Luftbild auf das Fabrikviertel 1966.
Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt
Walter Kuhl
Luftbild auf das Fabrikviertel 1966.
Das Fabrikviertel 1966.
Baujahr.
Baujahr 1877.
Fabrikgebäude in der Pallaswiesenstraße.
Zweitverwertete Fabrik.
Roeder-Brunnen an der Rheinstraße.
Maloche bei Roeder.
Fabrikgebäude in der Kirschenallee (abgerissen).
Verlassene Fabrik.

Industriegleise im Fabrikviertel Darmstadt

Streik!

Die Arbeiterbewegung in Darmstadt und Südhessen erhebt ihre Stimme und organisiert sich (1869/70)

1872 und 1893/94 wurde das Fabrikviertel mit zwei Industrie­stamm­gleisen an die Eisenbahn angebunden. Von den Mitte der 1950er Jahre noch rund dreißig Anschluß­gleisen sind (Stand 2020) nur vier oder fünf übrig geblieben.

Das Fabrikviertel in Darmstadt entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Alteingesessene, aber auch neue Werkstätten und Unternehmen zog es an die nordwestliche Peripherie, wo sie ungehindert von Anwohner­protesten und allzu rigiden behördlichen Auflagen vor sich hinlärmen, hinstinken und den Boden verunreinigen konnten. Es war eine Zeit, in der Arbeitszeiten, Arbeitslöhne und Arbeitsschutz mehr oder weniger der Willkür der Aktienbesitzer, Meister und Direktoren unterlagen. Daß sich hiergegen ab und an Widerstand regte, war unvermeidlich. Die anziehende Konjunktur Ende der 1860er Jahre ermöglichte es den Arbeitern, ihren Forderungen durch die Einstellung ihrer Arbeits­tätigkeit, dem „Feiern“, Nachdruck zu verleihen. Die hier häufiger erwähnten Buchdrucker­gehilfen konnten auf eine längere Tradition zurückgreifen. Während in der Frankfurter Paulskirche die Delegierten des aufstrebenden Bürgertums debattierten, organisierten sich andernorts, so auch in Darmstadt, diejenigen, deren Interessen das Bürgertum nicht vertreten wollte: Handwerker, Arbeiterinnen und Arbeiter. Diese galten dem Bürgertum als Gefahr, denn sie fürchteten die Revolte der Ausgebeuteten und verarmt Gehaltenen.

Veranlassung, sich mit der Darmstädter Streik­bewegung von 1869 zu befassen, gab eine kurze Mitteilung in der „Darmstädter Zeitung“ vom 13. September 1869 über ein drei bzw. zwei Tage zurückliegendes Ereignis:

„Die Arbeiter der Maschinen­fabrik und Eisengießerei Darmstadt, welche am Freitag Morgen die Arbeit eingestellt hatten, haben sich noch an demselben Tage mit der Direction der Gesellschaft verständigt und am Samstag die Arbeit wiederauf­genommen.“

Die Geschichte dieser „Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt“ wird ausführlich in einer eigenen Darstellung rekonstruiert.

Eingearbeitet werden müßten noch: Meldungen des Darmstädter Frag- und Anzeige­blatts von 1870 und der Hessischen Landeszeitung von 1869; bei Letzterer waren ausgerechnert die beiden interessierenden Jahrgänge 1869 und 1870 in der ULB Darmstadt nicht vorhanden. Zum Zeitpunkt der Abfassung der Erstfassung dieses Textes waren die „Darmstädter Zeitung“ noch nicht vor 1872 und das „Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt“ vollständig noch nicht digitalisiert; daher fehlen hier die Verweise auf das Digitalisat der ULB Darmstadt.

1865 traten schon die Tabakarbeiter aus Lorsch in den Ausstand.


Die Überlieferung

Im Grunde ist die Geschichte der Darmstädter Arbeiterbewegung um 1870 herum kurz erzählt. Es gibt, wenn überhaupt, nur wenige Andeutungen. So wird auch diese hier vorliegende Darstellung eher fragmentarisch bleiben, denn sie stützt sich hauptsächlich auf die einseitigen und knappen Meldungen, die 1869 in der „Darmstädter Zeitung“, dem „Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt“ und – etwas ausführlicher, aber mit kapitalfreundlichem Tenor – den „Hessischen Volksblättern“ erschienen sind. Vielleicht nimmt eines Tages eine oder jemand die hier wiedergegebenen Fragmente zum Anlaß, diese eher verborgene Geschichte zu erschürfen und wieder zugänglich zu machen. Selbstredend hat die IHK Darmstadt in der Jubiläumsschrift zu ihrem 150-jährigen Bestehen die Arbeiterbewegung bestenfalls kurz gestreift, denn ihr Fokus liegt auf der Entwicklung eines Unternehmertums, das derartige Streiks erst notwendig werden ließ. Aber auch die Darmstädter Stadtgeschichte, wie sie im „Stadtlexikon Darmstadt“ erscheint, ist geradezu ignorant. Das ist auch kein Wunder, weil hiermit ein offiziöser Diskurs bedient wird, der sich mehr auf den Glanz von hexenjagenden Landgrafen bezieht, als auf die rebellischen und demokratisch-emanzipatorischen Kräfte. Zum Thema „Arbeiter“ findet sich nur der Eintrag „Arbeiterhäuser“, eine Arbeiterbewegung gar scheint es in Darmstadt nie gegeben zu haben, doch immerhin finden wir im Stadtlexikon einen eigenen Eintrag zu „Gewerkschaften“. Zu deren lokalen Anfängen heißt es:

„In DA kam es 1835 zu einem ersten gewerkschaftlichen Zusammenschluss der Buchdruckergesellen mit dem Ziel der organisierten Selbsthilfe. 1848 bildete sich ein Arbeiterbildungsverein, der stärker politisch orientiert war. Die nach der 1848er Revolution rasch einsetzende reaktionäre Politik führte am 02.10.1850 zum Verbot aller politischen Vereine in Hessen-Darmstadt. Erst 1863 wurde ein neuer Arbeiterbildungsverein vom Liberalen Ludwig Büchner gegründet, doch die Gründung der Sozial­demokratischen Arbeiterpartei durch Karl Liebknecht und August Bebel 1869 brachte in Darmstadt die »Eisenacher« hervor, zu denen die meisten Mitglieder überwechselten.“ [1]

Das ist alles; und Karl Liebknecht war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal geboren. Sein Vater hieß Wilhelm. Auf knapp zwei Spalten wird die komplette Geschichte der Darmstädter Gewerkschaften referiert, während beispielsweise das Symbol der Darmstädter Selbstunterwerfung unter die Autokratie des Großherzogs Ludwig II., das sogenannte Ludwigsmonument, alleine schon zweieinhalb Spalten belegt. Fred Kautz hat in seiner scharfen Kritik dieses Stadtlexikons noch ganz andere Schwerpunkt­setzungen und, vor allem, was den Nationalsozialismus betrifft, Unterlassungen auf- und vorgeführt. [2]

Die „Darmstädter Zeitung“ als Regierungsorgan und ideologisches Bollwerk des aufstrebenden Bürgertums kam 1869 nicht umhin, der damals jungen Arbeiterbewegung mehr als nur eine Spalte zu widmen. Die Art der in diesem Blatt vorzufindenden Darstellung spiegelt die in diesen Kreisen vorherrschende Verbohrtheit wider. Als Dokument sind die dort aufzufindenden Einsprengsel allemal interessant. Die Parallelektüre beispielsweise in den „Hessischen Volksblättern“ füllt manches dieser Einsprengsel mit mehr Leben, auch wenn selbige an einer harmonischen Koexistenz von „Arbeitgebern“ und „Arbeitnehmern“ interessiert ist. Die Redaktion der „Volksblätter“ befürwortet daher das Streikrecht für Arbeiter, als es noch nicht selbstverständlich ist, und legt den verständigen Kapitalbesitzern nahe, schon aus einem aufgeklärten Eigeninteresse heraus den Bogen nicht zu überspannen.

Es ist davon auszugehen, daß die Darmstädter Historikerzunft kein Interesse daran hat, die Geschichte der Darmstädter Arbeiterbewegung zu erforschen Hätte sie es, läge längst eine ausgefeilte Darstellung zum Thema vor. Nicht einmal Dieter Schotts stadtsoziologische Habilitationsschrift „Die Vernetzung der Stadt“ (bzw. deren Überarbeitung als Buch) ist hier brauchbar, zumal ihr Gegenstand erst 1880 einsetzt. Immerhin streift die von Eckhart G. Franz u. a. herausgebrachte Geschichte Darmstadts kurz die aufkeimende Arbeiterbewegung Ende der 1860er Jahre.

Nichtsdestotrotz wartet einiges Material noch darauf, gefunden zu werden. So zitiert Lutz Ewald die Jubiläumsausgabe des „Hessischen Volksfreunds“ von 1932, aus der hervorgeht, daß um 1870 herum fast überall 16-18-stündige Arbeitstage vorherrschten und die Gesellen häufig beim Meister mangelhafte Kost und erbärmliche Schlafstätten vorfanden. So ist es kaum verwunderlich, wenn sich die Buchdruckergesellen 1869 zum Mittelrheinischen Buchdruckerverband zusammenschlossen und im selben Jahr in einigen Darmstädter Betrieben erste gewerkschaftliche Erfolge erzielen konnten. [3]

In einem Prozeß vor dem Bezirksstrafgericht Darmstadt mußten sich am 22. Oktober 1869 der Stationsvorsteher des Bahnhofs Gustavsburg und ein Weichenwärter verantworten, weil sie beschuldigt waren, durch Unterlassen am 10. Juni 1869 den Zusammenstoß eines einfahrenden Personenzuges mit einem am Bahnsteig wartenden Güterzug verursacht zu haben. Der Weichenwärter war eingeschlafen und hatte daher das ihm aufgezogene Signal nicht beachtet, um die Weiche entsprechend zu stellen. Dabei stellte sich heraus, daß der bei der Hessischen Ludwigsbahn beschäftigte Weichenwärter oftmals 17, ja sogar 20 Stunden Dienst am Tag hatte. Bei derartigen Arbeitszeiten ist nachvollziehbar, wo er seinen Schlaf nachholen mußte. Obwohl sein Verteidiger folgerichtig auf Freispruch plädierte, wurde er wegen des Pflichtversäumnisses zu einer Strafe von drei Monaten Korrektionsbau verurteilt. Bei dem Unfall erlitt ein Reisender einen Knochenbruch, ansonsten entstand ein von der Versicherung umgehend beglichener Sachschaden [4]. Auf die Idee, die Verantwortlichen der Hessischen Ludwigsbahn für ihre rücksichtslose Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft zu belangen, kam niemand, weil dies als normal und statthaft galt. Derartige Rücksichtslosigkeit ist im beginnenden 21. Jahrhundert auch in den Zentren der Weltwirtschaft in einzelnen Branchen wieder vorzufinden, wie wiederkehrende Reportagen über Arbeitsbedingungen beispielsweise im deutschen Transport-, Reisebus-, Speditions- und Kuriergewerbe belegen. Aufgrund Erschöpfung eingeschlafen wird heute nicht an der Weiche, sondern auf der Autobahn, belangt wird in den seltensten Fällen der Auftraggeber.

Das von Christoph Jetter und Hannelore Skroblies redaktionell zusammengetragene Begleitheft zu den von der Darmstädter Geschichtswerkstatt betreuten Geschichtsrundgängen weiß noch ein wenig mehr:

„In den 1860er Jahren entwickelten sich zunächst zwei Parteiströmungen der Arbeiterbewegung: der von Ferdinand Lassalle gegründete Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV) und die Karl Marx nahestehende Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). Beide Flügel befehdeten sich – auch in Darmstadt – anfangs heftig. Ihre Agitationsreisen führten August Bebel und Wilhelm Liebknecht oft nach Darmstadt, wo Liebknecht die Darmstädterin Natalie Wilhelmine Reh heiratete.“ [5]

Die Streikbewegung von 1869 und der folgenden Jahre ist ohne zwei entscheidende Voraussetzungen nicht zu verstehen. Zum einen brachte eine aufgrund einer anziehenden Konjunktur gute Beschäftigungslage eine verbesserte Verhandlungs­position zugunsten der Arbeiter. Klagen über Arbeitskräftemangel waren allenthalben zu vernehmen. So kommentierte beispielsweise die Redaktion der „Darmstädter Zeitung“ mitten in einem Bericht über die landwirtschaftliche Maschinen-Ausstellung in Darmstadt vom 3. bis zum 6. Juli 1869 angesichts der vielen Verkaufsabschlüsse während dieser Tage: „Der Mangel an Arbeitskräften und die Nothwendigkeit, dieselben durch Maschinen zu ersetzen, mag wesentlich zur Belebung des Geschäfts beigetragen haben.“ [6] – Zum anderen ermöglichte die neue Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 21. Juni 1869 eine Koalitionsfreiheit [7], die zuvor aufgrund der restriktiven Gesetzeslage nicht vorhanden gewesen war. Streiks waren nunmehr in einem gewissen Rahmen legal, und das wußten die Arbeiter, aber auch Arbeiterinnen, für sich zu nutzen. Selbst wenn die Gebiete des Großherzogtums Hessen südlich des Mains dem Bund nicht angehörten, so scheint die im Bund eingeführte Koalitionsfreiheit das Handeln der Arbeiter in Südhessen beeinflußt zu haben.

Das zunehmende Selbstbewußtsein der Arbeiterbewegung manifestierte sich somit in zwei zusammenwirkenden Strängen: Streiks um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen auf der einen, Emanzipation von bürgerlicher Bevormundung und eigenständige Organisierung auf der anderen Seite. Beides findet sich in den Zeitungsmeldungen aus Darmstadt, aber auch der süd- und rheinhessischen Umgebung wieder.

Erste Regungen

Den Anfang machten, so zumindest erscheint es in der Überlieferung durch die Tagespresse, die Arbeiter der Odenwaldbahn.

„Darmstadt, 2. Febr.  Die nunmehr eingetretene milde Witterung macht es möglich die Arbeiten für die Odenwaldbahn in Angriff zu nehmen und haben gestern mehrere hundert Arbeiter in der Section Karlshof mit den Erdarbeiten begonnen.“ [HV, 4.2.1869]

„Darmstadt, 7. Febr.  Vorgestern haben sämmtliche an der Odenwaldbahn beschäftigte Arbeiter die Arbeit eingestellt, da selbst die fleißigsten höchstens 30 Kreuzer der Tag zu verdienen vermochten. Da nunmehr eine Lohnerhöhung eingetreten ist, so hat der größte Theil wieder die Arbeiten aufgenommen.“ [HV, 9.2.1869]

Für den 6. November 1868 hatte der Arbeiterverein im großen Ritsert'schen Saale zu einer Versammlung aufgerufen, welche der Vorbereitung einer Teilnahme an der für das Folgejahr in London angesetzten Ausstellung der Arbeiter und Handwerker dienen sollte. Als Redner war Hodgson Pratt aus London vorgesehen; eingeladen waren „[a]lle Herren Handwerker, Arbeiter, Gesellen, Meister und Fabrikanten Darmstadts und der Umgegend“. Im Vorlauf zu dieser Londoner Ausstellung sollte eine Landesindustrie­ausstellung vorbereitet werden [8]. Im Februar 1869 fand hierzu ein weiteres Treffen statt, das den Erwartungen wohl nicht entsprochen hat.

„Darmstadt, 25. Febr.  Gestern Abend fand die auf 8½ Uhr Abends in den großen Ritsert'schen Saale anberaumte Versammlung zu einer nochmaligen Besprechung über eine event[uell] im Herbste 1869 abzuhaltenden Ausstellung von Erzeugnissen der Handwerker und Arbeiter des Großherzogthums Hessen statt, mußte jedoch wegen allzugerin[g]er Betheiligung des Handwerker­standes in dem anstoßenden Seitenzimmer abgehalten werden. Diese geringe Betheiligung scheint uns gerade zu tadelnswerth, da dieselbe auf Indolenz einem so lobenswerthen Projecte gegenüber schließen läßt und wurde dem Gefühl des Bedauerns darüber auch in der Versammlung, welcher auf allgemeinen Wunsch Herr Fabrikant Blumenthal präsidirte, lebhaft Ausdruck verliehen. Der Präsident theilte den Anwesenden mit, daß das bei der im November v[origen] J[ahres] in der damals abgehaltenen Versammlung gewählte Comite, welches eine Betheiligung an der in London stattfindenden internationalen Ausstellung von Seiten hessischer Arbeiter anregen sollte, bisher alles Mögliche gethan habe, um eine solche zu erzielen, indessen nur eine sehr laue Aufnahme gefunden habe und sich aus Darmstadt leider nur eilf Theilnehmer gemeldet hätten. Es sei dies um so mehr zu bedauern, da der hessische Arbeiterstand und die hess[ische] Industrie gewiß nicht hinter der anderer Länder zurückstehe. Weiter theilt Herr B[lumenthal] der Versammlung mit, daß das Comite, um allenfallsigen Vorurtheilen im Arbeiterstande gegen eine im Ausland abzuhaltende Ausstellung zu begegnen, beschlossen habe, vorerst eine solche in Hessen selbst abzuhalten und daß, falls man mit diesem Project prosperire, dann auch eine größere Betheiligung nach auswärts zu erwarten stände. Der Herr Präsident fordert daher die Arbeiter in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse auf, sich lebhaft an der einheimischen Ausstellung zu betheiligen und macht besonders auf die Vortheile aufmerksam, welche dem tüchtigen Arbeiter daraus erwachsen würden. Sein Name würde in ehrenvoller Weise bekannt und böte sich ihm Gelegenheit sich aufs Beste sowohl bei größeren Fabrikanten als auch dem Publikum gegenüber zu empfehlen.

In ähnlichem Sinne spricht sich auch der Director der Maschinenfabrik und Eisengießerei, Herr Weber, aus. Außerdem sprechen noch für das Project die Arbeiter Bückert und Ruschkau [beide Namen schwer entzifferbar, WK], ersterer gegen im Arbeiterstand herrschende Vorurtheile, während letzterer die Frage vom hess[ischen] National­standpunkt auffaßt; der Arbeiterstand im kleinen Hessen nehme eine ehrenvolle Stellung ein und sei es nicht nothwendig, daß Alles durch das große Preußen geschehe. Nachdem Herr Wiener, Techniker und Lehrer der Mathematik noch auf die günstige Aufnahme hingewiesen, welche das Project in anderen Staaten gefunden habe und namentlich das Interesse, welches der englische und französische Arbeiterstand daran genommen, hervorgehoben hatte, fordert derselbe die anwesenden Arbeiter auf energisch in ihren Kreisen für eine Betheiligung an der Ausstellung zu wirken, damit sich das Project realisire. Die Anfrage, ‚Warum Mainz sich nicht beim Central-Comité betheiligt habe‘ beantworten die H[e]r[re]n Direktor Weber und Wiener dahin, daß sich dort wegen Mangel der Betheiligung von Seiten der Arbeiter kein Comité gebildet habe und deßhalb auch keine Betheiligung von dort aus erfolgen konnte. Auf eine deßfallsige Anfrage des Präsidenten beschließt die Versammlung, daß eine Ausstellung stattfinden solle und meldeten sich dazu einige weitere Theilnehmer. Hierauf wurde das seither provisorisch bestandene Comité von der Versammlung definitiv gewählt und wurde demselben noch seitens der Anwesenden die Vollmacht ertheilt sich durch Adoption weiterer Mitglieder aus dem Arbeiterstande und Gewerbs­treibenden zu verstärken, sobald dies als nöthig erscheinen würde. Eine eigentliche Discussion fand nicht statt.

Herr Commerzienrath Fink vom Landesgewerbverein sprach vor Schluß der Versammlung noch über die Art der Betheiligung von Seiten der Handwerksmeister und dem Arbeiterstande in einem längeren Vortrag. Wir werden hoffentlich in Bälde Gelegenheit haben, auf diese für Hessens Arbeiterstand hochwichtige Angelegenheit zurückzukommen.“ [HV 26.2.1869]

Es scheint, als habe dieser Versuch, die Arbeiter Darmstadts durch eine Fokussierung auf gediegene Arbeit davon abzuhalten, sich eigenständig zu organisieren und eigene Forderungen zu entwickeln und auch durchzusetzen, nicht den für das eigentliche Projekt, nämlich die Befriedung der Arbeiterklasse, nötigen Widerhall gefunden. Andernorts wird über Arbeitermangel und hohe Löhne geklagt.

Zeitungsmeldung zum Arbeitskräftemangel.
Abbildung 1: Meldung aus der „Wormser Zeitung“ vom 25. Juni 1869 [online ulb darmstadt].

In und um Worms herrscht Arbeitskräftemangel, der nicht zuletzt durch militärische Belange verursacht worden war; der nebenstehende Artikel aus der „Wormser Zeitung“ verleiht den Klagen hierüber Ausdruck. Einen halben Monat später werden dann auch tatsächlich, wie gefordert, zum Militärdienst eingezogene Arbeiter beurlaubt, um die Ernte zu sichern.

„Worms, 12. Juli.  Um dem sehr fühlbaren Mangel an Arbeitskräften bei der jetzt eingetretenen Fruchterndte einigermaßen abzuhelfen, sind Militär­beurlaubungen angeordnet und von morgen an von dem hier garnisonirenden Gr[oßherzoglichen] Garde-Regimente eine größere Anzahl Soldaten mit 14tägigem Urlaube in ihre Heimath entlassen.  (W. Z.)“ [HV, 14.7.1869]

Damit ist dem Arbeitskräftemangel nur vorübergehend abgeholfen, wie eine weitere Meldung aus dem Oktober 1869 belegt.

„Darmstadt, 25. Oct.  Uebereinstimmende Nachrichten aus dem Lande melden, daß in Folge des allerwärts herrschenden Arbeitermangels noch ein beträchtlicher Theil der Kartoffelerndte aussteht, was bei dem eingetretenen Frost zu begründeten Befürchtungen Anlaß bietet.“ [HV, 28.10.1869]

Ob die Furcht nur den Verdienstausfall betraf? Oder handelte es sich, in Voraussicht eventuell steigender Kartoffelpreise, auch um eine Furcht vor einer Unruhe in der Arbeiterschaft? – Ebenfalls aus Worms erreicht uns im Juni 1869 die Meldung über eine Arbeitsniederlegung.

