewährte Konstruktion“ läßt darauf schließen, daß wir es bei dieser Abbildung tatsächlich mit der Baulokomotive für Neckarelz zu tun haben. Damit wäre auch der Verwendungs­zweck klar: Erdarbeiten zum Aufschütten von Eisenbahndämmen. Im weiteren Text wird als nützliches Einsatzgebiet der Transport der Kohlewagen aus den Gruben zur nächst gelegenen Eisenbahnstation und der Rangierdienst auf ebendenselben genannt. Hierbei wird es um eine eher allgemein gehaltene Aussage gehandelt haben, die mögliche, andernorts schon praktizierte, Aufgaben benennt. Tatsächlich wird die Maschinenfabrik erst 1865 drei Dampf­lokomotiven mit 707 Millimetern Spurweite dieses „bewährten“ Typs an die Aachen-Höngener Bergwerks-Actien-Gesellschaft liefern. In der Grube Maria ersetzten sie (teilweise) den bislang vorherrschenden Pferdebetrieb. Diese drei Maschinen erhielten die Fabriknummern 5 bis 7. [9]

Ludwig Hunrath und der Eisenbahnbau bei Marktbreit.

1863 lieferte die Maschinenfabrik zwei ihrer 900 mm Lokomotiven mit den Fabriknummern 3 und 4 an den Ingenieur und Bauunter­nehmer Ludwig Hunrath aus Kassel. Als Bestimmungsort wird Marktbreit genannt. Zwischen 1862 und 1864 wurde hier an der Eisenbahn­strecke von Ansbach nach Würzburg gearbeitet; dieser Streckenabschnitt wurde am 1. Juli 1864 dem Verkehr übergeben. Hunrath war sogenannter Accordant (Subunternehmer) für die Bauabschnitte XII. und XIII. mit einer in Mark umgerechneten Auftragssumme von 973.000 Mark. Hier waren mehrere bis zu 21 Meter hohe Eisenbahn­dämme zu errichten. [10]

Die beiden Baulose wurden am 14. Juni (Los XIII) und am 2. August (Los XII) 1862 vergeben. Zumindest bei dem zweiten sogenannten Verakkordierungs­termin war Hunrath persönlich anwesend. Am Tag darauf nämlich wurden er und ein Mann namens Stricker, möglicher­weise sein Bauleiter, im Hotel Russischer Hof in Würzburg geführt; mit dem Vermerk „aus Marktbreit“. [11]

Ausschreibung von Los XII.

Abbildung 10.03: Ausschreibung des Bauloses XII bei Marktbreit. Quelle: Lindauer Tagblatt vom 23. Juli 1862 [online bsb münchen].

Das dreizehnte Baulos befand sich zwischen Obernbreit und Marktbreit und war 16.993 Fuß gleich 4.960 Meter lang. Für die eigentlichen Erdarbeiten waren 211.660 Gulden und 46 Kreuzer veranschlagt, für die Kunstbauten 79.942 Gulden und 33 Kreuzer, für Sicherheits­geländer 628 Gulden und 30 Kreuzer, für die Vollendung der Wegübergänge 6.925 Gulden und 53 Kreuzer, sowie für die Lieferung und Einbettung des Steinmaterials zum Bahnunterbau 12.401 Gulden und 57 Kreuzer. Dier Gesamtanschlag lag somit bei 311.559 Gulden und 39 Kreuzern. Die zu leistende Kaution wurde auf 15.500 Gulden festgesetzt. [12]

Mit den Erdarbeiten konnte bald nach Auftragsvergabe begonnen werden. In der örtlichen Presse scheint es kaum Hinweise auf den Fortschritt der Bauarbeiten gegeben zu haben; die beiden eingesetzten Lokomotiven wurden nirgends erwähnt. Dies muß schon deshalb erstaunen, weil die Nutzung von Bauzug­lokomotiven auf fliegenden Gleisen technisches Neuland war. Doch offensichtlich nahm niemand Kenntnis vom technologischen Wandel auf der Baustelle, zumal auch weiterhin Arbeitspferde verwendet wurden. [13]

Am 19. September 1874 versteigerte Hunrath fünf Arbeitspferde. Am 24. Juli 1875 war ein Termin anberaumt, an dem etwaige Einsprüche gegen die Freigabe der beim Bezirksamt Kitzingen hinterlegten Kautionssumme von 100 Gulden „des früheren Eisenbahnbau-Akkordanten Hunrath zu Obernbreit“ geltend gemacht werden konnten. [14]

Ludwig Hunrath war vermutlich nicht die ganze Bauzeit über vor Ort. Eine Reihe von Aufenthalten im Würzburger Hotel „Russischer Hof“ sind dokumentiert. Bei seinem ersten Würzburger Aufenthalt am 6. März 1862 kehrte er mit seiner Gemahlin noch im „Kronprinzen“ ein und wird als Rentier bezeichnet. Tags zuvor waren die beiden noch in Aschaffenburg, und dort wurde er als Partikulier geführt. Manchmal reiste er allein, manchmal mit mit seiner Ehefrau, manchmal reiste selbige auch alleine, und einmal wird als ihre Begleiterin ihre Mutter (oder auch Schwiegermutter?) erwähnt. Vielleicht hat er im März 1862 vorab die Lage sondieren wollen, denn eine andere Submission stand zu diesem Zeitpunkt nicht an. [15]

Wenn die Angabe von Kosmas Lutz mit einer Akkordsumme von 973.000 Mark zutrifft, dann hätte Ludwig Hunrath bei beiden Losen zusammen etwa 13.000 Gulden weniger als veranschlagt geboten und damit die Lose gewonnen gehabt.

Vermutlich zum 1865 begonnenen Bau der Schwarzwaldbahn im Abschnitt Gengenbach erhielten die bislang noch nicht identifizierten Bauunternehmer Pfeiffer, Fischer & Co. 1865 die Tenderlokomotive mit der Fabriknummer 8. Oberhalb von Gengenbach mußte zur Anlage der Bahntrasse für die Kinzig ein vollkommen neues Bett geschaffen werden. [16]

Wozu die Backsteine?

Für die ersten fünf Jahre lassen sich somit acht wohl grosso modo baugleiche zweiachsige Tender­lokomotiven der Maschinenfabrik nachweisen, von denen fünf, wie in der Annonce zur Weltausstellung 1862 beschrieben, zum „Bau der Eisenbahndämme“ eingesetzt worden sind. Wie lange und wo diese Lokomotiven von den Baufirmen weiter genutzt worden sind, ist unklar, ebenso ihr weiterer Verbleib und der Zeitpunkt ihrer Ausmusterung und Verschrottung. Es gab schon recht früh eine Art Gebrauchtwagenhandel.

Tabelle 10.1: Von der Maschinenfabrik zwischen 1861 und 1865 gelieferte Lokomotiven. [17]
Fabriknr.BaujahrSpurEmpfänger laut LieferlisteIdentifizierter EmpfängerEinsatzzweck
1–21861900F. H. Ehlert, NeckarelzFerdinand Elert, Wehlheiden bei KasselErdarbeiten beim Bau der Badischen Odenwald­bahn bei Neckarelz
3–41863900L. Hunroth, MarktbreitLudwig Hunrath, KasselErdarbeiten beim Bau der Eisenbahn Ansbach – Würzburg bei Marktbreit
5–71865707Aachen-Höngener Bergw.-Ges.Aachen Höngener Bergwerks Actien GesellschaftTransport von Steinkohlen der Grube Maria zur nächsten Bahnstation Stolberg (Rheinischer Bahnhof)
81865900Pfeiffer, Fischer & Co., Gengenbach???Erdarbeiten beim Bau der Schwarzwald­bahn bei Gengenbach

Vom 2. Juni bis zum 2. Juli 1865 wurde in Köln auf dem Flora-Gelände sowie auf daran anschließenden Grundstücken eine landwirt­schaftliche Ausstellung durchgeführt. Die Veranstaltung stand unter der Schirm­herrschaft des preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm. Die Darmstädter Maschinenfabrik war auf dem Stand 54 der ersten Abteilung – landwirt­schaftliche Maschinen und Geräte – zugegen. Sie präsentierte dort eine zehnpferdige Lokomobile, deren Preis mit 1.560 Talern angegeben wurde, eine „kleine Locomotive von 30 Pferdekraft, zum Transport von Kohlenwagen“, zum Preis von 4.800 Talern, und „eine Partie trocken gepresster Backsteine“. Wozu die Backsteine dienen sollten, ist nicht ersichtlich. Für die Lokomobile wurde die Maschinenfabrik mit einer Silber­medaille ausgezeichnet, wohl weniger für die Konstruktion derselben, sondern wegen ihrer Preis­würdigkeit. Was wie eine Tautologie klingt, meint wohl ein besonders preis­günstiges Exemplar. [17]

Ansichtskarte.

Abbildung 10.04: Ansichtskarte mit einem Motiv der Flora in Köln. Weder Verlag noch Erscheinungsjahr sind angegeben.

