Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Walter Kuhl
Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Auf der Riedbahn.
Main-Neckar-Bahnhof 1896.
Main-Neckar-Bahnhof.
Griesheim Bahnhof 1919.
Griesheim.
Bahnhof Wolfskehlen um 1900.
Wolfskehlen.
Durchfahrt Goddelau um 1960.
Goddelau-Erfelden.
© Georg/Albert Engelhardt.

Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau

Der Milchkannenzug 201a

Ein Frühzug, der tatsächlich Milchkannen eingesammelt hat

1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Haupt­verlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten vor allem der Strecken­abschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.

1894 legte die Hessische Ludwigsbahn einen weiteren Frühzug mit der Nummer 201a ein. Dieser Zug war im hessischen Eisenbahn­beirath nicht unumstritten. Wenn jedoch die Rede­wendung, ein Zug halte an jeder Milchkanne, jemals eine materielle Grundlage besessen hat, dann hier. Dieser Zug hielt tatsächlich an jeder Milchkanne, sammelte sie ein und brachte sie nach Darmstadt. [1]


Eine Klageschrift gegen den Fahrplan

Schon in den 1880er Jahren waren die Einwohner von Griesheim für die Wieder­einführung eines morgendlichen Frühzuges nach Darmstadt eingetreten, um – gerade in den Sommer­monaten – ihre Kinder frühmorgens zur Schule fahren zu sehen oder selbst als Arbeiterin oder Arbeiter in Darmstadt eine bezahlte Anstellung zu finden. Ihr 1884 dies­bezüglich eingereichtes Gesuch bleib jedoch folgenlos. Siehe hierzu auch die Dokumentations­seite Ein Schnell­zughalt für Griesheim.

1886 wurde die Dampf­straßenbahn von Griesheim nach Darmstadt und Eberstadt eröffnet. Hiermit war das Griesheimer Bedürfnis nach einem Frühzug zunächst einmal erfüllt. So verließ im Winter 1889/90 der erste Zug nach Darmstadt um 5.10 Uhr morgens die End­haltestelle in Griesheim. Dennoch regte sich auch in den Nachbar­gemeinden der Wunsch nach einer Früh­verbindung in die Residenz­stadt. Mit zunehmender Mobilisierung der in Fabriken arbeits­fähigen Land­bevölkerung erweiterte sich auch das Einzugs­gebiet der heran­wachsenden Großstädte.

Im Februar 1894 richteten die Bürger­meistereien von Gernsheim, Biebesheim, Stockstadt, Erfelden, Goddelau, Crumstadt, Wolfskehlen, Dornheim und Leeheim eine gemeinsame Eingabe an die Hessische Ludwigsbahn. Sie begründeten ihren Wunsch nach dem Frühzug in einem längeren Schreiben:

„Der früheste Zug, der aus dem Ried nach Darmstadt fährt, trifft fahrplan­mäßig erst 7.51 Uhr, also um acht Uhr in Darmstadt ein.

Für die Bedürfnisse unserer Einwohner ist dies entschieden zu spät. Wenn schon in früheren Jahren dieser Mißstand schwer empfunden wurde, so ist, seit im vorigen Jahr mit Einführung der mittel­europäischen Zeit die Ankunft noch um 25 Minuten später gelegt wurde; der Zustand geradezu als unerträglich zu bezeichnen.

Die wichtigsten Bedürfnisse unserer Gemeinden können bei diesem Zustand nicht befriedigt werden.

Für die Arbeiter aus unseren Gemeinden, die täglich zur Arbeit nach Darmstadt fahren wollen, besteht keine geeignete Bahn­verbindung. Die Leute sind daher gezwungen, entweder zu Fuß nach der Bergstraße an die Main-Neckarbahn zu gehen oder aber in Darmstadt die ganze Woche über Nacht zu bleiben.

Nach unseren Erhebungen arbeiten aber in Darmstadt aus Gernsheim 5 Mann, aus Biebesheim 12 Mann, aus Stockstadt 15 Mann, aus Crumstadt 16 Mann, aus Leeheim 15 Mann, aus Wolfskehlen 16 Mann, aus Dornheim über 30 Mann, aus Goddelau 12 Mann, aus Erfelden 5 Mann, zusammen 126 Mann. [2]

Alle diese Arbeiter sind in ihrem Erwerb schwer benachtheiligt, wenn nicht ihnen die Möglichkeit gegeben wird, erheblich früher als um 8 Uhr in Darmstadt einzutreffen.