„Worms, 8. Juni. (Rh. H.)  Die hiesigen Maurer haben sich in einer unlängst abgehaltenen Versammlung darüber geeinigt, daß sie ihren Meistern unter anderen folgende Beschlüsse zustellen werden: ‚Die Arbeitszeit ist von Morgens 6 bis Abends 6 Uhr. Zum Frühstück und zum Vespern wird eine halbe, zum Mittagessen eine Stunde verlangt. Der Tageslohn ist auf 1 fl. 30 kr. festgesetzt; Arbeit über die bestimmte Zeit wird mit 9 kr. per Stunde bezahlt; Sonntagsarbeit muß doppelt bezahlt werden.‘“ [WZ, 10.6.1869, online ulb darmstadt]

Nach zwei Arbeiterversammlungen am 13. und am 19. Juni scheint der Streik im Sande verlaufen zu sein.

„Worms, 24. Juni.  Die Arbeitseinstellung der hiesigen Maurergesellen ist insofern als beendigt anzusehen, als viele derselben ihre Arbeit unter den früheren Bedingungen wieder aufgenommen haben, während ein anderer Theil von hier fortging und auswärts Arbeit suchte.“ [HV, 26.6.1869, entnommen aus WZ, 25.6.1869 [online ulb darmstadt]

Und somit zum Arbeitskräftemangel in Worms und Umgebung beitrug. Andernorts waren Löhne und Arbeitsbedingungen womöglich ein bißchen besser. Vielleicht war das Ereignis für eine Darmstädter Zeitung wichtig genug, um aufzuzeigen, was Handwerkern und Fabrikanten bevorsteht, wenn sie nicht auf ihre Arbeiter zugehen. – Am 27. Juni tagte im Bessunger Chausseehaus die fünfte Hauptversammlung des Mittelrheinischen Buchdruckerverbandes. Neben längeren Verhandlungen, über deren Inhalt sich die „Hessischen Volksblätter“ zwei Tage darauf ausschweigen, gab es noch einen weitschweifig vorgestellten geselligen Teil, sogar mit Damen, wie das Blatt vermerkt.

„Mainz, 9. Juli.  Der größte Theil der Zimmergesellen ist unter den früheren Bedingungen und mit der Zusicherung der Meister, die Löhne aufbessern zu wollen, sobald die gegenwärtig ungünstigen Verhältnisse sich gehoben haben werden, zur Arbeit zurückgekehrt. Einige sind abgereist. Die Behörde hatte die Anwendung der Gesetze auf beschäftigungslose Ortsfremde, sowie die Straffälligkeit der gemeinsamen Handlung (Complot) in Aussicht gestellt. Ausschreitungen sind nicht vorgekommen; übrigens werden andererseits die gegenwärtigen hiesigen Lohnverhältnisse als der Art bezeichnet, daß ordentliche Arbeiter auch in den gegenwärtigen Zeitumständen kaum Anlaß zu Klagen hätten.“ [DZ, 12.7.1869]

Damit macht sich die Obrigkeit kapitalfreundlich bemerkbar.

Die Buchdrucker und Bäcker

Es scheint, als wären die Auseinandersetzungen im Buchdruckergewerbe besonders heftig gewesen; jedenfalls legt dies der Tonfall der sich nun selbst organisierenden Kapitaleigner nahe.

„Mannheim, 15. Juli.  Der hiesige Buchdrucker und Buchhändler Herr J. Schneider erläßt folgenden Aufruf an die Herren Buchdruckerei-Besitzer Deutschlands: Die Arbeiterbewegung hat unter den Buchdrucker­gehülfen Deutschlands einen hervorragenden Ausdruck gefunden. – Der ‚deutsche Buchdruckerverband‘, der unter dem Vorsitze des Hrn. Richard Härtel in Leipzig seinen Centralsitz hat, beherrscht das Arbeitsgebiet der Buchdruckereien in durchaus einseitiger Weise. – Die Arbeitgeber sind grundsätzlich von dieser Verbindung ausgeschlossen, um jede Verständigung zwischen Capital und Arbeit zum Vortheile der einseitigen Parteiherrschaft im Keime zu ersticken. Die einsichtsvollen Arbeitnehmer aber, die in Berücksichtigung gegebener Verhältnisse und im Einverständnisse mit ihren Arbeitgebern einen einzig dauernden Zustand anstreben möchten, werden durch Ausschluß von den Unterstützungs­kassen des deutschen Buchdrucker­verbandes gegen ihren Willen genöthigt, den maßlosesten Agitationen ihre billigende Zustimmung zu geben.

Im Interesse der Arbeit wird allseitig die Nothwendigkeit einer dauernden Regelung der vielfach muthwillig gestörten Arbeitsverhältnisse tief empfunden und im Interesse der einsichtsvollen Arbeiter liegt die mahnende Verpflichtung vor, für die Unabhängigkeit derselben in allen Lagen des Lebens ausreichend zu sorgen. – Von diesen Grundanschauungen, die räumlich hier nur angedeutet zu werden vermögen, geleitet, fand am 7. Juli in Darmstadt eine Besprechung zwischen Buchdruckerei­besitzern aus Hessen, Baden, Bayern und Preußen statt, die nach reiflicher Erwägung aller hier einschlagenden Verhältnisse den Beschluß faßten: die Herren Buchdruckerei-Besitzer Deutschlands zu einer Versammlung in der Gutenbergstadt Mainz im Saale des Casino's zum Gutenberg auf Sonntag den 15. August 1869, Vormittags 11 Uhr, zur Gründung eines Verbandes deutscher Buchdruckerei-Besitzer zu berufen. – Der Unterzeichnete, mit der Ehre der Einladung betraut, theilt zugleich mit, daß die Verhandlungen auf der Grundlage des von ihm unterm 11. Mai 1869 veröffentlichten Entwurfs stattfinden sollen. – Vertrauend auf die bewährte Einsicht und die bereite Opferwilligkeit der Herren Buchdruckerei-Besitzer Deutschlands, darf auf deren zahlreiches Erscheinen um so mehr gerechnet werden, als nur auf dem Wege gegenseitiger Verständigung die richtige Lösung der socialen Fragen auch unseres Standes sicher angebahnt werden kann. – Zahlreiche Berufsklassen der menschlichen Gesellschaft sind uns in Regelung ihrer Angelegenheiten mit Erfolg vorangegangen; bleiben wir nicht zurück, um uns schließlich durch Zufall oder Willkür beherrschen zu lassen; die freie Ordnung und die selbstbestimmende Thätigkeit sind Hoheitsrechte des modernen Staats. – Darum kommen wir Alle zum 15. August 1869 in die Gutenbergstadt Mainz zur Gründung eines Verbandes deutscher Buchdruckerei-Besitzer im Interesse der Arbeit, zum Nutzen der Gesellschaft und zur Ehre unseres Standes. – Inzwischen bin ich zu jeder gewünschten näheren Auskunft gerne bereit.

(gez.)  J. Schneider, Buchdrucker und Buchhändler.“ [DZ, 21.7.1869]

In Mainz fand vom 14. August bis zum 15. September 1869 eine lokale Industrie-Ausstellung statt, bei der sich auch die hessischen Gewerbevereine zu Absprachen und den obligatorischen als Festbankett getarnten Besäufnissen trafen.

Am 18. Juli tagte in Frankfurt eine Gauversammlung verschiedener Arbeitervereine der Region. Acht Vereine aus Darmstadt, Frankfurt, Gelnhausen, Gießen, Hanau, Mainz, Offenbach und Wiesbaden hatten stimmberechtigte Mitglieder entsandt. Der Darmstädter Arbeiterverein war durch die Herren Binkert, Georg Theodor Donges (aus dessen 1872 eingerichteter Schlosserei ein mittel­ständisches Unternehmen erwachsen war, das anfangs des 21. Jahrhunderts aufgekauft wurde), Dr. Otto Hofmann I und August Wiener vertreten. Bei der Versammlung ging es hauptsächlich um die von verschiedenen Arbeitervereinen mit vorbereitete Gründung einer sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die in Eisenach vollzogen werden sollte und wurde.

Dr. Otto Hofmann I. (Darmstadt) bespricht die Ansichten des Darmstädter Vereins, der es für einen Frevel halte, damit übereinzustimmen, die Vereine in politische umzuwandeln, dessen Aufgabe es sei, den Arbeiterstand besonders geistig zu heben, und dadurch schließlich Einfluß auf die Politik ausüben zu können. Eine solche Zumuthung schädige nur das Interesse der Arbeiter.

Der Redner sucht nun seine Mittheilungen in Betreff der Ansichten des Darmstädter-Arbeiter-Vereins durch die Gründungs- und Entwickelungs-Geschichte der Kirche zu beweisen, welche anfänglich nur Erlösung gepredigt, aber den Staat beherrscht habe. Darmstadt würde also für einen großen Verband, dessen Grundlage nicht die Politik sei, stimmen. Gerade weil leicht die Arbeiter auf dem Congreß zu Eisenach durch den Ehrgeiz Einzelner auf Abwege gebracht werden könnten, sei er dafür, diesen Congreß zu beschicken, um dort die warnende Stimme erheben zu können; daß man die Arbeiter nicht zu politischen Partei­werkzeugen herabwürdige und jedem seine eigene politische Ueberzeugung zu lassen.“ [HV 23.7.1869]

Hier spricht unverhohlen ein Vertreter des liberalen Bürgertums.

Wiener (Darmstadt) führt aus, daß eine Umwandlung der Arbeiter-Vereine in ausschließlich politische von Leipzig aus gar nicht verlangt werde und bemerkt, indem er sich im Uebrigen Herrn Dr. Otto Hoffmann anschloß, daß der Darmstädter Verein wünsche, was doch auch zur Bildung gehöre, daß die Arbeiter in den Vereinen politisch klar gemacht würden, damit sie nicht von Einzelnen auf Abwege gebracht werden könnten. Es wäre dagegen ein großer Fehler, die Vereine zu politischen zu machen und den Verband auf politischer Grundlage zu gründen, indem dann die Vereine wie der Verband keinen Bestand haben können.

In Betreff der von den Lassall'schen Vereinen, wie von Bebel, ausgehenden Aufforderung zur Gründung von Gewerks-Genossenschaften bemerkt er, daß sie, da wo solche schon bestehen, noch zu jung seien und daß nur der Erfolg beweisen könne, ob sie ihren Zweck, die Parteien zu vereinigen, erfüllen werden. Es sei deßhalb durchaus unthunlich, jetzt schon dieselbe als Aushängeschild zu benutzen, um die Arbeiter in eine politische Bewegung zu verwickeln. Grade deßhalb sei er dafür, den Eisenacher-Congreß (am 6–8 August) und den sich daran anschließenden Vereinstag deutscher Arbeiter-Vereine zu beschicken, um dort den Vertretern der Vereine empfehlen zu können, für eine Vereinigung der Parteien zu stimmen und um sie warnen zu können vor Fehlern, welche man dort zu machen beabsichtigt.“ [HV 23.7.1869]

Manche dieser Darmstädter Ausführungen fanden nicht allgemeine Zustimmung, aber es schälte sich doch eine gewisse Tendenz heraus.

Binkert (Darmstadt) spricht über die Politik, wie sie die Arbeiter treiben, welche sich schon bei einem Wahlakt bestimmen lassen so zu wählen, wie es ihnen von anderen vorgesagt wird. Ausführlicher aber noch läßt er sich über die Existenzfrage der Arbeiter aus und führt ganz besonders die Krankenkassen an, welche wenn nicht die Freizügigkeit derselben (wie Bebel sie vorschlage) in den Vereinen eingeführt werde, für den Arbeiter oft zwecklos sind, was er durch Beispiele beweist. Ebenso erklärt, er die außerordentliche Wichtigkeit der Alter­versorgungskassen für den Arbeiter dem grade so gut wie dem Beamten bei einem bestimmten Alter eine Pension gehörte. Er stimme deßhalb dafür, den Eisenacher Congreß zu beschicken.“

Dr. Otto Hoffmann (Darmstadt) bemerkt noch, daß die Arbeiter-Vereine einen ganz besonderen Zweck und daß Alles was, diesen zu stören vermag, verbannt werden müßte, also auch die Idee, dieselbe in rein politische zu verwandeln. Er führt noch Beispiele an daß es eigentlich Nichts gebe, was nicht mit der Politik in Conflikt gerathe, weßhalb es natürlich auch Zweck der Arbeiter sey sich in der Politik zu bilden.“ [HV, 24.7.1869]

Die Versammlung endete mit dem Beschluß, darauf hinzuwirken, „die Eisenacher Versammlungen durch Delegirte zu beschicken und diese dahin zu instruiren, daß sie für eine Vereinigung der verschiedenen Arbeiterparteien in eine gemeinsame Organisation stimmen sollen, jedoch, daß dabei die Politik durchaus fern zu halten sei.“ [9]

„Darmstadt, 22. Juli.  In einer hiesigen Maschinenfabrik wurde heute ein Werkmeister entlassen der stets den Arbeitern mit Entlassung gedroht.“ [HV, 24.7.1869]

„Darmstadt, 27. Juli.  Die hiesigen Bäckergesellen stellten in einer heute abgehaltenen Versammlung ihren Arbeitgebern eine Strike in Aussicht, falls dieselben nicht auf die Forderung der Ersteren, den Lohn zu erhöhen, und die Nachtarbeit zu beschränken, eingehen würden.“ [DZ, 29.7.1869]

„Darmstadt, 28. Juli.  Gestern fand eine, von etwa 150 Bäckergesellen besuchte Versammlung im ‚grünen Laub‘ wegen der Lohnfrage statt. Die anwesenden Gesellen beschlossen einstimmig, daß sie, falls ihre Forderungen von den Meistern nicht zugestanden werden sollten, von morgen an die Arbeit einstellen würden. Wie uns mitgetheilt wird, beabsichtigen die Bäckermeister deßhalb die sogenannten ‚Dreinwecke‘ den Kunden zu entziehen.“ [HV, 29.7.1869]

„Darmstadt, 30. Juli.  Die Bäckergesellen wollten gestern Abend wieder im ‚Grünen Laub‘ eine Versammlung wegen der Lohnfrage abhalten; ehe es jedoch dazu kam, geriethen schon einige unter sich in Streit und fielen die Prügel bald hageldicht nach allen Seiten. Einige Gesellen, welche interveniren wollten, kamen dabei schlecht weg und betheiligten sich nun auch ihrerseits an der Prügelei, in die bald sämmtliche Anwesenden verwickelt wurden. Als schließlich die herbeigerufene Polizei auf dem Kampfplatz erschien, hatte sich das Gros der Excedenten, hiervon rechtzeitig benachrichtigt, bereits aus dem Staube gemacht.“ [HV, 31.7.1869]

Der Streik als Phänomen und Politikum

Am 31. Juli 1869 veröffentlichten die „Hessischen Volksblätter“ einen auf zwei Seiten abgedruckten Leitartikel zur anlaufenden Streikbewegung. Die Redaktion befürwortete das Streikrecht im Sinne einer Waffengleichheit mit Fabrikanten und Handwerksmeistern. Der Artikel verficht dennoch eine harmonische Sicht, eine Art Klassenharmonie. Durch die scharfe Waffe des Streiks gewarnt würden Fabrikanten sich mit ihren maßlosen Forderungen an ihre Arbeiter zurückhalten, während selbige, da sie mit ihren eigenen Forderungen nunmehr auf Verhandlungs­bereitschaft stießen, gar nicht erst zum Mittel des Streiks greifen müßten. Diese idyllisierte Vorstellung sollte wohl das Bürgertum von Notwendigkeit wie Ungefährlichkeit einer Streikbewegung überzeugen. Der vollständige Artikel ist auf einer eigenen Seite wiedergegeben.

Worum es an dem bewußten Abend vor dem „Grünen Laub“ auch immer gegangen sein mag – natürlich lagen einige Nerven blank. Die Selbstorganisierung von Arbeitskämpfen stand nach langen Jahren der Reaktion noch in den Anfängen. Manchem mag es hier mulmig geworden sein, manch Anderer duldete vielleicht keinen Widerspruch. Hier zivile Umgangsformen zu finden, mußte erst herausgefunden werden. Was lag da näher als eine gesittete Waldpartie, bei der man, vielleicht auch frau, Differenzen im ernsthaften Gespräch klären konnte?

„Auf allgemeines Verlangen hält der Arbeiter-Verein Sonntag, den 1. August eine zweite Waldparthie nach dem Herrgottsberg.

Abgang um 2 Uhr – Zusammenkunft unter den Linden.

Alle Mitglieder des Consumvereins und der Baugenossenschaft, sowie alle Freunde des Vereins werden hiermit freundlichst eingeladen. Der Vorstand.

NB. Bei ungünstiger Witterung findet die Parthie am nächsten Sonntag statt.“ [HV, 1.8.1869, Annonce]

„Darmstadt, 31. Juli.  Daß der Vorstand des hiesigen Arbeiter-Vereins zu jeder Zeit dafür sorgt, den Hauptzweck des Vereins zu erfüllen, beweisen die Erfolge der von ihm getroffenen, guten und vortrefflichen Einrichtungen. – Heute soll ganz besonders die durch ihn gegründete Kranken-Unterstützungs-Vereins-Kasse erwähnt werden, welche seit ihrem 6jährigen Bestehen getreulich ihre Aufgabe gelöst. Mehrere Mitglieder erhielten an Krankenrente, je nach der Dauer der Krankheit, 97 fl. 30 kr.; 94 fl. 8 kr.; 40 fl.; 28 fl. 17 kr.; 16 fl. 42 kr. etc. ausbezahlt. Mit welchem ganz anderen Gefühl nimmt ein Arbeiter diese Summen, die ihm von Rechtswegen gehören, als wenn er, vollständig arbeitsunfähig, von milden Gaben abhängen muß. – Diese Einrichtung bezweckt jedoch nicht allein, daß die Mitglieder während ihrer Krankheit nicht zu darben brauchen, sondern auch bei vorkommenden Sterbefällen wird das betreffende Mitglied würdevoll zu Grabe geleitet. – Grade in diesem Falle zeigt sich der Unterschied dieser Kranken-Unterstützungskasse vor jeder anderen. Durch den Vortheil nämlich, daß sie einem größeren Vereine angehört, der auch den Gesang auf würdige Weise pflegt, kann sie sich bei einem solchen Trauerfall ganz besonders auszeichnen. – Den Beweis hierfür lieferte sie gestern, wo sie ein Mitglied des Vereins (Tapezier Rebel) welches nach halbjähriger Krankheit im hiesigen Spital starb, zu Grabe geleitet. Obgleich zwar dieser Fall dem Vereine spät mitgetheilt wurde, so konnte dennoch das Leichenbegräbniß Dank der Unermüdlichkeit des Vorsitzenden des Vereins Herrn Ruschkau, des Gesang-Vereins und dessen Directors, ganz würdevoll ausgeführt werden. Die dabei mitwirkende Musik verlieh dem Ganzen eine solche Weihe, daß auch kein Anwesender ungerührt den Friedhof verließ. Ganz besonderen Dank erndtete der Verein von den Angehörigen des Verblichenen. Es war nur zu beklagen, daß kein Geistlicher zu sehen war, und schließen wir uns daher vollständig den Ansichten eines Correspondenten d[ieses] Bl[attes] an, welche derselbe in einem trefflichen Artikel über die protestantische Beerdigungsweise erst vor Kurzem ausgesprochen.“ [HV, 3.8.1869]

Einladung zu einer Arbeiterversammlung.

Abbildung 2: Einladung zur allgemeinen Arbeiter­versammlung im Gasthaus „zum wilden Mann“. Quelle: Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt vom 31. Juli 1869, Scan vom Mikrofilm.