Während bei der Londoner Welt­ausstellung als Einsatzzweck der kleinen Tender­lokomotiven zunächst der Bau von Eisenbahn­dämmen genannt wurde, wird bei dem hier ausgestellten Exemplar ausdrücklich auf den Transport von Kohlewagen verwiesen. Nun hatte just 1865 die Aachen-Höngener Bergwerks-Aktien-Gesellschaft drei Maschinchen dieses Typs bestellt und/oder erhalten. Denkbar wäre nun, daß die Maschinenfabrik gezielt nach Köln gereist ist, um den Zechen­betreibern ihr Schmuckstück vorzuführen. Die Kohle­abbaugebiete des Aachener Reviers und an der Ruhr lagen ja in der Nähe – und die Bergwerks­gesellschaft aus Aachen biß an. Denn auch die Aachen-Höngener Bergwerks-Aktien-Gesellschaft war mit einem Stand auf der Kölner Ausstellung vertreten, ebenso wird im Katalog C. Vering aus Herborn in Nassau genannt, der seinen Dachschiefer vorstellte und vermarktete. Alternativ könnte es auch so gewesen sein, daß eine der für die Grube Maria bestimmten Lokomotiven einen Zwischenhalt auf dem Ausstellungs­gelände eingelegt hat. Wie auch immer – danach gab es für das Darmstädter Unternehmen neue Aufträge. [18]

Die Anschlußbahn zur Grube Maria.

I. (1864)
„Auf den zweckmässigsten Ausbau der bis jetzt mit Pferden betriebenen kleinspurigen Eisenbahn nach Stolberg sind grosse Kosten verwendet, und hofft man sowohl diese Bahn, sowie andere in die übrigen industriellen Gegenden des Bezirks führende Bahnen später mit kleinen Lokomotiven betreiben zu können. Es hat sich im verflossenen Jahre eine Actien-Gesellschaft unter dem Namen Aachen-Höngener Actien-Gesellschaft gebildet, welche die Grube zu übernehmen beabsichtigt, um die Exploitation derselben mit verstärkten finanziellen Mitteln zu betreiben. Die landes­herrliche Genehmigung dieser Gesellschaft ist bereits erfolgt.“

II. (1865)
„Von der Verwaltung der Rheinischen Eisenbahn werden die Vorarbeiten zu zwei von der Station Stolberg ausgehenden Locomotiv-Zweigbahnen ausgeführt. […] Die andere, vorläufig nur für den Kohlen­transport in Aussicht genommene Bahnstrecke wird eine Länge von ca. 1 ¾ Meilen erhalten und die bei Alsdorf und Höngen gelegenen Kohlengruben Maria und Anna, welche jetzt ihre Producte vermittelst einer schmalspurigen Pferdebahn nach Station Stolberg befördern, mit dieser Station direct verbinden. Da die Förderung der genannten beiden Gruben allein auf 20.000 Ctr. = 200 Wagenladungen à 100 Ctr. pro Tag veranschlagt ist, und weitere Anschlüsse der in der Nähe gelegenen Kohlengruben in Aussicht stehen, so ist auch bei diesem Unternehmen ein Ertrag sicher zu erwarten.“

III. (1865)
„Der Staats-Anzeiger vom 5. Febr[uar] publicirt den Allerhöchsten Erlass vom 23. Jan[uar] 1865 – betreffend die Genehmigung zur Anlage einer schmalspurigen, ausschliesslich für den Güterverkehr bestimmten Locomotivbahn zwischen der Steinkohlen­zeche Maria bei Hoengen im Landkreise Aachen und der Station Stolberg der Rheinischen Eisenbahn.“

IV. (1865)
„Mit dem Umbau der bisherigen Pferdebahn von der Grube Maria nach der Station Stolberg in eine kleinspurige Locomotivbahn ist man kräftig vorangeschritten, auch hat man die Zweigbahn von Märzbrück nach Röhe bereits seit einigen Monaten dem Betriebe übergeben können.“

V. (1867)
„Die Verhandlungen über den Bau einer Locomotivbahn vom Stolberger Bahnhof nach Alsdorf haben zu einer Vereinbarung zwischen der Rheinischen Eisenbahn­gesellschaft und dem Eschweiler Bergwerks­verein geführt, nach welcher erstere die Bahn baut und betreibt, letztere eine bestimmte Einnahme aus dem Transport von Bergwerks­producten garantirt. Der Ausführung steht nichts entgegen, als eine aus früherer Ertheilung der Concession einer schmalspurigen Locomotivbahn von der Grube Maria nach Stolberg hergeleitete Concurrenz, die aber hoffentlich bald beseitigt werden wird. Abgesehen von den gemeinschaftlichen Interessen der Gruben, sprechen die allgemeinen Interessen der Gegend, namentlich Stolbergs, für die Ausführung einer gleichzeitig zum Personenverkehr dienenden Bahn, die bei ihrer beabsichtigten Fortsetzung von Alsdorf nach Herzogenrath oder Geilenkirchen eine directe Verbindung Stolbergs mit der an der Aachen – Düsseldorfer Bahn gelegenen Gegend vermitteln würde. Die Wichtigkeit einer solchen Bahn liegt zu offen vor, als dass sie verkannt werden könnte und die Ertheilung der Concession nicht mit Sicherheit in nächster Zeit sollte erwartet werden dürfen.“

VI. (1868)
„Der wegen der Intervention der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft längere Zeit in der Ausführung aufgehaltene Bau der schmalspurigen Locomotivbahn von der Grube Maria nach Stolberg, ist, nach Ablehnung der Seitens der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft aufgestellten unannehmbaren Bedingungen für den Anschluss an eine grossspurige Locomotivbahn nunmehr Seitens des Herrn Handelsminister, genehmigt, und wird die gedachte schmalspurige Locomotivbahn demnach sofort ausgebaut werden.“

VII. (1869)
„Die Schächte vom Centrum versehen die hiesigen Etablissements. Eine Ausnahme hiervon macht nur Phönix, welcher von Grube Maria der Aachen-Höngener Bergwerks-Actien­gesellschaft bezieht. Letztere Gesellschaft hat vor Kurzem eine Pferdebahn nach der Aue gelegt und schon in Betrieb gesetzt, nur zum Zwecke der Kohlenversorgung von Phönix.“

VIII. (1869)
„Die concessionirte schmalspurige Locomotivbahn von der Grube Maria nach Stolberg ist, nachdem die wiederholt versuchte Einigung mit der Rheinischen Eisenbahn-Gesellschaft für den Bau einer grossspurigen Bahn an den unannhembaren Bedingungen dieser Gesellschaft gescheitert war, in Ausbau genommen. Das in gleicher Spurweite liegende ausgedehnte Netz der Pferde­eisenbahnen hat durch den Bau einer Bahn vom Dorfe Röhe nach dem Etablissement Eschweiler-Aue der Gesellschaften Phönix eine wichtige Erweiterung erhalten.“

IX. (1870)
„Am 19. April hat die Abnahme der von der Aachen-Höngener Bergwerks-Actien-Gesellschaft gebauten schmalspurigen Locomotivbahn von Grube Maria bis Märzbrück durch das Kgl. Eisenbahn-Commissariat und die Kgl. Regierung stattgefunden. Die Eröffnung des Betriebes erfolgte am 27. Apirl. Die gedachte Bahn ist ein Theil, ca. die Hälfte der von der Grube Maria bei Höngen nach Stolberg führenden, durch Cabintes-Ordre vom 23. Januar 1865 concessionirten ca. 1½ Meilen langen, schmalspzrigen Locomotivbahn, welche in einer Länge von ca. 1400 Ruthen zunächst bis Station ‚Märzbrück‘ ausgebaut wurde, weil von dieser Station eine nach den Eschweiler Hüttenwerken Phönix und Eberh. Hösch & Söhne führende Pferdebahn sich abzweigt.“

X. (1870)
„Nachdem mit Beginn des Jahres 1869 die Fortsetzung der Pferdebahn der Grube Maria vom Dorfe Röhe nach der Eschweiler-Aue dem Betrieb übergeben war, ist der Ausbau der concessionirten schmalspurigen Locomotivbahn von der Grube Maria nach Stolberg in Angriff genommen und die Hälfte der Strecke bis zur Station und Niederlage Märzbrück mit Schluss des Jahres ziemlich vollendet. Die Transport-Verhältnisse der Grube erfahren hiernach pro 1870 bereits eine weitere Erleichterung, und wird die Durchführung der ganzen Strecke bis Stolberg die Prosperität der Grube weiter erhöhen und sicherstellen.“

Quelle: Der Berggeist. Zeitung für Berg-, Hüttenwesen und Industrie, verschiedene Ausgaben 1864 bis 1870 [19].

Anschlußbahnen.

Abbildung 10.05: Aufstellung der Industrie­bahnen, die Anschluß an die Rheinische Eisenbahn zwischen Köln und Herbesthal besitzen. Quelle: Zeitschrift des Vereins Deutscher Eisenbahn-Verwaltungen, Nº. 5 vom 2. Februar 1867, Seite 56 [online bsb münchen].

Ein treuer Kunde

Von 1866 bis 1880 bezog das Bauunternehmen C. Vering insgesamt sechzehn Exemplare der Darmstädter Tender­lokomotiven. Da das Bauunternehmen in einer Vielzahl von Projekten engagiert war, läßt sich eine Zuordnung, wozu eine bestimmte Lokomotive erworben wurde, nur annäherungsweise vornehmen. Bei allen Lokomotiven handelt es sich um zweifach gekuppelte Tender­lokomotiven; inwieweit diese im Laufe der Zeit baulich modifiziert wurden, läßt sich mangels vorhandener Unterlagen oder Aufnahmen nicht sagen.