Sehr wesentlich ist es ferner für die bedeutende Milch­transporte, die Tag für Tag von Erfelden und Goddelau mit 500 Liter, von Hof Hayna Station Wolfkehlen mit 200 Liter, zusammen 700 Liter, nach Darmstadt gehen [3]. Es ist nämlich bei so später Ankunft des ersten Zuges nicht möglich den Kunden zeitig genug die Milch zuzuführen, und es besteht auch namentlich die große Gefahr, daß im Sommer die Milch, und zwar nicht nur die vom Abend, sondern auch die Morgens gemolkene Milch durch die lange Aufbe­wahrung, und durch den Transport in der großen Hitze in Verderb gerät. Diese Gefahr ist eine so bedeutende, daß die Landwirte, wenn ein früherer Zug nicht eingelegt würde, genötigt wären, auf die Benützung der Ludwigsbahn zu verzichten und ihre Milch vielmehr nach Griesheim zur Straßenbahn zu fahren.

Außer für die Arbeiter und die Milch­lieferanten ist jedoch für Alle, die zeitig in Darmstadt eintreffen müssen, der jetzige erste Zug unbrauchbar. So müssen die Handelsleute, die dreimal wöchentlich Kälber zu Markt bringen, mittels Fuhrwerk diesen Transport bewirken; und das Gleiche gilt für die Besucher der alle 14 Tage in Darmstadt stattfindenden Viehmärkte und für diejenigen Personen, welche Lebensmittel und sonstige Landesprodukte auf den Markt nach Darmstadt bringen wollen. Alle diese Personen müssen entweder Fuhrwerk benützen oder die Straßenbahn oder Main-Neckarbahn zu erreichen ersuchen oder aber schon Abends vorher ihre Produkte nach Darmstadt befördern.

Ein weiterer großer Nachtheil für unsere Gemeinden besteht aber noch darin, daß alle Frühzüge von Darmstadt bereits abgegangen sind, bevor unsere Einwohner dort eintreffen können.

Wer aus den Ried­gemeinden in der Richtung nach Frankfurt, Heidelberg, Aschaffen­burg oder in den Odenwald fahren muß der befindet sich in der peinlichsten Lage.“

Es folgt eine Liste der Frühzüge, die verpaßt werden, und eine weitere mit den frühest möglichen Anschlüssen in Darmstadt, bevor die Klage weitergeht:

„Allen diesen schwer­wiegenden Übelständen läßt sich einfach und vollständig abhelfen, wenn ein Frühzug von Gernsheim ab, eingelegt wird, der etwa 5¾ Uhr von Gernsheim abgehen und 6½ Uhr in Darmstadt eintreffen müßte.

Dieser Frühzug würde zweifellos sich gut rentiren, denn es würde nicht nur der aus obigen Thatsachen ersichtlichen Verkehr zu bewältigen haben, sondern es würde, wenn einmal hierdurch die Gelegenheit gegeben ist, zu früher Stunde in Darmstadt einzutreffen und dort seine Arbeit oder seine Produkte zu verwerthen, der Verkehr jedenfalls dieser besseren Gelegenheit entsprechend, sich noch ganz bedeutend entwickeln und vermehren.

In welcher Weise das Einlegen dieses Frühzuges am besten zu bewirken ist, das glauben wir, dem weiseren Ermessen einer verehrlichen Spezial-Direktion getrost überlassen zu sollen. Anregen dürfen wir aber vielleicht, ob nicht der Abends 10.38 Uhr in Darmstadt eintreffende und mit einer geheizten Lokomotive versehene Zug alsbald nach Gernsheim zurück und dann Morgens wieder nach Darmstadt fahren könnte. Es würde unseren Einwohnern dadurch auch die Gelegenheit geboten werden, Abends länger in Darmstadt verweilen, die dortigen Veranstaltungen besuchen, und doch noch nach Hause kommen zu können.“

Reaktionen und Aktivitäten

Eine Kopie des Gesuchs an die Hessische Ludwigsbahn ging dem hessischen Finanz­ministerium als Aufsichts­behörde für den Eisenbahn­betrieb zu, „mit der Bitte, die genannte Eisenbahn-Gesellschaft hoch­geneigtest anhalten zu wollen: in den Sommer­fahrplan der Riedbahn einen Frühzug von Gernsheim nach Darmstadt einzustellen, der an ersterem Orte Morgens zwischen 5 und ½6 Uhr abgelassen sein dürfte.“

Bahnhofsgebäude Gernsheim.
Bild 1: Das Bahnhofsgebäude in Gernsheim. Von hier aus begann der Milch­kannen­zug seine morgendliche Fahrt.

