Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Im Weigandsbusch bei Griesheim
Erkundungen auf der alten Riedbahntrasse, Teil 6
1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Hauptverlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten der Streckenabschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau. Die Geschichte der Riedbahn wird an anderer Stelle meiner Webseite ausführlich abgehandelt.
Zwischen Weiterstadt und Griesheim liegt noch eine Menge Schotter im Wald. Und wer genauer hinschaut, kann einige markante Wegweiser entdecken. Diese Seite behandelt den Abschnitt zwischen der Küchenmeisterschneise bei Kilometer 55 und dem Kreisel am Griesheimer Nordring bei etwa Kilometer 52,5. Virtuell durchfahren wir hier einen Bereich, der Weigandsbusch genannt wird und in dem vor rund zweitausend Jahren ein Mord geschah.
Abbildung 1: Karte zum hier behandelten Streckenabschnitt. (1) Küchenmeisterschneise, (2) Dornheimer Weg, (3) Markierungsstein, (4) Braunshardter Hausschneise, (5) Ort der Plünderung 1945, (6) Straße nach Mainz, (7) Brunnenschneise.
Meine eigenen Aufnahmen entstanden zwischen 2008 und 2013. Heute kann es an einzelnen Orten schon wieder ganz anders aussehen.
Ich danke Alfred Brosch, Jörn Schramm und der Verwandtschaft der im Bahnhaus 81 gelebt habenden Familie für die Überlassung ihrer Aufnahmen, sowie dem Katasteramt Darmstadt für die Fotokopie der Vermessung von 1940.
An der Küchenmeisterschneise
Während die kleine Brücke über den Darmbach etwa bei Kilometer 55,5 im Verlauf des Jahres 2012 abgetragen wurde, ist das Schotterbett bis Griesheim noch erstaunlich intakt. Anhand des spärlichen Bewuchses auf dem Schotterbett läßt sich sogar sagen, welches Gleis länger mit giftigen Chemikalien unkrautfrei gehalten wurde. Bei Kilometer 55 setzen wir die Erkundung fort, die nunmehr – mit zwei Ausnahmen an einem Graben und durch den Nordring – allenfalls durch Brombeerranken behindert wird.
Die Küchenmeisterschneise schneidet die Bahntrasse diagonal. Obwohl zwischen den Posten 82 (Pallaswiese) und 83 (Dornheimer Weg) kein bewachter Übergang vorgesehen war, muß es eine unbürokratische Möglichkeit gegeben haben, die Gleise für Forstarbeiten zu queren. Eine einfache hölzerne Barriere steht noch heute. Zudem wurde dieser Übergang auf beiden Seiten durch ein aufwendiges Mauerwerk für die Entwässerung der Pallaswiesen unterquert. Ob die beiden Entwässerungsgräben miteinander verbunden waren bzw. sind, kann ich nicht sagen.
Bild 2: Als ich im April 2013 vorbeischaute, bewachte der Kilometerstein 55 den Wildwuchs an der Küchenmeisterschneise.
Bild 3: Die Barriere im Februar 2010.
Bild 4: Der Durchlaß auf der Gehaborner Seite im Februar 2010.
Bild 5: Zusätzlich waren hier Betonsteine unbekannter Herkunft abgeladen. Möglicherweise entstammen sie dem Fundament des Vorsignals für die Blockstelle Pallaswiese. Aufnahme vom April 2013.
Bild 6: Der Durchlaß entlang des Weges nach Griesheim im März 2013.
Fünf Jahre vor der Demontage der Strecke führte die DGEG am 3. Mai 1986 von Heidelberg aus eine Sonderfahrt über mehrere Nebenstrecken mit den vier Schienenbussen 798 622 + 998 314 + 998 719 + 798 625 durch, unter anderem auch nach Griesheim.
Bild 7: Auf dem Rückweg fing Jörn Schramm die roten Brummer an der Küchenmeisterschneise ab. In der Verlängerung der Baumreihe am rechten Bildrand befindet sich das Hofgut Gehaborn.
