Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Der Milchkannenzug 201a
Ein Frühzug, der tatsächlich Milchkannen eingesammelt hat
1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Hauptverlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten vor allem der Streckenabschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.
1894 legte die Hessische Ludwigsbahn einen weiteren Frühzug mit der Nummer 201a ein. Dieser Zug war im hessischen Eisenbahnbeirath nicht unumstritten. Wenn jedoch die Redewendung, ein Zug halte an jeder Milchkanne, jemals eine materielle Grundlage besessen hat, dann hier. Dieser Zug hielt tatsächlich an jeder Milchkanne, sammelte sie ein und brachte sie nach Darmstadt. [1]
Eine Klageschrift gegen den Fahrplan
Schon in den 1880er Jahren waren die Einwohner von Griesheim für die Wiedereinführung eines morgendlichen Frühzuges nach Darmstadt eingetreten, um – gerade in den Sommermonaten – ihre Kinder frühmorgens zur Schule fahren zu sehen oder selbst als Arbeiterin oder Arbeiter in Darmstadt eine bezahlte Anstellung zu finden. Ihr 1884 diesbezüglich eingereichtes Gesuch bleib jedoch folgenlos. Siehe hierzu auch die Dokumentationsseite Ein Schnellzughalt für Griesheim.
1886 wurde die Dampfstraßenbahn von Griesheim nach Darmstadt und Eberstadt eröffnet. Hiermit war das Griesheimer Bedürfnis nach einem Frühzug zunächst einmal erfüllt. So verließ im Winter 1889/90 der erste Zug nach Darmstadt um 5.10 Uhr morgens die Endhaltestelle in Griesheim. Dennoch regte sich auch in den Nachbargemeinden der Wunsch nach einer Frühverbindung in die Residenzstadt. Mit zunehmender Mobilisierung der in Fabriken arbeitsfähigen Landbevölkerung erweiterte sich auch das Einzugsgebiet der heranwachsenden Großstädte.
Im Februar 1894 richteten die Bürgermeistereien von Gernsheim, Biebesheim, Stockstadt, Erfelden, Goddelau, Crumstadt, Wolfskehlen, Dornheim und Leeheim eine gemeinsame Eingabe an die Hessische Ludwigsbahn. Sie begründeten ihren Wunsch nach dem Frühzug in einem längeren Schreiben:
„Der früheste Zug, der aus dem Ried nach Darmstadt fährt, trifft fahrplanmäßig erst 7.51 Uhr, also um acht Uhr in Darmstadt ein.
Für die Bedürfnisse unserer Einwohner ist dies entschieden zu spät. Wenn schon in früheren Jahren dieser Mißstand schwer empfunden wurde, so ist, seit im vorigen Jahr mit Einführung der mitteleuropäischen Zeit die Ankunft noch um 25 Minuten später gelegt wurde; der Zustand geradezu als unerträglich zu bezeichnen.
Die wichtigsten Bedürfnisse unserer Gemeinden können bei diesem Zustand nicht befriedigt werden.
Für die Arbeiter aus unseren Gemeinden, die täglich zur Arbeit nach Darmstadt fahren wollen, besteht keine geeignete Bahnverbindung. Die Leute sind daher gezwungen, entweder zu Fuß nach der Bergstraße an die Main-Neckarbahn zu gehen oder aber in Darmstadt die ganze Woche über Nacht zu bleiben.
Nach unseren Erhebungen arbeiten aber in Darmstadt aus Gernsheim 5 Mann, aus Biebesheim 12 Mann, aus Stockstadt 15 Mann, aus Crumstadt 16 Mann, aus Leeheim 15 Mann, aus Wolfskehlen 16 Mann, aus Dornheim über 30 Mann, aus Goddelau 12 Mann, aus Erfelden 5 Mann, zusammen 126 Mann. [2]
Alle diese Arbeiter sind in ihrem Erwerb schwer benachtheiligt, wenn nicht ihnen die Möglichkeit gegeben wird, erheblich früher als um 8 Uhr in Darmstadt einzutreffen.