Die Special-Direction der Hessischen Ludwigsbahn teilt daraufhin am 11. Februar 1894 dem Dornheimer Bürger­meister Schaftner mit, daß man davon ausgehe, daß der gewünschte Frühzug nicht genügend frequentiert werde, weil ihn die Arbeiter aus Gernsheim bis Goddelau-Erfelden wegen der Höhe der Fahrpreise nicht benutzen können. Hier sei angemerkt, daß sich die Eisenbahn­verwaltungen zu jener Zeit aus Kosten­gründen, vielleicht aber auch aus bourgeoisem Dünkel heraus schwer damit taten, den entstehenden Massen­verkehr zu bedienen. Soweit dies nicht zu vermeiden war, scheinen die Arbeiterzüge zuweilen eher einem fahrenden Pferch geglichen zu haben; entsprechende Klagen und Beschwerden waren häufig zu vernehmen.

Am 16. Februar 1884 bat das hessische Finanz­ministerium die Hessische Ludwigsbahn um eine möglichst rasche Stellung­nahme zum gewünschten Frühzug. In der 2. Kammer der hessischen Landstände war zwischen­zeitlich von den Abgeordneten Hechler sowie Haas (aus Offenbach) ein Antrag „auf Einstellung je eines, den wirth­schaftlichen Interessen der Bevölkerung der Ried­gemeinden Rechnung tragenden Früh- und Spätzuges in den Sommer­fahrplan der Ried-Eisenbahn“ eingebracht worden; er sollte am 21. Februar in einer Ausschuß­sitzung behandelt werden.

Der Antrag entsprach in seiner Argumentation im wesentlichen der Eingabe der Ried­gemeinden an die Hessische Ludwigsbahn. Die Antwort der Special-Direction erfolgte tags darauf:

„Wenn man dem Ersuchen entsprechen wollte, dann müßte Morgens um 420 ein Leerzug von Darmstadt nach Gernsheim abgelassen werden, was mit wesentlichen Mehrkosten für Bahn-Bewachung und für Expeditions­dienst, verknüpft sein würde. Die Mehr­einnahmen aus diesem Arbeiter-Zuge dagegen, können in der Unter­stellung, daß die Frequenz den uns mitge­theilten Angaben auch entspricht, wöchentlich nur ℳ147,71₰ betragen, dies ist pro Tag ℳ24,50₰.

Diese Einnahme steht in keinem Verhältniß zu den Betriebs­kosten, weßhalb wir uns zur Einlage des beantragten Arbeiter­zuges nicht entschließen können.“

Diese Position wurde dem 4. Ausschuß der 2. Kammer mitgeteilt; und dieser war überhaupt nicht erfreut. Der Bericht über die Behandlung des Antrages der Abgeordneten Hechler und Haas (Offenbach) gibt eine Position wieder, in welcher der Staat als „ideeller Gesamt­kapitalist“ durchaus weitere Ziele verfolgen kann als die eines bornierten Einzel­interesses, welches sich an der Dividende und nicht an den realen Bedürnissen orientiert:

„In der am 21. Februar 1894 statt­gehabten Ausschuß-Sitzung machte der Vertreter der Groß­herzoglichen Regierung die Mittheilung, die Hessische Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft nehme zu dem obigen Antrage und zu einer den gleichen Zweck erfolgten Eingabe [4] der in Betracht kommenden Gemeinden des Riedes eine ablehnende Haltung ein, und begründe diese mit der Unren­tabilität, bezw. mit der Unzu­länglichkeit des Verkehrs. –

Der berichtende Ausschuß hält diese ablehnende Haltung nicht für gerechtfertigt. – Seines Erachtens wäre bei der Entscheidung über die Einstellung der beantragten Züge nicht allein deren größere oder geringere Rentabilität in Betracht zu ziehen, sondern es wird in erster Linie darauf Bedacht zu nehmen sein, daß die vorhandenen Verkehrs­mittel in thunlichst zweck­entsprechender und den Bedürfnissen und Interessen der Bevölkerung angemessener Weise ihr zur Verfügung gestellt werden. –

