Bahnhof Griesheim. Französische Wache auf dem Griesheimer Bahnhof. Quelle.

Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau

Das Ende der französischen Besatzung 1925 bis 1930

Dokumentation

1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Hauptverlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten der Strecken­abschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.

Diese Seite befaßt sich mit den Folgen des verlorenen Ersten Weltkrieges für Darmstadt, Griesheim, Wolfskehlen und Goddelau, sowie die Riedbahn als ganzer. Im Waffenstillstandsabkommen von Compiègne verpflichtete sich das militärisch geschlagene Deutsche Kaiserreich am 11. November 1918 zur militärischen Räumung aller linksrheinischen Gebiete. Zudem wurde der französischen Armee ein Brückenkopf in Mainz zugesprochen, der dreißig Kilometer in das rechtsrheinische Gebiet reichte. Faktisch bedeutete dies, daß die Darmstädter Vororte Arheilgen und Griesheim zur französisch besetzten Zone gehörten. Mitte Dezember 1918 rückten die französischen Truppen ein. Am 30. Juni 1930 verließen die letzten französischen Soldaten deutschen Boden.

Die Literatur zum Eisenbahnwesen unter französischer und belgischer Besatzung ist spärlich. Die hier vorliegende Darstellung stützt sich vorwiegend auf Berichte, Meldungen und Annoncen im „Neuen Griesheimer Anzeiger“. Somit werden die knapp zwölf Jahre der französischen Besatzung weitgehend aus Griesheimer Sicht betrachtet, lassen aber auch den lokalen Raum verlassende Aspekte nicht außer Acht.

Die Jahre der französischen Besatzung werden in drei Teilen erzählt. Dies ist der letzte Teil. Der erste Teil dieser Trilogie handelt für die Jahre 1918 bis 1922 von der Besetzung, Eisenbahnerstreiks und den Schwierigkeiten, vom besetzten in das unbesetzte Gebiet zu gelangen. Im zweiten Teil geht es 1923 und 1924 um die französisch-belgischen Regiebahn mit ihren Auswirkungen auf die Riedbahn.

»»  Zu den Auswirkungen der französische Besatzung insbesondere in und für Griesheim siehe auch die zweiteilige Geschichte, wie die Elektrische nach Griesheim gekommen ist, mit Teil 1 von 1918 bis 1926 und Teil 2 von 1926 bis 1930. Da ab und an Überschneidungen zu der hiesigen Darstellung vorkommen, werden partiell dieselben Textpassagen auf beiden Seiten (zur Straßenbahn und zur Riedbahn) verwendet.


Dieses Kapitel über das Ende der französischen Besatzung ist die Fortsetzung des Kapitels über die französisch-belgische Regiebahn 1923 und 1924.

Hochfliegende Pläne und ein übermütiger Pelzräuber

Kleine Fahrplankorrekturen läuten das neue Jahr 1925 ein. Auf der Riedbahn zwischen Darmstadt und Goddelai-Erfelden verkehren nunmehr sechzehn Züge in Richtung Goddelau und fünfzehn in Richtung Darmstadt. Einer dieser ins Ried verkehrenden Züge bringt nur am Samstagnachmittag Arbeiterinnen und Arbeiter nach Hause. Frühmorgens kurz nach 4 Uhr fährt in Darmstadt ein anderer Arbeiterzug zu den Fabriken in Mannheim. Eine Besonderheit ist ein Zug, vermutlich eine Triebwagen­fahrt mit einem Wittfeld-Triebwagen, der am Vormittag von Goddelau aus kommend in Griesheim endet und mittags wieder zurückfährt. Vielleicht kam er sogar aus Mainz, um französische Militärs und Beamte zum Truppen­übungsplatz an der südöstlichen Peripherie des Dorfes zu bringen.

Ungewöhnliche Zugläufe, Teil 1

Seit Ende 1918 hatten die deutschen Eisenbahnen den Besatzungs­mächten je nach Bedarf regelmäßig oder situations­bedingt ganze Züge, Waggons oder Abteile zur Verfügung zu stellen. So konnten die französischen Truppen auch deshalb im Januar 1923 ins Ruhrgebiet einmarschieren, weil die Reichs­eisenbahn sich an die getroffenen Abmachungen gehalten und Züge für den Truppenaufmarsch bereitgestellt hatte.

1923 und 1924 zur Zeit der Regiebahn konnten die französischen Behörden ohnehin über die im Besatzungsgebiet verstreuten Lokomotiven und Wagenparks verfügen.

Mit dem Sommerfahrplan 1924 erscheint erstmals faßbar eine Triebwagen­fahrt, die vermutlich das französische Hauptquartier in Mainz mit dem Truppenübungsplatz auf dem Griesheimer Sand verbunden hat. Aus den vorliegenden Kursbüchern und den Fahrplan­angaben im „Neuen Griesheimer Anzeiger“ sind die genauen Details jedoch nur schwer zu greifen.

Aus einer mir nur auszugsweise vorliegenden Personen­verkehrsstatistik für 1924 ist zu erschließen, daß der Triebwagen 2910 vormittags von Groß-Gerau herkam und in Goddelau-Erfelden gewendet hat, um von dort nach Griesheim weiterzufahren. Spätmittags fuhr er dann von Griesheim nach Goddelau-Erfelden zurück. Der Nummernkreis der Hinfahrt mit Zugnummer 2910 verweist auf den Pendelverkehr über die „Rutsch“ zwischen den Bahnhöfen Groß-Gerau und Dornberg-Groß-Gerau. Da hier die Rückleistung 2828 zum Nummernkreis der Riedbahn­verbindung Darmstadt – Worms gehört, ist zu vermuten, daß die Triebwagen­fahrt in Goddelau-Erfelden endete. Gab es für die Hinfahrt reservierte Abteile in einem Zug von Mainz nach Darmstadt (dazu gleich mehr)? Und wie verlief dann die Rückfahrt?

Immerhin ist aus der Personenverkehr­statistik zu entnehmen, daß ein Triebwagen genutzt wurde. Ob er zusätzlich für den Publikumsverkehr freigegeben war, ist zu vermuten, aber nicht sicher. Die Statistik weist 73 Fahrgästinnen und Fahrgäste für den 2910 und 59 für den 2828 aus.

Wenn wir die hier gewonnenen Angaben als Ankerpunkte betrachten, können wir diesen ungewöhnlichen Zuglauf womöglich vorher und später weiterverfolgen.

Das Regiekursbuch für den Sommer 1924 weist auf der Strecke 42 Mainz – Weiterstadt – Darmstadt einen passenden Anschlußzug auf. So beginnt um 10.00 Uhr in Wiesbaden ein Personenzug 1470, der passend um 11.01 Uhr in Groß-Gerau endet. Dieser Zug wartet jedoch nicht auf die Rückleistung, die wir uns eventuell so vorstellen müssen, daß die Franzosen in Goddelau-Erfelden, Dornberg-Groß-Gerau und Groß-Gerau umsteigen mußten.

Das Reichskursbuch für den Sommer 1924 läßt den Triebwagen 2910 nicht in Griesheim, sondern in Darmstadt enden, während die Rückleistung 2828 tatsächlich in Griesheim einsetzt. Zwei Jahre später, im Sommer 1926, wird nur der Triebwagen von Griesheim nach Goddelau-Erfelden erwähnt, der auch im Sommer 1928 fährt, aber schon in Darmstadt beginnt.