Sehr wesentlich ist es ferner für die bedeutende Milchtransporte, die Tag für Tag von Erfelden und Goddelau mit 500 Liter, von Hof Hayna Station Wolfkehlen mit 200 Liter, zusammen 700 Liter, nach Darmstadt gehen [3]. Es ist nämlich bei so später Ankunft des ersten Zuges nicht möglich den Kunden zeitig genug die Milch zuzuführen, und es besteht auch namentlich die große Gefahr, daß im Sommer die Milch, und zwar nicht nur die vom Abend, sondern auch die Morgens gemolkene Milch durch die lange Aufbewahrung, und durch den Transport in der großen Hitze in Verderb gerät. Diese Gefahr ist eine so bedeutende, daß die Landwirte, wenn ein früherer Zug nicht eingelegt würde, genötigt wären, auf die Benützung der Ludwigsbahn zu verzichten und ihre Milch vielmehr nach Griesheim zur Straßenbahn zu fahren.
Außer für die Arbeiter und die Milchlieferanten ist jedoch für Alle, die zeitig in Darmstadt eintreffen müssen, der jetzige erste Zug unbrauchbar. So müssen die Handelsleute, die dreimal wöchentlich Kälber zu Markt bringen, mittels Fuhrwerk diesen Transport bewirken; und das Gleiche gilt für die Besucher der alle 14 Tage in Darmstadt stattfindenden Viehmärkte und für diejenigen Personen, welche Lebensmittel und sonstige Landesprodukte auf den Markt nach Darmstadt bringen wollen. Alle diese Personen müssen entweder Fuhrwerk benützen oder die Straßenbahn oder Main-Neckarbahn zu erreichen ersuchen oder aber schon Abends vorher ihre Produkte nach Darmstadt befördern.
Ein weiterer großer Nachtheil für unsere Gemeinden besteht aber noch darin, daß alle Frühzüge von Darmstadt bereits abgegangen sind, bevor unsere Einwohner dort eintreffen können.
Wer aus den Riedgemeinden in der Richtung nach Frankfurt, Heidelberg, Aschaffenburg oder in den Odenwald fahren muß der befindet sich in der peinlichsten Lage.“
Es folgt eine Liste der Frühzüge, die verpaßt werden, und eine weitere mit den frühest möglichen Anschlüssen in Darmstadt, bevor die Klage weitergeht:
„Allen diesen schwerwiegenden Übelständen läßt sich einfach und vollständig abhelfen, wenn ein Frühzug von Gernsheim ab, eingelegt wird, der etwa 5¾ Uhr von Gernsheim abgehen und 6½ Uhr in Darmstadt eintreffen müßte.
Dieser Frühzug würde zweifellos sich gut rentiren, denn es würde nicht nur der aus obigen Thatsachen ersichtlichen Verkehr zu bewältigen haben, sondern es würde, wenn einmal hierdurch die Gelegenheit gegeben ist, zu früher Stunde in Darmstadt einzutreffen und dort seine Arbeit oder seine Produkte zu verwerthen, der Verkehr jedenfalls dieser besseren Gelegenheit entsprechend, sich noch ganz bedeutend entwickeln und vermehren.
In welcher Weise das Einlegen dieses Frühzuges am besten zu bewirken ist, das glauben wir, dem weiseren Ermessen einer verehrlichen Spezial-Direktion getrost überlassen zu sollen. Anregen dürfen wir aber vielleicht, ob nicht der Abends 10.38 Uhr in Darmstadt eintreffende und mit einer geheizten Lokomotive versehene Zug alsbald nach Gernsheim zurück und dann Morgens wieder nach Darmstadt fahren könnte. Es würde unseren Einwohnern dadurch auch die Gelegenheit geboten werden, Abends länger in Darmstadt verweilen, die dortigen Veranstaltungen besuchen, und doch noch nach Hause kommen zu können.“
Reaktionen und Aktivitäten
Eine Kopie des Gesuchs an die Hessische Ludwigsbahn ging dem hessischen Finanzministerium als Aufsichtsbehörde für den Eisenbahnbetrieb zu, „mit der Bitte, die genannte Eisenbahn-Gesellschaft hochgeneigtest anhalten zu wollen: in den Sommerfahrplan der Riedbahn einen Frühzug von Gernsheim nach Darmstadt einzustellen, der an ersterem Orte Morgens zwischen 5 und ½6 Uhr abgelassen sein dürfte.“
Bild 1: Das Bahnhofsgebäude in Gernsheim. Von hier aus begann der Milchkannenzug seine morgendliche Fahrt.
