Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt
Karte zu den Industriegleisen im Nordwesten Darmstadts
Mit einigen inhaltlichen Ergänzungen
1872 wurde in der damaligen Blumenthalstraße, der heutigen Kasinostraße, ein erstes Industriestammgleis gelegt. Westlich davon entstand im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts eine neue Werkstätten- und Industrielandschaft, das sogenannte Fabrikviertel. Vom Main-Neckar-Bahnhof aus wurde 1894 ein weiteres Industriestammgleis verlegt, das ab etwa 1912 vom neuen Güterbahnhof auf der Westseite das Fabrikviertel anband. Die Geschichte der Erschließung des Fabrikviertels mit Gleisanlagen wird gesondert dargestellt.
Zur Jahrhundertwende expandierte Darmstadts Industrie und Gewerbe nach Westen und Nordwesten. Das chemisch-pharmazeutische Unternehmen Merck, das im 19. Jahrhundert seine Fabrikanlangen beim heutigen Mercksplatz angesiedelt hatte, lag mit seiner chemischen Produktion zu nahe an der Darmstädter Altstadt. Es fand nach einem Grundstückstausch einen neuen Standort auf den Feldern und Wiesen zwischen Darmstadt und dem damals noch selbständigen Ort Arheilgen. Einige Maschinenbauunternehmen errichteten ihre Produktionsstätten westlich beider Bahnstrecken und nahmen die Verlagerung des Hauptbahnhofs zu seinem heutigen Standort vorweg. Noch in den 1950er und 1960er Jahren wurden etwa dreißig Industriebetriebe angebunden, 2020 sind es nur noch vier oder fünf.
Zum Zwecke der Darstellung habe ich den Industriestammgleisen fiktive Buchstaben von A bis H zugewiesen. Sie tauchen daher weder in zeitgenössischen Planungen noch in Plänen und Dokumenten auf.
Diese Unterseite meines Webprojektes zur Riedbahn, zum Fabrikviertel und zur Straßenbahn in Darmstadt benutzt eine Grafik, mit der per Mausklick die passende Fabrikviertel-Seite für jedes Gleis und jedes Unternehmen aufgerufen werden kann. Die benutzte Technik funktioniert auf kleineren Bildschirmen nur mit ausgefallenen Techniken, die ich hier nicht anwende. Deshalb bleibt als suboptimale Lösung, das Bild großzuziehen und dann den passenden Klickpunkt (der selbstredend dann nicht mehr angeklickt, sondern angetatscht wird) auszuwählen.
Die rotbraunen Punkte zeigen die wesentlichen Gleisanlagen zur Anbindung der Industrieanschlüsse. Blaue Punkte führen zu den Standorten der jeweiligen Firmen, die mit roten Zahlen gekennzeichnet sind. „P“ ist der Bahnübergang 45 an der Pallaswiesenstraße. „S“ ist der Bahnübergang Schenckallee.
Die Buchstaben zu den Gleisanlagen wurden von mir vergeben; die Buchstaben A bis H bezeichnen Teile des städtischen Industriestammgleises; der Buchstabe K führt zum Gleisanschluß der Heag und zum sogenannten Kartoffelkellergleis; der Buchstabe W bezeichnet das ehemalige Werkstättengleis. Auf der Mainzer Straße verliefen (und verlaufen) zwei Gleise, nämlich „A“ auf der südwestlichen Straßenseite und „B“ auf der nordöstlichen Straßenseite. Ursprünglich endete Gleis „A“ bei Eisen-Rieg („3“) und Röhm und Haas („4“), während das Gleis „B“ in der Landwehrstraße als „C“ fortgeführt wurde, einen Abzweig zu Röhm und Haas besaß („4“) und zudem nach rechts in die Kirschenallee nach Süden abbog. Seit den 1960er Jahren ist Donges („15“) sowohl durch „B“ als auch durch „F“ angebunden.
Nachtrag April 2022: Die hier aufgeführten Industriegleise sind nun vollständig erfaßt. Es sind zwei weitere Gleisanschlüsse hinzugekommen, die in der Grafik nicht berücksichtigt werden. Zwischen der Motorenfabrik (#17) und der Herdfabrik (#18) besaß auch Venuleth und Ellenberger einen (ersten) eigenen Anschluß. Das zu Jakobi (#46) führende Gleis hatte nach einer Gleiskurve (in das heutige Evonik-Gelände) offenbar einen weiteren Anschließer, der namentlich jedoch noch nicht faßbar ist.
Doppelte Anfänge
Die Main-Neckar-Bahn annonciert die Eröffnung der Anbindung ins Fabrikviertel zum 1. April 1894 [online ulb darmstadt].
Die ersten Gleisanschlüsse Darmstädter Fabriken datieren auf die frühen 1870er Jahre. Schon bei den Planungen zur Errichtung des Blumenthalviertels wurde darauf geachtet, daß einzelne Gewerbetreibende mit den Gleisen der nahen Hessischen Ludwigsbahn verbunden wurden. Zu nennen sind hier das Schneidemühlgleis und das Mahr'sche Gleis, die Anbindung der Gasfabrik auf der heutigen Schulinsel, sowie die einstmals bedeutende Maschinenfabrik und Eisengießerei.