Tabelle 10.2: Von der Maschinenfabrik zwischen 1861 und 1880 an Vering gelieferte Lokomotiven.
Fabriknr.BaujahrSpurEmpfänger laut LieferlisteBemerkung
91866900C. Vering, Bremenwohl Bremen < Barmen
11 und 121866900C. Vering, Bremenwohl Bremen < Barmen
131869900Varnholt & Vering, Bremenwohl Bremen < Barmen
23 bis 251871900Varnholt & Vering, Osnabrück 
29 bis 311872900Varnholt & Vering, Bremen 
411873900Varnholt & Vering, Bremen 
53 und 54 1875900C. Vering, BremenIn der Fachliteratur wird hier auch die Lokomotive 52 aufgeführt; die Schmeiser-Liste hingegen kennt keine Fabriknummer 52!
77 und 791876900C. Vering, Bremen 
1081880900C. Vering, HannoverErwerb aus der Liquidations­masse?

Schon bevor das Partnerunternehmen Varnholt und Vering sich beim Bau der Venlo-Hamburger Bahn engagierte, hatten Carl und sein Vater Hermann Vering für die Cöln-Mindener Eisenbahn gearbeitet.

Die Verings.

Für den Bau der Cöln-Mindener Eisenbahn lieferte Vater Vehring Sand, Steine und Wasserkalk für den Bau der Lippebrücke bei Hamm und der Wersebrücke bei Ahlen. Im Haus Seppenhagen bei Ahlen wurden seine beiden Söhne Carl 1834 und Hermann 1846 geboren. Als die Cöln-Mindener Eisenbahn Ende der 1850er Jahre ihre Eisenbahn­strecke von Deutz über Betzdorf und Dillenburg nach Gießen, mit einem Abzweig nach Siegen, baute, wollte sie damit die Erzgruben im Siegerland erschließen. Der Vater schickte seinen Sohn Carl 1855 nach Ballersbach bei Herborn [20], der von dort Wasserkalk an die Baustellen liefern sollte und später den Transport von Schienen und Schwellen organisierte. Damit waren die Verings bei der Eisenbahn­gesellschaft gut eingeführt. Dies machte sich bezahlt, als die Cöln-Mindener Eisenbahn den Zuschlag für den Bau der Venlo-Hamburger Eisenbahn erhielt. Inzwischen war Carl Vering 1867 nach Rittershausen bei Barmen gezogen und tat sich mit A. H. Varnholt, den das Elberfelder Adreßbuch als „Fuhrunternehmer und Güterbestätter“ führte [21], zusammen. Als Varnholt und Vehring sollten sie die Erdarbeiten für fast die gesamten Baulose zugesprochen bekommen, nebst der Errichtung von Brücken und Durchlässen, insbesondere bei Bremen.

Der jüngste Bruder Hermann Vering stieß 1869 zum Unternehmen seines Bruders und führte die Baustelle bei Ostercappen nördlich von Osnabrück. Er zog begeistert in den Deutsch-Französischen Krieg und verlegte anschließend seinen Hauptsitz nach Oberneuland bei Bremen.

Mit der Eröffnung der Gesamtstrecke 1874 endete die Partnerschaft und Carl Vering operierte unter der Firma C. Vering weiter. Als nächstes größeres Projekt stand der Umbau der westlichen Berliner Verbindungsbahn an, woran sich weitere Aufträge im Berliner Raum anschlossen. Aufträge beim Bau der Sollingbahn oder einer von Insterburg in Ostpreußen nach Süden abzweigenden Neubaustrecke an die russisch-polnische Grenze folgten. Inzwischen war das Unternehmen zu einem der bedeutendsten deutschen Bauunternehmen erwachsen, das nicht nur Eisenbahn­dämme aufschüttete oder Bahnhofsanlagen planierte, sondern auch als eine Art Generalmanager den Bau ganze Eisenbahn­strecken organisierte. Der Fuhr- und Maschinenpark umfaßte nicht mehr nur Schmalspur­lokomotiven, sondern auch selbst­konstruierte Bagger, um den Erdaushub für Bahnbau oder Wasserbauten rationeller gestalten zu können. Ab 1878 hatten die beiden Brüder Carl und Hermann Vering die Arbeitsbereiche so aufgeteilt, daß Carl weiterhin im Eisenbahnbau tätig blieb und später zudem mehrere Kleinbahnen errichten ließ, während Hermann sich auf Fluß-, Kanal- und Hafenbauten spezialisierte.

Weniger von Interesse sei hier das weitere Wirken der Brüder, nachdem die Darmstädter Maschinenfabrik 1879 ihre Liquidation vollführte. Bestimmt war die eine oder andere Maschine aus Darmstadt bei der Umgestaltung der Bahnhofs­anlagen in Frankfurt in den 1880er Jahren beteiligt und möglicher­weise wurden einige davon auch 1899 ins deutsch okkuperte chinesische Tsingtao entsandt, um dort beim groß angelegten Hafenbau mitzuwirken [22]. Carl Vering starb 1897, Hermann 1922.

Quelle: Enno Vering : Bahnen, Häfen und Kanäle. Die Arbeitsgebiete von Carl und Hermann Vering, den Pionieren des Verkehrs­wegebaus im 19. Jahrhundert [1996/1999].

Interessant ist die möglicher­weise aus biografischen Notizen Carl oder Hermann Verings stammende Geschichte über den Erwerb der ersten eigenen Lokomotiven. Interessant auch deswegen, weil sie keinen Niederschlag in der von Bernhard Schmeiser überlieferten Lieferliste der Maschinenfabrik findet.

Varnholt und Vering zwischen Wanne und Hamburg.

I. Enno Vering:

„Hermann Vering machte auch seinen Bruder auf die Vorteile der Anwendung der schmalspurigen Arbeitsbahnen für die Ausführung von Erdarbeiten aufmerksam, weil bei diesen die Gleisanlagen leichter und beweglicher gestaltet werden konnten als beim Normalgleis, das bis dahin vorwiegend verwendet wurde.

Der Ingenieur von Binzer hatte sich in Darmstadt für den Bau der dortigen Bahnanlagen von der Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt zwei Schmalspur­lokomotiven bauen lassen, hatte aber, weil ihm die erforderlichen Mittel fehlten, den Auftrag nicht durchführen können. Deshalb kaufte die Firma Varnholt & Vering von ihm die Lokomotiven mit den dazugehörigen Wagen, schaffte das erforderliche zusätzliche Gleis an und engagierte diesen Herrn von Binzer. Bei Münster wurde dann mit Erfolg die erste Baustelle eingerichtet, der eine zweite bei Dülmen mit sehr weiten Transporten folgte, für die weitere neue Lokomotiven und verbesserte Wagen angeschafft wurden.

Weiter folgte eine sehr schwierige Aufgabe, die Durchgrabung des Höhenrückens bei Ostercappeln in der Nähe von Osnabrück. Schwierig wegen des nassen, zu Rutschungen neigenden Bodens. Weitere neue Lokomotiven wurden beschafft und vollkommenere Wagen gebaut.“ [23]

II. Aus dem Geschäftsbericht der Cöln-Mindener Eisenbahn für 1868:

„Der Bau selbst wurde auf der 9 Meilen langen Strecke von Pluto-Bahnhof bis Münster begonnen, da diese nach den Konzessions-Bedingungen zuerst beendigt werden muß und für sich dem Betriebe übergeben werden soll. Es war ein glückliches Zusammentreffen, daß auf denjenigen 3 Baustellen bei Recklinghausen, Dülmen und Münster, wo die größten Erdarbeiten auszuführen sind, der Angriff des Baues von den Grundeigenthümern freiwillig gestattet wurde, bevor die Verhandlungen über den Ankauf der Grundstücke schon zum Abschlusse gekommen waren. Diese freiwillige Ueberweisung der Grundstücke stellte sich später um so werthvoller heraus, als die Verhandlungen über den Ankauf des Grund und Bodens auf einem großen Theile der Strecke viele Schwierigkeiten fanden, so daß wir trotz der vielfach angewendeten Abschätzung im Expropriationswege noch immer nicht im Besitze der sämmtlichen für die Strecke Pluto-Bahnhof – Münster erforderlichen Grundstücke sind. Es fehlen indeß gegenwärtig nur noch geringe Flächen in den Sektionen XIII, XIV und XVIII, deren Ueberweisung in naher Aussicht steht.

Die Erdarbeiten wurden in Sektion XVIII im Einschnitte bei Münster am 4. März, in Sektion III im großen Einschnitte bei Recklinghausen am 9. März und am großen Einschnitte bei Dülmen im April 1868 in Angriff genommen und an diesen sämmtlichen Baustellen, nachdem die Erdförderung aus den Einschnitten auf eine angemessene Entfernung vorgerückt war, thunlichst bald ein Betrieb mit Lokomotiven eingeführt, deren Zahl von anfänglich 3 nach und nach auf 7 vermehrt worden ist.