Die Special-Direction der Hessischen Ludwigsbahn teilt daraufhin am 11. Februar 1894 dem Dornheimer Bürgermeister Schaftner mit, daß man davon ausgehe, daß der gewünschte Frühzug nicht genügend frequentiert werde, weil ihn die Arbeiter aus Gernsheim bis Goddelau-Erfelden wegen der Höhe der Fahrpreise nicht benutzen können. Hier sei angemerkt, daß sich die Eisenbahnverwaltungen zu jener Zeit aus Kostengründen, vielleicht aber auch aus bourgeoisem Dünkel heraus schwer damit taten, den entstehenden Massenverkehr zu bedienen. Soweit dies nicht zu vermeiden war, scheinen die Arbeiterzüge zuweilen eher einem fahrenden Pferch geglichen zu haben; entsprechende Klagen und Beschwerden waren häufig zu vernehmen.
Am 16. Februar 1884 bat das hessische Finanzministerium die Hessische Ludwigsbahn um eine möglichst rasche Stellungnahme zum gewünschten Frühzug. In der 2. Kammer der hessischen Landstände war zwischenzeitlich von den Abgeordneten Hechler sowie Haas (aus Offenbach) ein Antrag „auf Einstellung je eines, den wirthschaftlichen Interessen der Bevölkerung der Riedgemeinden Rechnung tragenden Früh- und Spätzuges in den Sommerfahrplan der Ried-Eisenbahn“ eingebracht worden; er sollte am 21. Februar in einer Ausschußsitzung behandelt werden.
Der Antrag entsprach in seiner Argumentation im wesentlichen der Eingabe der Riedgemeinden an die Hessische Ludwigsbahn. Die Antwort der Special-Direction erfolgte tags darauf:
„Wenn man dem Ersuchen entsprechen wollte, dann müßte Morgens um 420 ein Leerzug von Darmstadt nach Gernsheim abgelassen werden, was mit wesentlichen Mehrkosten für Bahn-Bewachung und für Expeditionsdienst, verknüpft sein würde. Die Mehreinnahmen aus diesem Arbeiter-Zuge dagegen, können in der Unterstellung, daß die Frequenz den uns mitgetheilten Angaben auch entspricht, wöchentlich nur ℳ147,71₰ betragen, dies ist pro Tag ℳ24,50₰.
Diese Einnahme steht in keinem Verhältniß zu den Betriebskosten, weßhalb wir uns zur Einlage des beantragten Arbeiterzuges nicht entschließen können.“
Diese Position wurde dem 4. Ausschuß der 2. Kammer mitgeteilt; und dieser war überhaupt nicht erfreut. Der Bericht über die Behandlung des Antrages der Abgeordneten Hechler und Haas (Offenbach) gibt eine Position wieder, in welcher der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ durchaus weitere Ziele verfolgen kann als die eines bornierten Einzelinteresses, welches sich an der Dividende und nicht an den realen Bedürnissen orientiert:
„In der am 21. Februar 1894 stattgehabten Ausschuß-Sitzung machte der Vertreter der Großherzoglichen Regierung die Mittheilung, die Hessische Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft nehme zu dem obigen Antrage und zu einer den gleichen Zweck erfolgten Eingabe [4] der in Betracht kommenden Gemeinden des Riedes eine ablehnende Haltung ein, und begründe diese mit der Unrentabilität, bezw. mit der Unzulänglichkeit des Verkehrs. –
Der berichtende Ausschuß hält diese ablehnende Haltung nicht für gerechtfertigt. – Seines Erachtens wäre bei der Entscheidung über die Einstellung der beantragten Züge nicht allein deren größere oder geringere Rentabilität in Betracht zu ziehen, sondern es wird in erster Linie darauf Bedacht zu nehmen sein, daß die vorhandenen Verkehrsmittel in thunlichst zweckentsprechender und den Bedürfnissen und Interessen der Bevölkerung angemessener Weise ihr zur Verfügung gestellt werden. –
Dies ist bei dem seitherigen Fahrplan nicht der Fall gewesen. –
