Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Darmstadt Ostbahnhof
Eine Zeitreise
1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Hauptverlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten vor allem der Streckenabschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.
»» Der Ostbahnhof auf OpenStreetMap.
Nach langen Debatten über den Startpunkt und den Verlauf der Strecke begann man 1868 mit dem Bau der Odenwaldbahn von Babenhausen und von Darmstadt aus zu zwei belanglosen Weilern namens Wiebelsbach und Heubach. Der weitere Verlauf der Strecke sollte nach Höchst, Michelstadt, Erbach und schließlich 1882 nach Eberbach im Badischen führen. Im Darmstädter Osten wurde an der Rosenhöhe eine gleichnamige Station eingeplant, die 1900 in Darmstadt Ost umbenannt wurde. Von 1897 bis 1982 zweigte hier eine Nebenbahn über Roßdorf nach Groß-Zimmern ab, deren Trasse seither weitgehend freigehalten wurde. Obwohl der Bedarf einer Reaktivierung offensichtlich ist und frau und man sich allenfalls darüber streiten kann, ob eine Straßenbahn oder eine Eisenbahn sinnvoller wäre, werden seit Jahren unerquickliche Nutzen-Kosten-Berechnungen durchgeführt, nach Kriterien, die einfach nicht mehr zeitgemäß sind. Und dann finden sich immer wieder Spaßvögel, die an den unsinnigsten Orten eine Seilbahn errichten wollen, so auch hier. [1]
Diese Seite über den Ostbahnhof wird einige vereinzelte Schlaglichter auf dessen Geschichte werfen. Eine vollständige Erzählung liegt außerhalb der Absicht der hier vorgelegten Betrachtungen.
Ich danke der Forschungsgemeinschaft Verkehrsgeschichte e. V. in Reinheim für die Genehmigung, die sich im dortigen Archiv befindlichen Aufnahmen von Ulrich Richter hier verwenden zu können, und dem Merck-Unternehmensarchiv für die freundliche Überlassung des Gleisplans und der Fotografie mit den dekorativen Heuhaufen. Werner Krone steuerte aus seiner Sammlung den Gleisplan aus den 1970er Jahren bei.
Die Station Rosenhöhe
Am 27. Dezember 1870 nahm die Hessische Ludwigsbahn den Personenverkehr auf der Odenwaldbahn zwischen Darmstadt und Ober-Ramstadt mit drei täglichen Zugpaaren auf. Zu diesem Zeitpunkt war nur die Zwischenstation in Nieder-Ramstadt fertiggestellt. Über größere Feierlichkeiten wird nicht berichtet; man war viel zu sehr mit dem erfolgreich verlaufenden Krieg in Frankreich beschäftigt. [2]