Der „Neue Griesheimer Anzeiger“ hat die Angewohnheit, die Fahrpläne nicht als Tabellen wiederzugeben, sondern die für Griesheim relevanten Abfahrtszeiten nach Orten aufzuführen. Wir erfahren so, wann ein Zug in Darmstadt oder Griesheim abfährt, aber nicht, wann er in Darmstadt ankommt. Doch auch dies ist insofern hilfreich, als dadurch der für die französischen Besatzer (teilweise) reservierte Triebwagen herausgefiltert werden kann.

Der erste in der Zeitung veröffentlichte Fahrplan nach der Freigabe der Riedbahn im März 1924 erwähnt beide Züge nicht. Im Sommer 1924 wird der 2910 aufgeführt, aber der 2828 nicht. Vom Sommer 1925 bis zum Winter 1927/28 wird keine Hinleistung benannt, während zurück ein Triebwagen von Griesheim nach Goddelau-Erfelden fährt, der ab Sommer 1928 in Darmstadt einsetzt und ab Winter 1928/29 weiter Richtung Gernsheim verkehrt. Da er jahrelang nicht an Sonn- und Feiertagen fährt, könnte es sich um einen Triebwagen für Schülerinnen und Schüler handeln, die in Darmstadt auf eine höhere Schule gingen.

Der mögliche Laufweg wäre dann: [ Wiesbaden Hauptbahnhof – Mainz Hauptbahnhof – Bischofsheim – ] Groß-Gerau – Dornberg-Groß-Gerau – Goddelau-Erfelden – Griesheim [ – Darmstadt ].

Noch gilt im besetzten Gebiet die Westeuropäische Zeit, die zumindest an Verwaltungssitzen und Bahnhöfen an öffentlichen Uhren vorgeschrieben war. Vermutlich weigerte sich nicht nur der Redakteur des „Neuen Griesheimer Anzeigers“, dieses Siegerdiktat zu akzeptieren, und verblieb einfach bei der „deutschen Zeit“. Nach dem Ende der Ruhrkrise und mit dem Dawes-Plan ging eine Entspannung des deutsch-französischen Verhältnisses einher, so daß am 1. Februar nunmehr auch in Griesheim ganz offiziell zur Mitteleuropäischen Zeit gewechselt werden konnte. [1]

Und wo jetzt auch die Inflation ihr (politisch und wirtschaftlich gewolltes) Werk vollendet hat und weite Teile des Bürgertums und der Arbeiterschaft hat verarmen lassen, können wieder hochfliegende Pläne gesponnen werden. Die einen wünschen sich eine Kraftpost­verbindung von Darmstadt zum Kornsand und dort über den Rhein nach Oppenheim, die anderen träumen ein bißchen unrealistischer gleich ganz von einer Eisenbahnlinie, die von der Riedbahn bei Wolfskehlen abzweigt, von dort über Erfelden nach Oppenheim gelangt, und am besten daran anschließend bis Kreuznach geführt werden soll [2]. Als Infrastruktur­maßnahne ist dies gewiß ein interessantes Projekt, von dem die deutsche Bauindustrie ebenso gewiß profitieren würde. Die Kraftpost gelangt in den folgenden Jahren tatsächlich über den Rhein, während das Eisenbahn­projekt wieder einschläft. Ein ähnliches Projekt hatte schon 1898 die Darmstädter Handelskammer zusammen mit anderen Wirtschaftskreisen in einer Denkschrift vorgeschlagen; und schon damals war das Projekt aus Kostengründen und mangels erwarteter Rentabilität verworfen worden.

Während dessen stießen am 8. Januar im Groß-Gerauer Bahnhof Dornberg zwei Güterwaggons zusammen und hinterließen einen gewissen Materialschaden. [3]

Am Posten 78.
Bild 1: Diese Aufnahme, die nach 1934 entstanden sein dürfte, zeigt vermutlich die Reste des ehemaligen Postens 78. Rechts müßte sich das zugehörige Bahnhaus befunden haben. Neben den Gleisen steht das Einfahrtssignal zum Griesheimer Bahnhof. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em2008.0058.

Am 6. Februar wird die landespolizeiliche Abnahme der Verlegung des Bahnübergangs Nr. 78 durchgeführt. Der alte Bahnübergang lag im Nordwesten außerhalb des Ortes, neben dem 2012 abgerissenen zugehörigen Bahnhaus. Er wandert nunmehr etwa einen halben Kilometer in Richtung des Bahnhofs zur Hofmannstraße. Die Verlegung war schon für November 1924 angekündigt worden, wurde damals vielleicht auch vollzogen, aber erst drei Monate später rechtlich abgeschlossen. Der zugehörige Vertrag mit der Reichsbahn wurde dann auf der Gemeinde­ratssitzung am 2. April genehmigt. [4]

„Mit dem 1. März 1925 wird auch im besetzten Teile des Reichsbahn-Direktionsbezirkes Mainz der im unbesetztebn Gebiet bestehende Lichtbild­rahmenzwang für Zeitkarten (Schüler- und Monats- und Wochenkarten) eingeführt. Von dem genannten Tage ab sind Zeitkarten nur in Verbindung mit dem Lichtbild­rahmen, der bei den Fahrkarten­ausgaben gegen eine Gebühr von 50 Pfg. verabfolgt wird, gültig. Die Gesamtgröße des Lichtbildes muß die einer Zeitkarte sein; (also 7 cm. hoch und 4,5 cm. breit) Das Bild selbst muß vom oberen und unteren Rande je 1 cm. entfernt sein (eigentliche Bildgröße demnach 5 cm.) Als Mindestkopfgröße ist die Größe eines 10 Pfennig­stücks vorgeschrieben. Es ist licht­durchlässiges (also nicht kartonstarkes) Mattpapier als Bildmaterial zu verwenden. Der Hintergrund des Bildes ist möglichst hell zu halten, insbesondere gilt dies von dem unteren Rande des Bildes, welcher zur Aufnahme der Namens­unterschrift dient. Es wird noch darauf aufmerksam gemacht, daß nur Lichtbilder ohne Kopfbedeckung zulässig sind. Den Zeitkarten­inhabern wird empfohlen, sich rechtzeitig die erforderlichen Lichtbilder zu verschaffen.“ [5]

Im Grunde Selbstverständliches muß immer wieder kommuniziert werden:

„Wir werden gebeten darauf aufmerksam zu machen, daß das Oeffnen der Abteiltüren bei einfahrenden Personenzügen verboten ist solange die Züge sich noch in Bewegung befinden. Auch ist das Abspringen während dieser Zeit verboten. Zuwiderhandelnde setzen sich Bahnpolizei­strafen aus.“ [6]

Am 16. März werden die Kontrollhalte in den Schnell- und Eilzügen, sowie in den beschleunigten Personenzügen an den Kontrollpunkten in Goldstein, Weiterstadt und Biebesheim beseitigt. Griesheim ist davon ausgenommen, weil hier nur Personenzüge halten; und sie halten ohnehin jedesmal an. Offensiv kontrolliert war hier aber schon seit vergangenem Herbst nicht mehr. [7]

Griesheim mit seinen intensiv landwirtschaftlich genutzten Äckern und Gärten drängt massiv auf die Obst- und Gemüsemärkte in Darmstadt, Mainz, Frankfurt und Offenbach. Nachdem die Alliierten die Beschränkungen im Handel zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet mehr und mehr fallengelassen haben, bietet nunmehr auch die Reichsbahn ihre Transport­dienste an. Noch sind ansonsten Fuhrwerke vorherrschend; Lastkraft­wagen sind nicht allgemein verbreitet. Ab Montag, dem 4. Mai, wird frühmorgens in Griesheim ein Triebwagen bereitgestellt, mit dem in Darmstadt Anschluß nach Frankfurt besteht. Schon im Sommerfahrplan 1921 gab es einen derartigen Marktzug, der damals mittwochs und samstags zum Einsatz kam. Er wurde bereits Mitte Juli 1921 aufgrund schärferer französischer Grenzkontrollen wieder eingestellt, taucht aber im Sommerfahrplan 1922 wieder auf. Mit dem Sommerfahrplan zum 1. Juni 1925 wird der Marktzug nunmehr dienstags, mittwochs, freitags und samstags gefahren. [8]

Anfang Mai begegneten sich zwischen Gernsheim und Groß-Rohrheim ein Personenzug und ein Güterzug. Auf einem mit Holz beladenen Waggon hatte sich die Ladung verschoben, so daß ein Balken aus dem Lichtraumprofil ragte und beim entgegen­kommenden Personenzug mehrere Scheiben eindrückte. Personen kamen nicht zu Schaden. Dafür wird am 16. Juni der neue Bahnübergang an der Hofmannstraße in gewisser Weise recht makaber eingeweiht, als sich ein 19jähriger Griesheimer vom letzten aus Darmstadt kommenden Triebwagen überfahren ließ. [9]

Ehemaliges Stationsgebäude Bahnhof Messel.