Wie allerwärts auf dem Lande, so hat auch die Bevölkerung des Riedes das Bedürfniß, mit der Eisenbahn thunlichst frühzeitig in die Stadt gelangen zu können. Dies ebenso sehr im Interesse der landwirthschafttreibenden Bevölkerung, welche die Wochen- und Viehmärkte besucht und die Stadt mit Milch etc. versieht, als auch im Interesse der die höheren Lehranstalten besuchenden Schüler, deren Unterrichtsstunden in den Sommermonaten um 7 Uhr beginnen. –
Gleichermaßen interessiert sind die Arbeiter, welche in Darmstadt Beschäftigung suchen. –
Ein ganz besonderes Interesse hieran hat aber auch die handeltreibende Bevölkerung, welcher außer der angestrebten Erreichung des Anschlusses an die von Darmstadt abfahrenden Frühzüge anderer Bahnen insbesondere auch daran gelegen ist, nach Erledigung ihrer auswärtigen Geschäfte und bei der Benutzung der Abendzüge der benachbarten Eisenbahnen zur Heimkehr einen Anschluß auf der Riedbahn zu haben. –
Hiernach hält der Ausschuß eine größere Berücksichtigung der vorhandenen Bedürfnisse und wirthschaftlichen Interessen der Bevölkerung der in Betracht kommenden Gemeinden seitens der Hessischen Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft für geboten. – Ob dies durch die Einstellung des beantragten Früh- und Spät-Zuges zu erfolgen haben wird, oder ob das Interesse der in Rede stehenden Gemeinden möglicherweise schon durch die Verlegung der bereits vorhandenen Züge in hinreichendem Maaße Wahrung finden kann, hierüber kann und will der berichtende Ausschuß eine bestimmende Entscheidung nicht treffen. Indessen erachtet er es für angezeigt und geboten, daß die Hessische Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft zur Aufstellung eines, den Bedürfnissen und Interessen der fraglichen Gemeinden in höherem Maaße als bisher Rechnung tragenden Fahrplanes angehalten werde. –
Der Ausschuß trägt deshalb darauf an:
Hohe Kammer wolle an Großherzogliche Regierung das Ersuchen richten, die Hessische Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft zur Aufstellung eines, den berechtigten Wünschen und Interessen der in Betracht kommenden Gemeinden in höherem Maaße als bisher Rechnung tragenden Fahrplanes zu veranlassen.“
Fahrplan Sommer 1894 | |
Zugnummer | 201a |
Gernsheim | 5.40 |
Biebesheim | 5.47 |
Stockstadt | 5.55 |
Goddelau-Erf. | 6.02 |
Wolfskehlen | 6.08 |
Griesheim | 6.15 |
Darmstadt | 6.30 |
Jetzt liegt der Ball wieder bei der Hessischen Ludwigsbahn. Auf Nachfrage des vom hessischen Finanzministerium besoldeten Regierungs-Commissärs für die Hessische Ludwigsbahn gibt diese am 11. März 1894 ihr Einlenken zu erkennen: „Die Früherlegung des Zugs 201 ist ohne Schädigung anderer wichtiger Interessen nicht angängig, weßhalb wir hiervon absehen müssen. Dagegen sind wir bereit, versuchsweise einen Frühzug von Gernsheim nach Darmstadt einzulegen, welcher den ausgesprochenen Wünschen entsprechen wird.“ Am Tag darauf begründet die Special-Direction näher, weshalb sie diese Lösung bevorzugt:
„Wenn Zug 201 früher gelegt werden sollte, dann müßte die Früherlegung 1 Stunde 13 Min. betragen wegen Kreuzung mit Zug 200 in Darmstadt. Die Abfahrt von Worms müßte demgemäß um 457 Morgens erfolgen. Hierdurch würden in Worms die Anschlüsse an Zug 1 und 3 von Ludwigshafen, an Zug 51 von Offstein und an Zug 122 von Alzey verloren gehen. Ferner würden die Reisenden von Worms, welche den Mannheim-Frankfurter Zug 153 ab Biblis benützen wollen, in Biblis ein Stilllager von 1 Stunde 13 Min. erleiden, während die Reisenden vom Mannheimer Zuge 153 in Goddelau eine Wartezeit von 40 Minuten auf den Anschlußzug nach Darmstadt erdulden müßten, gegenüber eines jetzt direkten Anschlusses. Außerdem ist eine Abfahrtszeit um 457 Morgens von Worms für die dortigen Verhältnisse eine sehr wenig geeignete und es würden Beschwerden hierüber nicht ausbleiben können.