Perigenes und sein Grabstein
Unter dem römischen Kaiser Vespasian (regierte 69 bis 79) fielen die Truppen des Imperiums erneut in das Gebiet östlich des Oberrheins ein. Diesmal um zu bleiben. Sie errichteten beim heutigen Groß-Gerau ein Militärlager, das einige Jahrzehnte bestehen sollte. Ihre Eroberung sicherten die Besatzer durch mit einem Steinbelag versehene Straßen. Es wird in der Forschung angenommen, daß es eine solche von Groß-Gerau nach Dieburg, dem Hauptort der Civitas Auderiensium, gegeben hat. Spuren oder Hinweise auf eine solche Straße gibt es jedoch nicht. Wenn es sie gegeben hat, wurde sie im Laufe der Jahrhunderte durch Ackerbau systematisch untergepflügt. So ist es bislang nur eine Vermutung, daß diese Straße etwa von Büttelborn kommend in der Nähe des Hofguts Gehaborn Richtung Darmstadt-Bessungen verlief. Das Hofgut selbst bestand zur Römerzeit noch nicht.
Bild 8: Das Hofgut Gehaborn von der Küchenmeisterschneise aus gesehen. Aufnahme vom Dezember 2012.
Während des Baus der Riedbahn wurde 1868 oder 1869 südlich des Hofguts Gehaborn ein römischer Grabstein gefunden. Der Fund wird wohl zunächst achtlos zur Seite geworfen worden sein. Als die Kunde davon archäologisch interessierte Kreise erreichte, konnte die genaue Stelle wohl nicht mehr benannt werden und deshalb wird sie in der einschlägigen Literatur auch nicht angegeben . In einer Mitteilung von K. Klein aus Mainz für die „Archäologische Zeitung“: heißt es: „In den ersten Tagen des Februar wurde in einem Walde bei Darmstadt folgende Inschrift gefunden“ – und weiter, daß hier ein Clodius Perigenes aus dem kampanischen Städtchen Teanum Sidicinum (heute: Teano) von Räubern erschlagen worden sei . Nach den Umständen dieser Mitteilung müßte der Fund wohl auf Februar 1869 datiert werden. Der Bruder dieses Perigenes, ein Publius Clodius Secundus, stiftete den Grabstein, der sich heute im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt befindet.
Clodius Perigenes wird, so wird vermutet, „wohl geschäftlich“ unterwegs gewesen sein und hierbei vielleicht die nur vermutete Römerstraße benutzt haben. Insofern wäre die Kenntnis von der Fundstelle hilfreich, denn eine solche Grabstele ergibt nur dann einen Sinn, wenn sie für spätere Durchreisende gut sichtbar am Straßenrand aufgestellt wurde. So läßt sich nur spekulieren, daß der Fundort irgendwo zwischen der Küchenmeisterschneise und der Braunshardter Hausschneise zu suchen ist.
Bild 9: Die Perigenes-Stele im Hessischen Landesmuseum Darmstadt.
Der Darmstädter Schriftsteller Gottfried Schwab nutzte die spärlichen Informationen auf diesem Grabstein für seine Ende des 19. Jahrhunderts gechriebene „Geschichte aus dem Dekumatenlande“.
Am Dornheimer Weg
Rund 300 Meter südwestlich der Küchenmeisterschneise kreuzte die Bahnstrecke am Posten 81 den Dornheimer Weg . Gegen 2010 befand sich dort ein sandiger Parkplatz. Wir bewegen uns im Wald zwischen Darmstadt und Griesheim schon auf Griesheimer Gemarkung. Die Eisenbahner, die hier im 19. Jahrhundert Dienst taten, konnten froh sein, wenn sie ihr karges Einkommen mit einem eigenen Gemüsebeet aufbessern konnten. Der Bahnwärter von Posten 79 verkaufte hingegen in den 1950er Jahren Erfrischungsgetränke.
Die ab der Küchenmeisterschneise durch ein Waldgebiet verkehrende Riedbahn besaß beidseitig einen breiten Schutzstreifen. Kleinere Waldbrände waren in der Nachkriegszeit im Weigandsbusch keine Seltenheit. Aus diesem Grund befindet sich noch heute, wo keine Dampflokomotive mehr die Funken fliegen läßt, am einsitigen Bahnübergang an der Braunshardter Hausschneise ein Hydrant.