Mit dem Fortschreiten der Grunderwerbung wurden im Laufe des Jahres 1868 die Erdarbeiten nach und nach auch auf die übrigen Strecken ausgedehnt und sind gegenwärtig etwas über 5 Meilen des Planums beendigt. Die noch rückständigen Erdarbeiten, namentlich an den zuletzt fertig werdenden großen Arbeitsstellen bei Recklinghausen und Dülmen, sind so disponirt, daß dieselben Ende August d. J. [gemeint ist 1869, WK] beendigt sein sollen.“ [24]

Aus dem Geschäftsbericht der Cöln-Mindener Eisenbahn für 1868 und den Angaben von Enno Vering läßt sich sicher der Einsatz der drei 1866 bestellten und/oder gelieferten Lokomotiven 9, 11 und 12 bei Münster und Dülmen annehmen. Woher die weiteren vier Lokomotiven, die bis Abfassung des Geschäfts­berichtes 1869 zusätzlich hinzugekommen sein mögen, stammten, ist nicht klar, jedenfalls scheiden „die üblichen Verdächtigen“ – Krauss, Hagans und die Maschinenbau­gesellschaft Heilbronn – als Lieferanten aus [25]. Andererseits lieferte die Maschinenfabrik 1869 vier weitere Lokomotiven aus, deren Verwendung noch ungeklärt ist, nämlich je zwei an Schönemann & Friebel in Ahrbergen und an Heinrich Beverunge in Solingen.

Daß der Eintrag in den Lieferbüchern der Darmstädter Maschinenfabrik für die drei ersten Vering'schen Lokomotiven „C. Vering, Bremen“ gelautet hat, darf bezweifelt werden. 1866 lebte Carl Vering noch im beschaulichen Westerwald und dachte nicht daran, nach Bremen überzusiedeln. Dies geschah erst fünf Jahre später. Vermutlich wurde der Ort, weil er zur späteren Lieferadressse passen sollte, falsch abgeschrieben und dürfte „Barmen“ gelautet haben. Dasselbe dürfte für die Lokomotive 13 gelten, die an Varnholt und Vehring nach Bremen gegangen sein soll. Hier ergibt die von Enno Vering erzählte Geschichte mit dem Ingenieur von Binzer ihren Sinn. Selbiger wird 1866 für ein noch unbekanntes Bauvorhaben zwei Lokomotiven bei der Darmstädter Maschinenfabrik in Auftrag gegeben haben, konnte die Rechnung jedoch nicht begleichen. Als Carl Vering mit seinem Kompagnon 1868 mehrere Baulokomotiven für die Venlo-Hamburger Bahn benötigte, kauften sie den Ingenieur samt Maschinenpark ein.

Der Bauunternehmer Friedrich von Binzer aus Öhringen erhielt 1861 die beiden ersten von der Maschinenbau-Gesellschaft in Heilbronn hergestellten Lokomotiven. Es handelte sich, wie bei der im selben Jahr als Erstling von der Darmstädter Maschinenfabrik gebauten Lokomotive, um Zweikuppler, aber mit einer Spurweite von 700 mm. Von Binzer nannte sie „Öhringen“ und „Zech“ und nutzte sie für Erdarbeiten beim Bau der Eisenbahn von Heilbronn nach Crailsheim im Öhringer Abschnitt. Weitere Einzelheiten zum Unternehmen scheinen nicht bekannt zu sein. [26]

Wenn schon die Angabe der überlieferten Lieferliste in Bezug auf Vering nicht ganz stimmig ist, so ist nicht auszuschließen, daß dies auch bei anderen Empfängern Darmstädter Lokomotiven der Fall ist. Zu den Angaben der Baujahre in den Lieferlisten bemerkt Werner Willhaus an anderer Stelle:

„Wie auch bei vielen anderen Lokomotiv-Herstellern kommt es in solchen Auflistungen zu Unschärfen von plus/minus eins, in Ausbahmefällen sogar von plus 2 in der Angabe des Baujahres. Dies ist darauf zurückzuführen, daß auf den an der Lok angebrachten Schildern meist das Fertigungsjahr angeschrieben ist, in den Betriebsbüchern und Firmen­unterlagen aber in der Regel das Ausliefer- oder Übernahmedatum herangezogen wird.“ [27]

Verkaufsannonce.
Abbildung 10.06: Annonce zum Verkauf von Trans­port­wagen. Quelle: Der Berggeist vom 11. Oktober 1870 [online bsb münchen].

Deswegen dürfte es auch müßig sein, Angaben aus den Geschäftsberichten der Maschinenfabrik über die im entsprechenden Geschäftsjahr (Juli des Vorjahres bis Juni des laufenden Jahres) produzierten Lokomotiven mit den von Bernhard Schmeiser zusammen­getragenen Lokomotivlisten abzugleichen.

1870 oder 1871 war Carl Vering nach Bremen übergesiedelt, sein Bruder Hermann kam im Juli aus dem Krieg zurück nach Ostercappeln und ging von dort nach Hemelingen. Es wurden nunmehr von dort aus die Arbeiten an der Güterumfahrung Bremen begonnen. Die Sanddünen von Hemelingen wurden als Baumaterial am Bremer Bahnhof verwendet. Danach wurde der Baubetrieb am 14. Februar 1872 nach Oberneuland verlegt.

„Hermann Vering hatte für sich auf dem zukünftigen Bahnhof Oberneuland ein schmuckes kleines Haus mit Büro und Wohnung gebaut, in das er am 18. Februar 1873 zog. Zu beiden Seiten Werkstätten, Lokomotiv­schuppen und einen Rangier­bahnhof für die Aufstellung aller Züge, die abends leer von Bremen und beladen von Sagehorn kamen.“ [28]

Zeitungsmeldung.
Abbildung 10.07: Meldung im Fürther Tagblatt vom 31. Dezember 1871 zur Explosion [online bsb münchen].

Der Enkel Hermann Verings, Enno Vering († 2013), schreibt, sein Großvater habe großen Wert auf ein gutes Verhältnis zwischen ihm und seinen Beschäftigten gelegt. Er kontrastiert dies sogleich mit der Schilderung einer durch seinen Großvater überlieferten Arbeits­einstellung. Die Bauarbeiter wollten eine Lohnerhöhung haben, was angesichts der damals allgemein gezahlten miserablen Löhne nur allzu verständlich ist. Vering hingegen sagte, er könne ihnen nicht mehr Lohn zahlen (denn wie sonst soll er dann sein gutbürgerliches Leben finanzieren?), aber wenn sie darauf beständen, könnten sie gehen. Das wollten sie jedoch nicht. Ein polnischer Arbeiter drohte Vering mit der Schaufel, worauf Vering ihn einem Gendarmen übergab. Daraufhin ließ Vering seinem Unterpersonal vertraulich mitteilen, wenn auf einem Teil der zu bauenden Strecke gestreikt werde, werde der zuständige Meister entlassen. Wenn ein paternalistischer Chef sich ein gutes Verhältnis zu seinen Untergebenen einredet, kann dies durchaus einhergehen mit rücksichtsloser Ausbeutung der billigen Arbeitskraft. Am 20. Dezember 1871, einem Mittwoch, kam es in einer Werkstatt von Varnholt & Vering in Schwagstorf bei Ostercappeln wohl zu einer Explosion. Mehrere Arbeiter wurden dabei getötet. Aus einer Zeitungs­meldung geht hervor, daß das Unglück an einem Mittwoch geschah, der hier als ein protestantischer Festtag betrachtet wird, an dem Vering seine Arbeiter wie an einem gewöhnlichen Werktag malochen ließ. Daß der örtliche Pfaffe darin ein Werk Gottes sah, ist schon ziemlich seltsam, denn was ist das für ein Gott, der Menschen dafür bestraft, daß sie nicht verhungern wollen? Jedenfalls, ein Kapitalist nimmt auf regionale Spleens und alther­gebrachte Eigenarten keine Rücksicht, gutes Verhältnis hin oder her. [29]

Annonce.
Abbildung 10.08: Auch schon damals dringend gesucht: Lokomotiv­führer für die Baustelle von Hemelingen nach Bremen. Quelle: Bau-Anzeiger Nº. 6 vom 8. Februar 1872 [online bsb münchen].

Der Oberbaurat der Cöln-Mindener Eisenbahn A. Funk verfaßte anläßlich der Wiener Welt­ausstellung 1873 sogenannte „Mittheilungen über den Bau der Venlo-Hamburger Eisenbahn“. Dort geht er auch auf den Einsatz von Baulokomotiven bei den Erdarbeiten entlang der Strecke ein.