Bild 2: Ehemaliges Stations­gebäde des Bahnhofs Messel, Schauplatz der nachfolgenden Geschichte. Aufnahme vom September 2009.

„In der Nacht vom 16. auf 17. Juli 1925 versuchten zwei Räuber, von denen der eine maskiert war, einen Raubüberfall auf die Stationskasse des Bahnhofs Messel. Die Räuber waren mit Schuß- und Schlagwaffen versehen. Nachdem der letzte Nachtzug den Bahnhof passiert hatte und der Fahrdienstleiter im Begriffe war, sich in den Stationsraum zu begeben, sprangen die beiden Räuber mit scharfgeladener Pistole auf den Beamten und riefen: ‚Hände hoch!‘ Der Darmstädter Kriminalpolizei – die im gegebenen Moment vom dem geplanten Ueberfall Kenntniß erhielt – gelang es unter Hinzuziehung von zwei Gendarmerie­beamten, nach kurzem Feuergefecht die Täter dingfest zu machen. Einer der Täter wurde durch einige Schüsse verwundet und durch das Sanitätsauto des Roten Kreuzes nach dem Stadt­krankenhaus verbracht.“

Der aus Nürnberg stammende angeschossene 28jährige Räuber erlag seinen Verletzungen. [10]

Am 10. August entgleist an der Bergschneise die Lokomotive des aus Griesheim kommenden mittäglichen Güterzugs. Pragmatisch, wie man so ist, wird der Personenverkehr durch Umsteigen an der Unfallstelle aufrecht erhalten. Heutzutage würde der Verkehr länger eingestellt und ein Schienenersatz­verkehr organisiert, der allerdings erst dann eintrifft, wenn schon alles vorbei ist. [11]

Am 30. August, einem Sonntag, erleuchtet der Wormser Dom anläßlich der Burchardfeier. Dieses Spektakel zieht auch Publikum aus Darmstadt an, das am späten Abend um 23.45 Uhr mit einem Sonderzug von Worms zurückgebracht wird. Der Zug erreicht Griesheim um 1.02 Uhr. [12]

„Zur Bekämpfung des wilden Lastkraft­wagenverkehrs, der der Eisenbahn einen recht beträchtlichen Teil ihres Verkehrs abgenommen hat, beabsichtigt die Reichsbahn­direktion Mainz ab 1. September einen eigenen Kraftwagen­verkehr Mainz – Kastel – Kostheim – Gustavsburg – Rüsselsheim – Frankfurt und umgekehrt einzurichten. [13]

Am Morgen des 2. September läßt sich ein 26jähriger Griesheimer Schlosser in der Nähe des neuen Bahnübergangs an der Hofmannstraße überfahren. In seinem Abschiedsbrief gibt er an, „daß es ihm unmöglich sei, in dieser verlogenen und niederträchtigen Welt, vor der er schon lange einen Ekel habe, noch weiter zu leben“. Acht Jahre später wäre sein Ekel womöglich noch größer gewesen. 
 [14]

Mit dem zum 3. Oktober eingeführten Winterfahrplan wird die Rückleistung aus Mannheim in die Nacht verlegt. Vermutlich, um den Arbeiterinnen und Arbeitern der Spätschicht die Heimfahrt zu ermöglichen, verläßt der Arbeiterzug Mannheim Hbf. um 23.29 Uhr und erreicht Darmstadt gegen Viertel nach 1. Morgens fährt der Zug gegen 4 Uhr wieder nach Mannheim zurück. Diese beiden Züge zwischen Mannheim und Darmstadt werden bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges beibehalten. Ein weiterer Frühzug fährt Griesheimer Arbeiterinnen und Arbeiter um 4.44 Uhr nach Darmstadt. Nicht vergessen werden darf hierbei, daß die Dampfstraßenbahn 1922 eingestellt worden ist und es bis Herbst 1926 keinen adäquaten Ersatz geben wird.

„Am Dienstag abend wurde der Postwagen, der in dem von Frankfurt 11.2 Uhr abgehenden Personenzug nach Darmstadt läuft, zwischen den Stationen Louisa und Isenburg erbrochen und beraubt. Zahlreiche Pakete waren gestohlen. Der Dieb hatte sie längs der Strecke abgeworfen, um sie später wieder zu holen. In der Dunkelheit hatte er anscheinend die Pakete nicht alle gefunden, denn einen Teil davon fand man noch am Mittwoch vormittag. Es waren Pelze, Stoffe und andere wertvolle Dinge darin enthalten. Der Dieb fühlte sich so sicher, daß er am Mittwoch das Experiment wiederholen wollte. Er wurde dabei abgefaßt und verhaftet. Es handelt sich bei dem Dieb um einen gewissen S**** aus Dieburg, der sich schon monatelang erwerbslos in Frankfurt a. M. herumtreibt.“ [15]

Der Griesheim um 4.44 Uhr verlassende Arbeiterzug sollte ursprünglich nur bis Ende November verkehren; wird jedoch auch im Dezember gefahren. – An der Blockstation nahe Kostheim bei Mainz fährt am 17. Dezember bei heftigem Schneegestöber ein Arbeitszug einem Güterzug in die Flanke. Beide Züge entgleisen. Sechs Reichsbahner werden verletzt und der Heizer des Arbeitszuges getötet. [16]

„Wegen des Eisenbahnunfalles bei Kostheim wurde jetzt der im Mainzer Krankenhaus liegende Lokomotiv­führer des Leerzuges vernommen. Derselbe behauptet, sie seien auf strengen Befehl des Zugführers immer über das Signal hinausgefahren, ebenso an dem Unglückstage. Der Zugführer, der ebenfalls im Krankenhaus liegt, konnte noch nicht vernommen werden.“ [17]

Pfusch am Stuck

Am Nachmittag des heiligen Abends löste sich auf einer Länge von 18 Metern und einer Breite von 8 Metern die Deckenverschalung der Passage zwischen Haupteingang und Bahnhofshalle im Darmstädter Hauptbahnhof. Die Schuttmassen wurden auf etwa 120 Zentner taxiert; 16 Personen wurden teils schwer verletzt. [18]

„Decken-Einsturz im Darmstädter Hauptbahnhof

Eine beträchtliche Aufregung herrschte am Heiligen Abend in der Landeshauptstadt. Auf den Straßen ging das das [sic!] Gerücht von einem Deckeneinsturz im Hauptbahnhof von Mund zu Mund, Uebertreibungen blieben nicht aus. Mehrmals hörte man in der Rheinstraße das Geläute eilends durchfahrender Feuerwehrwagen und vermutete – mit Weihnachts­vorbereitungen beschäftigt – zunächst, es seien die üblichen geringfügigen, allerdings etwas verfrühten, Christbaumbrände, zumal die Wagen immer wieder bald zurückkamen. Bis das Telephon uns eines anderen belehrte und zur Pflicht rief.