Bild 10: Der Dornheimer Weg kurz vor der Riedbahn, heute für Autos ohne jede Barriere. Aufnahme vom Mai 2010.
Bild 11: Der Waldparkplatz an der Kreuzung des Dornheimer Weges mit der Riedbahn im Juni 2008.
Am Rand des südlichen Schutzstreifens verläuft ein Waldweg, der immer wieder die Sicht auf das Schotterbett der Riedbahn ermöglicht. Wer die zwei Kilometer bis Griesheim aufmerksam den Schotter begeht, wird nicht nur auf umgefallene Bäumchen und Brombeerdornen stoßen. Mal liegt eine Schwelle, mal ein Eisen- oder Betonteil auf und neben dem Schotter und gibt Rätsel zur Verwendung auf. Wer den Weg mit dem Fahrrad entlangfährt, sollte am Dornheimer Weg vorsichtig sein. Von der Straße her ist dieser Weg nicht einsehbar. Die Barrieren an beiden Seiten des Weges sind für den Radverkehr unpraktisch und werden einfach umfahren. Das hindert die Brennesseln nicht daran, sich dort breitzumachen.
Das Bahnhaus am Dornheimer Weg
Das Bahnhaus stand auf einem Grundstück, das laut bahneigenem Liegenschaftsbuch 502 qm groß war. Eine externe Stromversorgung gab es nicht. Frischwasser mußte aus einem Brunnen geschöpft werden. Spätestens mit der Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg und den hierdurch neu gesetzten Standards wurde eine solche Wohnweise unzeitgemäß. Von einer Idylle im Grünen mag ich da nicht reden.
Vom Bahnhaus 81 sind einige Bilder aus einem Familienalbum erhalten, die ausgesprochen zeigenswert sind.
Bild 12: Das Bahnhaus am Dornheimer Weg 1968.
Bild 13: Das Bahnhaus am Dornheimer Weg noch ohne Wärterbude im Winter 1962.
Bild 14: Das Bahnhaus am Dornheimer Weg mit dem Nebengebäude (Stall) im Sommer 1962.
Abbildung 15: Im April 1940 wurde das Bahngrundstück vermessen. Auf Parzelle 6 steht das Bahnhaus, Parzelle 7 ist die Bahntrasse und links ist mit längeren Strichen der Dornheimer Weg eingetragen. Quelle: Katasteramt Darmstadt.
Das Bahnhaus war ein Typenbau der Hessischen Ludwigsbahn von 1872 (Baubeginn) bzw. 1873 (Fertigstellung). Für den Bau veranschlagte die Gesellschaft 3.209 Gulden und neun Kreuzer. Im Gegensatz zu den BahnhäUser 83 und 84 weiter östlich ist hier der Treppenaufgang links, weil sich dort auch der Bahnübergang befunden hat.
Seit 1960, vielleicht aber auch schon in den Vorjahren, war der Bahnübergang aus Rationalisierungsgründen, hier: Einsparung von Personal, zu bestimmten Zeiten in den Abend- und Nachtstunden vollständig geschlossen. Unter den amtlichen Mitteilungen finden wir beispielsweise im „Griesheimer Anzeiger“ am 29. Oktober 1960 folgenden Hinweis:
„Die Bundesbahn teilt mit, daß der Bahnübergang Nr. 81 (Dornheimer Weg) auf der Strecke Darmstadt – Goddelau ab 1. November bis voraussichtlich Ende Februar 1961 täglich nur noch in der Zeit von 6.00 Uhr bis 20.00 Uhr besetzt ist.“
Rechtzeitig vor Monatsende teilt der Griesheimer Bürgermeister Georg Bohl am 24. Februar 1961 mit, daß der Posten an diesem schienengleichen Bahnübergang in der Zeit von März bis Oktober 1961 „wieder“ von 5.00 Uhr bis 22.00 Uhr besetzt sei. Dieses Wechselspiel wiederholte sich in den folgenden Jahren. Wer abends oder nachts aus Darmstadts Waldkolonie über Gehaborn nach Weiterstadt fahren wollte, mußte einen anderen Weg wählen. Zu den Weihnachtstagen 1967 sowie zu Silvester und Neujahr wenige Tage später wurde der Bahnübergang komplett geschlossen. Fußgängerinnen konnten weiterhin die Drehkreuze benutzen, während Straßenfahrzeuge auf den Bahnübergang Pallaswiese (Posten 82) verwiesen wurden.