Abbildung 1: Annonce zur Eröffnung der Station Rosenhöhe in der Darmstädter Zeitung am 18. Januar 1871 [Scan vom Mikrofilm, nunmehr [online ulb darmstadt].
Die Station Rosenhöhe wurde erst am 16. Januar 1871 eröffnet. Sie diente auch dem Arbeiterverkehr zu den Fabriken am Ostrand der Stadt, zu denen Merck gehörte. In den Folgejahren sollte es deshalb auch spezielle Arbeiterzüge geben, die minimalistisch ausgestattet waren und deren Fahrt verbilligt angeboten wurde. Eisenbahn zu fahren war nämlich seinerzeit ein Luxus der begüteteren Klassen. [3]
Vermutlich stand dort zunächst eine Art Holzschuppen als provisorisches Stationsgebäude, so wie auch bei anderen Stationen der Hessischen Ludwigsbahn, bevor im August 1871 der Bau des definitiven Stationsgebäudes ausgeschrieben wurde. Veranschlagt waren hierfür 11.781 Gulden und sechs Kreuzer. Ein Güterschuppen mit Zufahrtsstraße wurde erst 1880 angelegt, daran wurde 1891 ein zusätzliches Gleis für das Unternehmen der Söhne von Emanuel Merck angebunden. [4]
Die mit dem Wiener Börsenkrach von 1873 einsetzende Gründerkrise hinterließ ihre Spuren auch in Darmstadt. Das wichtigste hier ansässige Maschinenbauunternehmen wurde 1879 abgewickelt und auf der Odenwaldbahn ging die Nachfrage zurück. Die Arbeiterzüge wurden eingestellt.
„Die fortdauernde Ungunst der Zeitverhältnisse ist leider auch auf den Personenverkehr der Station Rosenhöhe nicht ohne Einfluß geblieben, denn im verflossenen Jahre sank die Zahl der dort amgekommenen Personen auf 130.102 gegen 165.153 im Jahr 1877 und 164.065 in 1876. Die Zahl der dort abgegangenen Personen betrug im Jahr 1878: 55.646; im Jahr 1877: 62.986 und in 1876: 60.080 Personen.“ [5]
Merck erhält einen Gleisanschluß
1891 erhielt das damals noch am östlichen Rand der Innenstadt gelegene Unternehmen E. Merck ein Anschlußgleis an den Güterschuppen der Station Rosenhöhe. Zum 1. September 1895 schloß die Hessische Ludwigsbahn mit E. Merck einen Vertrag über die Pacht eines am Bahnhof gelegegen Lagerplatzes ab, auf dem Merck seine über die Eisenbahn bezogenen Steinkohlen unterbrachte. Der Pachtzins betrug 69,50 Mark. Zum 1. Januar 1898 konnte Merck ein sogenanntes totes Gleis vor dem Güterschuppen zum Aufstellen, Be- und Entladen von bis zu drei Säurewaggons jährlich für 150 Mark nutzen. Für jede Rangierbewegung dieses Wagens war eine sofort vor Ort zu zahlende Gebühr von 50 Pfennigen zu errichten. Zum 1. Mai 1901 wurde Merck dieses nunmehr Gleis 7 genannte von der Eisenbahndirektion Mainz als Privatanschlußgleis zum Aufstellen, Be- und Entladen von Säurewaggons zu denselben Konditionen zur Verfügung gestellt. In einem anderweitigen Vertragszusatz wird festgehalten, daß der von der Direktion eingestellte Topfwagen 46100 nunmehr die Nummer 502520 [sic!] erhält. Als Begründung wird angeführt, daß die Topfwagen als Kesselwagen anzusehen sind und daher dem Nummernkreis 502000 bis 502399 zugeordnet werden. [6]

Abbildung 2: Gleisplan des Ostbahnhofs mit Stand vom 25. Januar 1900. Das für Merck bestimmte Gleis 7 am Güterschuppen ist rot eingetragen. Quelle: Merck Unternehmensarchiv R1/D00002. Mit freundlicher Genehmigung.

Bild 3: Das Bahnhofsgebäude um 11 Uhr 18. Das Datum ist nicht überliefert. Quelle: Merck Unternehmensarchiv Y1/09860. Mit freundlicher Genehmigung.
Die Benutzung dieses Anschlußgleises durch E. Merck endete wohl 1904, als der Umzug des Unternehmens zum neuen Firmensitz an der Frankfurter Straße abgeschlossen war.
Als es noch zwei Stellwerke gab
Zu den folgenden Aufnahmen von Ulrich Richter fehlen mir nähere Angaben zum Zeitpunkt der Aufnahme. Sie werden wohl Mitte der 1960er Jahre entstanden sein. Der Personenverkehr auf der Strecke nach Groß-Zimmern wurde kurz nach Beginn des Sommerfahrplans am 1. Juni 1966 eingestellt. Zuvor hatte die Bundesbahn nach bewährter Methode den Zugverkehr bis zur Unkenntlichkeit ausgedünnt und die Fahrgästinnen und Fahrgäste auf die schaukelnden und ruckelnden Gefährte der Gummibahn mit deutlich längerer Fahrzeit verwiesen. [7]
Schauen wir uns die Bahnhofsanlagen von Nord nach Süd an. Entweder vom Haupt- bzw. Güterbahnhof her oder über die Verbindungskurve zur Blockstelle an der Kastanienallee erreichten Personen- und Güterzüge den Ostbahnhof über den Bahnübergang an der Erbacher Straße. Dort stand das Fahrdienstleiterstellwerk.