Der Verkehr am Bahnhof wickelte sich durch den Stadtausgang ab. Der Hauptdurchgang war abgesperrt. Von ihm bis zum Hauptraum – also vor der Bahnhofs­buchhandlung – war

der Verputz der Decke vollständig und an einem Stück herabgestürzt.

Diese sog. Rabitzdecke, in einer Länge von etwa 15 und einer Breite von etwa 8 Metern, die schätzungsweise 120 Zentner wog, hatte sich, wie Augenzeugen berichten, an einer Ecke zunächst gelöst. Das verdächtige Knistern und der herabrieselnde Verputz hatte die größere Menge des Publikums rechtzeitig flüchten lassen. Eine Sekunde später stürzte die ganze Decke, die durch das übliche eingelagerte Maschendrahtnetz zusammengehalten wurde, unter explosionsartigem Krachen herab und begrub etwa 16 Menschen unter sich. Das geschah um 3.15 Uhr nachmittags. Im Nu war das ganze Gebäude in dichte Staubmassen gehüllt, wodurch die Rettungsarbeiten zunächst erschwert wurden. Die sofort alarmierte Feuerwehr, die Rettungs- und Sanitätswache konnten durch Zusammenrollen der abgestürzten Decke nach der Mitte verhältnismäßig rasch die Verunglückten, die unter den Trümmern begraben lagen, bergen, und nach dem Krankenhause transportieren, wo man gerade eine Weihnachtsfeier veranstalten wollte.

Am Tage des Unfalles konnten bereits eine Anzahl der verletzten Personen wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden. Es befinden sich noch im Krankenhause: […].

Der Hauptbahnhof ist am 1. Mai 1912 dem Betrieb übergeben worden. Bauliche Veränderungen sind inzwischen an diesem Teil des Gebäudes nicht ausgeführt werden [sic!].

*

Darmstadt, 25. Dez.  Von amtlicher Seite wird zu dem Unfall mitgeteilt: ‚Am heiligen Abend, nachm. 3.15 Uhr, brach am Hauptbahnhof in Darmstadt die Rabitzdecke des Hauptdurchganges zwischen Vorhalle und Bahnsteigsperre herunter und verletzte etwa 12 Reisende, die sich gerade in diesem Durchgange befanden. Die Sanitätswache vom Roten Kreuz und die Rettungswache der Feuerwehr, sowie mehrere Aerzte waren bereits nach 10 Minuten zur Stelle. Die schwerer Verletzten wurden sofort nach dem städtischen Krankenhause verbracht. Die Ursache des Unfalls konnte noch nicht festgestellt werden. Untersuchung ist eingeleitet.‘

sw.  Zum Unfall im Hauptbahnhof erfahren wir, daß die Staatsanwalt­schaft am 1. Feiertage bereits eine Besichtigung der Unfallstelle vornahm. Ueber das Ergebnis der Untersuchung ist nichts bekannt.“

Quelle: Darmstädter Zeitung, 28. Dezember 1925. Die Namen der sechs im Krankenhaus verbliebenen Personen, darunter ein 9jähriges Mädchen, wurden weggelassen.


„Der Deckeneinsturz im Hauptbahnhof

Die vermutliche Ursache.

Ein amtliches Gutachten über die Ursachen des Deckeneinsturzes im Darmstädter Hauptbahnhof liegt noch nicht vor. Von bausachverständiger Seite geht jedoch eine Darstellung durch die Presse, die, wie es die zuständige Stelle bestätigt, im wesentlichen das bis jetzt vorliegende Ergebnis der Untersuchung zusammenfaßt, vor [sic!]. In dieser Darstellung heißt es:

‚Die Befestigung der Decke, die an allen Seiten vollkommen glatt abgebrochen ist, kann nur durch Nägel, sogenannte Krampen angeordnet gewesen sein, die einfach ohne weitere Sicherung senkrecht in die Balkenträger eingeschlagen waren. Die am Boden liegenden maschenförmig angeordnet gewesenen Rundeisen besaßen unstreitig die genügende Stärke, doch scheinen sie dem Befund nach in keiner Weise auf den Seitenwänden verankert gewesen zu sein, so daß also die 120 Ztr. Gips und Eisenmasse lediglich an einfach eingeschlagenen Krampen gehangen haben müssen. Die die Rabitzdecke tragende Holzkonstruktion war die eigentliche Dachkonstruktion; sie war also unmittelbar neben dem Bahnkörper liegend, den starken Erschütterungen des da passierenden D- und Kohlenzug­verkehrs ununterbrochen ausgesetzt. Als Holzkonstruktion besaß sie eine gewisse Beweglichkeit. Diese Beweglichkeit besaß aber in keiner Weise die vollkommen starre Rabitzdecken­konstruktion, die in engem Verband mit der Holzdecke als ihrer ausschließlichen Trägerin angeordnet war. Statisch war dies auf Dauer ein Unding.‘

Ein Frankfurter Blatt bringt eine Sensations-Meldung, wonach ein Frankfurter Oberingenieur mit dem Polarisator eine unterirdische Erdspalte als Ursache des Einsturzes festgestellt haben will. Die im Erdinnern vorhandene Bruchspalte solle sich nach Westen bis zu einer Kontakttiefe von etwa 50 Metern auswirken, so daß ‚weitere Senkungen des Bahnkörpers nicht ausgeschlossen seien‘. Sämtlichen maßgebenden Stellen ist von einer solchen Untersuchung nicht das Geringste bekannt. Die ganze Meldung erscheint demnach vollkommen aus der Luft gegriffen zu sein.“

Quelle: Darmstädter Zeitung, 30. Dezember 1925.


„Der Deckeneinsturz im Hauptbahnhof

Zum Deckeneinsturz im Hauptbahnhof wurde durch eine eingehende Besichtigung durch Sachverständige festgestellt, daß sich an verschiedenen Stellen des Mauerwerks Sprünge gezeigt hatten, denen man aber keine Bedeutung beigelegt hat. Auch scheint die vor 12 Jahren ausgeführte Stuckarbeit nicht hinreichend an der Decke befestigt worden zu sein. Vielleicht war auch das Holz inzwischen etwas eingetrocknet, so daß sich die Kloben lockerten. Auch die Erschütterungen durch die zahlreichen D- und anderen Züge scheinen mitgewirkt zu haben. Staatspräsident Ulrich nahm an den Feiertagen gleichfalls eine Besichtigung der Unfallstelle vor. Wie verlautet, befinden sich jetzt sämtliche Verletzten außer Lebensgefahr.“

Quelle: Neuer Griesheimer Anzeiger, 31. Dezember 1925.

„Wir werden gebeten darauf hinzuweisen, daß im Hauptbahnhof Darmstadt zur Entlastung der gewöhnlichen Ein- und Ausgänge die ständig benutzbar sind, in der Zeit von 6.30 Vorm. bis 8 Uhr und von 4 bis 7 Uhr Nachm., außerdem Samstags von 1 bis 7 Uhr Nachm. sich noch weitere Aufgangstreppen hinter den Haupttreppen befinden, die von den Reisenden benutzt werden können. In der gleichen Zeit ist auch noch ein weiterer Eingang links neben dem Hauptportal geöffnet. Besonders die Reisenden mit Zeitkarten, Schulkinder und Lehrlinge werden gebeten, im Interesse einer glatten Abwickelung des Verkehrs diese Aus- und Eingänge zu benutzen.“ [19]

Darmstadt Hauptbahnhof.