Obwohl das Silvesterbesäufnis schon etwas zurücklag, verfing sich am Dienstagmorgen des 2. Januar 1962 um 7.20 Uhr, so der „Griesheimer Anzeiger“ vier Tage darauf, ein Fahrzeug in der Bahnschranke. Der Sachschaden soll 800 DM betragen haben. Am Mittwochnachmittag des 3. April 1963 endete gegen 17.40 Uhr eine Fahrt mit Trunkenheit am Steuer ebenfalls an einer Bahnschranke am Dornheimer Weg, wie die Zeitung drei Tage später vermeldete.
An der Braunshardter Hausschneise
Etwa zwanzig Schritte vom Kilometerstein 54,4 entfernt liegt auf der Nordseite der Schotterpiste ein Stein mit aufgesetzter Halbkugel. Möglicherweise handelte es sich um eine Markierung, um Verschiebungen im Gleisbett abmessen zu können. Ein weiteres derartiges Exemplar ist mir nicht begegnet.
Etwa einhundert Meter weiter westlich querte die Braunshardter Hausschneise die Bahnstrecke. Der zugehörige Posten 80 war nicht besetzt; es gab es eine Schranke, die vom Wärter am Bahnhaus 81 zu öffnen und schließen war. Der erste Rationalisierungsschritt kam 1956. Es wurde eine Anrufschranke eingerichtet, die nur dann geöffnet wurde, wenn land- oder forstwirtschaftliche Fahrzeuge hindurch wollten. Einzelne Passanten werden wohl eher vorsichtig nach links und rechts geschaut haben, bevor sie einfach weitergegangen sind. Denn sie hatten sich mittels eines Hebels beim Schrankenwärter an Posten 79 zu melden und laut und deutlich sein (oder ihr) Begehr zu verkünden. War kein Zug in Sicht, gingen die Schranken hoch. Nach Querung der Gleise war der Schrankenwärter durch lauten Zuruf davon zu informieren, daß die Gleise wieder frei waren.
Bild 16: Der Markierungsstein im Mai 2010.
Bild 17: Absperrung beidseitig der Strecke an der Braunshardter Hausschneise im April 2009.
Bild 18: Gerhard Schreiner fotografierte den Bahnübergang zwischen 1956 und 1960. Links vor dem Übergang steht die Sprechsäule.
Doch auch dies war noch zu vereinfachen. Erst dachte die Bundesbahn an eine Blinklichtanlage. Aber da diese viel zu kostspielig für solch einen einfachen Waldweg gewesen wäre, wurde der Bahnübergang Ende 1960 ganz dicht gemacht. Zur Begründung wurde auf den nahe gelegenen Übergang am Dornheimer Weg verwiesen. Der war jedoch seit 1961 nur noch eingeschränkt nutzbar. Um die Griesheimer und Weiterstädter Beschwerden zu beschwichtigen, setzte die Bundesbahn am Bahnübergang einen Hydranten, der noch heute zu besichtigen ist. Seitdem stehen hier Absperrstangen, was zu dem Kuriosum geführt haben mag, daß die Hausschneise nach Einstellung des durchgehenden Personen- und Güterverkehrs um diese Absperrung herum geführt wurde.
Der konsequent letzte Schritt war dann …
Der Abbau des Griesheimer Gleisstummels 1991
Der zunehmende innerstädtische Verkehr auf der Bundesstraße 26 (Wilhelm-Leuschner-Straße) und die Erschließung des nördlichen Griesheimer Gewerbegebietes erforderte in der autogerechten Denke der 1980er Jahre den Bau einer nördlichen Umgehungsstraße. Dieser Nordring sollte an der Flughafenstraße von der Hauptstraße abgehen und zunächst parallel zur Autobahn nach Nordwesten bis hin zur Riedbahn verlaufen, diese queren, um alsdann in westlicher Richtung bis zur Verbindungsstraße nach Büttelborn zu führen. Als kostenträchtiges Hindernis dieser Erschließungsmaßnahme stellte sich ein zu errichtender Bahnübergang heraus. Um den Bau desselben zu vermeiden, bedurfte es der kompletten Stillegung der noch vorhandenen Güterstrecke. Die Diskussion darum ist auf der Griesheimer Bahnhofsseite ausführlicher dargestellt.