Bild 4: Das Stellwerk an der Erbacher Straße.

Bild 5: Das Stellwerk mit dem Bahnübergang Erbacher Straße.

Bild 6: An das Empfangsgebäude wird das neue Fahrdienstleiterstellwerk angeflanscht. Holger Köttings Stellwerksliste liefert leider kein Datum der Inbetriebnahme.

Bild 7: Blick auf die Gleisanlagen mit Empfangsgebäude und Güterschuppen.

Bild 8: Der schon genannte Güterschuppen fristete wohl schon Ende der 1960er Jahre ein trauriges Dasein.

Bild 9: Ein Darmstädter Möbelspediteur hat sich dort eingerichtet.

Bild 10: Längere Zeit scheinen dort auch diese beiden Bahnhofswagen abgestellt gewesen zu sein. Und zwar links Münster 7831, ein Wohn- und Schlafwagen der Fahrleitungsmeisterei Osnabrück, und rechts München 8464, ein Wohn- und Werkstattwagen der Signalmeisterei München 2, beide ausgemustert im Mai 1967. [8]

Bild 11: Am Südende des Bahnhofs stand das Stellwerk Os. Es bediente die Weichen und Signale für die Gütergleise und die Ausfahrten nach Reinheim und Groß-Zimmern. Es dürfte spätestens mit dem Bau der Schnellstraße nach Dieburg entsorgt worden sein. Der Trog dieser Straßentrasse ist breit genug, um dort die Straßenbahn nach Groß-Zimmern mit durchzuführen. Aber auf eine solch schlaue Idee kommen autoversessene Verkehrsplaner natürlich nicht. Diese wollen eher die Betonmafia päppen und planen daher lieber eine teure Überwerfung am Bahnhof.

Bild 12: Hier scheint ein alter Güterwaggon eine neue Nutzung erfahren zu haben.
Züge sind damals natürlich auch gefahren.

Bild 13: Einfahrender Personenzug aus Darmstadt, vermutlich nach Groß-Zimmern.

Bild 14: Wohl ebenso einfahrender Personenzug aus Darmstadt nach Groß-Zimmern, nur aus anderer Perspektive.

Bild 15: Güterzug bei der Ausfahrt auf die Odenwaldbahn am südlichen Stellewerk.

Bild 16: Ein sechsteiliger Schienenbus kommt knatternd aus dem Odenwald.

Bild 17: Ein anderes Mal ist der Personenzug aus dem Odenwald mit einer Diesellok bespannt; links die Ausfahrt nach Groß-Zimmern.

Bild 18: Ein weiterer Zug aus dem Odenwald, diesmal jedoch „in Schwarz“, gezogen von 065 013.

Bild 19: Abholen eines Kesselwagens mit der Lokomotive 065 018 auf Gleis 9 des nachfolgenden Gleisplans. Rechts neben der Lokomotive ist das Tor zum städtischen Gleisanschluß zu sehen.

Abbildung 20: Der Ausschnitt aus einem Gleisplan mit Bearbeitungsstand 1976 zeigt die damals noch vorhandenen Gleisanlagen des Ostbahnhofs. Die beiden mechanischen Stellwerke „Of“ und „Os“ sind ersetzt worden durch das neue Fahrdienstleiterstellwerk direkt vor dem Empfangsgebäude.