„Darmstadt, 2. Aug.  Heute Abend um 8 Uhr findet in dem Saale des Gasthauses zum wilden Mann eine allgemeine Arbeiter­versammlung statt. Gegenstände der Berathung sind: 1) die Lage des Arbeiterstandes und die Mittel zur Verbesserung desselben. 2) Das allgemeine und directe Wahlrecht. 3) Die Gewerksgenossenschaften. Eingeladen sind sämmtliche Arbeiter und Arbeitgeber, sowie die Gegner der Arbeiterbewegung. Die Einladung ist ohne Unterschrift. Dieselbe scheint von Lassalleanern auszugehen.“ [DZ, 2.8.1869]

„Mainz, 2. Aug.  Gestern fand im ‚Weißen Roß‘ dahier eine Arbeiterversammlung statt, der etwa 350 Personen anwohnten. Es wurde nach einer sehr animirten Debatte beschlossen, den Eisenacher Congreß zu beschicken und auf demselben auf eine Vereinigung sämmtlicher socialdemokratischen Elemente hinzuarbeiten. Hr. Dr. Schweitzer, der in der Versammlung eifrige Vertheidiger fand, wurde nichts desto weniger entschieden desavouirt, indem gegen ihn geltend gemacht wurde, daß er mehr den Gegnern als den Arbeitern diene. Zu Delegirten der hiesigen Arbeiter wurden für den Congreß die Herren Zierfaß und Böll gewählt. Ein Freund und Anhänger Schweitzer's, der zum Delegirten vorgeschlagen worden, wurde als solcher verworfen.“ [DZ, 3.8.1869]

„Groß-Gerau, 3. Aug.  Am verflossenen Sonntag fand in Büttelborn ein Arbeitertag statt, wozu auch einige Herren aus Darmstadt geladen und erschienen waren. Auf der Tagesordnung standen: Gründung eines Arbeitervereins mit Krankenkasse, Consumeinrichtung und Vorschuß-Verein. Das Resultat der Versammlung war, daß sich in Büttelborn unter dem provisorischen Präsidium des Herrn Barthel ein solcher Verein constituirte, welchem sofort 37 Mitglieder beitraten.“ [HV, 6.8.1869]

„Darmstadt, 4. Aug.  38 Bäckermeister erklären im gestrigen ‚Wochenblatt‘, daß sie die bisher übliche Dreingabe bei Weißbrod, der Zeitverhältnisse wegen, seit dem 1. d[es Monats] haben aufhören lassen. Dieselben scheinen demnach den Forderungen der Gesellen nachgegeben zu haben.“ [DZ, 4.8.1869, so auch HV, 5.8.1869]

„Darmstadt, 4. August.  Die am Montag stattgehabte Arbeiterversammlung war sehr zahlreich besucht. Als die Einladenden geben sich die Lassalleaner Studiosus Rüdt aus Heidelberg und die Arbeiter Haustein [gemeint ist Han(n)stein, WK] und Hänßer aus Offenbach, sämmtlich der Schweitzer'schen Richtung angehörig, zu erkennen. Die Versammlung währte wohl lang, kam aber zu keinem Beschluß. Die Maschinenbauer und die Mitglieder des Arbeitervereins wollen sich heute über die Beschickung des Eisenacher Congresses verständigen.“ [DZ, 4.8.1869]

„Darmstadt, 4. Aug.  Die gestern bereits [kurz, WK] erwähnte Arbeiterversammlung welche am Montag im ‚wilden Mann‘ stattfand, war von auswärtigen Lassalleanern veranstaltet. Gegenstände der Berathung waren: 1) die Lage des Arbeiterstandes und die Mittel zur Verbesserung desselben. 2) Das allgemeine und directe Wahlrecht. 3) Die Gewerksgenossenschaften. Eingeladen waren sämmtliche Arbeiter und Arbeitgeber, sowie die Gegner der Arbeiterbewegung. Nach vielem Hin und Herreden mußte die Versammlung sich ohne zur Abstimmung gekommen zu sein auflösen, da der Wirth Feierabend gebot.“ [HV, 5.8.1869]

„Darmstadt, 5. Aug.  Gestern Abend beschlossen sowohl die Maschinenbauer­genossenschaft, wie der Arbeiterverein, den Eisenacher Congreß zu beschicken. Die erstere übertrug ihr Mandat dem Fabricanten Stuttmann aus Rüsselsheim, der Arbeiterverein schickt eines seiner Mitglieder Donges. Beide werden die Schweitzer'sche Richtung bekämpfen.  (L. Z.)“ [DZ, 6.8.,1869]

Am 10. August erscheint in den „Hessischen Volksblättern“ ein eingesandter Artikel, der sich mit der Frage auseinandersetzt, ob das Schulze-Delitzsche Genossenschafts­wesen geeignet ist, den Lassalleanismus zu bekämpfen. Der Darmstädter Arbeiterverein jedenfalls lud Hermann Schultze-Delitzsch zu einem Vortrag am 28. August ein. Tags darauf sprach er auf dem ersten Verbandstag der Starkenburger Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften. [10]

„Mainz, 15. August.  Heute tagten hier über Hundert Buchdruckerei­besitzer aus allen Theilen Deutschlands. Resultat der gepflogenen Verhandlungen ist die Gründung eines Vereins der Buchdruckerei­besitzer Deutschlands und der Schweiz mit dem Vorort Leipzig. Zu Mitgliedern des Vereinsvorstandes wurden gewählt: Ackermann, Teubner, Dr. E. Brockhaus und Stadtrath Härtel, sämmtlich von Leipzig; ferner Möser von Berlin, Dumont von Köln, Schurich von München, Vonz aus Stuttgart, Schneider aus Mannheim und Isermann aus Hamburg.“ [DZ, 16.8.1869]

Ende August 1869 legen die Metallarbeiter in Mainz die Arbeit nieder, um massive Lohnerhöhungen von 20 und mehr Prozent einzufordern. Sie können ihre Forderungen teilweise durchsetzen. Kaum ist ihr Ausstand beendet, treten etwa 80 bis 90 Beschäftigte des Gasapparat- und Gußwerks in den Streik, ebenso die Beschäftigten des Zweigwerks in Höchst und zweier weiterer Betriebe. [11]

„Mainz, 31. Aug.  Nachdem die Erhöhung der Löhne um 20 pCt. wo die einiger Stücksätze um etwa 25 pCt. gerichteten Forderungen der Metallarbeiter bis heute ohne Antwort Seitens der Arbeitgeber geblieben waren, haben die Arbeiter, namentlich die des hiesigen Gasapparat- und Gußwerks und des Zweiggeschäfts zu Höchst, die Arbeit allgemein eingestellt. An letzterem Orte feiert auch das Personal zweier anderer Fabriken. Die Taglöhne sind letzteren bereits vergütet worden. Bei der hiesigen Einstellung ist der internationale Satz von 2 Frcs. per Tag in Aussicht. Die Arbeiter sind in permanenter Versammlung und haben die Frist für die entscheidende Antwort nun ziemlich kurz gestellt. Ihre Forderungen sind nach uns vorliegenden Mittheilungen indessen mäßig gehalten. Die Taglöhner z. B. verlangen ein Minimum von 1 fl. 12 kr. täglich für 11 Stunden Arbeit.“ [HV, 3.9.1869]

„Mainz, 3. Sept.  Die Metallarbeiter haben gegen theilweise Gewährung ihrer Forderungen die Arbeit wieder aufgenommen. Nach den in inzwischen stattgehabten Versammlungen derselben laut gewordenen Reden scheint der Friede nicht von längerer Dauer werden zu sollen. Neben dem Verlangen nach materieller Aufbesserung wird auch das rücksichtsvollerer Behandlung laut. Der Einfluß der neuesten Ketteler'schen Schrift ‚Die Arbeiterbewegung und ihr Streben zur Religion und Sittlichkeit‘ ist bei einigen Wortführern eingestandenermaßen nicht ohne Wirkung geblieben obschon gar Mancher derselben den ‚Ruhetag ohne Religion‘ und ‚blauen Montag‘ noch für berechtigt hält. Wie berichtet wird, haben im Höchster Geschäfte die Arbeiter nicht gefeiert, da die dortigen Verhältnisse günstiger sein sollen.“ [HV, 5.9.1869]

„Darmstadt, 31. Aug.  Ein Brief des Reichstagsabgeordneten Liebknecht benachrichtigt die ‚Hess[ische] Landes-Z[ei]t[un]g‘, daß eine gerichtliche Vorladung ihn nächsten Samstag in Leipzig zurückhält, und daß er deßhalb die für diesen Tag in unserer Stadt projectirte Arbeiter­versammlung nicht abhalten kann. Er verspricht jedoch, wenn er demnächst von Basel, wohin er sich zum internationalen Congreß begibt, zurückkehrt, eine derartige Versammlung hier abzuhalten.“ [HV, 3.9.1869]

Ob folgende Meldung etwas mit der sich aufheizenden Stimmung zu tun hat?

„Darmstadt, 2. Sept.  Vorgestern begannen in der Herberge ‚Zur Heimath‘ einige zugereiste Gesellen einen Streit, der bald zu Thätlichkeiten ausartete, so daß der Hausvater sich genöthigt sah, dieselben auszuweisen. Nun begann aber auf der Straße ein arger Scandal, bis endlich die Polizei die Tumultanten zur Ruhe brachte.“ [HV, 4.9.1869]

Am 11. September 1869 wird im „Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt“ per Annonce ein Maschinenschlosser, insbesondere für Blecharbeiten, gesucht. Als Tagesverdienst werden zwei bis zweieinhalb Gulden angegeben. Zum Vergleich: 1847 verdienten in der „Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt“ die Arbeiter der Eisengießerei zwischen 5 Gulden 30 Kreuzern und 10 Gulden die Woche, während die Schlosser 4 bis 8 Gulden erhielten. Für 1876 (schon Krisenjahr) liegen aus demselben Betrieb folgende Angaben vor: In der Dreherei und der Montage erhielten die Arbeiter im Schnitt 836,11 Mark im Jahr, in der Kesselschmiede und Schmiede 808 Mark und in der Eisengießerei 677,80 Mark [12]. Das dürfte auf einen Tageslohn von umgerechnet eineinviertel bis anderthalb Gulden hinauslaufen. Apropos –

„Darmstadt, 11. Sept.  Gestern haben die Arbeiter der hiesigen ‚Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt‘ ihre Arbeit um deßwillen eingestellt, weil ihnen fortgesetzt ihr Lohn nicht rechtzeitig ausbezahlt worden sein soll. Die Arbeiter berathschlagten während des gestrigen Tages in gemeinsamen Zusammentreten über die von ihnen einzuschlagenden Schritte und kam gestern Abend eine Verständigung mit der Direction zu Stande, derzufolge heute die Arbeit wieder fortgesetzt wird. Einige der Bedingungen gewährte die Direction sofort, andere wurden durch gemeinsamen Beschluß zur weiteren Behandlung und Entscheidung vorbehalten.“ [HV, 12.9.1869]

„Darmstadt, 13. September.  Die Arbeiter der Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt, welche am Freitag Morgen die Arbeit eingestellt hatten, haben sich noch an demselben Tage mit der Direction der Gesellschaft verständigt und am Samstag die Arbeit wiederaufgenommen.“ [DZ, 13.9.1869]

Und wieder die Buchdrucker

„Darmstadt, 19. Sept.  Sämmtliche Gehülfen der Winter'schen Buchdruckerei dahier haben heute wegen einer Differenz mit Herrn Winter die Arbeit eingestellt. Dieselben werden von ihren Collegen bis zur Beilegung des Confliktes unterstützt.“ [HV, 21.9.1869]

„Darmstadt, 21. Sept.  Die Setzer in der Buchdruckerei von C. F. Winter dahier haben seit gestern die Arbeit eingestellt. Die Veranlassung hierzu ist, wie wir vernehmen, hauptsächlich in der durch die Buchdruckerei­besitzer veranlaßten Einstellung von nicht dem Gehülfenverbande angehörigen Arbeitern zu suchen.“ [DZ, 21.9.1869]

Annonce der Druckereibesitzer.
Abbildung 3: Annonce der Druckereibesitzer in der „Darmstädter Zeitung“ vom 22. September 1869. Abfotografiert vom Mikrofilm.

Die Inhaber von neun Druckereien veröffentlichten mittels einer Zeitungsannonce eine auf den 20. September datierte öffentliche Erklärung:

„Eine größere Anzahl von Schriftsetzern hat heute vertragswidrig die C. F. Winter 'sche Buchdruckerei, in welcher sie angestellt waren, plötzlich verlassen.

Da der Grund dieser Arbeitseinstellung, dem eigenen Zugeständniß der Betheiligten zufolge, kein anderer war: als daß der Geschäftsinhaber sich das Recht der freien Wahl seiner Arbeiter vorbehielt, während diese Gehülfen ihn zu der Verpflichtung zwingen wollten,

nur noch solche Arbeiter anzunehmen, welche dem von einem Theil der deutschen Buchdrucker­gehülfen gebildeten sog. ‚Buchdruckerverband‘ angehören,

so erklären die unterzeichneten Buchdruckereibesitzer Darmstadt's dies Verlangen für eine ungerechtfertigte Zumuthung, auf welche einzugehen jedes unabhängigen Geschäftsmannes unwürdig wäre.

Indem dieselben nun mit Zuversicht dem Erfolg der von ihnen bei der Behörde erhobenen Beschwerde entgegen sehen, glauben sie zugleich von dem Rechtsgefühl und der Einsicht hiesiger Bürgerschaft erwarten zu können, daß dieselbe eine solche Rechtsverletzung entschieden mißbilligen werde.“ [DZ, 22.9.1869]

Am 20. September gab es eine weitere Arbeiterversammlung.

„Darmstadt, 21. Sept.  Offenbacher und Frankfurter Lassallianer, der Schweizer'schen Richtung huldigend, hatten gestern Abend im Ritsert'schen Saale eine ziemlich besuchte Versammlung veranstaltet. Das Programm des allgemeinen deutschen Arbeitervereins: Bekämpfung der Kapitalmacht, Umformung des ganzen Staatsorganismus auf Grundlage des allgemeinen directen Wahlrechts und Subvention der Arbeiter durch den Staat, vertraten Schneider (Frankfurt), Schäfer (Mannheim), Markwort (Offenbach) u. A., sowie Donges von hier. Das vorläufige Resultat der Verhandlung dürfte die Gründung eines den Ideen Lassalles huldigenden Arbeitervereins an hiesigem Platz sein.“ [HV, 22.9.1869]

Am 24. September veröffentlichen die „Hessischen Volksblätter“ eine Annonce der Darmstädter Buchdrucker als Erwiderung auf die Erklärung ihrer Prinzipale vom 20. September.

Zur Aufklärung!

Die gestrigen Zeitungen bringen eine öffentliche Erklärung von 9 hiesigen Buchdruckereien unterzeichnet; dieselbe wäre geeignet, das Vorgehen der Buchdrucker in der Winter'schen Officin in ein schlechtes Licht zu stellen, und halten wir uns deßhalb dem Publicum gegenüber verpflichtet, folgende Erläuterungen hierzu zu geben.

Vor allem müssen wir bemerken, daß nicht nur eine größere Anzahl, sondern sämmtliche Buchdrucker in besagter Officin die Arbeit eingestellt haben und darunter meistens Leute, welche schon Jahre lang dort zur besten Zufriedenheit des Principals arbeiteten. Diesen kann man wohl zumuthen, daß sie nicht in leichtsinniger Weise ihre Condition auf's Spiel setzten, sondern aus folgenden Gründen so gehandelt haben: [13]

„Der hiesige Principalverband hat hauptsächlich den Zweck, unseren bisherigen Bestrebungen entschieden entgegenzuwirken, und zwar deßhalb, weil sie namentlich auch gegen die Schmutz­concurrenz gerichtet waren.

Wir verlangen durchaus nicht, daß Arbeiter, welche nicht zu unserer Vereinigung gehören, wegen uns entlassen werden, sondern wir können es nicht über uns gewinnen, mit Leuten zusammen zu arbeiten, die unsere Bestrebungen vollständig untergraben wollen. Den Herren Principälen liegt es aber gerade nur am Herzen, Leute, die um jeden Preis arbeiten, in ihr Geschäft zu ziehen, um dadurch stets neue Knechte in ihrem mehr zur Fabrik herabsinkenden Geschäfte zu haben. Man möge man nicht glauben, daß die Herren Principäle, welche von dieser Affaire nicht betroffen worden und doch ihre Unterschrift unter die Erklärung setzten, den Herren Winter aufrichtig unterstützen wollen, im Gegentheil hat uns die Erfahrung gelehrt, daß es das größte Bestreben dieser Herren ist, bei einer derartigen Krisis die Arbeiten, welche dort nicht geliefert werden können, an sich zu ziehen.

Durch die Unterzeichnung der Erklärung der 9 Prinzipale in den gestrigen Blättern, welche H[e]r[r]n Winter rechtfertigen soll, provociren die übrigen 8 Prinzipale ihre bis jetzt ruhig bei ihnen arbeitenden Gehülfen, ein Aehnliches zu thun, wie die Winter'schen Gehülfen, und wir überlassen es dem Publikum, ob dieses Verfahren von Seiten dieser acht Prinzipale zu billigen ist.

Die Herren Prinzipale beschweren sich über Ter[r]orismus von Seiten der Gehülfen, wenn sie plötzlich aufhören zu arbeiten, allein sie lassen sich denselben Fehler, namentlich Herr Winter in jüngster Zeit, zu Schulden kommen, und entlassen Arbeiter augenblicklich.

Wir müssen ferner dankenswerth erwähnen, daß es auch nicht alle Principäle sind, welche sich gegen uns verbunden haben und unsere Bestrebungen mit Füßen treten; denn drei der hiesigen Principäle haben sich längst mit ihren Arbeitern verständigt und leben zu Beider Vortheil mit ihnen im besten Einverständniß.

Ebenso ist es gewiß die Hauptsache für den Principal, daß er vor allen Dingen regelmäßig und pünktlich dem Arbeiter seinen rechtmäßigen Verdienst ausbezahlt; wir aber könnten seit einem Jahre mehr denn 25 Fälle aufzählen, wo die Gehülfen des Herrn Winter 2, 3 und 4 Tage auf ihr Geld warten mußten.

Ferner wird das Publikum uns sicher beipflichten, daß wir die Annahme von Entlassungsscheinen entschieden verweigern, denn ihre Form ist ganz den Führungs-Attesten der Sträflinge angepaßt.

Von einem Vertrag, den wir gebrochen haben, weiß kein Einziger etwas, im Gegentheil ist eine gütliche Vorstellung, die Herrn Winter gemacht wurde, ohne Erfolg geblieben. Nach der eigenen Aussage desselben, will er seinen Willen nun durchaus durchsetzen, wir aber können es uns auch nicht nehmen lassen, unsere persönliche Freiheit zu wahren, und wird jeder Unbefangene uns beipflichten, daß wir diesen Schritt – der nicht gesetzwidrig ist – gethan haben, denn gerade so gut wie der Arbeitgeber – muß auch der Arbeiter über seine Person verfügen können, und daß wir nichts Unmenschliches bestreben, geht daraus hervor, daß sich in Deutschland auch viele humaner gesinnte Principale unserer Vereinigung angeschlossen haben, und den hiesigen Principälen der Beitritt ebenso gut freistand, wozu sie aber nie Lust zeigten. Ebenso wie die Winter'schen Arbeiter, hätte jeder Einzelne von uns gehandelt.

Darmstadt's Buchdrucker.

„Darmstadt, 24. Sept.  Den Arbeitseinstellungen in der Winter'schen Buchdruckerei folgte am Abend des 22. d[ieses Monats] eine Versammlung von Buchdrucker­gehülfen, die sich gegen die in Nr. 263 dieser Zeitung veröffentlichte Erklärung hiesiger Buchdruckerei­besitzer [siehe Abbildung 3, WK] aussprach und beschloß, den Unterzeichnern der Erklärung folgende Bedingungen zu stellen: 1) Die Principale verpflichten sich, nur Mitglieder des ‚Allgemeinen Buchdrucker­verbandes‘ in den betreffenden Druckereien zu beschäftigen; 2) Hrn. Winter zu veranlassen, sich mit seinen feiernden Gehülfen zu verständigen (d. h. nachzugeben); 3) die nicht dem Verbande angehörigen Arbeiter sind zu entlassen; 4) zu versprechen, niemals etwas dem Gehülfen Verband Nachtheiliges thun zu wollen.

Diese, die Principale der Willkür des Buchdruckerverbandes unterordnenden Bedingungen wurden von den acht, die obenerwähnte Erklärung unterzeichnet habenden Principalen zurückgewiesen, worauf ein Theil der Gehülfen die Arbeit einstellte, während der besonnenere Theil – wozu, wie wir mit Befriedigung hervorheben, fast das gesammte Personal der Druckerei unserer Zeitung gehört – die Arbeit fortsetzte und damit zu erkennen gab, daß er die Forderungen der feiernden Collegen als exorbitant und der freien Concurrenz widersprechend mißbillige.“ [DZ, 24.9.1869]

Tags darauf versammelten sich die Druckereibesitzer, um gemeinsame Maßnahmen gegen den Buchdruckerstreik abzustimmen.

„Darmstadt, 24. Sept.  In einer gestern Nachmittag im Café Bühler stattgehabten Versammlung wurde beschlossen, die Dispositions­befugnis der Principale betreffs Wahl ihrer Arbeiter gegenüber den unbegründeten Forderungen der hiesigen ‚Verbands‘ Setzer mit aller Energie zu wahren. Dieser Beschluß wurde in der Ueberzeugung des guten Rechtes mit einer solchen Einstimmigkeit gefaßt, daß an ein Gelingen der diesmaligen Setzer-Stricke, welche die Prinzipale faktisch zu Dienern der Setzer machen würde, nicht zu denken ist. Momentan helfen sich die Prinzipale gegenseitig aus und auswärts sind Schritte gethan, um in kürzester Zeit jede Verlegenheit zu beseitigen.

Eine nähere Beleuchtung der Sache, die dem größeren Publikum noch sehr wenig zugänglich, steht in Aussicht.“ [HV, 25.9.1869]

Der Darmstädter Streik wird zu einem Politikum und zum ersten Belastungstest für den neugegründeten Buchdruckereibesitzerverein.

„Darmstadt, 27. Sept.  Ueber den Strike eines Theiles der hiesigen Schriftsetzer und Buchdruckergehülfen veröffentlicht der geschäftsführende Ausschuß des deutschen Buchdruckervereins, bestehend aus den Repräsentanten dreier der bedeutendsten Firmen des Continents, den Herren A. Ackermann-Teubner, Dr. Eduard Brockhaus und Raymund Härtel, in den Annalen der Typographie nachstehendes Schreiben an die Mitglieder genannten Vereins der Principale:

‚Der unterzeichnete geschäftsführende Ausschuß des Buchdrucker-Vereins hatte nicht vermuthet, so bald einen Beleg von so ernster Natur in die Hände zu bekommen, in wie hohem Grade ein geschlossener Verein und ein entschlossenes Handeln gegenüber dem selbst­organisirten Verband von Gehülfen nothwenig sei. – Wir empfingen von unsern Collegen in Darmstadt: Briefe, Anzeige und Telegramme, woraus hervorgeht, daß die dort conditionirenden Verbandsmitglieder, ohne einen andern Grund anzugeben, als daß sie mit Nichtverbands­mitgliedern nicht zusammen arbeiten wollen, ohne Kündigung und massenhaft ihre Stellungen verlassen u[nd] dadurch die dortigen Buchdrucker augenblicklich großer Verlegenheit preisgegeben haben. – Es handelt sich hier nicht um einen Streit um Mein und Dein, nicht darum, eine Gehalts­aufbesserung zu erzwingen, wo der Principal allenfalls auf seine Unkosten nachgeben kann. Es ist hier ein Angriff auf die Ehre und das Hausrecht des Principals geschehen, bei dessen Zurückweisung Klugheits- oder Billigkeitsgründe nicht mitsprechen dürfen, sondern wo es die Manneswürde verlangt, mit jedem Opfer sein volles Recht zu behaupten. – Pflicht jedes Vereinsmitgliedes und jedes Buchdruckers ist es daher, mit allen Mitteln ihren bedrängten Collegen zu Hülfe zu kommen. Je schneller hier gehandelt wird, so energischer Jeder ähnliche Anmaßungen zurückweist, um so mehr schützt er sich selbst. – Von dem Vorstand des Gehülfen-Verbandes ist aber zu verlangen, daß er offen den Vorgang in Darmstadt mißbilligt. Thut er dies nicht und proclamirt er somit jede Ordnung als aufgelöst und die Anmaßung als Gesetz für seine Mitglieder – dann bleibt nur übrig, den Kampf gegen die Unvernunft aufzunehmen und sich darauf zu verlassen, daß der gesunde Sinn der Mehrzahl der Gehülfen zum Durchbruch kommen wird und daß ihnen und dem Publicum die Augen darüber geöffnet werden, woher das Aergerniß kommt. – Schließlich nochmals die Aufforderung an alle Collegen, namentlich aber an die in der Nähe von Darmstadt etablirten, sowie die süddeutschen überhaupt zu schleuniger Aushülfe für unsere Darmstädter Collegen durch Zusendung von Arbeitskräften, sei es auch nur auf Zeit.