Aus vorstehenden Gründen halten wir die gewünschte Früherlegung des Zugs 201 für unausführbar.
Schließlich können wir nicht unerwähnt lassen, daß die geplante Früherlegung des Zugs 201 mit wesentlichen Mehrkosten für Nachtdienst des Strecken- und Stationspersonals verknüpft sein würde.“
Die Debatte im Eisenbahnbeirath
Zwischen 1881 und 1897 bestand in Hessen ein Eisenbahnbeirath, zu dessen Aufgabe es gehörte, die allgemeinen Interessen des Kapitals mit den besonderen Interessen der zum Teil privaten Eisenbahngesellschaften des Großherzogtums unter einen Hut zu bringen. In der Regel ein bis zwei Monate vor dem Fahrplanwechsel trafen sich die gewählten Repräsentanten der aufstrebenden Bourgeoisie mit den Vertretern der Gesellschaften, um drängende Fragen in Bezug auf die Fahrplangestaltung, die Zugfolge, Fahrpreisermäßigungen und Frachttarife zu erörtern. Auf dreiunddreißig Sitzungen wurden auch Kleinigkeiten verhandelt. Die im Protokoll festgehaltenen Sitzungszeiten lassen den Schluß zu, daß die Tagesordnung recht diszipliniert abgearbeitet wurde. In der Regel traf man sich (Frauen waren im 19. Jahrhundert selbstredend ausgeschlossen) am Vormittag um 10.00 Uhr im Collegiumsgebäude in Darmstadt. Spätestens nach zwei, drei Stunden verabschiedete man sich bis zur nächsten Sitzung ein halbes Jahr später. Wie effektiv dieser Lobbyismus tatsächlich gewesen ist, läßt sich den Protokollen nicht entnehmen. Dennoch scheinen die Vertreter der Provinzialausschüsse, Handelskammern, Landwirtschaftsvereinigungen und Industrievereine vermittelt über diesen Beirath so manche Veränderung im hessischen Eisenbahnwesen angestoßen zu haben.
Für den Sommerfahrplan 1894 ist nun der Einsatz des neuen Frühzuges auf der Riedbahn geplant, der fahrplanmäßig um 5.40 Uhr in Gernsheim losfährt und um 6.30 Uhr in Darmstadt im Ludwigsbahnhof eintrifft. Auf der 26. Sitzung des Eisenbahnbeiraths am 29. März 1894 fragt der Kreisrat Haas als Vertreter des landwirtschaftlichen Provinzialvereins für die Provinz Starkenburg an,
„ob nicht der projectirte Frühzug von Gernsheim nach Darmstadt als Gegenzug eines Abends von Darmstadt nach Gernsheim einzulegenden Zuges gefahren werden könne.“
Direktor Heyl als Vertreter der Specialdirection der Hessischen Ludwigsbahn
„erklärt dies nicht für möglich, da in Gernsheim keine Einrichtungen für Uebernachtung bestünden; der Zug solle versuchsweise im Sommer als Leerzug von Darmstadt nach Gernsheim, von da zurück nach Darmstadt fahren.“
Der neu eingerichtete Zug, der die Zugnummer 201a erhalten wird, scheint zunächst nur für den Sommerfahrplan vorgesehen zu sein, weshalb Kreisrat Haas
„bittet, den Zug auch im folgenden Winter fahren zu lassen, da sich die Bevölkerung nicht so rasch an einen neuen Zug gewöhne und daher am Ende des Sommers die Frequenz sich noch nicht übersehen lasse.“
Es gibt jedoch weitere Motive, sich für einen Zug einzusetzen, von dem zu diesem Zeitpunkt nicht einmal klar ist, ob er vom Publikum angenommen werden wird. Auf der 27. Sitzung des Eisenbahnbeiraths am 6. August 1894 wird dieser Zug erneut thematisiert. Kreisrat Haas