Bild 3: Der Darmstädter Haupt­bahnhof in etwas ungewohnter Perspektive. Illuminiert mit den wartenden Taxen ist der im Text genannte „Stadtausgang“. Links befindet sich der Fürsten­pavillon. Weiter rechts in dessen Verlängerung ist der Eingang zum ehemaligen Gepäcksteig, der heutigen Fahrrad­station, zu erahnen. Aufnahme vom Dezember 2013.

Schon bei der Eröffnung des Hauptbahnhofs 1912 hatte es Berichte über zu enge Auf- und Abgänge zu den Bahnsteigen gegeben. Die Architekten mögen an die Schönheit der Anlage gedacht haben, weniger jedoch an die Verkehrs­bedürfnisse der Reisenden. Vierzehn Jahre später muß man den parallel zum Hauptbahnsteig verlaufenden Gepäck­bahnsteig freigeben, um die pendelnden Massen aneinander vorbei zu lotsen. Dabei mögen die noch laufenden Deckenarbeiten im Hauptdurchgang eine Rolle gespielt haben. Fast ein Jahrhundert später haben wir eine ähnliche Situation. Darmstadt ist Taktknoten, bei dem insbesondere zu jeder halben Stunde ein- und aussteigende Reisende mit viel zu engen Treppen­aufgängen von bzw. zu den jeweiligen Bahnsteigen konfrontiert sind. Wenn dann noch Bauarbeiten an den Aufzügen hinzukommen, erweist sich das 2010 zum „Bahnhof des Jahres“ gekürte Gebäude als hoffnungslos unterdimensioniert. Wie beim historischen Vorbild 1926 kam man auch 2017 auf die kluge Idee, den ehemaligen Gepäck­bahnsteig zur Benutzung freizugeben. Dumm nur, daß die Reisenden hierbei auch durch den üblicherweise durch einen Fahrradausweis gesicherten Abstellbereich für Fahrräder geleitet werden, die wenig überraschend einen gewissen Schwund erleiden. [20]

„Im Hauptbahnhof ist neuerdings wieder Wandverputz und zwar wie verlautet ¼ Qmtr. abgebröckelt, worauf man eine Stelle von etwa 15 Qmtr. abgeklopft hat. Nachdem das große Unglück am Heiligen Abend der Oeffentlichkeit gegenüber noch nicht geklärt ist, hat sich wieder eine neue Beunruhigung bemerkbar gemacht. Es wäre an der Zeit, daß von amtlicher Seite Klarheit geschaffen würde.“[21]

Dafür soll am 28. April 1926 die Sommerzeit in den besetzten Gebieten nicht wieder eingeführt werden. [22]

Ein Riesenzirkus und ein Gemüsetriebwagen

Der kommende Sommerfahrplan wird in Griesheims Lokalblättchen schon vorzeitig kommuniziert. Er bietet eine neue Spätverbindung zwischen Worms und Darmstadt in beiden Richtungen. Es wird ein Triebwagen um 21.30 Uhr in Worms losgelassen, der um 23.10 Uhr in Darmstadt eintrifft und nach zehn Minuten Aufenthalt wieder zurückkehrt. Ankunft in Worms um 0.38 Uhr. In Worms und Umgebung werden die Eisenbahn­verbindungen nach Darmstadt und an die Bergstraße weiterhin als mangelhaft betrachtet. Schon ab dem 21. April wird der frühe Triebwagen für die Marktbeschickerinnen und -besucher wieder eingelegt, der in Griesheim um 3.55 Uhr losfährt und in Darmstadt den Anschluß nach Frankfurt ermöglicht. Er verkehrt außer an Sonn- und Montagen täglich. [23]

„Von dem um 9.28 Uhr abends von hier nach Darmstadt abgehenden Personenzug ist am Mittwoch [dem 28. April, WK] bei der Einfahrt in den Darmstädter Hauptbahnhof an der Weiche an der Dornheimer Brücke ein Personenwagen 4. Klasse, in dem sich auch etliche Reisende von hier befanden, entgleist und umgestürzt. Wie ein Reisender von hier, der sich in dem umgestürzten Wagen befand, erzählt, wurde der Wagen 40–50 Meter weit geschleift, bis ein Bahnbeamter von hier, der zum Nachtdienst fuhr und sich in dem vorhergehenden Wagen befand, den Unfall bemerkte und durch Ziehen der Notbremse den Zug zum Stehen brachte. Man kann sich die Angst der Reisenden in dem umgestürzten Wagen vorstellen, die übereinander­liegend hin- und hergeworfen wurden. Trotzdem sind nur sechs Personen leicht verletzt worden, darunter auch Herr Fritz K**** von hier, der eine leichte Rippenquetschung davontrug. Das Unglück wäre sicher noch viel größer gewesen, wenn nicht der Zug sich schon in langsamer Fahrt befunden hätte.“ [24]

Zirkusannonce.
Abbildung 4: Annonce des Riesen-Circus Gleich im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 6. November 1926.

Die Fahrgästinnen- und Fahrgastzahlen sind rückläufig; die Reichsbahn reagiert.

„Der Fahrplanentwurf für den am 3. Oktober 1926 beginnenden Winterabschnitt des Fahrplanjahres 1926/27 wird ab 16. August auf den Stationsbüros zur allgemeinen Einsichtnahme aufgelegt. In den Bahnhofs­vorräumen weisen rote Aushänge darauf hin, wo der Entwurf im Bahnhof eingesehen werden kann. Durch den ständig anhaltenden Verkehrsrückgang infolge der allgemeinen Wirtschaftsnöte ist die Reichsbahn gezwungen, den Zugverkehr, insbesondere den Schnellzug­verkehr in den Wintermonaten wesentlich einzuschränken. Auf der Schüler-, Arbeiter- und Berufsverkehr ist jedoch hierbei die größtmögliche Rücksicht genommen worden. Die Züge, die hiernach ab 3. Oktober wegfallen, sind im Fahrplanentwurf nicht mehr enthalten.“ [25]

In der Vorweihnachtszeit erfreuen sich Jung und Alt an verschiedenen Lustbarkeiten. Heute mag es das Varieté Da Capo sein, das auf dem Darmstädter Karolinenplatz die Herzen und die Veranstaltungskasse erfreut. 1926 war der Circus Gleich auf dem Meßplatz zu Gast. Nur daß ein Riesenzirkus halt etwas Anderes ist als eine Darmstädter Dauerberieselung. Das Gleich-Zelt wird bis zu 10.000 Besucherinnen und Besuchern Platz geboten haben; mehrere hundert Tiere wurden zur Belustigung des Publikums dressiert, abgerichtet und neurotisiert. Im November 1926 wird der Andrang groß genug gewesen sein, die in der Annonce genannten Extrazüge einzulegen. Allerdings ist der für Worms angegebene Zug ab 23.20 Uhr eine normale Triebwagenfahrt. Hat man statt dessen längere Dampfzüge verkehren lassen? [26]

Schüler auf der Eisenbahn. Schüler und Schülerinnen benehmen sich auf der Fahrt von und zur Schule nicht immer so, wie es Anstand und gute Sitte erfordern. Die Reichsbahn­verwaltung hat deshalb angeordnet, daß die Schaffner und das Zugpersonal für Ruhe und Ordnung in den Zügen zu sorgen haben. Insbesondre sind das Kartenspiel und Schlägereien zu unterbinden. [27]

Am 18. Februar 1927 wird der Leichnam eines französischen Soldaten, der auf dem Griesheimer Truppen­übungsplatz stationiert war, mit militärischem Brimborium zum Bahnhof geleitet und von dort in die Heimat überführt. [28]