Mit den Abbauarbeiten wurde im Sommer 1991 begonnen. Im Spätherbst wurden der Rückbau östlich des noch zu planierenden Nordrings fortgesetzt. Alfred Brosch dokumentierte den Fortschritt der Maßnahme am 28, November 1991 in Höhe des Kilometersteins 54,0. Ende November ist es am späteren Nachmittag schon recht duster.
Bild 19: Die Schienen wurden schon abgetragen.
Bild 20: Hier gibt es noch einiges zu tun.
Bild 21: Der Bagger wartet darauf, loslegen zu können.
Bild 22: Schweißarbeiten am Gleis. Im Hintergrund die Autobahnbrücke und der Abrißbagger.
Mehr als dreißig Jahre später kommen die Griesheimer Grünen auf die Idee, daß ein Gleisanschluß für Griesheim vielleicht doch eine gute Idee wäre. Im Oktober 2022 beantragen sie in der lokalen Stadtverordnetenversammlung den Magistrat damit zu beauftragen, in den Regionalplan Südhessen eine sogenannte Freihaltetrasse von der Bergschneise bis in den Norden Griesheims aufnehmen zu lassen.
Lärm
Auf den Fotografien von Alfred Brosch war die sich nahende Autobahn schon zu erahnen. Bis Mitte der 1950er Jahre ging es noch ein wenig idyllischer zu. Eine im 19. Jahrhundert gebaute Chaussee kreuzte am Posten 79 die Riedbahn. In mehreren Etappen wurde diese in den folgenden zehn Jahren zu einer brachialen Verkehrsschneise umgabaut. Beim Ausbau zur Autobahn (heute A 67) wurde die Riedbahn sogar noch als zu elektrifizierende Strecke eingeplant. Davon zeugt ein großes Loch am nahe gelegenen Nordring, der in einer weiteren Ausbaustufe seit den 1990er Jahren den Erholungswert dieses Waldstücks radikal senkt. Weniger bekannt ist, daß auf der Riedbahn zwischen der Braunshardter Hausschneise und dem Posten 79 in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges der letzte vor der US Army entflohene Zug bei Griesheim stehen blieb und von der dortigen Bevölkerung systematisch ausgeplündert worden ist. Die US-Fotografin und Kriegsreporterin Margaret Bourke-White hat der Nachwelt hiervon einige Aufnahmen überliefert.
Bild 23: Der Schauplatz dieser Plünderaktion. Aufnahme vom Juni 2008.
Die Bewohnerinnen und Bewohner Griesheims müssen sich schon ziemlich sicher gewesen sein, daß die unbarmherzige Nazi-Justiz ihnen nichts mehr anhaben würde. Der letzte Zug verließ in der Nacht vom 22. zum 23. März 1945 den Bahnhof von Goddelau-Erfelden. Seine Waggons waren voller Textilien, Spitituosen und Lebensmittel. Vermutlich wurde er bald darauf von den vorrückenden US-amerikanischen Truppen beschossen; jedenfalls blieb er im Wald liegen. Ein Augenzeuge berichtete, sein Vater habe hiervon erfahren und so seien sie zu zweit losgelaufen. Doch als sie den Zug erreicht hätten, sei schon gar nichts mehr zu holen gewesen. Am 25. März 1945 marschierten die alliierten Soldaten in Darmstadt ein. Margaret Bourke-White folgte den vorrückenden Truppenverbänden der US Army in das besetzte Deutschland. Auf dem Weg in das eroberte Frankfurt kam sie durch den Weigangsbusch am Posten 79 und fotografierte die noch laufende und von den Militärs geduldete Plünderung, verlegte den Ort des Geschehens jedoch mangels Ortskenntnis nach Erzhausen.
»» Zu den Geschehnissen im März 1945 siehe ausführlicher meine Geschichts-Unterseite zur Riedbahn in den Jahren ab 1945.