„tritt für die Beibehaltung des Frühzuges 201a (Gernsheim – Darmstadt) ein. Derselbe sei im Winter noch wichtiger als im Sommer, weil die Arbeiter auch, wo sie Sommers zu Fuss gehen, im Winter lieber die Bahn benutzen. Er ersucht, den Arbeitern die Fahrgelegenheit zu lassen und bittet dringend, den Zug mehrere Semester beizubehalten und erst dann endgültig zu beschliessen.“
Hier gegen wendet sich Baurat Heyl, der
„betont, dass die Frequenz dieses Zuges weit unter der erwarteten geblieben sei und besonders die von den interessirten Gemeinden genannten Frequenzziffern nicht richtig waren. Thatsächlich kämen in Gernsheim 2½, in Biebesheim 2, in Stockstadt 2 und erst in Goddelau 14 Personen durchschnittlich pro Tag in Betracht. Auch stelle sich der ganze Milchversand auf nur 20 Kannen pro Tag. Man möge bedenken, dass der ganze Erlös 17 Mark pro Tag betrage. Dagegen belaufen sich die Kosten auf mindestens 50 bis 60 Mark pro Tag, da der Zug erst leer von Darmstadt nach Gernsheim befördert werden müsse. Bei dieser bedeutenden täglichen Zubusse könne sich die Hessische Ludwigsbahn nicht dazu verstehen, den Zug beizubehalten.“
Kreisrat Haas
„verharrt auf seinem Standpunkte und weist darauf hin, dass man auf der Main-Neckar-Bahn einen ähnlichen Fall erlebt und die Erfahrung gemacht habe, dass ein Zug, der anfangs fast keine Frequenz hatte, jetzt immer vollständig besetzt sei. Man müsse nicht blos der Bahn, sondern auch der Landbevölkerung entgegen kommen.“
Ministerialrat Michell als Entsandter des hessischen Finanzministeriums
„war ursprünglich auch für Beibehaltung des Zuges. Er habe sich aber an einen mit den Verhältnissen sehr bekannten Herrn gewendet, der auch s[einer] Z[eit] den Antrag eingebracht habe, um zu erfahren, wie man in den betheiligten Kreisen darüber denke. Dieser habe nach eingegangenen Erkundigungen ihm mitgetheilt, dass man bei den hohen Kosten und dem geringen Erträgniss des Zuges sich damit begnüge, wenn der Zug für den Sommerfahrplan eingestellt werde. Verschiedene Gegenstände, welche für die Einführung des Zuges s[einer] Z[ei]t geltend gemacht worden seien, träfen Winters nicht zu; und sei im Winter der 753 Uhr hier ankommende Zug für die Schüler und die Milchsendungen früh genug.“
Betriebsdirektor Wolff als Vertreter der Hessischen Nebenbahnen im Privatbetrieb
„betont, dass nach seinen Erfahrungen auf der hiesigen Dampfstrassenbahn der Arbeiterverkehr im Winter weit geringer sei als im Sommer.“
Bild 2: Tagungsort des Eisenbahnbeiraths war das Collegiumsgebäude in Darmstadt.
Hier wechselt das Protokoll das Thema und wir können bis zur nächsten Sitzung des Eisenbahnbeiraths am 7. März 1895 kurz den Jahresverlust ausrechnen, den die Hessische Ludwigsbahn obigen Angaben zufolge machen wird. Der Sommerfahrplan 1896 umfaßte die vier Monate Juni, Juli, August, September; vermutlich galt diese Fahrplanperiode auch 1894. Bei einem täglichen Verlust von 38 Mark (entspricht (60+50)/2 minus 17) an 122 Tagen erhalten wir ein Defizit von 4.636 Mark. Umgerechnet auf die Kaufkraft 2020 wären dies rund 30.000 bis 35.000 Euro. [5]
Baurat Heyl beklagt auf dieser nächsten Sitzung die Auslastung des Frühzuges.