Folklore ganz anderer Art wird von der Reichsbahn offensiv gefördert. Zum Mainzer Rosen­montagszug werden 64 Sonderzüge eingesetzt. [29] – Die Kontrolle der Personen- und Güterzüge, die zwischen Frankfurt und Darmstadt teilweise über besetztes Gebiet fahren, wird im Mai 1927 aufgehoben. [30]

„Auf Abbruch verkauft wurden die großen Lagerhallen am Bahnhof Goddelau-Erfelden, die im Jahre 1918 als Militärdepots gebaut und benutzt wurden. Die eine Halle will die Reichsbahn behalten, die andere erwarb ein rheinhessischer Turnverein, dessen Mitglieder die Halle selbst abbrechen.“

„Am Samstag Vormittag [am 24. September, WK] ist im Bahnhof Groß-Umstadt ein Leerwagenzug einem Personenzug in die Flanke gefahren. Beide Lokomotiven entgleisten. Die Strecke wurde gesperrt und der Verkehr durch Pendelfahrten aufrecht­erhalten. Zwei Reisende sowie ein Zugführer und ein Heizer sind leicht verletzt.“ [31]

Eine Kundgebung

„Der Einheitsverband der Eisenbahner Deutschlands veranstaltete am Freitag Abend [am 28. Oktober, WK] in der Festhalle eine öffentliche Eisenbahner­kundgebung, die von über 5000 Personen besucht war. Nach einem Referat des Hauptvorstands­mitgliedes Braswitz-Berlin, der darlegte, daß die Eisenbahnarbeiter eine Erhöhung ihrer Bezüge nicht deswegen fordern, weil die Beamten jetzt aufgebessert werden, sondern weil die Not der Zeit sie dazu dränge. Die Versammlung nahm einstimmig zwei Entschließungen an. In der ersten Entschließung heißt es, daß durch die Verteuerung aller Lebensmittel und Bedarfsartikel, vor allem auch daß die eingetretene Mieterhöhung die Kaufkraft derartig zum Sinken gebracht habe, daß die Erhöhung von 1 Pfg. Lohn pro Stunde ab 1. Oktiber nur als eine Verhöhnung empfunden werden könne. Wenn auch rechtlich durch den Schiedsspruch bis 31. März 1928 eine tarifliche Bindung vorhanden sei, so stehe doch dem gegenüber, daß die Arbeits­leistungen des Reichsbahn­personals durch den erhöhten Verkehr ins Unerträgliche gesteigert worden seien. Es sei deshalb eine moralische Verpflichtung für die Reichs­eisenbahn­verwaltung für ein ausreichendes Einkommen ihres Personals sich einzusetzen, zumal die Eisenbahn­verwaltung in den ersten 8 Monaten des laufenden Jahres einen Betriebs­überschuß von über 686 Millionen Mark erzielt habe. In der zweiten Entschließung wird dagegen protestiert, daß die Reichsbahn­beamten aus der Reichs­besoldungs­ordnung herausgenommen werden sollen. Ein solcher Beschluß müsse als verhängnisvoll für die Reichsbahn­beamten bezeichnet werden.“

Quelle: Neuer Griesheimer Anzeiger, 1. November 1927.

Die Arbeit der Eisenbahner auf dem Darmstädter Hauptbahnhof war nicht ungefährlich.

„Ein tödlicher Unfall ereignete sich am Mittwoch früh [am 21. Dezember, WK] gegen 7 Uhr auf dem hiesigen Hauptbahnhof. Der Gepäckarbeiter Adam S******* aus Eschollbrücken war damit beschäftigt, den Gepäck­handwagen von einem Gleis aufs andere zu ziehen, wurde bei der Ueberquerung aber von einem Triebwagen erfaßt und überfahren. Der Tod trat auf der Stelle ein.“ [32]

Ab und an berichtet der Neue Griesheimer Anzeiger über kleinere und größere Eisenbahnunfälle in Südhessen. Am 4. Februar 1928 verunglückte im Bahnhof Groß-Gerau-Dornberg ein Güterzug. Die Ursache könnte eine unklare Signalisation gewesen sein.

Dornberger Unklarheiten

„Auf der Station Dornberg-Groß-Gerau hat sich am Samstag früh ein Eisenbahnunfall ereignet. Der kurz nach 6 Uhr von Mainz dort eintreffende Güterzug mußte bei der Station auf ein totes Gleise geschoben werden, um den D-Zug 192 Hamburg – Frankfurt – Basel vorbeizulassen. Der Güterzug konnte nicht rechtzeitig zum Stehen gebracht werden und die Lokomotive überrannte den am Ende des toten Geleises aufgestellten Prellbock. Die Maschine und der Packwagen rissen sich von dem übrigen Zuge los und stürzten die Böschung hinunter, wo sich die Lokomotive in den weichen Boden tief eingrub. Der Packwagen stürzte um und durch die aus dem Ofen fallenden Kohlen wurde der Wagen in Brand gesetzt und vollständig vernichtet. Der in dem Wagen befindliche Zugführer M***** aus Bischofsheim erlitt schwere Verletzungen und mußte nach dem Krankenhaus in Groß-Gerau gebracht werden. Die nachfolgenden Wagen des Güterzuges schoben sich teilweise ineinander und kamen zum Teil quer auf die beiden Hauptgeleise zum stehen, so daß der Verkehr sowohl nach Frankfurt als auch nach Mannheim vollständig gesperrt war. Auch der kurz darauf fällige D-Zug konnte nicht mehr passieren und mußte von Dornberg-Groß-Gerau aus über Darmstadt nach Mannheim weitergeleitet werden. Das Lokomotiv­personal sowie das übrige Zugbegleitungs­personal blieb bei dem Unfall unverletzt. Der Materialschaden ist ziemlich beträchtlich.“

„Das Bezirksschöffengericht Darmstadt, vor dem in der vorigen Woche der Dornberger Eisenbahn-Unfall verhandelt wurde, hatte sich gemäß dem Beschluß an den Bahnhof Dornberg-Groß-Gerau begeben, um sich an Ort und Stelle über die Lichtsignal­verhältnisse dortselbst zu orientieren. Bei der Augen­scheinnahme ergab sich, daß die Angeklagten von ihrer Lokomotive aus annehmen konnten, daß das Ausfahrts­signal, das für den Schnellzug bestimmt war, ihnen gelten konnte. Es lag also keinerlei fahrlässiges Verschulden vor und so wurden die beiden Angeklagten freigesprochen.“

Quelle: Neuer Griesheimer Anzeiger, 7. Februar und 20. November 1928.

Unfallbild.

Bild 5: Die in Dornberg verunfallte Lokomotive 56 2310 aus einer unbekannten zeitgenössischen Zeitung oder Zeitschrift.