Dies ist bei dem seitherigen Fahrplan nicht der Fall gewesen. –

Wie allerwärts auf dem Lande, so hat auch die Bevölkerung des Riedes das Bedürfniß, mit der Eisenbahn thunlichst frühzeitig in die Stadt gelangen zu können. Dies ebenso sehr im Interesse der landwirthschaft­treibenden Bevölkerung, welche die Wochen- und Viehmärkte besucht und die Stadt mit Milch etc. versieht, als auch im Interesse der die höheren Lehr­anstalten besuchenden Schüler, deren Unterrichts­stunden in den Sommer­monaten um 7 Uhr beginnen. –

Gleichermaßen interessiert sind die Arbeiter, welche in Darmstadt Beschäftigung suchen. –

Ein ganz besonderes Interesse hieran hat aber auch die handel­treibende Bevölkerung, welcher außer der angestrebten Erreichung des Anschlusses an die von Darmstadt abfahrenden Frühzüge anderer Bahnen insbesondere auch daran gelegen ist, nach Erledigung ihrer auswärtigen Geschäfte und bei der Benutzung der Abendzüge der benachbarten Eisenbahnen zur Heimkehr einen Anschluß auf der Riedbahn zu haben. –

Hiernach hält der Ausschuß eine größere Berück­sichtigung der vorhandenen Bedürfnisse und wirthschaft­lichen Interessen der Bevölkerung der in Betracht kommenden Gemeinden seitens der Hessischen Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft für geboten. – Ob dies durch die Einstellung des beantragten Früh- und Spät-Zuges zu erfolgen haben wird, oder ob das Interesse der in Rede stehenden Gemeinden möglicher­weise schon durch die Verlegung der bereits vorhandenen Züge in hinreichendem Maaße Wahrung finden kann, hierüber kann und will der berichtende Ausschuß eine bestimmende Entscheidung nicht treffen. Indessen erachtet er es für angezeigt und geboten, daß die Hessische Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft zur Aufstellung eines, den Bedürfnissen und Interessen der fraglichen Gemeinden in höherem Maaße als bisher Rechnung tragenden Fahrplanes angehalten werde. –

Der Ausschuß trägt deshalb darauf an:
Hohe Kammer wolle an Großherzogliche Regierung das Ersuchen richten, die Hessische Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft zur Aufstellung eines, den berechtigten Wünschen und Interessen der in Betracht kommenden Gemeinden in höherem Maaße als bisher Rechnung tragenden Fahrplanes zu veranlassen.“

Fahrplan Sommer 1894
Zugnummer201a
Gernsheim5.40
Biebesheim5.47
Stockstadt5.55
Goddelau-Erf.6.02
Wolfskehlen6.08
Griesheim6.15
Darmstadt6.30

Jetzt liegt der Ball wieder bei der Hessischen Ludwigsbahn. Auf Nachfrage des vom hessischen Finanz­ministerium besoldeten Regierungs-Commissärs für die Hessische Ludwigsbahn gibt diese am 11. März 1894 ihr Einlenken zu erkennen: „Die Früher­legung des Zugs 201 ist ohne Schädigung anderer wichtiger Interessen nicht angängig, weßhalb wir hiervon absehen müssen. Dagegen sind wir bereit, versuchs­weise einen Frühzug von Gernsheim nach Darmstadt einzulegen, welcher den ausgesprochenen Wünschen entsprechen wird.“ Am Tag darauf begründet die Special-Direction näher, weshalb sie diese Lösung bevorzugt:

„Wenn Zug 201 früher gelegt werden sollte, dann müßte die Früherlegung 1 Stunde 13 Min. betragen wegen Kreuzung mit Zug 200 in Darmstadt. Die Abfahrt von Worms müßte demgemäß um 457 Morgens erfolgen. Hierdurch würden in Worms die Anschlüsse an Zug 1 und 3 von Ludwigshafen, an Zug 51 von Offstein und an Zug 122 von Alzey verloren gehen. Ferner würden die Reisenden von Worms, welche den Mannheim-Frankfurter Zug 153 ab Biblis benützen wollen, in Biblis ein Stilllager von 1 Stunde 13 Min. erleiden, während die Reisenden vom Mannheimer Zuge 153 in Goddelau eine Wartezeit von 40 Minuten auf den Anschlußzug nach Darmstadt erdulden müßten, gegenüber eines jetzt direkten Anschlusses. Außerdem ist eine Abfahrtszeit um 457 Morgens von Worms für die dortigen Verhältnisse eine sehr wenig geeignete und es würden Beschwerden hierüber nicht ausbleiben können.