So, wie das Fabrikviertel seinen Ausgang in den Gewerbeansiedlungen in der Landwehr- und der (damaligen) Weiterstädter Straße nahm, so entwickelte sich auch die dortige Gleisanbindung. Zunächst wurde 1893/94 vom Main-Nerckar-Bahnhof ausgehend ein Gleis auf der Nordseite der Landwehrstraße gelegt, das bis zum Fabrikgelände der Gebrüder Lutz in der Weiterstädter Straße verlängert wurde, das heutige Nordgleis in der Mainzer Straße. Ausführlich wird die Erschließung des Fabrikviertels mit Gleisanlagen auf einer eigenen Unterseite dokumentiert.
Ein Zeitsprung in bewegte Zeiten
Für die späten 1950er und frühen 1960er Jahre liegen mir die Beschreibungen (fast) aller vorhandenen Gleisanschlüsse vor; sie haben Eingang in die detaillierten Beschreibungen der verschiedenen Industriestammgleise gefunden. Ab Mitte der 1960er Jahre ist die Faktenlage hingegen dürr, weil nur einzelne knappe Hinweise vorliegen.
Das Bundesbahn-Adreßbuch für 1965 listet folgende (zum Teil auch verschriebene) Firmennamen auf, wobei Mitbenutzer der Gleisanschlüsse mit einem „+“ geklennzeichnet sind:
Darmstadt Hbf: Autohaus Darmstdt [sic!] Ammon, Rieg KG; Bäuerliche Hauptgen. Rhein-Main-Neckar eGmbH (+); Bahnbedarf-Rodberg GmbH; DEMAG AG Werk Modag; Deutsche Shell AG Agentur E. Kunze (+); Donges Stahlbau GmbH; Eisen-Rieg AG; Festa-Bau GmbH (+); Rudolf Firle; Fischer KG; Großmarkthalle; Heckmann & Aßmuth; Hessische Elektrizitäts AG; Kapp & Co.; Klöckner Kohlenhandel GmbH; Maschinenfabrik GOEBEL GmbH; Metzeler AG (+); J. Nold; L. C. Nungesser; Oberfinanzdirektion Frankfurt; PREUSSAG AG; Reinhardt & Comp.; Dr.-Ing. Joh. Reiske (+); Gebr. Roeder AG; Röhm & Haas GmbH; Carl Schenck Maschinenfabrik GmbH; Stadt Darmstadt; Städt. Schlacht- u. Viehhof; Gebrüder Stöckel; Südhess. Gas- u. Wasser AG; Venuleth & Ellenberger (+); Wiest & Söhne.
Die Fabrikanlagen von Merck wurden über Kranichstein angebunden; weitere Gleisanschlüsse bestanden am Ostbahnhof für die Unternehmen Jos. Gentil (+), Jakob Nohl und die Stadt Darmstadt.
Die Bäuerliche Hauptgenossenschaft hatte ihre Anschlußgleise auf dem Gelände des Nathan Hale Depots, verwaltet durch die Oberfinanzdirektion Frankfurt. Dieser Anschluß besaß ein Zweiggleis zur Firma Wiest & Söhne. Die Agentur E. Kunze wie auch der Dr.-Ing. Joh. Reiske nutzten das ehemalige Kartoffelkellergleis der Stadt Darmstadt. Seltsam ist, daß Venuleth & Ellenberger als Mitbenutzerin eines Gleisanschlusses benannt wird, obwohl selbiger seit Jahrzehnten auf dem Firmengelände endete. In den nachfolgenden Ausgaben von 1972 und 1975 wurd dieser (mutmaßliche) Fehler dann auch korrigiert. Von den hier genannten Firmen ist mir allein der Standort der Niederlassung der Metzeler AG unklar; auch das Darmstädter Adreßbuch hilft hier nicht weiter. Die Ausgaben 1972 und 1975 nennen hingegen eine Metzeler Schaum GmbH, ohne daß dies zur Verortung beitragen kann.
In den Jahren nach 1965 fallen einige Gleisanschlüsse fort, neue kommen hinzu. Zu nennen sind hier die Brennstoff-Union GmbH mit einer Firmenanschrift am Mathildenplatz, die Gustav Reisser KG, später Niama-Reisser, mit einer Firmenanschrift in der Pallaswiesenstraße, aber im Martinsviertel, sowie die Heinrich Holbeck & Co. KG mit einer Firmenanschrift in der Büdinger Straße. Letztere Firma könnte demnach die Verlängerung des Schlachthofgleises mitbenutzt haben. Die Firma Otto Knecht siedelte sich südlich der Pallaswiesenstraße an und war folglich Mitbenutzerin des Gleises von Venuleth & Ellenberger. Die Firma Rhenus nutzte die nördliche der beiden Zeppelinhallen und hatte noch 1990 Güterverkehr; das Anschlußgleis war 1975 auf die Rodberg Industrieanlagen GmbH in Neuwird angemeldet, die im 75er Adreßbuch zur Erschwerung der Suche unter „Redberg“ einsortiert war. Bleibt noch die Mitbenutzung eines Gleisanschlusses durch einen Michael Schließmann zu nennen; auch hier fehlt mir die Zuordnung.
Außerhalb des Fabrikviertels siedelten sich folgende Unternehmen mit Gleisanschluß an der Otto-Röhm-Straße an: Mücksch, Nungesser, Schmitt & Ziegler (am Nordbahnhof) und Spiefagro.