Leipzig, den 24. Sept. 1869.‘  (Folgen die Unterschriften.)

Die hier verbreitete Nachricht, daß ein Mitglied des hiesigen Localvereins der Principale den Forderungen der strikenden Gehilfen nachgegeben habe ist eine tendenziöse Erfindung.“ [DZ, 27.9.1869]

War Wittich ausgeschert? Die Arbeitgeberpropaganda läuft jedenfalls auf Hochtouren. Die „Hessischen Volksblätter“ veröffentlichen diese Leipziger Erklärung am 29. September mit einem programmatischen Vorwort auf der ersten Seite. Es ist wohl davon auszugehen, daß auch die Druckerei dieser Zeitung bestreikt worden ist.

„Zur Buchdrucker-Strike in Darmstadt

Es kann unser Standpunkt zu der Frage nach der Berechtigung des Arbeiters, seine Arbeit beliebig einzustellen, – selbstverständlich unter Einhaltung der Bedingungen oder gesetzlichen Kündigungsfrist – umsoweniger verkannt werden, als wir diese Berechtigung, einen Ausfluß des freien Willens, schon mehrfach als unzweifelhaft hervorgehoben haben. Auf der anderen Seite haben aber sicherlich auch die Arbeitgeber einer bestimmten Geschäftsbranche die Befugniß, sich durch Association ihrerseits vor übertriebenen und ungerechten Forderungen der coalirten Arbeiter zu sichern, vor Forderungen, wie sie dermalen Seitens der dahier strikenden Schriftsetzer geltend gemacht werden.

Eine solche Association ist bekanntlich bei einer großen Reihe von Buchdruckerei­besitzern in Deutschland geschlossen worden und hat der geschäftsführende Ausschuß des von denselben gebildeten ‚Deutschen Buchdrucker­vereins‘ an seine Mitglieder in einer Extra-Beilage des gemeinsamen Organs ‚Annalen der Typographie‘ neuerdings eine Ansprache erlassen, die wir hier wörtlich zum Abdruck bringen, indem sie die Situation sehr klar und bestimmt kennzeichnet. Die unterzeichneten Namen der sich lediglich und allein mit dem unerhörten Darmstädter Vorgang beschäftigenden Beilage sind bekanntlich die Inhaber der berühmtesten typographischen Etablissements des Continents. Die Ansprache lautet:“

Es folgt der schon am 27. September in der „Darmstädter Zeitung“ veröffentlichte Text.

„Darmstadt, 27. Sept.  Die sogen[annten] Verbands-Gehülfen der neun hiesigen Druckereien, welche ihre Arbeit eingestellt haben, verlieren täglich an Aussicht auf Gelingen ihrer Strike. Die Principale erhalten Zugang von auswärts und die unberechtigten Forderungen jener Gehülfen haben dieselben jetzt schon in zwei Lager getheilt, indem z. B. die überwiegende Mehrzahl der dem Verbande angehörigen Setzer der Wittich'schen Druckerei ihr Nicht­einverstanden­sein mit den Maßnahmen ihrer Collegen dadurch bekundeten, daß sie ihre Arbeit ohne Störung fortsetzten. Die Tendenz­nachricht, daß einer jener neun Prinzipale nachgegeben habe, ist absolut unwahr.“ [HV, 28.9.1869]

Alsdann interveniert die Obrigkeit zugunsten der Prinzipale.

„Darmstadt, 30. Sept.  Der Buchdruckerstrike ist nunmehr in ein neues Stadium getreten, indem gegen sämmtliche Gehülfen, welche die Arbeit eingestellt, wegen Uebertretens des Art. 184 des Strafgesetzes (Verbot der Coalition), Criminaluntersuchung eröffnet worden ist. Gestern Morgen fanden dieserhalb die ersten Vernehmungen im Arresthaus statt.“ [HV, 30.9.1869]

Die staatsanwaltschaftlichen Untersuchungen werden im folgenden April, ohne daß Anklage erhoben wird, eingestellt. Das Ziel, die Arbeiter ruhigzustellen, wurde ohnehin erreicht. Das erinnert stark an die Praxis der Staatsschutz­behörden der Bundesrepublik Deutschland, ihnen politisch mißliebige linke und antifaschistische Gruppierungen mit den Gummi- und Gesinnungs­paragrafen 129 und 129a zu verfolgen, um über Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen und Verhaftungen Zugriff auf politische und persönliche Daten zu erlangen; die allermeisten dieser Verfahren werden anschließend wieder eingestellt [14]. – Von einer am 1. Oktober im Ritsert'schen Saal abgehaltenen weiteren, zahlreich besuchten Arbeiter­versammlung erfahren wir nicht mehr, als daß es sie gab. [15]

Organisierung in Land und Stadt

Arbeiterversammlungen und Streiks gab es nicht nur in der Stadt. Auch auf dem Land, oder besser: in den Tälern des für die hart arbeitende Bevölkerung ganz und gar nicht idyllischen Odenwaldes, machte sich die neue Lohnbewegung bemerkbar, wie die „Darmstädter Zeitung“ am 9. Oktober 1869 vermelden mußte:

„Michelstadt, 4. Oct.  Auch wir haben eine Art von Strike gehabt. Knechte und Mägde haben dieser Tage Zusammenkünfte gehabt, um über Erhöhung ihrer Löhne zu berathen und zu bestimmen. Es sollen die Personen sowohl, wie ihre Ansprüche classificirt und beschlossen worden sein, daß die Knechte, in drei Kategorien getheilt, einen Lohn von 125 fl., 100 fl. und 80 fl., eine Magd aber nicht unter 50 fl. Lohn erhalten sollen. Auch über den Unterschied des Herrschafts- und Gesindetisches sind Verhandlungen gepflogen worden.“

Selbst 125 Gulden, wohl aufs Jahr ausgezahlt, wären im Vergleich zu den städtischen Arbeitslöhnen allenfalls micktig zu nennen.

„Darmstadt, 7. Oct.  Gestern Abend fand hier im Local der Winter'schen Brauerei eine Versammlung von über dreißig Buchdrucker­gehülfen statt, welche meist in den von der Arbeitseinstellung betroffenen Geschäften thätig sind. Dieselben beschlossen einstimmig die Gründung einer gegen Mißbrauch gesicherten neuen Unterstützungskasse, zu welcher die Principale mit einem bedeutenden Fond beizutreten sich bereit erklärten. Es ist hiermit zugleich zwischen den Gehülfen und ihren Arbeitgebern eine Vereinigung geschaffen, welche auf dem einzig befriedigenden Wege der Verständigung ein dauerndes gedeihliches Zusammenwirken beider Theile anstrebt.  ([Darmstädter Frag- und] Anz[eigeblatt])“ [DZ, 8.10.1869]

Ohne Näheres zu erfahren, sieht es so aus, als hätten die Buchdrucker zumindest einen Teil ihrer Forderungen durchsetzen können. – An anderen Fronten kannte die Obrigkeit kein Pardon.

„Darmstadt, 14. Oct.  Die Polizeibehörde hat einen Steckbrief gegen Wilhelm Grüwel, Redacteur des ‚Social-Demokraten‘, erlassen. Die gegen ihn schon vor längerer Zeit vom hiesigen Bezirks­strafgericht ausgesprochene Geldstrafe von 25 fl. ist in die entsprechende Gefängnißstrafe verwandelt worden[.]“ [HV, 17.10.1869]

„Darmstadt, 24. Oct.  Von verschiedenen Arbeiteragitatoren, unter denen die Herren York aus Harburg, Völl aus Mainz, Ellner aus Coblenz und Andere, die als Anhänger der von den Herren Bebel und Liebknecht begründeten social-demokratischen Partei bekannt sind, wurden die hiesigen Arbeiter durch Maueranschlag zu einer letzten Samstag Abend 8 Uhr anberaumten allgemeinen Arbeiter­versammlung im Ritsert'schen Saale eingeladen. Die Betheiligung war eine sehr zahlreiche, wohl 800–1000 Personen, und man kann annehmen, daß die überwiegende Zahl der hiesigen Arbeiter durch die Versammlung vertreten war. Die Einladenden bezweckten, – den hiesigen Arbeitern die Ursachen mitzutheilen, welche sie veranlaßt hatten, aus dem ‚Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein‘ auszuscheiden und sich der Bebel-Liebknecht'schen Partei anzuschließen, sowie dieselben mit dem Programme und den Grundsätzen der social-demokratischen Partei bekannt zu machen. Zunächst wählte die Versammlung einen Vorsitzenden in der Person des Herrn Dr. Louis Büchner.

Unter den Rednern nennen wir außer den oben erwähnten, von welchen die Einladung ausgegangen war, einen Anhänger Schweitzer's, Herrn Hannstein aus Offenbach. Die Verhandlungen ergaben, obwohl stürmische Scenen und Angriffe gegen einzelne Führer nicht ausblieben, daß principielle Unterschiede zwischen den Anhängern Schweitzer's und denjenigen der neubegründeten socialdemokratischen Partei eigentlich nicht bestehen, daß es vielmehr nur die von Lassalle geschaffene Organisation mit der dem Präsidenten eingeräumten unbeschränkten Machtvollkommenheit ist, welche die Ausscheidung der Anhänger Bebel's und Liebknecht's aus dem ‚Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein‘ veranlaßt hat. Die Verhandlungen wurden um 12 Uhr von dem Vorsitzenden geschlossen. – Ueber einzelne unerledigt gebliebene Streitpunkte wird eine für später in Aussicht gestellte Versammlung berathen.“ [DZ, 25.10.1869]

Ausführlicher ist die Darstellung der „Hessischen Volksblätter“.

Innerparteiliches

„Darmstadt, 24. Oct.  Gestern wurde in dem Ritsert'schen Saale eine, von verschiedenen Anhängern der Bebel-Liebknecht'schen socialdemokratischen Partei einberufene Arbeiterversammlung, unter denen wir den bekannten Tischler York aus Harburg erwähnnen, abgehalten. Die Einladenden bezweckten die hiesigen Arbeiter für das Programm und die Tendenz dieser Partei zu gewinnen. Auch zahlreiche Anhänger Schweitzers hatten sich eingefunden. Die etwa 1000 Personen zählende Versammlung erwählte Herrn Dr. med. Louis Büchner zum Vorsitzenden. Derselbe gab Herrn York aus Harburg das Wort.

Herr York leitete seinen Vortrag durch einen geschichtlichen Rückblick auf die sociale Bewegung, wie sie sich seit dem Jahre 1848 in Deutschland entwickelt, ein, besprach in leidenschaftsloser Weise Schulze-Delitzsch und seine Bestrebungen und die Ursachen, welche Lassalle zu der im Jahre 1863 [16] erfolgten Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins veranlaßten. Der Redner ging sodann zu einer Kritik der von Lasalle geschaffenen Organisation über und führte aus, daß diese es sei, durch welche den Anhängern der socialdemokratischen Partei ein längeres Verbleiben in dem Verbande des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins unmöglich gemacht wurde. Unverträglich mit den Anforderungen der Zeit sei die dem Präsidenten eingeräumte unbeschränkte Machtvoll­kommenheit, die von denselben in einer Weise gebraucht würde, welche den Absichten des Gründers des Vereins nicht entspreche. Dr. v. Schweitzer, der mit Wagener und Anderen harmonire, gebrauche die ihm übertragene Macht 1) um im Sinne der preußischen Regierung zu agitiren – er habe ihn selbst mit hochtönenden Worten erklären hören: ‚Durch meine Agitation ist die Mainlinie überbrückt worden‘ – 2) um die Casse des Vereins zu seinem und seiner Anhänger Nutzen auszubeuten. Es gehe das unter Anderem aus den Rechnungen Tölkes hervor, dem Hunderte von Thalern aus der Kasse des Vereins zwecklos bezahlt worden seien. (Redner verliest einen Rechnungsbeleg, der allgemeines Erstaunen erregt). Aus diesem Grunde seien er und Andere aus dem ‚Allgemeinen deutschen Arbeiterverein‘ ausgeschieden und hätten in den Tagen vom 7. 8. und 9. August in Eisenach die socialdemokratische Partei in das Leben gerufen. Redner verliest hierauf das Programm der socialdemokratischen Partei und geht sodann, in seiner Kritik weiter fortfahrend, wieder zur Organisation des Allgemeinen deutschen Arbeitervereins über und betont einen weiteren Unterschied, der zwischen den Anschauungen der gegenwärtig in diesem Vereine herrschenden Partei, und demjenigen der socialdemokratischen Partei wie sie in ihrem Programme niedergelegt seinen [sic!], bestehe; es halte diese eine Verbesserung der socialen Zustände nur dann für möglich, wenn auch gründliche politische Reformen erfolgten. Die gegenwärtigen reactionären Regierungen, vor Allem die tonangebende preußische Regierung, seien mit den Interessen derjenigen Gesellschafts­classen, deren Capital gegenwärtig die Arbeiterkraft ausnütze, zu eng verbunden, als daß sich ernstliche sociale Verbesserungen erwarten ließen. Der Redner empfahl der Versammlung schließlich das Programm der socialdemokratischen Partei und die Lectüre des Organs derselben, den ‚Volksstaat.‘

Der folgende Redner, Anhänger Schweitzers, Herr Kölsch aus Mainz, spricht sehr wenig Bemerkenswerthes, wirft aber um so freigebiger mit leeren Phrasen um sich. Erheiternd ist es aber gewiß, daß der Redner, auf den Vorwurf, von Schweitzer gehe mit der preußischen Regierung Hand in Hand, im Uebereifer erwiedert. Wir wollen keine preußische und keine österreichische Regierung, wir wollen überhaupt gar keine Regierung.

Herr Böll aus Mainz spricht für das Eisenacher Programm.

Der folgende Redner, ein Anhänger der Schweitzer'schen Richtung, Herr Schneider schimpft in gröbster Weise auf das Capital und nicht minder auf die Anhänger der ketzerischen neuen Sekte und geht sogar soweit, Herrn Liebknecht vorzuwerfen, er habe sich zur Zeit als er sich in London als politischer Flüchtling aufhielt, als Polizeispion gebrauchen lassen.

Die Angriffe gegen das Capital ließ die Versammlung, aus nahe liegenden Gründen geduldig über sich ergehen, aber die letzte Aeußerung ruft eine tumultarische Scene hervor. Rufe ‚hinaus,‘ ‚herunter,‘ tönen aus allen Ecken des Saales. Der Vorsitzende schwingt anhaltend die Glocke und gebietet Ruhe, ohne daß durch diese sichtbaren und hörbaren Zeichen der Sturm auch nur einigermaßen beschwichtigt würde. ‚Es tobt der See und will sein Opfer haben.‘ Der Lärm nimmt zu, ein paar hundertarmiger und ebenso vielbeiniger Knäul formirt sich, der sich lärmend auf die Tribüne wälzt; ein paar derbe Faustgriffe, gegen die alles Sträuben fruchtlos ist; man sieht noch einmal ein feuerrothes Antlitz aufleuchten, und dann büßte der kühne Redner seine Worte mit Verschwinden in Nacht und Graus.

Der Präsident ermahnt hierauf mit besserem Erfolge zur Ruhe, die denn auch nach einigen Minuten wiederhergestellt ist. Er bedauert die vorgekommenen Thätlichkeiten Namens der Versammlung, die jedoch dieses Bedauern nicht vollständig getheilt zu haben scheint, denn mehrfach hörten wir die Aeußerung: ‚Dem hat's Recht geschehen!‘

Es sprachen hierauf noch Herr Ellner aus Coblenz und Herr Haustein aus Offenbach. Letzterer, ein Angehöriger der Schweitzer'schen Partei, bezeichnete, die Stellung, welche er und seine Gesinnungsgenossen der socialdemokratischen Partei gegenüber einnehmen. ‚Es ist nicht das Programm, was uns trennt,‘ äußerte derselbe, ‚sondern die Organisation. Was das Programm, das zu Eisenach aufgestellt wurde anbelangt, so gibt es keinen Punkt desselben, den wir nicht auch anerkennen dürfen und umgekehrt werden die Anhänger des Herrn Bebel und Liebknecht, alle die von uns aufgestellten Principien anerkennen. Die Streitfrage ist die, welche Organisation ist es, die uns am ehesten zum Ziele führt. Um die Einheit der socialdemokratischen Partei zu erhalten, um das Einschleichen von Elementen zu verhüten, die unseren Zwecken feindlich gegenüber stehen, halten wir die von Lasalle geschaffene Organisation für die bessere und wir halten an ihr fest!‘

Nach einigen kurzen Schlußworten von York, durch welche unter Anderem dieser bestätigte, daß principiell allerdings eine vollständige Uebereinstimmung beider Parteien besteht, wurden die Verhandlungen um 12 Uhr geschlossen. Demnächst steht abermals eine Versammlung in Aussicht, in welcher über verschiedene unerledigt gebliebene Punkte debattirt werden soll.“

Hessische Volksblätter vom 27. Oktober 1869. Die Redaktion merkt dazu an: „Wegen Mangel an Raum in unserem gestrigen Blatte, bringen wir den Bericht über die Arbeiter­versammlung erst in der heutigen Nr.“

Der Eisenacher Kongreß vom August 1869 mit der Gründung der sozialdemokratischen Partei förderte auch in Darmstadt die Emanzipation der hiesigen Arbeiterschaft von liberaler und kleinbürgerlicher Bevormundung und das Zusammengehen in einer neuen, klassenbewußteren Organisation. Die Veranstaltung am 23. Oktober fand ihre Fortsetzung am 14. November. – Währenddessen zeigt sich, daß die von interessierten Kreisen angestoßene Orientierung auf die Internationale Arbeiter­ausstellung in London ganz andere Ziele verfolgt.

„Darmstadt, 31. Oct.  (Große Internationale Arbeiterausstellung in London 1870.)  Verflossenen Sonntag versammelten sich die Repräsentanten der verschiedenen in hessischen Städten gebildeten Localcomite's in dem Bureau des Gewerbe Vereins, um über die zu ergreifenden Maßregeln zu berathschlagen. Vorerst wurde ein Central-Comite gebildet, von welchem die Arbeiter, welche Gegenstände für die Ausstellung zu verfertigen gedenken, Anleitung erhalten. Ferner wurde beschlossen, eine Ausstellung von den Gegenständen, welche später nach London geschickt werden, in Darmstadt im Mai 1870 zu eröffnen. Die Großherzogliche Regierung hat 1000 fl. bewilligt, um die Kosten der Uebersendung der Gegenstände nach London zu decken, auch einer der ersten Fabrikanten Hessens hat 500 fl. bewilligt und hoffen wir, daß dieses gute Beispiel vielfältige Nachahmung finden wird.

Ihre Leser wird es vielleicht interessiren zu hören, welche Fortschritte die projectirte Ausstellung (deren Präsident der erste Minister Englands ist) in anderen Ländern gemacht hat. In Großbritannien und Irland wurden 70 Localcomite's gebildet, deren Zweck es ist, den Arbeitern die Uebersendung ihrer Producte zu erleichtern, und viele der ersten Fabrikanten haben sich erboten, ihre Arbeiter in der genannten Sache zu unterstützen. Auch in Venedig, Verona, Florenz, Turin und Genua wurden Localcomite's gebildet. In Palermo erbot sich das Comite die Kosten zu tragen, welche das Uebersenden der Artikel nach London verursacht, und in den italienischen Städten wurden Subscriptionen zu demselben Zwecke veranstaltet. Zwanzig italienische Arbeiter werden der Ausstellung und dann den größten Fabrikstädten Englands einen Besuch abstatten. In Berlin, Stuttgart, Karlsruhe, München, Pesth und Warschau wurden ebenfalls Comite's errichtet. Die im Großherzogthum Baden verfertigten Gegenstände werden vor ihrer Versendung nach London in Karlsruhe ausgestellt. Die württembergische Regierung hat 10.000 fl. bewilligt, um die Kosten zu decken, welche dem Comite in Stuttgart durch Uebersendung der Gegenstände und durch die Bezahlung der die Ausstellung besuchenden Arbeiter erwachsen.

Auch in Kopenhagen, Hamburg und Brüssel, sowie in mehreren amerikanischen Städten wurden Comite's errichtet und durch die Vermittelung des britischen Ministers der auswärtigen Angelegenheiten trat der Ausschuß bezüglich der genannten Sachen mit den Regierungen Frankreichs und Rußlands in Verbindung. Eine Auswahl indischer Kunstarbeiten wird ebenfalls ausgestellt werden und da mehrere Länder darum gebeten, landwirthschaftliche Producte und Rohmaterialien nicht auszuschließen, so hat der Ausstellungsrath die Einsendung solcher Gegenstände ebenfalls gestattet. Die Ausstellung wird Anfangs Juli eröffnet werden.“ [HV, 3.11.1869]

„Darmstadt, 12. Nov.  Angeregt durch die Umtriebe der Schweizerianer gibt sich in neuerer Zeit ein besonderer Trieb zur Einigung unter den hiesigen Arbeitern kund. Die Mitglieder der bereits bestehenden Vereine ertheilten in diesem Sinne ihren Vorständen die Vollmacht, gemeinsam voranzugehen. Nachdem sich die Vorstände in mehreren Sitzungen vollständig geeinigt, wird nun von denselben zur Berathung der Vorschläge nächsten Sonntag den 14. d[ieses Monats], eine Versammlung im Saal des seither Balz'schen (jetzt Breidenbach'schen) Felsenkellers abgehalten, und erwarten dieselben eine zahlreiche Betheiligung von Seiten der Mitglieder des Arbeiter-Vereins, des Buchdrucker-Vereins, der Holzarbeiter- und der Metallarbeiter-Genossenschaft.“ [HV, 13.11.1869]

„Darmstadt, 6. Dec.  Placate verkünden, daß gestern Mittag eine Arbeiterversammlung auf dem Chausseehause stattfinden sollten [sic!], wozu Haustein von Offenbach, Kölsch von Mainz und A[ndere] ihre Betheiligung zu gesagt. In Folge dessen hatten sich ungefähr 50–60 Personen, eingefunden, allein die auswärtigen Redner, ohne deren Erscheinen die Schweizerianer hier keine Versammlung abhalten können, blieben aus und so gingen schließlich die Anwesenden, welche mit echt deutscher Geduld volle 3 Stunden vergeblich gewartet, unverrichteter Dinge nach Hause. Auf heute Abend haben die hiesigen Arbeitervereine eine Verhandlung in dem Ritsert'schen Saal ausgeschrieben.“ [HV, 7.12.1869]

Einladung zu einer Tanzveranstaltung.