„Mit Uebergehung der für Eisenbahn­techniker manches Interessante enthaltenden Details dieses Abschnitts, welcher ausführliche Mittheilungen über die Preise der Erdarbeiten enthält, heben wir nur hervor, dass beim Bau der Bahn eine mit dem Fortschreiten der Bauten stets sich steigernde Anwendung von Locomotiv­transporten gemacht ist, so dass z. B. zuletzt auf der 15 Meilen langen Bahn von Bremen nach Harburg 21 Locomotiven in Thätigkeit waren. Es waren dies durchweg kleine Tender­maschinen von 180 bis 250 Centner Gewicht mit 4 Rädern und 90 Zentimeter Spurweite, meist in der Darmstädter Maschinenfabrik erbaut. Dieselben haben sich weit besser bewährt als grössere Locomotiven mit normaler Spur, welche z. B. in einem Einschnitte bei Wanne verwendet wurden, eine Erfahrung, die auch bei andern Bahnbauten der Neuzeit gemacht ist und die hinlängliche Begründung in der Natur der interimistischen Transport­bahnen, in der Möglichkeit des Befahrens enger Curven, der Anwendung kleiner Seiten­kippwagen von etwa 2,5 Kubikmeter Inhalt und der verhältniss­mässig grossen Leistungs­fähigkeit der mit ihrem ganzen Gewicht auf Adhäsion wirkenden Maschinen mit kleinen gekuppelten Rädern findet. Die Leistungs­fähigkeit der Locomotiven war eine sehr bedeutende, so wurden z. B. von Hemelingen nach Bremen durch 4 Maschinen wöchentlich 10 bis 13.000 Kubikmeter auf 0,8 bis 1 Meile befördert und zwar zu dem auffallend billigen Preise von 11,1 S[ilber]gr[oschen] incl. aller Nebenkosten für Geräthe, Interimsbrücken u. s. w.; gegen den Anschlagspreis von 14,0 Sgr. pro Kubikmeter wurde somit eine namhafte Ersparniss erzielt. Die Erdbewegung in den einzlnen Sectionen zeigt bedeutende Unterschiede und zwar von 35.000 bis 900.000 Kubikmeter (bei Bremen); auf der 4½ Meilen langen Bahnstrecke Tostedt – Harburg waren allein 1¾ Millionen Kubikmeter Erde zu bewegen.“[30]

Nachdem 1874 die Gesamtstrecke der Venlo-Hamburger Vahn eröffnet werden konnte, erhielt Carl Vering einen größeren Auftrag in Berlin, für den er in den kommenden vier Jahren vier Schmalspur­lokomotiven zum Einsatz brachte. Es handelte sich hierbei um den Umbau der westlichen und südlichen Verbindungsbahn zwischen Tempelhof und Moabit, sowie Erdarbeiten für den Bau des Rangier- und Werkstätten­bahnhofs Halensee und des Einschnitts bei Kohlhasenbrück. [31]

Weitere Eisenbahnbauten an der Sollingbahn und in Ostpreußen erforderten den Einsatz schon vorhandener oder neu erworbener Baulokomotiven. 1885 erwirbt C. Vering die 25. Baulokomotive, von Henschel. Von den vierundzwanzig Exemplaren zuvor hatte die Maschinenfabrik Darmstadt – inklusive der beiden ursprünglich durch Friedrich von Binzer georderten Lokomotiven – sechzehn geliefert. Neben einer 1879 gebauten Krauss-Lokomotive – abweichend von allen anderen Exemplaren mit 600 mm Spurweite – bleibt noch die Herkunft von sieben Maschinen zu klären. Möglich ist Folgendes: der Geschäftsbericht der Cöln-Mindener Eisenbahn erwähnt vier weitere Maschinen, die beim Bau zwischen Wanne und Münster zum Einsatz kamen. 1879 werden in Wiesbaden drei Lokomotiven aus der Konkursmasse des Philipp Hummel aus Bauschheim versteigert, davon zwei sehr wahrscheinlich von der Maschinenfabrik Darmstadt gefertigte. Vering könnte sie zusammen mit weiteren 107 Rollwagen recht günstig erworben haben. [32]

Aus den von verschiedenen Stellen ausgestellten Zeugnissen zugunsten der Unternehmen Varnholt & Vering und C. Vering läßt sich die Anzahl der jeweils eingesetzten Lokomotiven für verschiedene Bauprojekte herauslesen. [33]

Somit kann nunmehr vorsichtig auf den Einsatzzweck der einzelnen bei der Maschinenfabrik Darmstadt beschafften Lokomotiven geschlossen werden; wobei zeitgleiche Projekte berücksichtigt werden.

Tabelle 10.3: Eisenbahnbauten, an denen Verings Unternehmen beteiligt waren.
GesellschaftEisenbahnbauBaubeginnEröffnungmögliche passende LokomotivenBemerkung
Cöln-Mindener EisenbahnVenlo-Hamburger Bahn, Abschnitt Wanne bis MünsterMärz bzw. April 18681. Januar 18709, 11 und 12, evtl. auch 13darunter wohl die zwei von Binzer-Loks
Cöln-Mindener EisenbahnVenlo-Hamburger Bahn, Abschnitt Osnabrück bis Bremen1868/69Mai bzw. August 187313 
Cöln-Mindener EisenbahnVenlo-Hamburger Bahn, Güter­umfahrung Bremen1871187423 bis 25 
Cöln-Mindener EisenbahnVenlo-Hamburger Bahn, Güter­umfahrung Bremen1871187429 bis 31 
Cöln-Mindener EisenbahnVenlo-Hamburger Bahn, Güter­umfahrung Bremen1871187441 
 Umbau Berliner Verbindungsbahn1874 53 und 54 
Westfälische EisenbahnSollingbahn1875187853 und 54dort Baulose 10 und 11
 Eisenbahnbauten in Berlin 187877, 79 
Preußische OstbahnStrecke von Insterburg nach Prostken1876187877, 79Baulos 10, wohl bei Goldap
 Umbau Hannover Hauptbahnhof1873/18751879/188377, 79, 108 
 Travekorrektion LübeckMärz 1879Dezember 188177, 79, 108 

Das Ende der 1870er Jahre nunmehr in Hannover ansässige Unternehmen C. Vering mußte aufgrund der Ende 1878 eingeleiteten Liquidation der Darmstädter Maschinenfabrik umdisponieren. Der „Hoflieferant“ fiel aus. Zunächst behalf man sich 1879 damit, eine 600 mm-Lokomotive bei Krauss zu beschaffen, bevor man in den 1880er und 1890er Jahren auf Produkte aus dem Hause Henschel in Kassel zurückgriff. Zunächst wurde 1882 eine normalspurige Lokomotive für Zaandam geordert. Alle nachfolgenden Maschinen besaßen wieder eine Spurweite von 900 mm. Ab 1885 sind auch die von Vering genutzten Lokomotivnummern überliefert; die erste hiervon trägt die Nummer XXV, 1892 war man bei der Nummer 42 angekommen.

Nicht nur Vering sollte wiederholt auf die Baulokomotiven aus Darmstädter Fertigung zurückgreifen; andere Bauunte­rnehmer handelten ähnlich, wenn auch nicht in demselben Umfang.

»»  Die Lokomotiven der Maschinenfabrik und Eisengießerei fanden recht bald als Anwendungs­beispiel Eingang in das renommierte „Handbuch der Ingenieur­wissenschaften“. An ihnen wurde der effektive Erdtransport anhand zweier Baustellen von Carl und Hermann Vering bei Bremen und in Berlin demonstriert. Nachzulesen als Anlage 15 zur Unternehmens­geschichte mit einem Auszug aus dem Aufsatz von Gustav Meyer über Erd- und Felsarbeiten.

Langsam Fahrt aufnehmend

Die Produktionszahlen dieser kleinen Tenderlokomotiven blieben im Jahrzehnt von 1861 bis 1870 überschaubar klein. Erst gegen Ende der 1860er Jahre wird ein Wandel erkennbar. Die sich im Gründerboom ausdrückende Konjunktur scheint dazu geführt zu haben, daß die Verantwortlichen der Maschinenfabrik im gezielten Bau von Lokomotiven ein eigenes lukratives Geschäftsfeld entdeckten. Da der entsprechende Geschäftsbericht des Unternehmens nicht mehr vorhanden ist, muß hier auf die Paraphrase im Rechenschafts­bericht der Großherzoglichen Handelskammer Darmstadt für 1870/71 zurückgegriffen werden.

„Seit wiederhergestelltem Frieden befinden sich sämmtliche dahier bestehenden Maschinenfabriken in vollem Betriebe und sind einige Firmen mit der Ausdehnung ihrer Fabrik-Etablissements beschäfrigt. Die Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt, welche sich seither insbesondere mit dem Bau von Dampfmaschinen, Werkzeug­maschinen sowie Bau und Schmalspur-Locomotiven befaßte, trifft dermalen die entsprechenden Vorrichtungen, um ganz zum Locomotivenbau überzugehen.“ [35]

Die nachfolgende Tabelle legt jedoch nahe, daß nach zwei Jahren, in denen keine einzige Lokomotive ausgeliefert worden war, die Produktion derartiger Maschinen langsam anlief. Für 1871 sind noch drei Lokomotiven vermerkt, dann kam man auf den Geschmack. Für 1872, in der sich überhitzenden Konjunktur des Gründerbooms, sind es jedoch schon dreizehn! Dies mag angesichts der Produktionszahlen anderer Lokomotivfabriken verschwindend wenig sein, für Darmstädter Verhältnisse hingegen ist dies ein gewaltiger Sprung.