Bild 24: Kurz vor Erreichen der Autobahnunterführung steht nördlich der Bahntrasse ein sich selbst überlassener Betonbunker, der Material und Gerätschaften zum Unterhalt der Riedbahn enthalten haben soll. Aufnahme vom März 2011.
Bild 25: Vorleistung für eine zweigleisige elektrifizierte Riedbahn mit je einem Wirtschaftsweg auf beiden Seiten. Aufnahme vom Juni 2008.
Die Stillegung der Riedbahn für den Personenverkehr mit Ende des Sommerfahrplans 1970 ließ im autovernarrten Hessenland die Herzen der asphalt- und betonhungrigen Planer höher schlagen. Ein angedachter Vorläufer des späteren Nordrings benebelte das Gehirn eines unbekannten Schreibers. Manche Menschen benötigen weder Cannabis noch Alkohol, um zu halluzinieren.
„Allerdings ergibt sich hierdurch die Möglichkeit, den Belangen des immer dichter werdenden Straßenverkehrs gerecht zu werden und eine neue nördliche Straßenverbindung nach Darmstadt mit Anschluß nach Weiterstadt zu projektieren. Das Gelände des stillgelegten zweiten Gleises und des Parallelweges würde für die notwendige Straßenbreite ausreichen.“
Das Loch unter der Autorennbahn ist auf jeden Fall breit genug, um die grüne Vision eines erneuerten Gütergleises nach Griesheim zu verwirklichen.
Bis 1958 befand sich an dieser Stelle noch ein schienengleicher Bahnübergang mit einem Bahnwärterhaus und Schrankenposten für die damals hier geführte Bundesstraße 26 von Mainz über Groß-Gerau nach Darmstadt. Doch schon wenige Jahre später wurde die Bundesstraße zur Autobahn ausgebaut (die heutige A67), nachdem Überlegungen, die Autobahn westlich an Griesheim vorbeizuführen, verworfen worden waren. Im Juni 1963 wurde die Bundesstraße gesperrt und der Verkehr von Darmstadt in Richtung Mainz über Griesheim und Weiterstadt umgeleitet. Die Freigabe des Autobahn-Teilstücks vom Mönchhof-Dreieck bis zum Darmstädter Kreuz erfolgte in mehreren Teilstücken bis zum Sommer 1965.
Der Posten 79
Gerhard Schreiner, der Mitte der 1950er Jahre noch mit seinem Vater im Bahnhaus gewohnt hatte, nahm den Umbau bzw. Abbau des Bahnübergangs mitsamt Bau der Schnellstraße zum Anlaß, den Vorgang fotografisch zu begleiten. Er selbst lebte bis etwa 1990 im nunmehr für die Eisenbahn nutzlos gewordenen Bahnhaus, bevor dieses dem Bau des Nordrings weichen mußte. Seine Fotografien zum Posten 79 zeige ich auf mehreren eigenen Unterseiten.
Bild 26: Der Vater von Gerhard Schreiner als Schrankenwärter Mitte der 1950er Jahre.
»» Zur Startseite der Fotografien zur Geschichte des Postens 79.
Der Nordring unterbricht seit Anfang der 1990er Jahre die Trasse der Riedbahn nach Griesheim. Auf der Südseite dieser Trasse voller Schotter verläuft ein gern genutzter Wander- und Radweg. Der Wald ist jüngeren Datums und wurde wohl erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegt. Was wollte man auch groß mit den Sanddünen anfangen? An Spargel-Monokulturen war damals noch nicht zu denken. So ist dann auch die Brunnenschneise, die auf den Waldweg führt, ein eher neuerer Wirtschaftsweg. Das Bahnhaus 78 bewachte einen 1925 verlegten Bahnübergang. Es wurde 2012 durch einen Neubau ersetzt.
Bild 27: Ein Schotterbett, wie es auch an der Brunnenschneise zu finden ist. Pflanzen haben auch dreizig Jahre nach Stillegung der Strecke keine echte Chance. Die chemische Keule wirkt. Nachhaltig. Aufnahme vom Juni 2008.
Bild 28: Auch das Bahnhaus 78 war ein Typenbau der Hessischen Ludwigsbahn. Aufnahme vom Mai 2010.