Abbildung 4: Einladung zu einer Tanzveranstaltung des Darmstädter Arbeitervereins. In gewisser Weise imitiert man (und frau) das Weihnachtsgedöns des Bürgertums. Quelle: Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt vom 25. Dezember 1869, Scan vom Mikrofilm.

Eine geistige Erbauung mitsamt Bescherung für die weniger rebellischen Arbeiter richtete wenige Tage zuvor der katholische Gesellenverein aus. Hier wurde nicht getanzt, sondern es wurden die üblichen Rituale abgearbeitet, um die vorgesehene Belohnung zu erhalten.

„Darmstadt, 28. Dec.  Gestern feierte der hiesige kathol[ische] Gesellen-Verein ein schönes Fest, das sicherlich den Gesellen sowohl, als auch den erschienenen Gästen noch lange in Erinnerung bleiben wird. Es war die Christbescheerung. Der Katholiken-Verein hatte den Gesellen zur Abhaltung ihres Festes alle seine Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt, welche von einer wogenden Menschenmenge förmlich überfüllt waren, unter der wir auch eine Anzahl distinguirter Persönlichkeiten bemerkten, welche die Gesellen mit ihrer Anwesenheit beehrten. Auf einem langen Tische waren die fast durchaus hübschen, von Gönnern des Gesellen-Vereins den Mitgliedern desselben geschenkten Gegenstände ausgestellt. Nachdem Herr Lehrer Raab, der sich in der That durch seine rastlose Thätigkeit um den Verein verdient macht, auf dem Pianino einen hübschen Choral und die Gesellen das Lied: ‚Heiligste Nacht‘ vorgetragen hatten, dankte der Präses mit warmen Worten allen jenen Wohlthätern des Vereins, die zur Verherrlichung des Festes und namentlich zur Beschaffung der Gegenstände für die Bescheerung beigetragen hatten. Alsdann erhielt ein jeder der 62 Gesellen, welche den hiesigen Verein bilden, aus der Hand des Präses ein Christgeschenk und mit sichtbarer Freude wurde dasselbe in Empfang genommen. Erheiternde Deklamationen wechselten mit hübschen Gesängen und classisch vorgetragenen Piecen auf dem Pianino[.] Von ausgezeichneter Wirkung waren die mit endlosem Applaus aufgenommenen, an die geschichtliche Bedeutung des Weihnachtsfestes erinnernden tableaux vivants. Sichtlich befriedigt verließen die Theilnehmer des Festes das Local.

Möchte das begangene Fest dazu beitragen, nicht blos bei den Gesellen, sondern auch bei allen Wohlgesinnten das Interesse für den Gesellen-Verein zu wecken.“ [HV, 30.12.1869]

Die Großherzogliche Handelskammer zieht für das Buchdruckgewerbe folgende Bilanz:

„Darmstadt ist seit langer Zeit ein, von Verlagsbuchhandlungen der benachbarten größeren Städte als Druckort gesuchter Platz. Die Geschäftslage war in den letztverflossenen Jahren eine recht erfreuliche, nur wirkte die Arbeiterfrage hie und da ungünstig auf den Geschäftsbetrieb.“ [17]

Solidarität

Für das neu anbrechende Jahr hatten sich die sozialdemokratisch gesinnten Arbeiter einiges vorgenommen.

„Darmstadt, 31. Dec.  Aus dem in Leipzig erscheinenden ‚Volksstaat‘ dem [‚]Organ der social-demokratischen Arbeiterparthei und der Genossenschaften,‘ ersehen wir daß Sonntag, den 2. Januar 1870, Vormittags 11 Uhr in das ‚Weiße Roß‘ zu Mainz ein allgemeiner social-demokratischer Arbeitertag einberufen ist. Als Hauptpunkt ist auf die Tagesordnung der Versammlung gesetzt: ‚Errichtung eines ständigen Agitations-Comite's für den Rhein- und Maingau in Bezug auf die nächsten Wahlen.‘“ [HV, 1.1.1870]

Neben politischen Forderungen gehörte auch solidarisches Handeln schon früh zu den Essenzen der noch jungen Arbeiterbewegung.

„Darmstadt [ohne Datum, WK],  Die gegenwärtige Lage der Waldenburger strikenden Bergleute erregt auch in hiesigen Arbeiterkreisen große Theilnahme. Von einigen sich dieser Sache warm annehmenden Herren ist bereits eine Geldsammlung veranstaltet und deren Ertrag nach Waldenburg übermittelt worden; auch hat sich eine Anzahl von Arbeitern zu wöchentlichen Beiträgen verpflichtet. Um nun eine allgemeine Betheiligung zu erzielen soll nächsten Samstag im Ritsert'schen Saale eine große Arbeiter­versammlung zu Gunsten der Waldenburger abgehalten werden und erwarten die Veranstalter um so größere Theilnahme als es sich, wie auch bereits in d[iesem] Bl[atte] bemerkt wurde, bei dem Waldenburger Strike nicht um eine nur locale oder Lohnfrage handelt, sondern durch die dortigen Vorgänge eins der wichtigsten Rechte der Arbeiter, das der Coalitionsfreiheit in Frage gestellt wird.“ [HV, 7.1.1870]

Aus Darmstadts nördlicher Nachbarschaft wird gemeldet:

„Frankfurt, 19. Jan.  Der social-demokratische Arbeiterverein, welcher von Woche zu Woche an Mitgliedern wächst, hielt am Montag [17.1., WK] eine Versammlung ab, von welcher die Schweitzerianer ausgeschlossen waren. Die Verhandlungen waren ruhig und würdig. Hinsichtlich des Waldenburger Strike wurde folgende Resolution angenommen: Der Verein erklärt die Waldenburger Arbeitseinstellung der Bergbau-Arbeiter für vollständig gerecht und fordert alle rechtlich denkenden Menschen auf, sie zur Erlangung ihrer Ziele zu unterstützen. Eine interessante Debatte entspann sich über den Import schwedischer Arbeiter. Bei der Wichtigkeit des Gegenstandes einigte man sich dahin, denselben Donnerstag Abend in öffentlicher Versammlung einer nochmaligen Besprechung zu unterziehen und rechnet der Verein auf die Theilnahme derjenigen, welche die Absicht haben, Schweden kommen zu lassen. Gäste können diese Versammlung gefahrlos besuchen, da geeignete Vorkehrungen getroffen sind, die Schweitzerianer fern zu halten. In der Versammlung derjenigen Landwirthe, welche Schweden importiren wollen, wurde Umfrage über die Zahl, welche jeder zu haben wünscht, gehalten, und wurden beinahe 100 eingezeichnet; weitere Anmeldungen stehen noch in Aussicht.“ [HV, 21.1.1870]

Es folgt der nächste organisatorische Zusammenschluß:

„Darmstadt, 10. Febr.  Die Schuhmachergesellen hiesiger Stadt haben in einigen Zusammenkünften über die ihnen angesetzte Steuer, die denselben nicht behagt, debattirt, und zu gleich den sehr zweckmäßigen Plan zur Gründung einer Vorschuß- oder Credit-Kasse aufgestellt. Am letzten Montag [7.2., WK] hatte dem Vernehmen nach bei Wirth J. P. Ost (Kiesstraße) eine weitere Versammlung statt und wurde die Grundlage zu einer Genossenschaft gelegt.“ [HV, 11.2.1870]

„Darmstadt, 22. Febr.  Morgen, Mittwoch Abend findet im Arbeiterverein eine Besprechung der jüngsten Rede Johann Jakoby's über die Arbeiterfrage statt. Der Verein wünscht sehr, daß auch Nichtmitglieder, namentlich aus den gebildeten Ständen, derselben bei[?]wohnen und sich an der Discussion betheiligen möchten.“ [HV, 23.2.1870, Lesung eines Wortes unsicher]

„Darmstadt, 28. Febr.  Herr Fabrikant H[einrich] Blumenthal, welcher an allen Bestrebungen das materielle Wohl der Arbeiter zu fördern, den regsten Antheil nimmt, ist nun damit vorgegangen, den Arbeitern seiner Fabrik in Zukunft einen Theil an dem Geschäftsgewinn zu gestatten, eine Maßregel die gewiß öffentliche Anerkennung und Nachahmung verdient.“ [HV, 1.3.1870]

Industrial Partnership

Leider geht aus der Meldung der „Hessischen Volksblätter“ nicht hervor, ob Heinrich Blumenthal seine Arbeiter einfach nur am erwirtschafteten Gewinn hat teilhaben lassen wollen oder ob er das just zu dieser Zeit auch in Darmstadt diskutierte System der industrial partnership hat einführen wollen. Hierzu führt der vierte Jahresbericht der Großherzoglichen Handelskammer Darmstadt für 1867/69 aus:

„Wie bekannt, machte der Berliner Fabrikant [Wilhelm, WK] Borchert, Besitzer eines bedeutenden Messingwerks, mit Beginn des Jahres 1868 seinen Arbeitern die Proposition, sie versuchsweise am Geschäftsgewinn Theil nehmen zu lassen und zwar einestheils dadurch, daß er ihnen gestattete, sich mittels Actien am Geschäftscapital zu betheiligen, andererseits durch Rapartition einer Quote des Geschäftsgewinns auf die Arbeit. Die Resultate des Probejahres waren günstige und haben die Richtigkeit der Combination dargethan, daß durch die Aussicht auf Gewinnbetheiligung eine intensivere Arbeit geschaffen und neue Werthe erzeugt werden würden, die ohne Mitleidenschaft des Unternehmergewinns als ‚Bonus‘ verteilt werden könnten. Eine zahlreiche Actienbetheiligung Seitens der Arbeiter und die definitive Constituirung der Institution waren die Folge dieser Ergebnisse.

Indessen hat unzweifelhaft die Industrial partnership ihre schwache Seite und es dürfte das in dem obengedachten Einzelfalle erzielte vortheilhafte Resultat nichts für die allgemeine Ausführbarkeit und Nützlichkeit des Unternehmens beweisen. Insbesondere ist die Anlage der Arbeiter­ersparnisse in Actien volks­wirthschaftlich nicht zu vertheidigen und würde bei eintretenden Verlusten anstatt Gewinns voraussichtlich die Veranlassung zur Unzufriedenheit und zu Conflicten abgeben; bei Zunahme des Arbeiter­actiencapitals verschwindet außerdem die einheitliche Leitung, die Disciplin wird erschwert und eine Reduction der Arbeiterzahl resp. Arbeitszeit bei Krisen in ausgedehntem Maße unmöglich.

Wir bezweifeln aus diesen Gründen, daß der Borchert'sche Versuch in weiten Kreisen Nachahmung finden wird.“ [18]

„Darmstadt, 8. März.  Im Arbeiter-Verein (Ludwigshalle) wird Mittwoch den 9. d. M. die Rede Dr. Joh. Jacobis an seine Wähler in Berlin weiter besprochen werden. Die Herren, Dr. Büchner, Dr. Dernburg und Dr. Wilk haben ihre Betheiligung zugesagt und ist hierfür wünschenswerth daß auch die Arbeiter selbst zahlreich erscheinen. Nichtmitglieder haben freien Zutritt.“ [HV, 9.3.1870] [19]

In einer Annonce der „Hessischen Volksblätter“ am 10. März 1870 sucht das Unternehmen A. K. Seebass aus Offenbach am Main in Darmstadt tüchtige Maschinenschlosser und Eisendreher, die auf Werkzeugmaschinen geübt sind und „gute Atteste“ vorweisen können. Das Reisegeld werde vergütet.

„Darmstadt, 12. April.  Morgen, Mittwoch den 13. d. M. wird Herr Dr. Klunk im Lokale des Arbeiter-Vereins einen Vortrag über Gesundheitspflege halten. Da ein solcher Vortrag von großem Interesse für Jedermann, hauptsächlich aber für Arbeiter sein muß, so ist, da Jedermann freien Zutritt hat, gewiß eine zahlreiche Betheiligung zu erwarten.“ [HV, 13.4.1870]

Da stellt sich mir die Frage: hatten auch Arbeiterinnen, unabhängig von einer Bindung an einen Mann, ebenso freien Zutritt? Bislang habe ich hierzu nichts finden können. – In der nördlichen Großstadt wird nunmehr gestreikt.

„Darmstadt, 15. April.  In Frankfurt ist unter den Schneidergesellen eine Strike ausgebrochen. Derselbe wird von einem Comite geleitet, an dessen Spitze der als Schweitzer'scher Agitator auch hierorts bekannte Schneider steht. Derselbe begab sich vorgestern in die Werkstätten, wo noch Handwerksgenossen arbeiteten, forderte diese zum Arbeitseinstellen auf und ließ einen bloß mit den Worten ‚das Comite‘ unterschriebenen Zettel zurück, worin der Meister aufgefordert wird, innerhalb 24 Stunden den beigefügten Tarif zu unterschreiben, andernfalls ihm Niemand mehr arbeiten werde. Einem Schneidermeister wurde sogar während seines im Interesse des Geschäfts unternommenen Ausgangs die Werkstätte zugeschlossen. Neben der Lohnerhöhung wird noch eine achttägige Auslohnung gefordert.“ [HV, 17.4.1870]

Offensichtlich ermutigte das Frankfurter Vorbild auch die Darmstädter Kollegen, die ihre Forderung durchsetzen konnten.

„Darmstadt, 25. April.  Die Schneidergesellen und Stückmeister hatten gestern eine Versammlung in Betreff der Lohnfrage. Man berieth einen Tarif und Statutenentwurf, welcher den Meistern zur Anerkennung vorgelegt werden soll; von einer Arbeitseinstellung wurde vorerst abgesehen.“ [HV, 26.4.1870]

„Darmstadt, 27. April.  Die an der am verflossenen Sonntag abgehaltenen Versammlung der Schneidergesellen aufgestellten Forderungen, welche im Wesentlichen in einer Erhöhung der Löhne um 25% bestehen, sind von fast sämmtlichen Meistern (zwei ausgenommen) acceptirt worden, und ist somit dem Ausbruche eines allgemeinen Strikes vorgebeugt.“ [HV, 28.4.1870]

Zwischendurch meldet sich auch die Obrigkeit zu Wort.

„Darmstadt, 25. April. Die seit dem 20. September vorigen Jahres gegen die hiesigen fast allgemein strikenden Buchdrucker-Gehilfen angestrengte Untersuchung (62 Setzer und Drucker) beim Criminalgericht ist, wie wir aus sicherer Quelle erfahren, endlich niedergeschlagen worden. Obgleich viele damals Betheiligte längst abgereist sind und Anwendung eines aus der früheren Zunftzeit herrührenden Art. 184 des für unsere Zeit vielseitig unanwendbaren Polizei-Strafgesetzes durch ihre Abwesenheit entgingen, befanden sich dennoch etwa 30 Angeklagte hierselbst, welche nunmehr der Aburtheilung in dieser damals allgemein Sensation erregenden Angelegenheit entzogen sind.“ [HV, 27.4.1870]

Die Ausstellung

Zu der seit Herbst 1868 beworbenen Ausstellung der Handwerker und Arbeiter in London sollte es eine vorbereitende hessische Ausstellung geben. Im Mai 1870 laufen nunmehr die Vorbereitungen zu der für den Folgemonat angesetzten Leistungsschau.

„Darmstadt, 1. Mai.  Künftigen Monat wird dahier eine Ausstellung von selbstverfertigten Arbeiten der Handwerker und Fabrikarbeiter Hessens in den Räumen der städtischen Turnhalle und auf den angrenzenden Plätzen stattfinden, welcher nach dem ‚Gewerbeblatt‘ die Absicht zu Grunde liegt, auch den kleineren Handwerksmeistern, sowie den Fabrikarbeitern und Gesellen Gelegenheit zu geben, ihre manuellen Fertigkeiten, ihre Erfindungsgabe, ihre Leistungs­fähigkeit in Erzeugung von Industrie­gegenständen, einem größeren Publikum vorzuführen und dem Arbeiterstand durch Vergleichung der Einzel-Leistungen seiner Berufsgenossen Gelegenheit zur Belehrung und Anregung zum Wetteifer in technischer Ausbildung zu geben. Zu dieser Ausstellung haben sich 885 Aussteller und zwar 405 Handwerks­meister, 227 Gesellen, Gehülfen und Arbeiter und 243 Lehrlinge mit Arbeiten angemeldet. [20]

Die Erzeugnisse der Klein-Gewerbe, der Fabrik-Industrie, der Kunstgewerbe sowie landw[irthschaftliche] Maschinen und Geräthe werden reichlich vertreten sein und dürften dem Auge des Besuchers ein ebenso interessantes wie belehrendes Bild bieten, zumal da es auch in Absicht liegt, eine Anzahl kleiner Werkstätten in dem Ausstellungsraum zu etabliren, in welchen während der Dauer des Unternehmens gearbeitet werden soll. Eine Verloosung von ausgestellten Gegenständen wird mit der Ausstellung verbunden werden. – Zum Commissär der großh[erzoglichen] Regierung für die im Jahr 1871 beginnenden internationalen Ausstellungen in London ist der Präsident des Landesgewerbe­vereins, großh. Ministerialrath Schleiermacher ernannt worden. Da die Anmeldeverzeichnisse zur ersten Ausstellung schon in diesem Monat an die englische Commission eingesandt werden sollen, so ersucht die großh. Centralstelle für die Gewerbe und den Landesgewerbe­verein die inländischen Künstler und Fabrikanten, welche sich hieran betheiligen wollen, um baldige Benachrichtigung mit dem Bemerken, daß Exemplare des Programms etc. von ihr bezogen werden können.  (Fr. Ztg.)“ [HV, 5.5.1870]

„Darmstadt, 18. Mai.  Die baulichen Einrichtungen und die Vorarbeiten für die Ausstellung von selbstverfertigten Arbeiten der Handwerker und Fabrikarbeiter sind so weit gediehen, daß vom 15. Mai an mit der Empfangnahme und der Ausstellung der Erzeugnisse begonnen werden konnte. Alle Ausstellungs-Gegenstände müssen bis 22. Mai l. J. in das Ausstellungslokal – Städtische Turnhalle dahier – abgeliefert werden. Die Aussteller haben durch die Gr[oßherzogliche] Centralstelle für Gewerbe oder durch die betr. Lokal-Comité's Instructionen über die Hersendung der Ausstellungs-Gegenstände empfangen. Die Ausstellung wird am 1. Juni l. J. eröffnet und dauert bis zum 30. Juni. An den Wochentagen ist die Ausstellung von Morgens 9 bis Nachmittags 6 Uhr geöffnet; an den Sonntagen von Vormittags 11 Uhr bis Nachmittags 6 Uhr. Der Eintrittspreis beträgt 18 [Kreuzer] per Person. Mit der Ausstellung wird eine Verloosung von aus der Ausstellung angekauften Gegenständen verbunden. Der Preis eines Looses beträgt 36 kr. Loose sind in der Ausstellung, auf dem Büreau des Landesgewerbvereins und bei allen Lokal-Comité's vom 20. Mai an zu haben. Gegen Einsendung des Betrags und der Frankaturmarken können auch Loose brieflich von dem Büreau des Gewerbvereins verlangt und von demselben abgegeben werden.“ [HV, 19.5.1870]

Andernorts laufen ganz andere Vorbereitungen, und es zeigt sich nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal, daß Arbeiterinnen und Arbeiter als Feind der inneren Ordnung gelten, welche mit militärischer Waffengewalt aufrecht zu erhalten ist.

„Worms, 3. Mai.  Heute früh versuchten hier die Zimmergesellen ‚Strike‘ zu machen, indem sie die Arbeit einstellten. Abkürzung der Arbeitszeit von Morgens 6 bis Abends 6 Uhr, statt wie gewöhnlich von 5 bis 7 Uhr, und Erhöhung des Lohnes von 1 fl. 8 kr. auf 1 fl. 12 kr. per Tag war die Losung bei diesem epidemisch wirkenden Lasalleanischen Manöver. Die parlamentarischen Unterhandlungen führten zu dem Resultate, daß die Arbeitszeit unverändert, der Arbeitslohn jedoch um 4 kr. pr[o] Tag erhöht wurde, worauf sämmtliche Gesellen wieder zur Arbeit zurückkehrten.“ [WZ, 4.5.1870, online ulb darmstadt]

„Michelstadt, 6. Mai.  Die Bahnarbeiter haben heute Strike gemacht, weil der Bauunternehmer sich weigerte, den verlangten höheren Lohn zu gewähren.“ [HV, 8.5.1870]

„Offenbach, 17. Mai.  Gestern haben hier die Weißbindergesellen bis auf wenige die Arbeit eingestellt, auch hatten sie Posten ausgeschickt, um die von den Ortschaften kommenden Genossen von der Arbeit abzuhalten, was aber eine Untersuchung nach sich zog. – Am Abend hielten die Schweitzerianer eine Versammlung ‚Zum grünen Baum‘, wo schwere Worte fielen. Die Behörde, durch Drohplakate aufmerksam, hatte Vorkehrungen zur Verhütung von Ruhestörungen getroffen, besonders weil verlautete, daß einer der Führer der Schweitzerianer, der unlängst einem Nachtwächter ein Stück vom Daumen gebissen, aus seiner Haft befreit werden sollte. Zwei Compagnien des hier garnisonirenden Jägerbataillons waren in der Kaserne zum Ausrücken bereit gehalten.  (Fr[ankfurter] J[ourna]l)“ [HV, 19.5.1870]

Der Arrestierte wurde Ende Juni 1870 gegen Kaution aus der Haft entlassen. – Nachdem die Schneider in Darmstadt im April erfolgreich vorangegangen waren, traten im Mai die Schuhmacher und die Bäcker in den Ausstand. Während ich über einen Erfolg oder Mißerfolg der Bäckergesellen bislang nichts finden konnte, wird der Streik der Schuhmachergesellen in aller Öffentlichkeit ausgetragen und endet mit dem gebieterischen Eingreifen der Staatsgewalt, natürlich zugunsten der Meister. Die Offenbacher Schuhfabrik von Karl Ochsenhirt und Berenz nutzt die Gunst der Stunde und annonciert in den „Hessischen Volksblättern“ am 11. Mai 1870: „Herrn- und Damenarbeiter finden dauernde und lohnende Beschäftigung“.