Tabelle10.4: Lokomotivproduktion der Maschinenfabrik zwischen 1861 und 1870.
 1861186218631864186518661867186818691870
Gesamt2020440064
1435 mm0000000000
900 mm2020140043
< 900 mm0000300021

Vielleicht lag es daran, daß die Maschinenfabrik zunächst keine Lokomotiven für Eisenbahn­unternehmen auslieferte, daß Edmund Heusinger von Waldegg 1867 im Organ bei seiner Auflistung der deutschen Lokomotiv­fabriken das Darmstädter Unternehmen unerwähnt ließ. Er zählte sechzehn aktive Fabriken auf, mehrere Eisenbahn­werkstätten und vierzehn ehemalige Lokomotiv­fabriken. Die Produktion für schmale Spur scheint dem Herausgeber des Organ nicht relevant erschienen sein, obwohl seit der Annonce von 1862 die Darmstädter Maschinenfabrik als Lokomotivbauer bekannt gewesen sein mußte. [36]

Laut Lieferliste kaufte das Konsortium Schönemann & Friebel aus Ahrbergen zwischen 1866 und 1873 die Lokomotiven Nr. 10 (1866), Nr. 14 (1869), Nr. 26 (1872) und Nr. 40 (1873). Wenn es das Ahrbergen bei Hildesheim ist, läßt sich zumindest kein örtlicher Verwendungs­zweck erkennen. Kosmas Lutz nennt einen Christian Schünemann aus Braunschweig, ohne Partner, als Akkordanten für das Baulos XII. beim Eisenbahnbau von Würzburg nach Nürnberg 1862/64 mit der Einsatzstelle Markt Einersheim. Das Braunschweiger Adreßbuch führt diesen Christian Schünemann jedoch weder 1861, 1863 noch 1865 auf; eventuell meint die Angabe von Braunschweig hier nicht die Stadt, sondern das Herzogtum. Ahrbergen allerdings lag im Königreich Hannover und wurde mitsamt diesem 1866 von Preußen annektiert. – Für 1875 liegt der Hinweis auf ein Unternehmen Schünemann & Triebel aus Witten an der Ruhr vor. [37]

Noch erfolgloser gestaltet sich die Suche nach einem Unternehmen Engel & Plüschke aus Berlin mit den Lokomotiven Nr. 17, Nr. 21 und Nr. 22 (1870). Besser sieht es mit der Identifizierung bei weiteren Kunden der Maschinenfabrik aus.

Nur in wenigen Fällen läßt sich mit Bestimmtheit der Verwendungs­zweck einer neu angekauften Lokomotive aus Darmstadt belegen. In den meisten Fällen kann entweder gut geraten werden oder der Bestimmungszweck bleibt unklar. Möglicher­weise würde eine zielgerichtete Lektüre der Submissionen weiterhelfen, die in der Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahn-Verwaltungen abgedruckt oder zumindest erwähnt werden. Der hiermit verbundene Aufwand ist jedoch derart erheblich, daß ich zum jetzigen Zeitpunkt davon abgesehen habe.

1869 kaufte der Solinger Bauunternehmer Heinrich Beverunge die beiden 900 mm-Lokomotiven mit den Fabriknummern 15 und 16. Der Einsatzzweck ist nicht bekannt. Das Solinger Adreßbuch von 1869 führt Heinrich Beverunge in der Kronenberger­straße 826 auf. [38]

Ebenfalls 1869 lieferte die Maschinenfabrik die Lokomotive Nr. 18 an den Bauunternehmer Konrad Soyer aus Borderburg und seine Partner, nach der Lieferliste an C. Soyer & Co. Als Spurweite ist 686 mm, als Bestimmungsort Ostermünchen, zwischen Grafing und Rosenheim gelegen, angegeben. Beim Bau der Eisenbahnstrecke von Haidhausen (heute: München-Ost) nach Rosenheim hatte Konrad Soyer ohne Partner das Baulos IX. im Sektionsbezirk Rosenheim, mit Partner Bernhard Prinz das Baulos X. und mit einem zusätzlichen Partner Friedrich Wieland das Baulos XI., beide ebenfalls bei Rosenheim, ersteigert. Die Strecke wurde 1871 eröffnet. Konrad Soyer und (vermutlich) seine Brüder Andreas und Daniel waren seit 1851 – mit dem Bau der Eisenbahn von Augsburg nach Lindau – im Geschäft. [39]

Für das Unternehmen Krausgrill & Co. stellten die Arbeiter der Maschinenfabrik und Eisengießerei 1869, 1874 und 1877 drei Baulokomotiven mit zwei gekuppelten Achsen und einer Spurweite von 700 bzw. 900 mm her. Die Lokomotiven mit den Fabriknummern 19 und 49 wurden nach Darmstadt bzw. mit Nr. 88 nach Gießen ausgeliefert. Das Darmstädter Adreßbuch führt das Bauunter­nehmen erstmals 1870, und zwar in der Dieburger­straße 56, auf. Hier liegt ein Einsatz mit dem Bauabschnitt der Odenwaldbahn am Karlshof nahe, nicht weit entfernt von der Dieburger Straße. Mit diesem Bauabschnitt wurde im Februar 1869 begonnen.

„Darmstadt, 2. Febr.  Die nunmehr eingetretene milde Witterung macht es möglich die Arbeiten für die Odenwaldbahn in Angriff zu nehmen und haben gestern mehrere hundert Arbeiter in der Section Karlshof mit den Erdarbeiten begonnen.“ [40]

„Darmstadt, 7. Febr.  Vorgestern haben sämmtliche an der Odenwaldbahn beschäftigte Arbeiter die Arbeit eingestellt, da selbst die fleißigsten höchstens 30 Kreuzer der Tag zu verdienen vermochten. Da nunmehr eine Lohnerhöhung eingetreten ist, so hat der größte Theil wieder die Arbeiten aufgenommen.“ [41]

Die Arbeitsbedingungen beim Eisenbahnbau waren zweifellos schwer und der gezahlte Lohn miserabel. Dies ist sicherlich nicht nur im hessischen Eisenbahnbau so gewesen. Die hier geschilderte Streikepisode ist jedoch insofern bedeutsam, als es sich hierbei vermutlich um den ersten Streik in Darmstadt gehandelt hat, der nach langen Jahren der Reaktion durchgeführt worden war. Die Verabschiedung einer neuen Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 1868 ermöglichte in gewissem Rahmen auch die Koalitions­freiheit für Arbeiterinnen und Arbeiter. Selbst wenn die Gebiete des Großherzogtums Hessen südlich des Mains nicht zum Norddeutschen Bund gehört haben mögen, haben die dort lebenden und arbeitenden Männer, vielleicht auch Frauen, die Zeichen der Zeit erkannt und losgelegt. Bittere Armut, gepaart mit wachsendem Selbst­bewußtsein, führten zu mannigfaltigen und oftmals scheiternden Versuchen, an dieser Lage etwas zu ändern.

1873 scheint der Firmensitz an die Neckarstraße 4 am Westrand der Darmstädter Mollerstadt verlegt worden zu sein, denn im 1874er Adreßbuch wird der Bauunter­nehmer Johann Georg Krausgrill dort verortet. Das 1876er Adreßbuch führt den Namen nicht mehr auf, was plausibel erscheint, wenn die Lieferliste für die dritte Lokomotive als Lieferort Gießen angibt. [42]

1870 erwarb Christian Lothary aus Mainz (1848–1881) die Tender­lokomotive mit der Fabriknummer 20 und der Spurweite von 710 mm. Ein möglicher Verwendungszweck wäre der Einsatz in der Zementfabrik, der Ziegelei und/oder im eigenen Steinbruch in Mainz-Weisenau. Christian Lotharys Vater gleichen Namens war schon gegen Ende der 1840er Jahre als Subunter­nehmer beim Bau der ersten Strecke der Hessischen Ludwigsbahn von Mainz nach Worms tätig. Weitere Engagements sind zwischen 1851 und 1866 beim Eisenbahnbau in Bayern und beim Bau der Pfeiler der Mainzer Südbrücke bekannt. Sofern das familieneigene Bauunternehmen beim Tode des Seniors 1868 im Vordergrund stand, wäre als möglicher Einsatzort auch das zu errichtende Bauplanum der Odenwaldbahn denkbar. [43]

Tabelle10.5: Von der Maschinenfabrik zwischen 1866 und 1870 gelieferte Lokomotiven.
Fabriknr.BaujahrSpurEmpfänger laut LieferlisteIdentifizierter EmpfängerEinsatzzweck
9, 11, 121866900C. VeringC. Vering, BarmenZwei dieser Lokomotiven von Friedrich von Binzer aus Öhringen bestellt und von Varnholt & Vering übernommen. Erdarbeiten zwischen Wanne und Münster, später an weiteren Baustellen der Venlo-Hamburger Bahn
101866900Schönemann & Friebel, Ahrbergen????
131869900Varnholt & Vering, BremenVarnholt & Vering, BarmenErdarbeiten an der Venlo-Hamburger Bahn
141869900Schönemann & Friebel, Ahrbergen????
15–161869900H. Banerunge, SolingenHeinrich Beverunge, Solingen?
17, 21, 221870900Engel & Plüschke, Berlin????
181869686C. Soyer & Co., OstermünchenKonrad (Conrad) Soyer, Border­burg (Vorder­burg), und PartnerErdarbeiten beim Bau der Eisenbahn München – Rosenheim über Grafing
191869700Krausgrill & Co., DarmstadtJohann Georg Krausgrill und mglw. Conrad (Konrad) Koch, Darmstadtmglw. Erdarbeiten beim Bau der Odenwald­bahn
201870710Ch. Luchary, MainzChristian Lothary (jun.), Mainzeigenes Betonwerk, Ziegelei und/oder Steinbruch; oder mglw. Erdarbeiten beim Bau der Odenwald­bahn

Die folgende Tabelle ist erst einmal nicht mehr als ein Versuch, drei ansonsten schwer oder gar nicht faßbare Bauunternehmer zusammenzuführen. Der in der Lieferliste mal als Holmgran, mal als Holmgrau aufgeführte Carl Holmgren ist leidlich identifizierbar; so ist neben seinem Geburtsjahr 1824 bekannt, daß er gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin gelebt hat. Er besaß dort mehrere Häuser bzw. Villen.