Aus vorstehenden Gründen halten wir die gewünschte Früher­legung des Zugs 201 für unausführbar.

Schließlich können wir nicht unerwähnt lassen, daß die geplante Früherlegung des Zugs 201 mit wesentlichen Mehrkosten für Nachtdienst des Strecken- und Stations­personals verknüpft sein würde.“

Die Debatte im Eisenbahnbeirath

Zwischen 1881 und 1897 bestand in Hessen ein Eisenbahn­beirath, zu dessen Aufgabe es gehörte, die allgemeinen Interessen des Kapitals mit den besonderen Interessen der zum Teil privaten Eisenbahn­gesellschaften des Großherzogtums unter einen Hut zu bringen. In der Regel ein bis zwei Monate vor dem Fahrplanwechsel trafen sich die gewählten Repräsentanten der aufstrebenden Bourgeoisie mit den Vertretern der Gesellschaften, um drängende Fragen in Bezug auf die Fahrplan­gestaltung, die Zugfolge, Fahrpreisermäßigungen und Frachttarife zu erörtern. Auf dreiunddreißig Sitzungen wurden auch Kleinigkeiten verhandelt. Die im Protokoll festgehaltenen Sitzungszeiten lassen den Schluß zu, daß die Tagesordnung recht diszipliniert abgearbeitet wurde. In der Regel traf man sich (Frauen waren im 19. Jahrhundert selbstredend ausgeschlossen) am Vormittag um 10.00 Uhr im Collegiums­gebäude in Darmstadt. Spätestens nach zwei, drei Stunden verabschiedete man sich bis zur nächsten Sitzung ein halbes Jahr später. Wie effektiv dieser Lobbyismus tatsächlich gewesen ist, läßt sich den Protokollen nicht entnehmen. Dennoch scheinen die Vertreter der Provinzial­ausschüsse, Handels­kammern, Landwirtschafts­vereinigungen und Industrie­vereine vermittelt über diesen Beirath so manche Veränderung im hessischen Eisenbahn­wesen angestoßen zu haben.

Für den Sommer­fahrplan 1894 ist nun der Einsatz des neuen Frühzuges auf der Riedbahn geplant, der fahrplan­mäßig um 5.40 Uhr in Gernsheim losfährt und um 6.30 Uhr in Darmstadt im Ludwigs­bahnhof eintrifft. Auf der 26. Sitzung des Eisenbahn­beiraths am 29. März 1894 fragt der Kreisrat Haas als Vertreter des land­wirtschaftlichen Provinzial­vereins für die Provinz Starkenburg an,

„ob nicht der projectirte Frühzug von Gernsheim nach Darmstadt als Gegenzug eines Abends von Darmstadt nach Gernsheim einzu­legenden Zuges gefahren werden könne.“

Direktor Heyl als Vertreter der Special­direction der Hessischen Ludwigsbahn

„erklärt dies nicht für möglich, da in Gernsheim keine Einrichtungen für Ueber­nachtung bestünden; der Zug solle versuchsweise im Sommer als Leerzug von Darmstadt nach Gernsheim, von da zurück nach Darmstadt fahren.“

Der neu eingerichtete Zug, der die Zugnummer 201a erhalten wird, scheint zunächst nur für den Sommer­fahrplan vorgesehen zu sein, weshalb Kreisrat Haas

„bittet, den Zug auch im folgenden Winter fahren zu lassen, da sich die Bevölkerung nicht so rasch an einen neuen Zug gewöhne und daher am Ende des Sommers die Frequenz sich noch nicht übersehen lasse.“

Es gibt jedoch weitere Motive, sich für einen Zug einzusetzen, von dem zu diesem Zeitpunkt nicht einmal klar ist, ob er vom Publikum angenommen werden wird. Auf der 27. Sitzung des Eisenbahn­beiraths am 6. August 1894 wird dieser Zug erneut thematisiert. Kreisrat Haas

„tritt für die Beibehaltung des Frühzuges 201a (Gernsheim – Darmstadt) ein. Derselbe sei im Winter noch wichtiger als im Sommer, weil die Arbeiter auch, wo sie Sommers zu Fuss gehen, im Winter lieber die Bahn benutzen. Er ersucht, den Arbeitern die Fahr­gelegenheit zu lassen und bittet dringend, den Zug mehrere Semester beizubehalten und erst dann endgültig zu beschliessen.“