Bild 21: Dieselbe Lokomotive bringt hier entweder einen Güterzug Richtung Roßdorf oder setzt gleich um zu den Gütergleisen des Ostbahnhofs.
In den 1960er Jahren hatte der Ostbahnhof zwei Anschlußgleise und einen dritten Mitbenutzer: Jakob Nohl, die Stadt Darmstadt und den Holzhandel Gentil. [9]
Ein „Schandfleck“ verschwindet
Die Deutsche Bahn AG, ein international operierendes Unternehmen mit heruntergewirtschafteter regionaler Infrastruktur, mit der „Bahnreform“ dem Börsengang geweiht, damit „Investoren“ mit Steuergeldern zocken gehen können, hatte keinen Bedarf mehr für ein Empfangsgebäude, das den Fahrgästinnen und Fahrgästen dienen sollte. Die Beförderungsfälle werden auf Automaten verwiesen, und die Stellwerkstechnik wird elektronisch ferngesteuert. Was lag also näher, als ein einstiges Schmuckstück verkommen zu lassen und darauf zu hoffen, daß irgendwann einmal ein „Investor“ den Laden übernimmt? Und so wurde das Gebäude in der Presse und Öffentlichkeit als „Schandfleck“ kommuniziert, ohne daß man sich selbst zuständig fühlte, an dem Zustand etwas zu verändern. Der heilige Markt soll es richten. Die Jahre vergingen, und tatsächlich!, irgendwann kam dann ein Investor des Weges, kaufte das Gebäude und richtete darin einen Fahrradladen ein [10]. Daß die Fläche davor weiter vor sich hinverschandelte, störte dabei nicht, denn wo Autos abgestellt werden können, ist die Welt in Ordnung und keine Schande. Die Bushaltestellen hingegen stehen im Regen und werden irgendwo dazwischen gequetscht.

Bild 22: Heruntergekommen präsentiert sich die der Stadt zugewandte Seite des Bahnhofsgebäudes im Juli 2008.

Bild 23: Auch die Gleisseite sieht im April 2010 nicht wirklich einladend aus.

Bild 24: Gegenüber, mit Blick über die Erbacher Straße, liegt der Eingang zum Park Rosenhöhe. Das ganze Ensemble könnte ein Schmuckstück sein, wären da nicht die nervigen Autos und der deplaziert wirkende Einkaufswagen. Aber von Ästhetik verstehen Darmstadts Stadtplanerinnen und Verkehrsplaner nicht so sonderlich viel. Aufnahme vom Oktober 2014.

Bild 25: Um 2010 herum kam ab und an einmal eine Dampflokomotive des Eisenbahnmuseums in Kranichstein vorbei, was von Familien mit Kindern gerne angenommen wurde. Die Fahrten gingen auf dem Reststück der Strecke nach Groß-Zimmern bis zum Bessunger Forsthaus, wie hier im April 2011. Das von der Museumsbahn genutzte Gleis befährt nostalgisch wieder die Station Rosenhöhe.

Bild 26: Im Februar 2011 war das Bahnhofsgebäude eingerüstet und wurde zumindest äußerlich einem früheren Zustand ähnlich wiederhergestellt.

Bild 27: Und so war im Mai 2016 der Anblick doch etwas passabler, zumal an dem Tag auch der Blechhaufen weitgehend abwesend war.

Bild 28: Die Gleisseite im Februar 2016.

Bild 29: Ehemaliges Bahnwärterhaus (Posten 4) am Botanischen Garten im April 2015.
Etwa 250 Meter vom einstigen Stellwerk „Os“ entfernt steht das ehemalige Bahnwärterhaus am Posten 4. Die Konstruktion des eng gestalteten Bahnübergangs am Botanischen Garten gibt immer wieder Anlaß zur Kritik. Zum einen ist es Fahrrädern mit Kinder- oder Lastenanhänger vollkommen unmöglich, die Windungen des Gitters mitzuvollziehen, zum anderen ist viel zu spät einzusehen, wann ein Triebwagen der Odenwaldbahn mit hoher Geschwindigkeit um die Kurve kommt. Angeblich ist eine Brücke in Planung. Ob und wann sie kommt, steht in den Sternen.
Und heute? Die Stellwerke und der Güterschuppen sind längst Geschichte. Die Gütergleise sind zurückgebaut und bestehen nur noch aus Stummeln an der Ausfahrt nach Groß-Zimmern. Statt dessen erhebt sich in der Nachbarschaft das wohlklingend Edelsteinviertel genannte Neubaugebiet.

Bild 30: Blick auf die südliche Einfahrt. Zwei Prellböcke sind so ziemlich alles, was auf den ehemaligen Güterbahnhof hinweist. Aufnahme vom April 2015.