Am 5. März wird am Bahnübergang 57 zwischen Oppenheim und Nierstein ein Kleinauto von einem Schnellzug erfaßt. Beide Insassen sterben. Die Schranken waren nicht rechtzeitig heruntergelassen worden. Am 29. März stoßen in Eppertshausen am frühen Morgen zwei Personenzüge zusammen. Die Weiche für den aus Offenbach nach Dieburg verkehrenden Zug 3600 war falsch gestellt, so daß er auf den stehenden Gegenzug 3905 auffuhr. Neben einem schwer verletzten Lokführer wurden zwanzig Arbeiter aus dem vorderen Odenwald, zum teil schwer, verletzt. Am 16. Juni hatte ein Bahnwärter als Streckengeher die Güterzug­strecke vom Darmstädter Nordbahnhof nach Messel abzulaufen. Beim Versuch, einem Güterzug auszuweichen, wurde er auf dem Gegengleis von einem anderen erfaßt und getötet. Am 1. August soll bei der Einfahrt eines aus Biebrich kommenden Triebwagens in den Mainzer Hauptbahnhof die elektrische Bremse versagt haben. Beim Aufprall auf den Prellbock verletzte sich etwa ein Viertel der etwa 50 Fahrgästinnen und Fahrgäste. [33]

Ungewöhnliche Zugläufe, Teil 2

Schon zu Beginn der 1920er Jahre setzte die Eisenbahndirektion Mainz Triebwagen für die Griesheimer Marktfrauen ein, damit sie früh morgens zu ihren Marktständen in Darmstadt und Frankfurt gelangen konnten. Damit diese die neue Großmarkthalle im Frankfurter Osten erreichen konnten, stellte die Reichsbahn im Juli 1928 einen weiteren Triebwagen zur Verfügung, der außerhalb des öffentlichen Fahrplans sozusagen als Gesellschafts-Sonderfahrt verkehrte. Gesichert ist dessen Einsatz für den Sommer 1928 und den Sommer 1930. Auch in den 1930er Jahren kam dieser Triebwagen zum Einsatz.

Der Triebwagen könnte anschließend auf der Dreieichbahn oder der Rodgaubahn eingesetzt worden sein. Die Marktfrauen werden für den Heimweg die üblichen Personenzüge benutzt haben.

Der mögliche Laufweg wäre dann: Griesheim – Darmstadt Hauptbahnhof – Langen – Frankfurt-Louisa – Frankfurt Südbahnhof – Frankfurt Ostbahnhof.

Zeitungsmeldung.
Abbildung 6: Mitteilung zur Triebwagenfahrt von Griesheim nach Frankfurt im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 5. Juli 1928.

Der Griesheimer Heimatforscher und Lokalhistoriker Karl Knapp hatte 1966 in einer mehrteiligen Artikelserie für den Griesheimer Anzeiger einen Triebwagen erwähnt, der 1928 die Griesheimer Marktfrauen nach Frankfurt beförderte. Kaum zu glauben, daß ein Dorf einen eigenen Triebwagen spendiert bekam, aber Karl Knapp mußte es ja wissen. Als einer der wenigen hatte er systematisch die früheren Zeitungsbestände durchgesehen. Und – um mögliche Verwechslungen auszuschließen – wir reden hier von Griesheim bei Darmstadt und nicht von dem heutigen Frankfurter Stadtteil Griesheim am Main.

Tatsächlich versorgte das kleine Dorf Griesheim durch ausgewählten Obst- und Gemüseanbau die Großstädte der Umgebung, also Darmstadt, Mainz, Frankfurt und Offenbach. Als im Frankfurter Osten die Großmarkthalle errichtet wurde, zogen die Griesheimerinnen mit. Karl Knapp schreibt von rund 8.000 Tonnen Gemüse, die jährlich nach Frankfurt verbracht wurden, der nebenstehende Artikel nennt wöchentlich 15 bis 17 Güterwaggons mit Gemüse, und es sollten noch mehr werden. Bei rund 200 landwirtschaftlichen Erzeugerinnen und Erzeugern vor Ort dürfte die von der Reichsbahn geforderte Zahl von 60 zu lösenden Fahrkarten machbar gewesen sein. [34]

Im August 1928 beantragt die Reichsbahn die nächtliche Schließung der zwischen Griesheim und Darmstadt gelegenen Bahnübergänge Nr. 80 (Braunshardter Hausschneise) und Nr. 81 (Dornheimer Weg). Das Ziel ist die Einsparung von Personal. Während der Bahn­übergang an der Braunshardter Hausschneise unproblematisch gewesen sein dürfte, dort gab es im Grunde nur forst­wirtschaftlichen Verkehr, lag der Fall am Dornheimer Weg anders. Diese Straße war sicher schon damals ein auch nachts genutzter Verbindungsweg zwischen Weiterstadt, dem Hofgut Gehaborn und Darmstadt. Am 29. Oktober tagte der Griesheimer Gemeinderat. „Bezüglich des projektierten Verbindungs­weges vom schwarzen Dämmchen über die Bahn ist die Reichsbahn bereit das hierzu erforderliche Gelände abzutreten, verlangt aber von der Gemeinde als Gegen­leistung, daß sie ihr Einverständnis mit der nächtlichen Schließung der Bahn­übergänge 80 und 81 (beide in der ‚Harras‘) erklärt. Die Verhandlungen sollen weitergeführt werden.“ An den Schranken sollen, so wird im Gemeinderat am 17. Dezember berichtet, Vorrichtungen angebracht werden, durch welche beim Niederlegen Unfälle oder Verletzungen vermieden werden sollen. [35]

Die goldenen Zwanziger Jahre

„Das preußische Statistische Landesamt veroeffentlicht eine Uebersicht über die Todesopfer des Kraftfahrzeug­verkehrs in Preußen im Jahre 1925. Danach wurden 1624 Personen getötet und zwar 1286 männliche und 234 weibliche Personen. Von diesen tödlichen Unfällen kommen auf Kraftwagen 1387 und davon entfallen auf die Unfälle der Insassen und Führer 301, auf Unfälle durch Ueberfahren 1086. Auf Motorräder kamen 237 tödliche Unglücksfälle, und zwar 192 auf die Fahrer selbst und nur 45 auf Todesfälle durch Ueberfahren mit dem Motorrade. Diese Zahlen zeigen, daß die allermeisten Todesfälle im Kraftfahrzeug­verkehr durch Ueberfahrenwerden durch Autos entstehen.“

Quelle: Neuer Griesheimer Anzeiger vom 23. August 1928.

Glimpflicher lief am 2. September ein Unfall auf einem schrankenlosen Bahnübergang zwischen Bensheim und Lorsch ab. Der Fahrer eines viersitzrigen Personenwagens dachte, noch schnell vor dem herankommenden Triebwagen den Bahnübergang queren zu können, und gab Vollgas. Als er realisierte, daß das nicht reichen würde, riß er sein Gefährt herum, so daß das Hinterteil des Autos erfaßt und 50 bis 60 Meter mitgeschleift wurde. Das Auto wurde zertrümmert, die Insassen erlitten Hautabschürfungen. Mit so einem Wittfeld-Triebwagen ist eben nicht zu spaßen. – Auch die Hauptstraße von Frankfurt nach Darmstadt war am Südrand von Sprendlingen damals nicht beschrankt. Am 23. September nachts um halb 12 wurden drei der vier Autoinsassen getötet, als sie den von einer Dampf­lokomotive gezogenen Personenzug 3936 nicht bemerkten. – Schranken waren auch nicht immer hilfreich. Auf der Strecke von Bensheim nach Lorsch durchbrach ein Auto die Schranke und traf auf den Triebwagen; ein Insasse wurde verletzt. [36]

„Am Mittwoch Nachmittag [am 19. Dezember, WK] überfuhr der Triebwagen zwischen dem Bahnhof Viernheim und dem Haltepunkt Poststraße auf dem unbewachten Straßenübergang den Personen­kraftwagen der Fa. Gebr. Liebig aus Darmstadt. Der Wagenlenker G[eor]g M***** aus Darmstadt erlitt hierbei einen leichten Schlüssel­beinbruch. Das Auto wurde stark beschädigt. Ursache: Anscheinend Nichtbeachtung der Licht- und Sirenensignale.“ [37]

Am 8. Januar 1929 blieb der Schnellzug von Frankfurt nach Paris in Mörfelden liegen. Der Mantel des Mittelrades der Lokomotive brach, schlug zurück und beschädigte das Getriebe. Antifranzösische Ressentiments mögen eine Rolle gespielt haben, als an einem Januarabend zwischen Oppenheim und Guntersblum ein Schnellzug mit Steinen beworfen wurde. Bei einem Abteil, in dem ein französischer Offizier saß, wurde die Scheibe getroffen. Einige Jahre zuvor hätte dies eine heftige französische Gegenreaktion mit Ausgangssperren und Kollektivstrafen zur Folge gehabt. So jedoch legte der Offizier in Worms nur Beschwerde ein. [38].