„Darmstadt, 7. Mai.  Es gährt eben auch in den Backstuben; wie wir hören, unterhandeln die Bäckergesellen von Neuem wegen Erhöhung des Lohns mit den Meistern.“ [HV, 8.5.1870]

Für den 8. Mai 1870, nachmittags um 3 Uhr, war mittels einer Zeitungsannonce zu einer Besprechung sämtlicher hiesiger Bäckergesellen in die Bierbrauerei des Herrn M. Appfel in der Schloßgasse eingeladen worden. In einer weiteren Annonce wird drei Tage später erklärt, man habe dort beschlossen, „daß jeder Bäckergeselle per Woche 1 fl. 30 kr. mehr Lohn fordert, bewilligen die H[e]r[re]n Meister bis Donnerstag den 12. d. M. nicht, so ist die Arbeit bis auf Weiteres eingestellt.“ [21] Aus den „Hessischen Volksblättern“, die noch am ausführlichsten über die Arbeiterbewegung berichten, ist nachträglich nicht zu erfahren, ob es eine Einigung gegeben hat und wie diese eventuell ausgesehen hat.

Anders verlief der Streik der Schuhmachergesellen.

„Darmstadt, 5. Mai.  Wie wir hören haben die sämmtlichen hiesigen Schuhmachergesellen an die Meister die Forderung einer Erhöhung der Arbeitslöhne um 25% gestellt. Im Falle dieser Forderung nicht entsprochen werden sollte, würde von Morgen an eine allgemeine Arbeitseinstellung erfolgen. Da sich die Majorität der Meister den Forderungen der Gesellen geneigt zeigt, steht zu hoffen, daß die Affaire ohne eine Strike endigen wird.“ [HV, 6.5.1870]

Die damit verbundene Hoffnung wird sich nicht erfüllen.

„Erklärung.

Da die hiesigen Herrn Schuhmachermeister, einige Kleinmeister ausgenommen, mit den von uns aufgestellten Forderungen, 25 pCt. Lohnerhöhung betr., nicht einverstanden sind, erklären wir hiermit, daß die Arbeitseinstellung von heute ab im Gange ist.

Darmstadt, 10. Mai 1870.

In Auftrag sämmtl[icher] Schuhmachergesellen: Das Comité.“ [HV, 10.5.1870, Annonce]

In derselben Ausgabe vom 10. Mai 1870 tragen Schuhmachermeister und Arbeiter ihre Argumente in einer großformatigen Annonce vor, die auf einer eigenen Seite wiedergegeben wird.

Die Sorgen der Bürger

Das zwischen die Fronten der Arbeiter und Meister geratene höfische Kleinbürgertum macht sich angesichts weiterer Streiks Sorgen und die großdeutsch gesinnten „Volksblätter“ sind allezeit bereit, den verhaßten Preußen die Schuld zu geben, als ob der Militarismus eine rein preußische Obsession gewesen wäre; Darmstadt war bekanntlich schon lange zuvor Kasernenstadt! Ein weiterer Gedanke, der aber nicht näher ausgeführt wird, scheint zu sein: würden die Arbeiter nicht zum Militärdienst eingezogen, wären trotz anziehender Konjunktur mehr Arbeitskräfte vorhanden, welche auf das Lohnniveau drücken und somit die Preise niedrig halten würden.

„Darmstadt, 9. Mai.  Die Strikes scheinen hier epidemisch werden zu wollen. Nach dem Vorgang der Schneidergesellen haben die Schuhmacher­gesellen heute ebenfalls die Arbeit eingestellt, die Bäcker, Schieferdecker und Schreiner beabsichtigen dasselbe, wenn ihre an die Meister gestellten Forderungen einer Lohnerhöhung von 25–30% nicht angenommen werden sollten. Bei solchen, durch die ganze Arbeiterwelt gehenden, Bestrebungen fragt man sich unwillkürlich: Wie soll das enden und wie werden die Familien von Tausenden der niederen Angestellten bei der Vertheuerung aller Lebensbedürfnisse in Zukunft nur zu existiren vermögen? Es sind eben immer wieder die traurigen Folgen des Jahres 1866, die wir Preußen verdanken. Die Arbeitskräfte sind in die Kasernen verbannt und die Steuern sind maßlos gesteigert. Alles für die uns von Preußen aufoctroirten Militäreinrichtungen, welche an dem Mark des Landes zehren und den größten Theil der Einnahmen verschlingen, so daß für andere Zwecke kaum Etwas übrig bleibt. An eine Erfüllung des von jedem billig Denkenden und auch von unseren Ministerien als berechtigt anerkannten Gesuchen der Subalternbeamten um eine Erhöhung des niederen Gehalts ist daher nicht zu denken und sind die Petenten damit ‚in Rücksicht auf die gegenwärtige (doch durch das Jahr 1866 geschaffene) Lage‘ abgewiesen worden.

Und Trotzdem und Alledem sollte es noch Leute geben, welche die Vertrauens­seeligkeit einiger Nationalliberalen, denen wir ein Gut Stück dieser Calamität verdanken, theilten und den von jenen angestrebten Eintritt auch der diesseits des Mains gelegenen Hälfte des Großherzogthums[,] wodurch dem Lande noch größere Lasten erwachsen, wünschten? Wir glauben die Zahl solcher Vertrauensseeligen, ist sehr gering!“ [HV, 10.5.1870] [22]

Die Meister und Kapitaleigner organisieren sich.

„Darmstadt, 11. Mai.  Gestern Abend hielten auf Anregung der hiesigen Schuhmacher­meister Geschäftsleute der verschiedensten Branchen, als Schneider, Zimmerleute, Maurer, Bäcker, Schlosser, Spengler etc. in Winters Brauerei eine Versammlung ab und verständigten sich die verschiedenen Meister dahin, gemeinschaftlich in der Angelegenheit der hiesigen Strike's vorzugehn. Es wurde zu diesem Zwecke ein provisorisches Comité aus Mitgliedern der einzelnen Geschäfte gebildet. In etwa acht Tagen wird von demselben eine größere Versammlung von den betreffenden Meistern zu endgültiger Beschlußfassung einberufen werden.“ [HV, 12.5.1870]

Annonce der Schuhmachermeister.
Abbildung 5: Annonce der Schuhmacher­meister in den „Hessischen Volksblättern“ vom 15. Mai 1870. Scan vom Mikrofilm.

Mit einer Zeitungsannonce in den „Hessischen Volksblättern“ versuchen die über ein provisorisches Comité organisierten Schuhmacher­meister, ihre Kundschaft zu beruhigen. Es wäre ja auch nicht auszudenken, wenn beim nächsten Hofempfang das Schuhwerk locker säße! Interessant wäre es zu erfahren, inwieweit sich die bisherigen und die geforderten Löhne der Schuhmacher­gesellen von denen ihrer Mainzer Kollegen unterschieden haben. Einfach zu behaupten, man habe die Darmstädter Löhne nach denen der Mainzer „reguliert“, sagt ja nichts über die tatsächlichen Verhältnisse aus; erst recht nichts über Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen. In der am 10. Mai veröffentlichten „Antwort an die Herren Meister“ ist eine Arbeitszeit von morgens um 4 Uhr bis abends um 9 Uhr angeführt; und der geforderte Lohn solle es den Arbeitern ermöglichen, zu leben „wie ein Mensch“. Was für Zustände! Doch der Streik nimmt ein jähes Ende, und es scheint, als hätten die Meister es vorausgesehen.

„Darmstadt, 17. Mai  Der Schuhmacherstrike hat sein Ende erreicht. Die Schuhmacher­meister sind auf die Forderungen der Gesellen nicht eingegangen und die letzteren sind theilweise wieder in die Arbeit zurückgekehrt. Das Comité wurde auf Grund des Coalitionsgesetzes in Untersuchung gezogen und die übrigen Gesellen, welche nicht von hier sind und sich arbeitslos dahier aufhalten, polizeilich ausgewiesen.“ [HV, 18.5.1870]

Ob auch das Comité der Meister „in Untersuchung gezogen wurde“? – Auch die Maurer streikten ohne Erfolg.

„Darmstadt, 23. Mai.  Wie man uns nachträglich mittheilt versuchten jüngst die auf Taglohn arbeitenden Maurergesellen durch Arbeitseinstellung eine Lohnerhöhung zu erzwingen, stießen aber bei den Meistern auf solch energischen Widerstand, daß sie ihr Vorhaben aufgaben.“ [HV, 24.5.1870]

Dann gibt es zur Abwechslung wieder einmal einige Nachrichten aus Frankfurt.

„Frankfurt, 25. Mai.  Gestern wurde an den Badehäuschen am Untermainthor die Leiche eines Mannes geländet. Derselbe scheint, da er nicht bekleidet war, beim Baden verunglückt zu sein. Gleichzeitig wurde die Leiche eines wohlgekleideten, etwa 18 Jahre alten Mädchens im Main gesehen, dieselbe verschwand jedoch wieder. Trotz aller Nachforschungen wurde sie bis heute noch nicht aufgefunden. – Der größte Theil der strikenden Bäcker hat ohne auf ihrer Forderung zu beharren, den goldenen Mittelweg gewählt, sich mit den Meistern verständigt und bereits gestern Abend schon die Arbeit wieder aufgenommen. In Folge des Schlafens im Wald erkrankte ein strikender Bäcker an einer Gelenkentzündung. Von den Schuhmachern feiert noch eine ziemlich Anzahl Gesellen. Wie wir hören, wollen auch die Barbiergehülfen striken; der deßfalls von einer gewissen Seite ausgegangenen Bemühungen hatten jedoch bis zur Stunde noch keinen Erfolg, im Gegentheil wurden die betreffenden Aufforderer zur Strike auf manchen Barbierstuben von den Interessenten abgewiesen. – Ueber die Strike der Metzgerburschen wird erst in einer heute stattzuhabenden Versammlung entschieden, die auf den Montag [23.5., WK] anberaumte wurde aufgelöst, da sie vorher nicht angezeigt war. – Die Glasergehülfen, ebenso die Schreiner wollen auch striken. Die zum größten Theile aus Handwerkern bestehenden ‚Lohnmänner‘ haben wegen eines Strike gleichfalls Besprechung gehabt.  (Fr[ankfurter] Bl[ätter])“ [HV, 28.5.1870]

Ob sich die mit ihren Forderungen gescheiterten Darmstädter Maurer Unterstützung von auswärts geholt haben?

„Darmstadt, 30. Mai.  Gestern und vorgestern weilten Emissäre der Schweizer'schen Partei, wenn wir recht unterrichtet sind, aus Frankfurt und Offenbach, in unsern Mauern, um wo möglich eine Arbeitseinstellung sämmtlicher Bauhandwerker behufs Lohnerhöhung in Scene zu setzen. Die Herrn sollen sich indeß überzeugt haben, daß für ihre Thätigkeit hier kein besonders günstiges Feld ist.“ [HV, 31.5.1870]

Im gesamten Juni wird in Darmstadt die schon für das Vorjahr vorgesehene Landesausstellung von „selbstverfertigten Arbeiten“ der Handwerker und Arbeiter durchgeführt. [23]

„Darmstadt, 2. Juni.  Wir empfehlen heute in aller Kürze die gestern im städtischen Turnhause eröffnete Ausstellung von selbstverfertigten Arbeiten der Handwerker, Fabrikarbeiter und Lehrlinge aus dem Großherzogthum. Zwar ist die größte Stadt unseres Landes, Mainz leider fast gar nicht vertreten. Um so erfreulicher ist die Betheiligung aus dem ganzen übrigen Lande. Die ausgestellten Gegenstände sind ebenso mannichfaltig, wie sie schön gearbeitet sind und beweisen, daß auch im Süden – um mit Bamberger zu reden – ein ‚fleißiges, gesittetes Volk‘ wohnt. Eine eingehende Besprechung behalten wir uns für eine der nächsten Nummern vor.“ [HV, 3.6.1870; ein entsprechender Bericht ließ sich nicht finden]

„Darmstadt. Gewerbe-Ausstellung von selbstverfertigten Arbeiten der Handwerker, Fabrikarbeiter etc.

Die Ausstellung wurde am 1. Juni eröffnet und dauert bis zum 30. Juni. – An den Wochentagen sind von Morgens 9 Uhr und an den Sonntagen von Morgens 11 Uhr bis Nachmittags 6 Uhr Eintrittskarten à 18 kr. für eine Person und Familienkarten für 5 Personen zu 48 kr. an der Kasse zu haben. – Die Hessische Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft gewährt auswärtigen Besuchern der Ausstellung freie Rückfahrt auf allen Linien ihrer Bahnen an den Tagen des 7., 8., 10., 12., 13., 15., 17., 20., 22., 24., 26., 27. und 29. Juni, wenn an den Eisenbahn-Schaltern mit dem einfachen Fahrbillet für die Hinfahrt eine Eintrittskarte zur Ausstellung gelöst wird. Mit der Ausstellung ist eine Verloosung verbunden. Loose zu 36 kr. per Stück sind in der Ausstellung, auf dem Bureau des Landes­gewerbvereins in Darmstadt und bei den Local-Comités des Landes zu haben.

Großh[erzogliche] Centralstelle für die Gewerbe und den Landesgewerbverein.

Schleiermacher.   Fink.“ [Annonce in HV, 8.6.1870]

„Darmstadt, 18. Juni.  Die Ausstellung selbstverfertigter Arbeiten von Handwerkern, Fabrikarbeitern etc., im Großherzogthum Hessen wird morgen von Mitgliedern der Arbeiter­bildungsvereine zu Darmstadt, Frankfurt, Offenbach, Hanau, Gießen, Mainz, Wiesbaden etc. besucht werden. Die Theilnehmer werden in Winters Brauerei ein gemeinsames Mittagsmahl einnehmen und wird sich daran eine Besprechung über die ausgestellten Gegenstände anschließen. Die Mitglieder der hiesigen Gewerkschaften, (Metallarbeiter, Buchdrucker etc.) welche sich durch ihre Mitgliedskarte legitimiren, können sich ebenfalls daran betheiligen.“ [HV, 19.6.1870]

Wilhelm Liebknecht und die Sozialdemokratie

In Mainz sorgt sich die Polizei um das Wohlergehen der Bäckermeister.

„Mainz, 7. Juni.  Die Strikeversuche der hiesigen Bäckergesellen sind vereinzelt geblieben. Die Polizei hat sich in's Mittel gelegt und in den letzten Tagen verschiedenen Strikelustigen die Weisung ertheilt, die Stadt zu verlassen.“ [HV, 9.6.1870]

Annonce Arbeiterversammlung.
Abbildung 6: Annonce mit der Einladung zur Arbeiter­versammlung in den „Hessischen Volksblättern“ vom 9. Juni 1870. Scan vom Mikrofilm.

Wilhelm Liebknecht hat sein Versprechen aus dem vergangenen Jahr, wenn auch verspätet, wahr gemacht und sich für eine Rede in Darmstadt angemeldet.

„Darmstadt, 7. Juni.  Donnerstag den 9. Juni wird im Ritsert'schen Saale eine Arbeiterversammlung stattfinden, bei welcher der Reichstags­abgeordnete Liebknecht, über den Stuttgarter Arbeiter-Congreß und über die Arbeiterfrage, mit besonderer Rücksicht auf die Strikebewegung, sprechen wird.“ [HV, 8.6.1870]

„Darmstadt, 10. Juni.  Der Ankündigung gemäß erstattete gestern der Reichstags­abgeordnete Liebknecht im Ritsert'schen Saale vor einer zahlreichen Arbeiter­versammlung seinen Bericht über den sozial-demokratischen Congreß in Stuttgart. Wir haben indessen keine Veranlassung zu einem eingehenderen Referate, da wir die dortigen Verhandlungen im Auszuge brachten und eine Debatte über einzelne Thesen schon deßwegen nicht zu Stande kam, weil Liebknecht nach Schluß seines Vortrags nach Leipzig zurückreiste. Der weitere Abend wurde sodann mit ziemlich unnützen allgemeinen Tiraden einiger anwesenden Schweitzerianer ausgefüllt. Die Veranstalter der Versammlung dagegen zeichneten sich durch die absoluteste Schweigsamkeit aus. Demnächst vielleicht mehr über den Stuttgarter Tag.“ [HV, 11.6.1870]

Zeitungsbericht über den sozialdemokratischen Parteikongreß in Stuttgart

Stuttgart, 7. Juni.  Der zweite Congreß der social-demokratischen Arbeiterpartei wurde am Sonntag Morgen [5.6., WK] in dem großen Saale der Liederhalle durch Geib aus Hamburg, den die Delegirten zum Präsidenten gewählt, eröffnet; sein Stellvertreter ist Bebel aus Leipzig. Vertreten sind 104 Orte mit etwa 15.000 Mitgliedern durch 68 Delegirte, im Saale sind 7–800 Personen anwesend. Der Vorsitzende legt in kurzen Worten die Bedeutung der Arbeiterbewegung dar und macht sodann darauf aufmerksam, daß sich an der Berathung nur solche betheiligen können, welche sich als Mitglieder der Partei zu legitimiren im Stande sind. Nun referirt York aus Harburg über die Gewerkschafts­bewegung in Deutschland, geißelt die Arbeitseinstellungen als nutzlos und schlägt folgende Resolution vor: „Der Congreß erklärt für Hauptaufgabe der Gewerks­genossenschaft die Bildung und Förderung gemeinsamer Productivgeschäfte und empfiehlt den Gewerkschaften ein gemeinsames Vorgehen in dieser Richtung.“ Nachdem der Redner geschlossen, gab es eine tumultarische Zwischenscene, indem der schweizerische Agitator Wolf aus Hamburg zur Geschäftsordnung das Wort verlangte, das ihm als Nicht­parteimitglied verweigert wurde. Seine Parteigenossen, 80–100 an der Zahl, erhoben darob gewaltigen Lärm, aber endlich gelang es doch dem folgenden Redner, Ehlers von Braunschweig, zum Wort zu kommen. Den Vorredner ergänzend, sprach derselbe für Errichtung eigener Krankenkassen und Reise-Unterstützungen und gegen Arbeitseinstellungen, ebenso Neißer aus Breslau für völlige Verschmelzung der verschiedenen Gewerks­genossenschaften. Die Wortführer der Schweizerianer hatten wiederholt die Redner durch Protest gestört.

Der folgende der eingeschriebenen Redner, Bebel von Leipzig, vermochte nicht zum Wort zu kommen. Die Anhänger Schweizers legten durch unausgesetzten Lärm jeden Versuch des Präsidenten, Ruhe zu schaffen, lahm, so daß derselbe endlich unter lautem Beifall der anwesenden Socialdemokraten, ca. 500 an der Zahl, sowie des auf den Gallerien zahlreich vertretenen Publikums, der Entrüstung der Versammlung über das Benehmen der Schweizerianer Ausdruck gab und die Versammlung auf Montag früh vertagte. In der Abends 5 Uhr bei Hackh zusammengetretenen Delegirten­versammlung ward der Bericht des Ausschusses nebst Kassenbericht erstattet. Seit dem Eisenacher Congreß sind 134 neue Vereine dem Verbande beigetreten. Unter den Delegirten trat auch ein Abgeordneter aus Graz, Moser, ein noch ganz junger Mann, auf, dessen aus Oesterreich gebrachter Gruß tiefen Eindruck machte. Auf Bebel's Antrag ward beschlossen, auf die heutige Tagesordnung ein Verdict gegen die österreichische Regierung zu setzen, wegen Maßregelung von Arbeitern, die in die Bewegung der Arbeiterfrage eingetreten waren.

Stuttgart, 7. Juni.  Die Verhandlungen des sozialdemokratischen Congresses wurden gestern, ohne weitere Störung durch die Schweitzerianer, fortgesetzt. Zunächst wurde die Tagesordnung vom Sonntag zu Ende gebracht und adoptirte der Congreß die, bereits gestern mitgetheilte, Resolution Yorks in Betreff der Gewerks­genossenschaften. Ueber den ersten Gegenstand der gestrigen Tagesordnung: „Die politische Stellung der Partei und das Vorgehen der Partei bei den Wahlen zum Reichstag und zum Zollparlament“ referirt Liebknecht aus Leipzig. Er bezeichnet den bestehenden Staat als organisirte Klassenherrschaft, deßhalb als Feind der sozialdemokratischen Partei. An Stelle dieses Staates sei ein neuer aufzubauen. Nicht die Kleinstaaten, Preußen vielmehr sei der gefährlichste Feind der Arbeiter-Bewegung. Das allgemeine direkte Wahlrecht sei dort durch Bismarcks Diktatur illusorisch gemacht, der Reichstag sei rein machtlos, der Geltendmachung des Volkswillens stehe das Königthum von Gottes Gnaden gegenüber mit seinem Veto.

Es sei daher überall Protest zu erheben gegen den Scheinreichstag. Derselbe werde nur beschickt um den unverschämten Forderungen der preußischen Regierung ein Nein zuzurufen. Die Rednerbühne soll nicht benutzt werden, zum Reichstag zu reden, sondern es soll über die Köpfe der Angeordneten weg zum Volke gesprochen werden. Keine Allianz, kein Compromiß mit anderen Parteien sei zu schließen, überall sei das volle Programm der Sozialdemokratie zu vertreten. Schließlich wurde eine dieser Ausführung entsprechende, von dem Referenten und Bebel gestellte, Resolution angenommen. In der am Nachmittag wieder aufgenommenen Berathung spricht Bebel über den letzten Punkt der Tagesordnung: die Grund und Bodenfrage. Im Allgemeinen sucht der Redner geschichtlich nachzuweisen, wie der Grund und Boden nach und nach in immer weniger Hände komme, weßhalb der kleine und mittlere Bauernstand in immer mißlichere Lage gerathe.