„Seit vorigem Sommer gehe ein Frühzug von Gernsheim nach Darmstadt, der stets nur schwach besetzt sei. Da der Zug insbesondere Sonntags sehr wenig benutzt würde und an Sonntagen der Bedarf an Maschinen sehr gross sei, möchte die Hessische Ludwigs-Bahn diesen Zug an Sonntagen ausfallen lassen.“
Ein Herr Wernher, der anstelle des Landrats Haas den landwirtschaftlichen Provinzialverein für Starkenburg vertritt,
„spricht sich gegen den Ausfall dieses Zuges aus, weil derselbe insbesondere zum Transport von Milch nach der Stadt benutzt werde und diese Transporte an Sonntagen ebenso wie in der Woche erfolgten. Die Landwirthe hätten sich nun darnach eingerichtet; der Zug müsse daher unter allen Umständen auch Sonntags erhalten werden.“
Ministerialrat Michell spricht ein Machtwort und
„erklärt, dass die Regierung im Interesse der Landwirthe, die sich nun darnach eingerichtet hätten, gegen den Ausfall dieses Zuges sei.“
Auf der 29. Sitzung am 8. August 1895 bittet Herr Haas
„um Auskunft über die bisherige Frequenz des Zuges 201a; (Gernsheim – Darmstadt).“
Baurat Heyl
„erklärt, dass die Einnahme in diesem Zug anfänglich 17 ℳ täglich betragen habe, in letzterer Zeit aber auf den Betrag von 13 ℳ täglich gesunken sei, an Milch würden an 1 Tag etwa 10 bis 12 Kannen befördert.“
In der vorab verschickten Tagesordnung zur 30. Sitzung am 19. März 1896 wird hinsichtlich des Sommerfahrplans 1896 als Konsequenz vermerkt, es werde
„Lokalzug 201a von Gernsheim nach Darmstadt (Gernsheim ab 540 Uhr, Darmstadt an 630 Uhr), der in den beiden letzten Sommern gefahren wurde, in den Fahrplanentwurf nicht wieder aufgenommen.“
Kreisrat Haas fragt folglich auf der Sitzung an,
„warum der Zug 201a von Gernsheim nach Darmstadt, der in den beiden letzten Sommern gefahren wurde, in den Fahrplanentwurf nicht wieder aufgenommen worden sei. Er beantrage den Zug, auch wenn er sich noch nicht rentire, nochmals zu befördern, denn die Landbevölkerung gewöhne sich erst allmählich an neue Züge.“
Baurat Heyl
„erwidert, dass die Frequenz dieses Zuges eine ganz schlechte gewesen sei, dass durch Milchtransport täglich 1 M. 20 Pf. und im Ganzen täglich 14 M. eingegangen seien, während der Zug grosse Kosten verursacht habe.“
Daraufhin wird abgestimmt, und es sprechen sich nur zwei Anwesende für die Beibehaltung des Zuges aus. Hinter den Kulissen muß anschließend nachverhandelt worden sein. Denn der ab 1. Juni 1896 geltende Sommerfahrplan weist den Zug 201a aus: Gernsheim ab 5.40 Uhr, Biebesheim ab 5.47 Uhr, Stockstadt ab 5.55 Uhr, Goddelau-Erfelden an 6.00 Uhr, ab 6.02 Uhr, Wolfskehlen ab 6.08 Uhr, Griesheim ab 6.15 Uhr und Darmstadt an 6.30 Uhr. Im darauf folgenden Winterfahrplan 1896/97 ist dieser Zug – wie in den Jahren zuvor – nicht enthalten. Folglich heißt es in der vorab versandten Tagesordnung für die 31. Sitzung des hessischen Eisenbahnbeiraths am 6. August 1896:
„Lokalzug 201a Gernsheim – Darmstadt fällt wie immer im Winter weg.“
Diese Sitzung findet jedoch schon einen Monat früher am 5. Juli 1896 statt. Die Tagesordnung für die 32. und letzte Sitzung am 28. Januar 1897 vermerkt:
„Der Lokalzug 201a Gernsheim – Darmstadt, Gernsheim ab 540 Uhr, Darmstadt an 630 Uhr Vorm[ittags], der in den letzten Sommern befördert wurde, ist wegen seiner sehr geringen Benutzung in den Fahrplan nicht wieder aufgenommen.“
Laut Sitzungsprotokoll wurde hierüber nicht noch einmal debattiert, zumindest ist hierzu nichts vermerkt worden.
Hiermit endet zunächst die Geschichte des Frühzuges 201a. Nach der Überführung der Hessischen Ludwigsbahn in die Preußisch-Hessische Eisenbahnbetriebs- und Finanzgemeinschaft zum 1. April 1897 wurde der Frühzug jedoch weiter im Fahrplan aufgeführt. Er trug zunächst die Zugnummer 543, begann seine Fahrt in Gernsheim schon eine Stunde früher um 4.25 Uhr und fuhr um 5.36 Uhr im Darmstädter Ludwigsbahnhof ein.