Tabelle 10.6: Von der Maschinenfabrik an die Bauunternehmer Engel, Holmgren und Plüschke gelieferte Lokomotiven, sowie selbige an die Marienburg-Mlawkaer Eisenbahn­gesellschaft.
Fabriknr.BaujahrSpurEmpfänger laut LieferlisteIdentifizierter EmpfängerEinsatzzweck
17, 21, 221870900Engel & Plüschke, Berlin????
321872900Engel & Holmgran, Hitzacker???, Carl HolmgrenErdarbeiten beim Bau der Eisenbahn­strecke Wittenberge – Buchholz bei Hitzacker (Elbe) und/oder Elbbrücke bei Dömitz
471874900Holmgran, HitzackerCarl Holmgren aus ???Erdarbeiten beim Bau der Eisenbahn­strecke Wittenberge – Buchholz und/oder Elbbrücke bei Dömitz
55–561874 (1876)1435Marienburg-Mlawa 1-2Marienburg-Mlawkaer Eisenbahn-GesellschaftLokomotiven Nr. 1 und 2
611874900F. Engel, Breslau????
721875900C. Holmgrau, Deutsch EylauCarl Holmgren aus ???Erdarbeiten an der Eisenbahn­strecke von Marienburg nach Mława (?)
781876900C. Holmgrau, Deutsch EylauCarl Holmgren aus ???Erdarbeiten an der Eisenbahn­strecke von Marienburg nach Mława (?)

Carl Holmgren hat in späteren Jahren unter der Firma „Holmgren und Engel“ weitere Feldbahn­lokomotiven beschafft.

Tabelle10.7: Weitere Feldbahn­lokomotiven von Holmgren und Engel. [44]
HerstellerFabriknr.BaujahrTypSpurEinsatz als bzw. in
Krauss21291889B-n2t750Lok Lübeck 8
Krauss21531889B-n2t580Lok Ludwigslust 6
Krauss22851890B-n2t580Lok Ludwigslust 7
Orenstein & Koppel Berlin641894Bt580Lübeck

Während Carl Holmgren seine beiden Baulokomotiven Nr. 72 und Nr. 78 wohl zum Bau der Eisenbahn­strecke von Marienburg nach Mława erworben haben wird, kaufte die 1872 gegründete Marienburg-Mlawkaer Eisenbahn-Gesellschaft ihre ersten beiden normalspurigen Tender­lokomotiven mit den Fabriknummern 55 und 56 ebenfalls in Darmstadt. Ursprünglich waren diese für den Einsatz auf der Dortmund-Gronau-Enscheder Eisenbahn vorgesehen. Der Kontakt von der in Westpreußen angesiedelten Gesellschaft nach Darmstadt dürfte jedoch über die Brüder Hugo und Alfred Lent geknüpft worden sein. Hugo Lent war zeitweise Mitglied des Aufsichtsrats beider Eisenbahn­gesellschaften, während sein jüngerer Bruder, der Eisenbahn-Bauingenieur Alfred Lent beide Strecken projektiert und als Bauleiter fungiert hatte. Jedenfalls vermerkt Bernhard Schmeiser als Anmerkung zu seiner Lieferliste: „Urspr. für Dortmund-Gronau-Enschede best. gewesen (51-52).“ Der Kauf durch die westpreußische Gesellschaft erfolgte erst 1876, als sie auch benötigt wurden. Der erste Streckenabschnitt von Marienburg bis Deutsch Eylau wurde am 1. August 1876 eröffnet, der Gesamtverkehr ins polnische und damals zu Rußland gehörende Mława am 1. September 1877. Die Bahn­gesellschaft besaß 1888 dreiundzwanzig Lokomotiven. [45]

1871 versah die Maschinenfabrik die von der Maschinenbau-Gesellschaft Carlsruhe gelieferte Lokomotive Nr. 5 „Aschaffenburg“ der Frankfurt-Hanauer Eisenbahn-Gesellschaft mit einem neuen Kessel von 8 statt bislang 6 Atmosphären. 1863 hatte die Hessische Ludwigsbahn deren Betriebsführung übernommen und 1872 die Gesellschaft aufgekauft. Im Jahr darauf wurde die Lokomotive als Nr. 125 und dem neuen Namen „Carl IV“ in den Bestand der Hessischen Ludwigsbahn eingereiht. [46]. Doch dies ist eine Geschichte, die zum zweiten Teil über den Lokomotivbau in Darmstadt überleitet.

Eine Versteigerung

Am 16. Juli 1868 wurde auf dem Gelände der Maschinen­fabrik eine Lokomotive versteigert. Die Umstände sind unklar.

Bekanntmachung.
Abbildung 10.09: Bekannt­machung der Verstei­gerung im Darm­städter Frag- und Anzeige­blatt vom 11. Juli 1868 [online ulb darmstadt].

Außer der Tatsache der geplanten Versteigerung werden keine weiteren Daten genannt. Weder ist es sicher, ob es sich um eine kleine Tender­lokomotive der Maschinen­fabrik oder um ein anderes Fabrikat gehandelt hat, noch erfahren wir etwas über die Ausstattung dieser Lokomotive und ihre Spurweite. Letzteres würde uns vielleicht einen Hinweis darauf geben, welche der Lokomotiven zunächst für einen anderen Besteller gebaut und nach­träglich wegen nicht vorhandener Zahlungs­fähigkeit versteigert und von einem anderen, zumindest namentlich bekannten Kunden erworben worden ist. Denkbar wäre es, daß es sich um die Lokomotive Nr. 18 oder 19 gehandelt hat, die von den Bauunter­nehmern Soyer und Krausgrill erworben wurden. Daß diese beiden ihre Lokomotiven gezielt bestellt oder. weil sie gerade angeboten wurde, erworben haben, ist beides möglich.

Am Naenser Tunnel

Die Bauzuglokomotiven, die zu Beginn der 1860er Jahre angefertigt wurden, waren Einzelstücke. Sie wurden gebaut, wenn ein Kunde eine ganz spezielle Dampfmaschine in Auftrag gab. Dampfmaschine, Lokomobile, Lokomotive – an eine Serienfertigung im Kleinlokbereich dachte damals noch niemand. Die Maschinenfabriken in Darmstadt und Heilbronn waren hier so etwas wie Pioniere, aber offensichtlich gab es auch andernorts Einzel­anfertigungen. Eine derartige kleine Tender­lokomotive muß 1861 oder 1862 für den Bau der Strecke der Braunschweigischen Staats­eisenbahn von Holzminden nach Kreiensen hergestellt worden sein. Denn nachdem ihr Einsatz beendet war, wurde sie zum Verkauf angeboten.

Verkaufsannonce.

Abbildung 10.10: Verkauf von Tunnel­geräthschaften durch die Herzoglich Braun­schweigisch-Lüne­burgische Eisenbahn- und Postdirection vom 29. Oktober 1864. Quelle: Zeitung des Vereins deutscher Eisenbahn­verwaltungen, Nº. 46 vom 12. November 1864 [online bsb münchen].

Hier ist die Position 18 interessant. Angeboten wird eine kleine Tender­lokomotive mit einer Spurweite von 24,8 englischen Zoll. Dies entspricht 629 oder 630 Millimetern. Weder die Merte-CD mit den Lieferlisten deutscher Hersteller noch die Spurweiten­übersicht auf der Webseite der DGEG verweisen auf eine in Frage kommende Lokomotive. Grob läßt sich sagen, daß eine Spurweite von 627 mm bei Grubenbahnen in Westfalen und eine Spurweite von 628 bzw. 629 mm bei Grubenbahnen in Mittel­deutschland und Oberschlesien anzutreffen waren. Es ist demnach nicht auszuschließen, daß sich die Spurweite dieser Tender­lokomotive, die offensichtlich beim Tunnelbau Anwendung gefunden hat, daran orientiert hat.

Die Braunschweigische Staatseisenbahn ließ das Teilstück einer durchgehenden Verbindung von Westfalen nach Mittel­deutschland in den Jahren 1861 bis 1865 erbauen. Um Hannoversches Gebiet zu umgehen, mußten zwei Tunnel angelegt werden, nämlich der Naenser mit 884 Metern und der Ippenser Tunnel mit 205 Metern Länge. Zwar wird die Lokomotive aufgrund ihrer Rauch­entwicklung nicht innerhalb der noch durchzugrabenden Tunnel eingesetzt worden sein, aber ein Einsatz beim Erdverschub und Material­transport ist naheliegend. Franz von Ržiha, der den Tunnelbau leitete und dort erstmals die innovative Technik von Stahlstützen statt Holzbalken­konstruktionen anwendete, erwähnt in seinem Lehrbuch zum Tunnelbau, das sich auch mit den Erfahrungen beim Bau des Naenser Tunnels befaßte, eine solche Lokomotive jedoch nicht.

Schacht- und Maschinenanlage beim Naenser Tunnel.

Abbildung 10.11: Schacht- und Maschinen­anlage beim Naenser Tunnel. Quelle: Franz von Ržiha, Lehrbuch der gesammten Tunnel­baukunst, Seite 336 [1864, online bsb münchen].