Der große Grundbesitzer ersetze die ihm theilweise durch's Militär entzogene Menschenarbeit durch Maschinen, dem kleinen fehlen hierzu die Mittel. Diese Verhältnisse seien in Deutschland gleich wie in England und Frankreich. Den Weg zur Besserung zeige jetzt schon das Recht des Staats, da wo es das Interesse der Gesammtheit erheische, zu expropropriiren [sic!]. Angesichts der Lage der bäuerlichen Bevölkerung spricht daher der socialdemokratische Congreß die Ansicht aus, daß die ökonomische Entwickelung der modernen Gesellschaft es zu einer gesellschaftlichen Nothwendigkeit machen werde, das Ackerland in gemeinschaftliches, gesellschaftliches Eigenthum zu verwandeln und den Boden von Staatswegen an Ackerbau-Gesellschaften zu verpachten, welche verpflichtet sind, das Ackerland in wissenschaftlicher Weise auszubeuten und den Ertrag ihrer Arbeit nach contractlich geregelter Uebereinkunft unter die Genossenschaften zu vertheilen, dazu wird erweiterter landwirthschaftlicher Unterricht für nothwendig erkannt; die Staatsdomänen, Gemeindegüter, Fideicommisse sollen zuerst den gesellschaftlichen Zwecken dienen und dürfen deßhalb vom Staate nicht weiter veräußert werden.

Stuttgart, 8. Juni.  Vor Schluß der öffentlichen Verhandlungen des social-demokratischen Arbeitercongresses wurde von dem Congreß noch die Resolution gefaßt, daß die österreichische Regierung durch ihre Haltung gegenüber der Arbeiter­bewegung sich den Haß der Arbeiter aller Nationen zugezogen habe. Gestern fand noch eine geschlossene Sitzung zur Berathung innerer Partei­angelegenheiten statt. Auch die hier anwesenden Anhänger Schweitzers veranstalteten gestern Abend eine von 3–400 Personen besuchte Arbeiter­versammlung. Ihre Wortführer, worunter Wolf von Hamburg und Häußer von Offenbach, suchten das Verhalten ihrer Partei dem Congreß gegenüber zu rechtfertigen. Sie unterzogen die Zusammensetzung des Bureaus des Arbeiter­kongresses, dessen Vorgehen gegen Delegirte anderer Parteien, wodurch sie selbst bei den wichtigsten, das allgemeine Interesse aller Arbeiter berührenden Fragen keine Ansicht äußern konnten, die Verhandlungen des Congresses selbst und die über denselben erschienenen Berichte einer strengen Kritik. Schließlich wurde die von Wolf aus Hamburg eingebrachte Resolution: „Die heutige Versammlung erklärt, nachdem sie die Ausführungen der verschiedenen Redner vernommen, daß die Eisenacher Volkspartei als die arbeiter­feindlichste aller Parteien zu betrachten und zu behandeln sei, aus dem einfachen Grunde, weil sie verkappt vor dem Arbeiterstand auftritt“, angenommen.

Quelle: Hessische Volksblätter vom 9., 10. und 11. Juni 1870. Der sozial­demokratische Kongreß begann schon am Samstagabend mit einer vorbereitenden Versammlung.

„Offenbach, 21. Juni.  Nachdem die sämmtlichen Hutmacher in der Merk'schen Hutfabrik hier die Arbeit eingestellt, haben dieselben nach eintägigem Strike wieder zu arbeiten begonnen. Die Anliegen und Forderungen derselben wurden von Seiten Ihrer Principale bereitwilligst genehmigt. Heute morgen hörten sämmtliche Maschinenbauer, 180 Mann, der Fabrik von Collet u[nd] Engelhardt [24] auf zu arbeiten.  (Fr[ankfurter] Z[ei]t[un]g)“ [HV, 24.6.1870]

„Darmstadt, 30. Juni.  Der Schweitzer'sche Agitator Preis von Offenbach, welcher wegen Widersetzung und Körperverletzung – er hatte einem Offenbacher Nachtwächter den Daumen abgebissen – inhaftirt war, wurde dieser Tage gegen Hinterlegung einer Kaution von 500 fl., welche seine Gesinnungsgenossen zusammengebracht, auf freien Fuß gesetzt.“ [HV, 1.7.1870]

Streik im Krieg

„Darmstadt, 9. Juli.  Wie wir hören hat der hiesige Arbeiterbildungsverein das frühere Wormstobler'sche Haus in der großen Ochsengasse [k]äuflich erworben.“ [HV, 12.7.1870]

Die „Vergnügungs-Commission“ des Arbeitervereins lädt Mitglieder und Freunde des Vereins für Sonntag, den 17. Juli, zu einer Waldpartie nach dem Herrgottsberg ein. [25]

Annonce Krieg mit Frankreich.
Abbildung 7: Das Bürgertum mobilisiert zum Krieg gegen Frankreich, Annonce in den „Hessischen Volksblättern“ vom 17. Juli 1870. Scan vom Mikrofilm.

Und dann ist Krieg. Weil Napoleon III. so töricht war, sich von Bismarck zur Kriegserklärung provozieren zu lassen, konnte Preußen einen Verteidigungskrieg ausrufen – und die süddeutschen Staaten machten mit. Die Wirtschaft reagierte, erst mit Geldknappheit, dann mit Entlassungen. Wie wir an einem Darmstädter Beispiel noch sehen werden, nutzte sie zudem die Gunst der Stunde, um die Löhne drastisch zu senken.

„Darmstadt, 18. Juli.  In Folge der urplötzlich über uns hereingebrochenen Crisis sind schon eine Menge Arbeiter entlassen und brodlos.“ [HV, 19.7.1870]

„Offenbach, 3. Aug.  Die Arbeiter mehrerer Fabriken, haben sich trotz ihres reducirten Verdienstes dahin geeinigt, daß sie den Familien ihrer im Felde stehenden Kameraden den Wochenlohn zukommen lassen, den sie gewöhnlich verdienten.“ [HV, 6.8.1870]

„Darmstadt, 15. Aug.  Vorgestern wurde in Frankfurt eine bei den in diesem Jahr in Wiesbaden in Scene gesetzten Strikes in hervorragender Weise betheiligten Persönlichkeit wegen Betteln verhaftet. Er gab Mangel an Arbeit und gänzliche Verdienstlosigkeit als Entschuldigung an.“ [HV, 16.8.1870]

Und dann streiken überraschend, mitten im Krieg, die Arbeiter der Maschinenfabrik und Eisengießerei.

„Darmstadt, 12. Sept.  Sämmtliche Arbeiter der hiesigen Maschinenfabrik und Eisengießerei haben es unter den jetzigen Umständen für angemessen gefunden, vorgestern die Arbeit einzustellen. Die Ursache dieses für die Jetztzeit so auffallenden Schrittes ist darin zu suchen, daß sich die Arbeiter nicht die Reduction auf die Lohnsätze gefallen lassen wollten, wie solche vor einem Jahr bestanden.“ [HV, 13.9.1870]

„Darmstadt, 13. Sept.  Der Strike in der hiesigen Maschinenfabrik dürfte allem Anscheine nach, nicht so bald beigelegt werden, da beide Theile hartnäckig auf ihren Ansichten bestehen wollen. Ein Theil der Arbeiter gedenkt bei Kleinmeistern Beschäftigung zu erhalten.“ [HV, 14.9.1870]

Zur Aufklärung.

Um den bei derartigen Angelegenheiten, wie die gegenwärtige Arbeitseinstellung der Arbeiter der Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt gewöhnlichen Entstellungen der Thatsachen und irrigen Auffassungen des Publikums zu begegnen, sehen sich die Unterzeichneten im Namen der sämmtlich betreffenden Arbeiter veranlaßt, den wahren Sachverhalt und die Ursache der Arbeitseinstellung dem Publikum vorzuführen. Die Direction obengenannter Fabrik ließ nämlich folgende Verordnung bekannt machen, welcher sich auch jeder Arbeiter fügte, trotzdem man erfuhr, daß diese Maßregel zur Herabdrückung des Arbeiterlohnes, und nur einzig zu diesem Zweck in Vereinbarung mit anderen Arbeitgebern vorgenommen wurde:

„Die traurige Lage, in welche die sämmtlichen industriellen Etablissements durch den ausgebrochenen Krieg gerathen sind und die Schwierigkeit, baares Geld ohne die allergrößten Opfer zu beschaffen, macht es uns schon jetzt unmöglich, die Mittel zur Bezahlung der Arbeitslöhne zusammen zu bringen.

Wir sind daher leider in der Lage, die Zahl unserer Arbeiter bedeutend, und zwar zunächst auf die halbe Anzahl, reduciren zu müssen, während wir die übrigen augenblicklich nur erhalten können, wenn wir deren seitherigen Lohn um circa 1/6 herabsetzen; eine Ermäßigung die sich natürlich auch auf alle vorkommenden Accord-Abschlüsse erstrecken muß, deren Ueberschüsse aber erst nach Beendigung des Kriegs oder wenn sich die Geldverhältnisse wesentlich gebessert haben, ausbezahlt werden.

Erst im Laufe der nächsten Woche können wir diejenigen Leute bestimmen, welche wir bis auf Weiteres behalten können; fordern aber jeden Einzelnen jetzt schon auf, wenn sich ihm eine anderweite Stelle darbietet, dieselbe anzunehmen, wogegen sich alle übrigen darauf vorbereiten wollen, wenn ihnen im Laufe der nächsten Woche eine definitive Kündigung ertheilt werden muß, in Folge deren der Austritt spätestens Ende dieses Monats zu erfolgen hat.

Bis auf Weiteres wird die Arbeitszeit auf 8 Stunden täglich und zwar von 8–12 Uhr Morgens und von 2–6 Uhr Nachmittags an, festgesetzt.

Darmstadt, den 23. Juli 1870.
gez. L. Weber.  F. Horstmann.[“]

Da nun nach Verlauf vom 23. Juli bis zum 31. August keine Aenderung der vorstehenden Verordnung erfolgt ist, legten sämmtliche Arbeiter die folgende Eingabe mit ihren persönlichen Unterschriften der Direction vor, welche (die Eingabe) aber von Seiten derselben nicht einer Antwort gewürdigt wurde.

Die Eingabe lautet wie folgt:

An die Direction der Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt.

Die Arbeiter der Maschinenfabrik glauben berechtigt zu sein

in Erwägung, daß die Creditverhältnisse sich in den letzten Tagen und namentlich durch die bis dahin günstigen Erfolge der deutschen Kriegsführung besser gestaltet haben, in Folge dessen der Vorwand, die Beschaffung des nöthigen Betriebscapitals zur Fortführung des Etablissements sei überaus schwierig und mit großen Opfern verknüpft, als nicht mehr anwendbar zu betrachten ist;

in Erwägung, daß die Unterzeichneten zu der Erkenntniß glauben gelangt zu sein, die gegenwärtigen politischen Zustände, die durch den deutsch-französischen Krieg geschaffen, würden zum Nachtheil des Arbeiterstandes resp. zur Herabdrückung des Arbeitslohnes benutzt;

in Erwägung, daß durch die mißlichen Verhältnisse die Lebensbedürfnisse nicht billiger, sondern theurer geworden, demnach die Arbeitskraft auch nicht im Preise sinken sollte, wodurch die ohnehin nicht beneidenswerthe Lage des größten Theils des Arbeiterstandes noch mehr erschwert wird, der Arbeiter in der Ausführung seiner Pflichten gegen seine zunächst Angehörigen und den Staat verhindert wird

mit dem Wunsche an die Direction der Maschinenfabrik und Eisengießerei Darmstadt herantreten zu dürfen, die Verordnung vom 23. Juli d[ieses] J[ahres] bezüglich der Herabsetzung des Lohnes um ein Sechstel, sowie die Lohnverhältnisse bei Accordabschlüssen zurückzunehmen und in der Weise wieder festzusetzen, wie solche vor Ausbruch des Kriegs gewesen sind. Wir sehen einer baldigen Entscheidung jedenfalls innerhalb der nächsten acht Tage und in derselben Weise wie die Verordnung vom 23. Juli erfolgt ist, nämlich durch schriftlichen Anschlag entgegen.

Darmstadt, 31. August 1870.
(Folgen die Unterschriften sämmtlicher Arbeiter.)

Nun überlassen wir es dem Urtheil des Publikums, in wie weit unser Schritt gerechtfertigt erscheint oder nicht.

Darmstadt, den 13. Sept. 1870.
Namens der betreffenden Arbeiter:
Kilian.  Thelen.  Georg Schneider I.  Fr. Arnold.  K. Fritz.  Heinrich Hammann.  Carl Hof.

Quelle: Annonce in den „Hessischen Volksblättern“ am 14. September 1870 [online].

Die beiden Direktoren Weber und Horstmann kürzten also aufgrund einer kriegsbedingt saisonalen Flaute nicht nur die Arbeitszeit, sondern nutzten gleichzeitig die Gelegenheit, die im Vorjahr zugestandene Lohnerhöhung zu kassieren. Tatsächlich sollte der durchschnittliche Jahresverdienst der Arbeiter dieses Unternehmens im Geschäftsjahr 1870/71 den tiefsten Stand seit 1863 erreicht haben. Die Klage der Arbeiter darüber, daß die Ausgaben für das Lebens­notwendigste gestiegen seien, findet ihre Bestätigung in zeitgenössischen Zeitungsmeldungen, wonach mit Kriegsbeginn im Juli 1870 zum Teil erhebliche Aufschläge auf die Preise für den alltäglichen Bedarf allgegenwärtig waren. Ein Beispiel:

„Darmstadt, 28. Juli.  Eine bedeutende Anzahl hiesiger Wirthe hat die jetzige verdienstlose Zeit für geeignet gehalten mit ihren Speisen in einer Weise aufzuschlagen, die hier bisher unerhört war. Ihrem Beispiel sind mehrere Steinkohlen­händler gefolgt, die ihren enormen Aufschlag mit den gestiegenen Preisen an den Zechen und den allerdings sehr gesteigerten Bezugskosten motiviren.“ [HV, 29.7.1870]

Hierbei ist anzumerken, daß mit Kriegsbeginn der Personen- und Güterverkehr drastisch eingeschränkt wurde, wenn er nicht ganz zum Erliegen kam, weil Lokomotiven und Wagenpark für den Aufmarsch gegen Frankreich und später für Verwundeten- und Gefangenen­transporte eingesetzt waren. Es wurde daher für ein Zeichen der Normalisierung der Verkehrs­verhältnisse gehalten, als in der Nacht vom 25. auf den 26. August erstmals wieder einige Güterwagen mit Saarkohlen in Darmstadt eintrafen. [26]

Die Antwort der Direktion der Maschinenfabrik und Eisengießerei auf die Erklärung der Arbeiter vom 13. September ließ nicht lange auf sich warten. Im Grunde genommen handelt es sich um typische Arbeitgeberpropaganda. Man wolle den Arbeitern nur eine „Wohlthat“ angedeihen lassen, indem man die eine Hälfte auf die Straße wirft und der anderen Hälfte Arbeitszeit und Löhne kürzt. Die konzertierte Aktion aller Fabrikanten zeigt, daß sie alle die Gunst der Stunde nutzen und den Arbeitern auch keine Gelegenheit bieten wollten, zu besseren Konditionen anderswo anzuheuern. Weiterhin beschwert sich die Direktion des Unternehmens noch darüber, daß die streikenden Arbeiter nicht damit einverstanden sind, daß die Direktion sich ihre Verhandlungs­partner aus der betriebseigenen Krankenkasse aussucht, mit denen dann intransparent („mündlich“) hinter verschlossenen Türen verhandelt werden kann. Der Hinweis darauf, die Arbeiter hätten diese Verhandlungs­partner doch gewählt, geht fehl, denn sie wurden als Aufsicht über die Krankenkasse und nicht als Sprachrohr einer um ihren Lohn kämpfenden Arbeiterbewegung gewählt. Das Argument ist ähnlich sinnreich wie die Überlegung, man benötige im 21. Jahrhundert doch keinen Betriebsrat mehr, denn die über Gewerkschaftslisten in die Versammlung der Krankenkassen gewählten Vertreterinnen und Vertreter könnten genausogut über den betrieblichen Alltag mitreden. Schließlich der Vorhalt, die Sprecher der Arbeiter würden weitaus mehr verdienen als die „kleinen Arbeiter“, welche von der Firmenleitung bedauert werden. Das Bedauern scheint jedenfalls nicht materieller Natur zu sein, denn mit einem Hungerlohn von 50 Kreuzern kam man (und frau) damals nicht weit. Das Anstacheln einer Neiddebatte unter den Arbeitern ist deutlich erkennbar. Dabei ist es doch so: die vergleichsweise wohlsituierten Arbeiter bleiben nicht auf ihren Privilegien sitzen, sondern streiken für alle; und das nennt sich Solidarität. Diese Solidarität ist es, welche Kapitaleigner, die von der Arbeit Anderer leben, so fürchten.

Der vollständige Text der Direktion, veröffentlicht als Annonce in den „Hessischen Volksblättern“ am 17. September 1870, ist hier zu finden.

„Darmstadt, 22. Sept.  Die von den Arbeitern der hiesigen Maschinenfabrik in Scene gesetzte Arbeitseinstellung wird zur Folge haben, daß zahlreiche auswärtige Arbeitskräfte hier in Kürze eintreffen werden.“ [HV, 23.9.1870]

„Darmstadt, 4. Oct.  Die Stricke in der Maschinenfabrik ist so ziemlich als beendigt anzusehen, ein großer Theil der Feiernden ist zur Arbeit zurückgekehrt.“ [HV, 5.10.1870]

Während in Darmstadt gestreikt wurde, beugte die Obrigkeit in Mainz vor.

„Mainz, 13. Sept.  Mehrere Führer der hiesigen socialdemokratischen Partei sind am verflossenen Sonntage im Laufe des Vormittags aus unserer Stadt entfernt worden. Es sind dieß die Herren Leyendecker, Zirfaß und Reth.“ [HV, 15.9.1870]

Am 16. September bezieht der Darmstädter Arbeiterverein sein neues Domizil in der Großen Ochsengasse Nummer 14. Die statutengemäße Hauptversammlung wird um eine Woche auf den 12. Oktober in das Winter'sche Lokal verlegt, während ansonsten statutengemäße Versammlungen und gewöhnliche Zusammenkünfte in der Ludwigshalle in der Obergasse abgehalten werden. [27]

Nehmen wir einen relativ gut verdienenden Arbeiter an, der etwa anderthalb Gulden Tageslohn mit nach Hause nehmen kann – was kann er sich dafür kaufen (sofern er nicht über eine Ehefrau verfügt, die für ihn einkaufen geht)?

Victualienpreise.

Abbildung 8: Viktualienpreise Anfang September 1870. Sechzig Kreuzer ergeben einen Gulden. Quelle: Darmstädter Frag- und Anzeigeblatt vom 3. September 1870, Scan vom Mikrofilm.

Zum Jahresende kehrt dann wieder Besinnlichkeit ein. Während der Katholikenverein seine „Christbescheerung“ in der „gemüthlichsten und animirtesten Stimmung“ (ist dies ein Synonym für den ausgiebigen Verzehr alkoholischer Getränke?) mit männlichem Vortrag und weiblicher Klavierbegleitung vollzog, trafen sich die Arbeiter im „Wilden Mann“.

„Darmstadt, 28. Dec.  Der Arbeiterbildungsverein, der außer dem schon in seinem Namen angedeuteten Hauptzweck auch zuweilen seinen Mitgliedern und deren Familien eine gesellige Unterhaltung bereitet, veranstaltete am 2. Weihnachtsabend im ‚Wilden Mann‘ (Gastwirth Dieter) eine Christbescheerung mit darauf folgendem Ball. Auch der Verwundeten wurde dabei nicht vergessen und zu deren Gunsten eine Sammlung veranstaltet. Auch sei bei dieser Gelegenheit der trefflichen Restauration erwähnt, die unter dem neuen Gasthalter in keiner Beziehung zu wünschen übrig ließ.“ [HV, 29.12.1870]

Nach Ende des deutsch-französischen Krieges erfuhr die Arbeiterbewegung im nunmehrigen Deutschen Reich einen neuen Aufschwung, der bis zur Gründerkrise 1873 anhielt. Diese drei Jahre stehen jedoch außerhalb der hier vorliegenden Zusammenfassung einer lokalen (und teilweise regionalen) Streikgeschichte, mit Ausnahme folgender, zunächst bizarr erscheinender, aber aufgrund einseitiger Darstellung wohl nicht mehr rekonstruierbarer Auseinandersetzung im Dezember 1871.

Die Schuchard'schen Hutmacher erhalten ein Korsett

Auch wenn es nicht der Krieg der Arbeiter, sondern der preußischen Junker und Großindustriellen war, so traf er vor allem diejenigen, die von Letzteren in den Krieg geschickt wurden.

„Darmstadt, 1. Dec.  Dem im hiesigen Arbeiter-Verein bestehenden Gesangverein war es durch den Tod seines im Kriege gefallenen früheren Directors lange nicht vergönnt, Abend­unterhaltungen abzuhalten. Durch Gewinnung eines neuen umsichtigen Gesangsdirectors in der Person des Herrn Hofmusikus Adolph Kugler ist er jedoch nun wieder im Stande, seinen Mitgliedern die alten musikalischen Genüsse zu bieten. Nächsten Sonntag den 3. d. M. findet in der Turnhalle am Woogsplatz die erste Abend­unterhaltung für diesen Winter statt. Dieselbe wird noch durch die gefällige Mitwirkung der Herren Hofsänger Reichardt, Hofschauspieler Mendel, Hofmusiker Pfeil und Heim verschönert werden.