Von den Hektometersteinen 55 bis 52,6 waren 2013 noch alle mit Ausnahme von 53,6 und 53 vorhanden.
Anmerkungen
Am Ende der angeklickten und eingefärbten Anmerkung geht es mit dem Return ( ⏎ ) zum Text zurück.
- Die Vorliebe der Deutschen für obskure Tatorte, Kommissarinnen und hanebüchen konstruierte Verbrechen ist schier unersättlich. Hier jedoch liegt ein echter Cold Case vor. Kommissar Dummbach, ermitteln Sie! [Für die Auswärtigen: Dummbach ist eine Figur aus dem Datterich.] ⏎
- Karl Aßmann fotografierte diesen Schienenbus an einigen anderen Stellen, unter anderem am Ortsrand von Griesheim. Volker Blees hat auf Drehscheibe Online weitere Bilder dieser Fahrt beigesteuert. ⏎
- Thomas Maurer : Das nördliche Hessische Ried in römischer Zeit [2011], Seite 107. ⏎
- So reime ich mir die nur vagen Angaben zum Fund zusammen. ⏎
- Archäologische Zeitung, Neue Folge Zweiter Band, 27. Jahrgang [1869], Seite 30. ⏎
- CIL XIII 6429. Den Hinweis auf den Grabstein verdanke ich Werner Krone. Dietwulf Baatz nennt 1868, Ludwig Buchhold 1869 als Fundjahr. ⏎
- Gottfried Schwab : Tisiphone: eine Geschichte aus dem Dekumatenlande [1888]. ⏎
- Auf einem 2011 noch online vorhandenen Kreisplan des Landkreises Darmstadt-Dieburg waren noch zwei Gebäude als „Bahnhaus 81“ an der Nordostseite der Kreuzung eingezeichnet, obwohl selbiges längst nicht mehr vorhanden gewesen ist. Dies mag als Hinweis darauf zu betrachten sein, älteren Plänen nicht unbesehen zu glauben. ⏎
- Die drei Fotografien liegen mir in nur geringer Auflösung und Größe vor. Sie wurden für diese Seite hochgerechnet und nachbearbeitet. ⏎
- Ausschreibung in der Darmstädter Zeitung vom 24. Juli 1872 [online ulb darmstadt]. Geschäftsbericht der Hessischen Ludwigsbahn für 1872 auf Seite 14 und für 1873 auf Seite 15. Die Fertigstellung kann bis zum April 1874 gedauert haben, denn da ging der Geschäftsbericht für 1873 in Druck. ⏎
- Es könnte sich um einen Vermarkungsstein nach den Oberbauvorschriften der jeweiligen Bahndirektion gehandelt hat. Damit lassen sich „Wanderungen“ des Oberbaus durch Erschütterungen beim Fahbetrieb nachmessen und überprüfen. Siehe hierzu die Oberbauvorschriften der DV 820. ⏎
- Zu den Vorgängen um die Braunshardter Hausschneise siehe Griesheimer Anzeiger vom 14. Januar 1956 und vom 1. Oktober 1960. ⏎
- Der Antrag als PDF. Siehe auch die Presseinformation 2-23 von Bündnis 90/Die Grünen vom 22. Januar 2023. Schauen wir einmal, was die Autolobby davon hält. ⏎
- Aus Urheberrechtsgründen kann das Foto hier nicht wiedergegeben werden, aber ein Link auf das Bild. Karl Knapp erzählt die Geschichte dieser Plünderung in einem 2020 veröffentlichten Artikel ausführlich: „Es Ziggelsche“ – Ein Glücksfall für Griesheim, in: Griesheimer Anzeiger vom 18. April 2020, Seite 8. Anzumerken ist, daß die Aufnahmen von Margaret Bourke-White den nach Darmstadt strebenden Zug auf dem nördlichen Streckengleis zeigen. Handelt es sich hier vielleicht um einen anderen Zug als den aus Goddelau? ⏎
- Griesheimer Anzeiger vom 18. Juli 1970. ⏎
- Auszugsweise auch als: Margaret Bourke-White : Deutschland, April 1945; in: Moritz Neumann : 1945 nachgetragen [1995]. ⏎