Schafherde.

Bild 7: Schafherde neben den Gleisen der Griesheimer Dampf­straßenbahn. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em2007.0744.

Ende Januar versuchte ein Mann in Griesheim, sich vor den ausfahrenden letzten Triebwagen nach Worms zu werfen. Der Triebwagen­fahrer bremste jedoch ab; der Unbekannte flüchtete daraufhin über die Ausladerampe ins freie Feld. Am 2. Februar trieb sich eine Schafherde ohne Aufsicht auf den Gleisen zwischen Dornberg und Dornheim herum. Ein Personenzug aus Frankfurt fuhr in die Herde und tötete etwa 55 Tiere. Der Schäfer soll sich derweil an einem Glas Bier gewärmt haben, was man oder frau ihm angesichts einer heftigen Kältewelle nicht so recht verübeln kann. „Ein eisiger Wind machte den Aufenthalt im Freien fast unmöglich.“ Das von den Bolschewisten böswillig ausgesandte russische Kältehoch hatte seine Klauen bis nach Westdeutschland ausgestreckt und in Griesheim wurden nachts bis zu 20 Minusgrade gemessen. Es sollte noch kälter kommen; in Darmstadt und Umgebung war es so kalt wie in den vergangenen hundert Jahren nicht. [39]

„Nach den Beobachtungen der Reichsbahn hat im Reiseverkehr die Zahl der Raucher zugenommen. – Bei der Zugbildung wird jetzt daher – wie die Deutsche Reichsbahn­gesellschaft mitteilt – je eine Hälfte der Abteile oder Wagen für Raucher und für Nichtraucher vorbehalten, und die bei ungeraden Zahlen überschüssigen Wagen oder Abteile werden als Raucherabteile bestimmt.“ [40]

Am Abend des 16. Juni stoßen im Darmstädter Hauptbahnhof zwei Rangierabteilungen aufeinander; mit einem Schwerverletzten. Kurz zuvor hatte sich der Packmeister eines D-Zuges zu weit aus dem Wagen gebeugt und am Kopf verletzt. [41]

Unbeschrankt war offenbar der Bahnübergang an der Hauptstraße von Worms nach Mainz bei Rheindürkheim. Der Triebwagen 4214 stieß mit dem Auto eines Ludwigshafener Ehepaars zusammen, das verletzt wurde. – Am 21. Juli ließ sich ein 29jähriger in der Nähe des Postens 79 vom ersten Frühzug aus Darmstadt überfahren. – Am 31. August zertrümmerte ein Güterzug auf der Altrheinbahn zwischen Eich und Ginsheim an einem unbeschrankten Bahnübergang ein Fuhrwerk. Der Fuhrmann wurde getötet, sein Sohn verletzt. Am 24. Oktober fuhr (wohl) am Posten 79 an der Straße von Darmstadt über Groß-Gerau nach Mainz ein Auto in die geschlossene Schranke, wurde jedoch vom herankommenden Zug nicht erwischt. – Am 31. Oktober stoßen in Heddesheim-Großsachsen zwei Materialzüge zusammen; verletzt wurde niemand.[42]

Anfang Januar 1930 fuhr ein weiterer Autofahrer in die Schranken des Postens 79 und hatte ebenfalls das Glück, nicht vom Zug getroffen zu werden. Um Ausreden waren derart unbekümmerte Kraftfahrzeug­führer schon damals nicht verlegen: [43]

„Das Auto einer Darmstädter Firma fuhr bei Nauheim in die Schranke am Stationsgebäude, wo im selben Moment ein Personenzug eingelaufen war. Dem Autoführer ist es noch gelungen, seinen Wagen einen halben Meter vor dem Zuge zum Stehen zu bringen. Die Schranke und das Auto wurden schwer beschädigt, die Insassen kamen mit dem Schrecken davon. Die Schuld liegt an dem Fahrer eines Omnibusses, der an der Schranke in entgegengesetzter Richtung hielt und nicht abgeblendet hatte, wodurch der Autoführer geblendet und ihm die Sicht genommen wurde.“ [44]

Am 20. Januar kam es zum wiederholten Male zum Zusammenstoß eines Kraftfahrzeugs mit einer Lokomotive am Bahnübergang der stark befahrenen Straße von Darmstadt nach Frankfurt im Süden von Sprendlingen. Unfallgegner war der Personenzug 3918. Diesmal wurde eine Person getötet. Die Reichsbahn steht weiterhin auf dem Standpunkt, der Bahnübergang sei übersichtlich genug, und damit implizit: die Autofahrer sind zu doof. Der Fahrer des Kraftwagens hingegen meint, er sei sehr langsam gefahren und ihm sei die Sicht nach links durch einen großen entgegen­kommenden Lieferwagen verdeckt gewesen. Ende April sprach in Darmstadt das Bezirks­schöffen­gericht sowohl den angeklagten Autofahrer wie den Lokomotiv­führer frei, da die Reichsbahn­verwaltung als Hauptschuldiger zu betrachten sei, „die nichts getan habe, um die ungenügende und gefährliche Bahnanlage trotz wiederholter Aufforderung und wiederholter Unglücksfälle zu verbessern“. [45]

Vom 11. April an fährt die Reichsbahn wieder ihren Markttriebwagen von Griesheim, Abfahrt 3.30 Uhr, nach Frankfurt-Ost, und zwar täglich außer an Sonn- und Montagen. [46]

Frankfurt Ostbahnhof.

Bild 8: Morbide, aber ohne jeden Charme. Stillgelehter Bahnsteig auf dem Frankfurter Ostbahnhof im März 2014.

Der Abzug der französischen Truppen steht bevor. Am 30. Juni soll das gesamte besetzte Gebiet westlich des Rheins mitsamt der rechtsrheinischen Brückenköpfe geräumt sein. Im Mai beginnen die Franzosen, den Truppen­übungsplatz auf dem Griesheimer Sand zu räumen; zum Abtransport wird der Griesheimer Bahnhof genutzt. [47]

„Auf der Blockstelle Bergschneise entgleisten am Sonntag von Güterzug 8135 drei Wagen, wodurch vier Hauptgeleise von 2.20–4.32 Uhr gesperrt waren. Die Reisenden des Personenzuges 2713 aus Richtung Mannheim wurden von Griesheim nach Darmstadt mit Privatautos befördert.“ [48]

Der Güterzug war am 6. Juli wohl, von der Riedbahn kommend, an der Bergschneise zur Verbindungsbahn Richtung Kranichstein geleitet worden. Das erklärt, warum alle Hauptgleise betroffen waren. Arbeiterzug 2713 fuhr planmäßig um 23.26 Uhr in Mannheim ab und hätte Griesheim schon um 0.58 Uhr verlassen müssen. Hatte der Zug Verspätung oder fand der Unfall früher als angegeben statt? Mit dieser nicht mehr klärbaren Frage leite ich über zum nächsten Kapitel.

Die Geschichte der Riedbahn wird fortgesetzt mit dem geplanten Kapitel zum Ende der Weimarer Republik und der Riedbahn im Nationalsozialismus und Vernichtungskrieg von Mitte 1930 bis 1945.


Literatur

Anmerkungen

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