Das reichhaltige Programm verspricht einen genußreichen Abend und eine zahlreiche Betheiligung.“ [HV, 2.12.1871]

„Darmstadt, 7. Decbr.  Die von dem Arbeiter-Verein am letzten Sonntag veranstaltete Abend­unterhaltung verlief in äußerst gelungener Weise. Die Chöre wurden vortrefflich gesungen und lieferten den Beweiß, daß der Dirigent, Hr. Kugler jr., dieselben mit großem Eifer einstudirt hat. Die Herren Hofschauspieler Hofmann und Nötel verherrlichten den Abend durch verschiedene, theils ernste theils humoristische Vorträge; ebenso fanden die Gesangs­vorträge des Hrn. Hofsänger Reichardt enthusiastischen Beifall. Die Vorträge der Hofmusiker Pfeil und Heim fanden in gleicher Weise Anerkennung und wollen wir hoffen, daß die genannten Herren bei späteren Abend­unterhaltungen den Verein durch ihre Kunst unterstützen möchten. Auch müssen wir noch eines sehr heiteren Intermezzo's erwähnen, welches durch 4 einem anderen hiesigen Gesangvereine angehörenden Herren herbeigeführt wurde. Dieselben wollten nämlich ihr Licht ebenfalls leuchten lassen und das Quartett ‚Karolinchen, ach warum denn nicht?‘ vortragen, wobei sie indessen so hoch ansetzten, daß sie schließlich mit allen Anstrengungen kaum noch im Falset zu singen vermochten, was natürlich eine äußerst komische Wirkung hervorbrachte. Zum Schluß sprechen wir noch den Wunsch aus, daß der Verein recht bald wieder eine derartige Abend­unterhaltung veranstalten möge.“ [HV, 8.12.1871]

Bald darauf streikten kurz vor dem Weihnachtsgeschäft einige Arbeiter der Hutfabrik von Heinrich Schuchard in der südlichen Louisenstraße.

„Darmstadt, 11. Decbr.  In der bedeutendsten hiesigen Hutfabrik haben die Zuschneider seit Samstag Strike gemacht. Da die Bestellungen kurz vor Weihnachten kaum zu bewältigen sind, so hoffen die Arbeiter um so mehr, daß ihre Forderungen erfüllt werden.“ [HV, 12.12.1871]

Diese Mitteilung scheint einem – sich als vollkommen unbeteiligt darstellenden – Leser der Zeitung ergänzungsbedürftig gewesen zu sein, denn wir lesen tags darauf:

„Darmstadt, 12. Decbr.  Ihre gestrige Notiz über den Strike der Zuschneider in der bedeutendsten hiesigen Hutfabrik ist geeignet, Mißverständnisse zu erregen, zu deren Beseitigung Einsender Dieses, der Sache ganz und gar ferne stehend, Folgendes bemerkt: In der betreffenden Fabrik war allmählig in Bezug auf Einhaltung der Arbeitsstunden, Ein- und Ausgänge etc. eine so ‚gemüthliche (?) Anarchie‘ eingerissen, daß der Fabrikant, um sich vor empfindlichen Geschäfts­nachtheilen zu wahren, sich unter gewissen freiwilligen Concessionen in Bezug auf die Freistunden zur Feststellung einer bestimmten Hausordnung genöthigt sah. Obwohl die letztere so sehr durch die Natur der Sache geboten war und so wenig den Forderungen der Billigkeit widersprach, daß bei dem Schreiber Dieses ein vernünftiger und gebildeter, der Hut-Branche nicht angehöriger Arbeiter selbst sie für durchaus gerechtfertigt erklärte, fanden doch etwa 2 Dutzend Zuschneider darin eine unzulässige Beschränkung ihrer persönlichen Freiheit und machten, da das nun einmal in der Luft zu liegen scheint, ‚Strike‘. Ob sie übrigens damit ihre Forderungen durchsetzen werden, erscheint trotz der gegenwärtigen Ueberhäufung mit pressanten Bestellungen bei der bekannten Energie des Fabrikanten, der, selbst früher einfacher Arbeiter, übertriebene Ansprüche seiner ehemaligen Standesgenossen von berechtigten wohl zu scheiden weiß, mehr als zweifelhaft. Eine friedliche Verständigung, wozu Letzterer bei angemessenem Entgegenkommen sicher gerne die Hand bieten wird, wäre daher im beiderseitigen Interesse sehr zu wünschen.“ [HV, 13.12.1871]

Das hier ganz nebenbei einfließende Zeugnis eines angeblichen Arbeiters, der pars pro toto angeführt wird, ist eine Redefigur, aber eine vollkommen unrepräsentative.

„Darmstadt, 13. Decbr.  Unsre gestrige Mittheilung bezüglich des in der bedeutendsten hiesigen Hutfabrik ausgebrochenen Strike's der Zurichter (nicht ‚Zuschneider‘, wie es irrthümlich hieß) leidet an einigen Unvollständigkeiten, welche, durch die gänzlich unbetheiligte Stellung des nicht ausreichend informirten Einsenders veranlaßt, zur Beseitigung weiterer Mißverständnisse hiermit ergänzt werden müssen. Wenn wir nur von Erleichterungen bezüglich der Freistunden gesprochen haben, so verdient bemerkt zu werden, daß vielmehr die Arbeitszeit im Allgemeinen mit voller Beibehaltung der seitherigen Löhne beträchtlich verkürzt und auf 10¼ Stunden täglich festgesetzt worden ist. Unsrer am Schlusse ausgesprochnen wohlgemeinten Hoffnung auf gegenseitige Verständigung darf nicht etwa die gänzlich irrige Voraussetzung untergeschoben werden, als ob der betreffende, unsrer eignen Darstellung völlig fremd gebliebene Fabrikant seine ganz innerhalb der Grenzen der Billigkeit gebliebene Handlungsweise irgendwie bedaure oder nachträglich zu modificiren geneigt sei. Vielmehr wird uns von wohlunterrichteter Seite bestimmt versichert, daß an dessen einmal aus zwingenden Gründen getroffenen Einrichtungen, welche auch nicht im Entferntesten die Ehre der Arbeiter berühren, dagegen beträchtliche Opfer seinerseits zu deren Vortheil und Bequemlichkeit in sich tragen, keineswegs gerüttelt werden dürfe. Mögen daher die Arbeiter, die wir wahrlich nicht als ‚weiße Lohnsklaven‘ etc. betrachten, sondern deren wirkliche Rechte wir gerne anerkennen, an das bekannte Wort A[ugust] Bebel's, eines der Ihrigen, denken, der das Striken für ein sehr bedenkliches, nur im äußersten Falle – und ein solcher liegt hier wahrlich nicht vor! – anzuwendendes Hülfsmittel erklärte, eine Art zweischneidigen Schwerts, das unrichtig ergriffen, leicht den Angreifenden selbst verwundet.“ [HV, 14.12.1871]

Es scheint, als habe der Fabrikant viele Fürsprecher, die sich auf dessen Angaben „wohlunterrichtet“ verlassen. Eine Annonce in der nachfolgenden Zeitungsausgabe, ebenso anonym vorgetragen wie die vorigen Einsndungen, belegt, daß die bislang vorgetragene Sichtweise nicht unwidersprochen bleibt.

„Wenn Einsender des Artikels der Hess[ischen] Volksbl[ätter] Nr. 292 in Betreff der Fabrikordnung hiesiger Hutfabrik dieselbe für so gerechtfertigt findet, dann möchte ich ihn fragen, ob er auch das, was er vertheidigt und für so nöthig findet, auch genau geprüft hat; mir scheint das nicht so. Ich glaube mehr das Einvernehmen oder Einfluß des betreffenden Herrn Fabrikanten darin zu finden, der es allerdings sehr gut versteht die Sache in ein anderes Licht zu stellen. Denn wenn Einsender sich fragt wie ein Geschäft, wie das betreffende, das seit Jahrzehnten besteht und dessen Anfang ein ganz kleiner war, heute trotz dieser genannten Anarchie zu einer großen Fabrik emporgestiegen ist, so glaube ich doch, daß den Arbeitern, deren Fleiß und Redlichkeit auch dazu beitragen, ein Theil des Verdienstes gebührt? Sollte er das etwa sein, daß man jetzt nach einer Reihe von Jahren ihnen ein eisernes Thor setzt und sie zum weißen Sklaven herabwürdigt?

Darmstadt, den 14. December 1871.“ [HV, 15.12.1871]

Ausschnitt Stadtplan 1878.

Abbildung 9: Ausschnitt aus dem Darmstädter Stadtplan von 1878 mit der Schuchard'schen Hutfabrik. Quelle: [online ulb darmstadt].

Die Lesart des Heinrich Schuchard

Am 16. Dezember 1871 veröffentlichten die „Hessischen Volksblätter“ eine größere Annonce des Fabrikanten Heinrich Schuchard mitsamt dessen den Arbeitern vorgelegtem Reglement.

Die verschiedenen, von mir in keiner Weise veranlaßten Artikel (die Redaction und der Einsender werden um ausdrückliche Bestätigung gebeten [28]) in Ihrem Blatte über die Arbeitseinstellung von ca. 20 Mann in meiner Fabrik, waren in gestriger Nummer d. Bl. von einer Annonce mit albernen Angriffen gegen mich gefolgt. Ich halte es unter meiner Würde, hiergegen irgend Etwas zu antworten, und beschränke mich darauf, dem Publikum meine betreffende Ansprache an die Arbeiter meiner Fabrik, nebst dem, angeblich so „herabwürdigenden“ Reglement vorzulegen, damit es beurtheilen könne, in wieweit meine Maßnahmen zu dem fast in lächerlicher Art vom Zaune gebrochenen „Strike“ berechtigen. Ihnen, sich selbst so getauft habenden, zwanzig „weißen Sclaven“ aber, die, nebenbei bemerkt, trotz unpünktlichen Fleißes etc., theilweise bis zu zwanzig Gulden wöchentlich verdienten, gebe ich den Rath, daß sie sich einen anderen Erwerbsplatz suchen mögen, wo der „freie Arbeiter[“] aufspielt und der „unfreie Fabrikant“ nach dessen Pfeife tanzt, und wo vielleicht auch der ehrende wie klingende „Verdienst getheilt“ wird.

Darmstadt, den 15. December 1871.

H. Schuchard.


An die Arbeiter und Arbeiterinnen meiner Fabrik.

Da es schon häufig vorgekommen ist, daß durch das Eindringen Unberufener Störungen in der Fabrik entstanden sind, so habe ich es, um derartige Vorkommnisse zu verhüten, als angemessen erachtet, die Fabrikräume geschlossen zu halten und einen Portier anzustellen, welcher die zum Ein- und Austritt Berechtigten das stets geschlossene Thor passiren läßt.

Eng verknüpft mit jenen unstatthaften Versuchen ist ein anderer Uebelstand, welcher seither mit jedem Jahr in Zunahme begriffen gewesen und gegenwärtig zu einem wahren Unfug herangewachsen ist. Es ist dieß das Kommen und Gehen der Arbeiter, resp. die Nichteinhaltung der Arbeitszeit. Man kommt theilweise statt um 6 Uhr erst um 7 Uhr oder halb 8 Uhr, häufig sogar so spät, daß man sich gleich behaglich ans Frühstück begibt, ohne vorher einen Pfennig dazu verdient zu haben. – Man frühstückt in und außer der Fabrik häufig eine Stunde lang, wohl auch noch länger, ja das Frühstück dehnt sich im Wirthshaus gar nicht selten so lange hinaus, daß Fabrik, Arbeit, Pflichten gegen die Familie und gegen sich selbst vergessen werden und lustig bis zur Unfähigkeit fortgejubelt wird. – Mittags kommt man statt um 1 Uhr erst um halb 2 Uhr vielfach erst um 2 Uhr zur Arbeit, verwendet wieder im Durchschnitt wenigstens ¾ Stunden zum Verspern und um halb 6 Uhr fängt schon das Fortlaufen von der Arbeit an, so daß beim Arbeitsschluß um 7 Uhr kaum noch ein Viertel des ganzen Personals in Thätigkeit ist. – Durch diese grenzenlose Unordnung gleicht mein Hausthor nicht dem Eingang zu einer Fabrik, in welcher mit Ernst, Fleiß und Ausdauer zum Segen vieler Hunderte von Menschen gearbeitet werden soll, sondern eher demjenigen eines Vergnügungslocales, in welchem man je nach Belieben und Laune zum Amusement, gleich wie in einem Taubenschlag von Morgens bis Abends ein- und ausfliegt. Ferner aber bleiben auch begreiflicherweise unter solchen Umständen die Meisten meiner Arbeiter in ihren Verdiensten weit hinter denjenigen Summen zurück, die sie ohne besondere Anstrengung erreichen könnten. – Im wohlerwogenen gemeinschaftlichen Interesse meiner Arbeiter und meiner selbst führe ich zur Abhülfe dieser Unordnung eine Regulirung der Arbeitszeit ein; denn so schädlich es dem Interesse des Arbeiters oder dessen Familie ist, wenn er anstatt pünktlich zu erscheinen und seine gehörige Zeit zu arbeiten, jede kleine Veranlassung wahrnimmt, um seine Arbeit zu verlassen oder zu spät zu beginnen, – ebenso schädlich ist es meinem Interesse, wenn 4 oder 5 große Feuerungen zum Theil vergeblich brennen, viele kostspielige Maschinen nutzlos stillstehen und gewissenhafte Arbeiter durch Gewissenlose fort und fort gestört und gehemmt werden. Das Eisen muß geschmiedet werden, wenn es warm ist. – Ich kürze die Arbeitszeit beträchtlich ab und behalte dessen­ungeachtet die seitherigen Wochenlöhne bei, ich bestimme mit Rücksicht auf die Auswärtigen einen späteren Arbeitsanfang und verlängere die Zeit der Mittagspause, dagegen verlange ich ein pünktliches Anfangen und Verlassen der Arbeit und eine genaue Einhaltung der Frühstücks- und Vesperzeit. – Ausnahmen können nicht gestattet werden, und wenn sich allenfalls Diejenigen, die schon zu sehr an Unordnung gewöhnt sind, nicht in die mit dem morgigen Tage beginnende Ordnung finden zu können glauben, so dürften mir solche unzufriedene und widerspänstige Elemente, im Hinblick auf die wahrscheinlich demnächst erfolgende Einschränkung einzelner Geschäfts­branchen, leicht entbehrlich werden können.

Darmstadt, im December 1871.

H. Schuchard.


Reglement.

Die Arbeitszeit ist wie folgt festgestellt:

  • Morgens von 7 bis 12 Uhr,
  • Mittags von 1¼ bis 7 Uhr.

Frühstück von 8¾ bis 9 Uhr Morgens. Vespern von 4 bis 4¼ Uhr Nachmittags.

Vom 15. März bis 1. October beginnt die Arbeit Morgens ½ 7 Uhr.


Samstags ist Abends um 6 Uhr Arbeitsschluß.

Die Heizer haben so früh Feuer zu machen, daß bei Arbeitsanfang voller Dampf da ist, die Eisen heiß sind etc.

Die Hausknechte haben täglich nach Arbeitsschluß die Arbeitslocale zu reinigen, Kessel zu füllen etc.


Der Ein- und Ausgang soll lediglich durch das eiserne Thor beim Portier geschehen, jede andere Passage ist unstatthaft.

Zu diesem Zwecke wird das Thor zu nachstehenden Zeiten offen gehalten:

  • Morgens von 6¾ Uhr bis 7 Uhr,
  • Mittags von 12 Uhr bis 12¼ Uhr,
  • Mittags von 1 Uhr bis 1¼ Uhr,
  • Abends von 7 Uhr bis 7¼ Uhr.

Die Uhr beim Portier ist maßgebend.


Zu allen andern Zeiten ist das Thor geschlossen und der Ein- und Austritt der sich beim Kommen oder Gehen Verspätenden nur gegen Erlegung von 3 kr. gestattet, welche beim Portier gesammelt und nach dem Ermessen der Arbeiter für milde Zwecke innerhalb des Fabrikpersonals verwendet werden sollen. Alle 14 Tagen finden öffentliche Rechnungsablage und Verabfolgung der Gelder an die Arbeiter statt. – Meine Geschäftskasse wird diesen Sammlungen, welche sich sehr wohl zur Errichtung einer Kranken oder Unterstützungskasse eignen möchten, einen freiwilligen widerruflichen Beitrag von 50 fl. jährlich so lange hinzufügen, als ich eine wohlthätige, einsichtsvolle und gerechte Verwendung zu erkennen vermag.


Sollte sich in schlechten Geschäftszeiten für einen Theil der Arbeiter die Nothwendigkeit eines früheren Fortgehens herausstellen, so sind die betreffenden Werkmeister angewiesen, Marken auszugeben, gegen deren Abgabe beim Portier die Durchlassung gestattet wird. – Dasselbe geschieht in Ausnahmefällen auf besonderen Wunsch eines Arbeiters; doch bleibt es dann dem betreffenden Werkmeister überlassen, die Dringlichkeit der Veranlassung zu beurtheilen und davon die Ertheilung der Marke abhängig zu machen.


Das Frühstück und Vesperbrod soll sich womöglich Jedermann selbst mitbringen. Wenn Leute zum Holen fortgeschickt werden, so dürfen diese 10 Minuten vor 8¾ Uhr Morgens, resp. 4 Uhr Nachmittags das Thor passiren; es kann indessen dazu in keinem Falle Jemand verwendet werden, von dessen Gegenwart der Gang oder der Betrieb einer Maschine oder irgend einer Einrichtung abhängig ist.


Der Zutritt in die Fabrik ist nur den darin Beschäftigten gestattet.

Annonce in den Hessischen Volksblättern vom 16. Dezember 1871.

Die Aufforderung, sich selbst die Unabhängigkeit vom Fabrikanten zu testieren, nahm „der Einsender“ zum Anlaß, sich erneut zugunsten des Fabrikanten einzubringen.

„Nachträgliche Erklärung.

Das heutige Inserat des Herrn H. Schuchard in Ihrem Blatte veranlaßt mich, der Wahrheit gemäß hierdurch zu erklären, daß meine beiden Mittheilungen über den Strike seiner ‚Zurichter‘ in Ihrer Mittwochs- und Donnerstags-Nummer weder von ihm, ob auch nur indirekt, ‚veranlaßt‘, noch irgend wie unter seinem ‚Einflusse‘ geschrieben worden sind. Die erste Kunde von jenem bedauerlichen Zwischenfalle wurde mir von einem mir wohlbekannten durchaus ehrenwerthen Arbeiter von sehr gesundem Urtheile, der den fraglichen Strike seitens der Herren ‚Zurichter‘ eben so wenig gerechtfertigt fand, wie ich selbst, und diese unsere Besprechung war, nachdem die erste hierauf unvollständige bezügliche Notiz in Ihrem Blatte erschienen, die nächste Veranlaßung zu meiner gänzlich unparteiischen, Niemanden zu Liebe und Niemanden zu Leide gemachten ergänzenden Bemerkungen. Das Schuchardsche Fabrik-Reglement hatte ich allerdings belesen und darin nicht die geringste, an ‚weiße Sklaven‘ und dergleichen erinnernde ‚Herabwürdigung‘ gefunden, was nun wohl auch bei dem Publikum der Fall sein wird.

Darmstadt, 15. December 1871.

Der Einsender.“ [HV, 17.12.1871]

Worum es den Arbeitern offensichtlich geht, ist, nicht einem Fabrikregime unterworfen zu sein, das sie während der Arbeitszeit einsperrt. Sie weigern sich zu akzeptieren, daß kapitalistische Lohnarbeit innerhalb von Fabriken ein hermetisch abgeriegelter Raum ist, weil sie in ihrer handwerklich tradierten Arbeitsweise derlei nicht gewohnt waren. Dieses Eingesperrtwerden ist weder durch geringere Arbeitszeit noch durch Lohnanpassungen zu kompensieren, sondern widerspricht dem Freiheitsgefühl der aus dem Handwerk stammenden Arbeiter. Diese Haltung ist durchaus verständlich, wenn auch – angesichts der Fabriken als geschlossenem System – unter kapitalistischen Produktions­bedingungen wirklichkeitsfremd. Es kommt hier aber darauf an, wessen Wirklichkeit wem fremd erscheint. Insofern ist es nachvollziehbar, wenn die Arbeiter sich zu weißen Sklaven herabgewürdigt fühlen, und es ist auch nachvollziehbar, daß der Profiteur dieser Arbeit dafür sorgt, daß „seine“ Arbeiter nach seinen Vorstellungen kommen und gehen, sie also nach seiner Pfeife tanzen und nicht umgekehrt.

Die Ansprache des Fabrikanten erinnert stark an Schulzeiten, wo das angebliche oder tatsächliche Fehlverhalten einzelner Schülerinnen oder Schüler zu einem großen Rundumschlag genutzt wird, um eine angeblich verlorengegangene Ordnung und Disziplin zu predigen. Ähnliches gilt sicherlich für andere Organisationen, die der Sozialisation jüngerer Menschen in die bürgerliche Gesellschaft dienen, in der Männer und Frauen einem höheren Ziel verpflichtet werden. Wäre es tatsächlich so, daß die Arbeiter (und offensichtlich nicht die Arbeiterinnen) mehr oder weniger abwesend sind, so wäre es doch verwunderlich, daß ein solches Unternehmen überhaupt funktionieren, geschweige Profit erwirtschaften kann; den Worten des Herrn Schuchard nach ist dieser Zustand nämlich schon länger anhaltend gewesen. Vielmehr benötigt der Fabrikant einen Anlaß, um seine Vorstellung von Fabrikdisziplin in eine Betriebsordnung einfließen zu lassen, die womöglich zuvor vorhandene und akzeptierte Freiheiten einschränkt.

„Wer war Schuchard? Ein Fabrikant aus Lauterbach, der sich in Darmstadt zum ‚Hofhutfabrikanten‘ hochgearbeitet hat. Seine Fabrik stellte täglich bis zu 2000 Hüte her und galt 1880 als ‚die erste des Kontinents‘. Heinrich Schuchard (1813 bis 1895) hatte 250 Beschäftigte – mehr als damals die Firma Merck.“ [29]

Das Jahr klingt aus mit der „Christbescheerung“ des Arbeitervereins am 31. Dezember 1871, bei der auch getanzt werden darf. [30]