Franz von Ržiha bemerkt allerdings an anderer Stelle:

„Bei Tunnelbauten empfiehlt sich die Anwendung der Locomobile dort, wo Schächte abzuteufen und kleine Strecken (Richtungsstollen) zu treiben sind; wo ein Kessel für eine Wasserhaltungs­maschine noch nicht existirt, wo also der Dampfhaspel in den Hintergrund tritt, und ferner dort, wo es sich überhaupt um eine provisorische Förderanlage handelt. Letzteres tritt z. B. im Tunnelbaue ein, wenn man mit dem Angriffe eines Tunnelendes nicht warten kann, bis der davor liegende Einschnitt vollendet ist, wenn man also nahe an der Grenze zwischen Tunnel und Einschnitt einen kleinen Schacht etablirt, und wenn bei solchen Dispositionen Verhältnisse vorliegen, welche die Benutzung der Dampfkraft, jener von Pferdegöpeln den Vorrang einräumen, Verhältnisse, die weitaus den Charakter der Allgemeinheit haben.

In der Regel sind die Bahnverwaltungen in der Lage zu provisorischen Förderungs­anlagen Locomotiven umbauen lassen zu können. Es wird also in den Fällen, wo die Zulassung einer Locomobile überhaupt gerechtfertigt ist, in Erwägung zu ziehen sein, in wie fern sich die Herleihung einer Locomotive hinsichtlich des Kostenpunktes und der nöthigen Stärke rentirt.“ [47]

Auf Situationsplänen zum Naenser Tunnelbau ist eine Interimsbahn zu den Steinbrüchen eingetragen. Ob der darauf vollzogene Transport mit Pferden oder eben besagter Lokomotive erfolgt ist, ist daraus zwar nicht ersichtlich; aber es ist ein Hinweis auf den Einsatzzweck der kleinen Tender­lokomotive.

Interimsbahn beim Naenser Tunnel.

Abbildung 10.12: Interimsbahn von den Steinbrüchen zum ehemaligen Hauptschacht zum Tunnelbau bei Naensen. Ausschnitt aus dem Situationsplan. Quelle: NLA WO K 1427 [online].

Franz von Ržiha und die Braunschweiger Staats­eisenbahn gingen hier jedoch einen anderen Weg. Anstatt eine vorhandene Lokomotive an die Bedürfnisse einer Tunnel­baustelle anzupassen, kauften sie bei der Maschinenbau-Gesellschaft Karlsruhe eine kleine Tender­lokomotive. Dies ist umso bemerkenswerter, als 1861/62 in Deutschland überhaupt erstmals derartige Baulokomotiven beim Eisenbahnbau zum Einsatz kamen.

An der Suche nach der Tenderlokomotive und den Gegebenheiten ihres Einsatzes waren dankenswerter­weise Christopher Wulfgramm, Matthias Lentz und Matthias Seeliger (Stadtarchiv Holzminden) beteiligt. Siehe hierzu den Diskussionsfaden bei Drehscheibe Online zu der Verkaufsannonce in der Zeitschrift des Vereins Deutscher Eisenbahn­verwaltungen[48]

Die von Jens Merte publizierte und ergänzte Lieferliste der Karlsruher Lokomotivfabrik führt bis zur Fabriknummer 167 durchweg normal- oder breitspurige Personen- oder Güterzuglokomotiven auf, auf die drei kryptische Einträge folgen. Anschließend geht es ab Nummer 171 mit normalspurigen Lokomotiven weiter. Die Merte-Liste sieht für die Lokomotiven 167 bis 171 folgende Einträge vor:

Tabelle 10.8: Lokomotiven Karlsruhe 167 bis 171.
Fabriknr.BaujahrTypBauartSpurweitegeliefertEmpfänger/Verbleib
1671862 1Bn21435neuTaunus Eisenbahn "GUTENBERG 6" "3" / 1872 Nassauische Eisenbahn "53" / 1880 KED Frankfurt "16" / 1889 a
1681862 .n2? smneuGroßhzgl. Badische Bauinspektion Gengenbach, für den Bau der Schwarzwaldbahn
1691862 .n2? smneuGroßhzgl. Badische Bauinspektion Gengenbach, für den Bau der Schwarzwaldbahn
1701862 .n21435neuBahn- und Postdirektion Braunschweig
1711862bad. VII bCn21435neuBadische Staatsbahn "ZWINGENBERG 133" / 1885/86 a

Die drei Lokomotiven 168 bis 170 fallen aus der Reihe, weil die überlieferten Angaben unvollständig oder fraglich sind. Die beiden Bauzug­lokomotiven für Gengenbach sind leicht erklärlich; es wird sich wohl um B-n2t-Lokomotiven gehandelt haben, wie sie mit den 1860er Jahren für derartige Bauzwecke üblich geworden waren. Die Spurweite muß vorerst offen bleiben. Auch die Darmstädter Maschinenfabrik hatte ja 1865 eine derartige Lokomotive mit der Spurweite von 900 mm an eine private Bauunter­nehmung nach Gengenbach geliefert. Damit liegt aber auch nahe, daß die für Braunschweig gefertigte Lokomotive ähnliche Konstruktions­merkmale aufgewiesen haben dürfte. Und so war es auch. Die Angabe von 1435 mm Spurweite ist wohl irrtümlich in die Lieferliste geraten. Es ist kaum anzunehmen, daß zunächst eine normalspurige Lokomotive gebaut und anschließend derart „verkleinert“ worden ist.

Franz von Ržiha erwähnt im März 1862 eine Interims-Lokomotive, deren Ankunft noch „abgewartet werden möchte“, und an anderer Stelle wird sie als „CARLSRUHE“ bezeichnet. Wir können demnach berechtigt davon ausgehen, daß es sich um die Lokomotive mit der Fabriknummer 170 handelt. Die Spurweite läßt sich durch die vorhandenen und neue noch bei der Zorger Hütte zu beschaffende Förderhunde erklären; sie war demnach vorgegeben. [49]

Bevor die Lokomotive am Naenser Tunnel eingetroffen ist, müssen schon Gleise verlegt und der Transport per Pferd bewältigt worden sein. Aus dem Dolomit-Steinbruch bei Erzhausen am Selter sollten 500.000 Kubikfuß Quadersteine für die Vermauerung von Einschnitten und Tunnel, sowie Brücken gebrochen werden. Hierzu wurde schon im Herbst 1861 ein Fördergleis gelegt, auf dem Ende Oktober 1861 schon „ziemlich lebhafter Betrieb“ herrschte. Zu diesem Zeitpunkt waren die Verhandlungen mit den Grundbesitzern noch nicht abgeschlossen. Im Januar 1862 lagen für die „Erzhausener Interimsbahn“ nicht nur rund 2.443 Meter Gleis vom Steinbruch bis zum östlichen Tunnelmund, sondern weitere 2.059 Meter Gleis für den Abzweig zum Tunnelschacht, womit wohl die in Abbildung 10.12 erkenntliche Interimsbahn gemeint sein dürfte.

Weil am 4. Dezember 1862 der Schlußstein gesetzt werden sollte, wurde die Lokomotive nicht länger benötigt. Sie wurde nicht für weitere Bauvorhaben eingelagert, sondern wie manch anderes Tunnelbau­material zum Verkauf ausgeschrieben und (wohl 1865) von einem S. Cohn jun. in Berlin erworben. Vermutlich werden wir nie erfahren, wie diese Lokomotive ausgesehen hat. Aber es gibt einen Hinweis darauf, wo sie die Nächte verbracht hat und wo sie repariert worden ist. Franz von Ržiha hatte sein Baubüro für den Bau des Naenser Tunnels im nahe gelegenen Greene; genau dort fertigte er auch die nachfolgende Zeichnung an.

Lokomotivschuppen.

Abbildung 10.13: Maschinenhaus für die kleine Selter-Locomotive, Zeichnung von Franz von Ržiha, 16. Mai 1862. Quelle: NLA WO K 3041 [online].

Bemerkenswert an diesem Gebäude ist, daß man selbst bei einem Provisorium eine ästhetisch ansprechende Gestaltung wählte. Eine Selter-Lokomotive, wie sie dort heißt, ist nicht etwa ein mit Mineralwasser betriebenes Gefährt; vielmehr heißt der benachbarte Höhenzug Selter. Vielleicht ist der Schuppen nach dem Tunnelbau zerlegt und an anderer Stelle wieder aufgebaut worden; so wie es beispielsweise die Hessische Ludwigsbahn mit dem provisorischen Stations­gebäude von Wolfskehlen 1873/74 gemacht hat, das anschließend in Klein-Gerau hingestellt wurde [50]. Auch hierauf gibt es einen Hinweis, nämlich einen Schriftwechsel Ržihas mit einem Interessenten vom August 1865.

Wir können demnach nunmehr für die Lokomotive Karlsruhe 170 folgendes eintragen:

Tabelle 10.9: Angaben zur Lokomotive Karlsruhe 170.
Fabriknr.BaujahrTypBauartSpurweitegeliefertEmpfänger/Verbleib
1701862 Bn2t630neuBahn- und Postdirektion Braunschweig, 1865 an S. Cohn jun., Berlin, Neue Friedrichs­straße 22 [51]

Die Geschichte der Maschinenfabrik und Eisengießerei wird fortgesetzt in Kapitel 11 in den schwierigen 1860er Jahren und dem sich daran anschließenden Gründerboom bis 1873. Darin ersucht das Unternehmen um Anmeldungen zur Vorführung der eigenen Dreschmaschine.

Quellen- und Literaturverzeichnis.


Anmerkungen

Mittels eines Klicks auf die Nummer der jeweiligen Anmerkung geht es zur Textpassage zurück, von der aus zu den Anmerkungen verlinkt wurde.


 
 
 
Valid HTML 4.01 Transitional  Valid CSS!