Hier gegen wendet sich Baurat Heyl, der

„betont, dass die Frequenz dieses Zuges weit unter der erwarteten geblieben sei und besonders die von den interessirten Gemeinden genannten Frequenz­ziffern nicht richtig waren. Thatsächlich kämen in Gernsheim 2½, in Biebesheim 2, in Stockstadt 2 und erst in Goddelau 14 Personen durch­schnittlich pro Tag in Betracht. Auch stelle sich der ganze Milch­versand auf nur 20 Kannen pro Tag. Man möge bedenken, dass der ganze Erlös 17 Mark pro Tag betrage. Dagegen belaufen sich die Kosten auf mindestens 50 bis 60 Mark pro Tag, da der Zug erst leer von Darmstadt nach Gernsheim befördert werden müsse. Bei dieser bedeutenden täglichen Zubusse könne sich die Hessische Ludwigsbahn nicht dazu verstehen, den Zug beizubehalten.“

Kreisrat Haas

„verharrt auf seinem Standpunkte und weist darauf hin, dass man auf der Main-Neckar-Bahn einen ähnlichen Fall erlebt und die Erfahrung gemacht habe, dass ein Zug, der anfangs fast keine Frequenz hatte, jetzt immer vollständig besetzt sei. Man müsse nicht blos der Bahn, sondern auch der Land­bevölkerung entgegen kommen.“

Ministerialrat Michell als Entsandter des hessischen Finanz­ministeriums

„war ursprünglich auch für Beibehaltung des Zuges. Er habe sich aber an einen mit den Ver­hältnissen sehr bekannten Herrn gewendet, der auch s[einer] Z[eit] den Antrag eingebracht habe, um zu erfahren, wie man in den betheiligten Kreisen darüber denke. Dieser habe nach eingegangenen Erkundi­gungen ihm mitgetheilt, dass man bei den hohen Kosten und dem geringen Erträgniss des Zuges sich damit begnüge, wenn der Zug für den Sommer­fahrplan eingestellt werde. Verschiedene Gegenstände, welche für die Einführung des Zuges s[einer] Z[ei]t geltend gemacht worden seien, träfen Winters nicht zu; und sei im Winter der 753 Uhr hier ankommende Zug für die Schüler und die Milch­sendungen früh genug.“

Betriebsdirektor Wolff als Vertreter der Hessischen Nebenbahnen im Privatbetrieb

„betont, dass nach seinen Erfahrungen auf der hiesigen Dampf­strassen­bahn der Arbeiter­verkehr im Winter weit geringer sei als im Sommer.“

Regierungspräsidium Darmstadt.
Bild 2: Tagungsort des Eisenbahnbeiraths war das Collegiumsgebäude in Darmstadt.

Hier wechselt das Protokoll das Thema und wir können bis zur nächsten Sitzung des Eisenbahn­beiraths am 7. März 1895 kurz den Jahresverlust ausrechnen, den die Hessische Ludwigsbahn obigen Angaben zufolge machen wird. Der Sommer­fahrplan 1896 umfaßte die vier Monate Juni, Juli, August, September; vermutlich galt diese Fahrplan­periode auch 1894. Bei einem täglichen Verlust von 38 Mark (entspricht (60+50)/2 minus 17) an 122 Tagen erhalten wir ein Defizit von 4.636 Mark. Umgerechnet auf die Kaufkraft 2020 wären dies rund 30.000 bis 35.000 Euro. [5]

Baurat Heyl beklagt auf dieser nächsten Sitzung die Auslastung des Frühzuges.

„Seit vorigem Sommer gehe ein Frühzug von Gernsheim nach Darmstadt, der stets nur schwach besetzt sei. Da der Zug insbesondere Sonntags sehr wenig benutzt würde und an Sonntagen der Bedarf an Maschinen sehr gross sei, möchte die Hessische Ludwigs-Bahn diesen Zug an Sonntagen ausfallen lassen.“

Ein Herr Wernher, der anstelle des Landrats Haas den land­wirtschaftlichen Provinzial­verein für Starkenburg vertritt,

„spricht sich gegen den Ausfall dieses Zuges aus, weil derselbe insbesondere zum Transport von Milch nach der Stadt benutzt werde und diese Transporte an Sonntagen ebenso wie in der Woche erfolgten. Die Landwirthe hätten sich nun darnach eingerichtet; der Zug müsse daher unter allen Umständen auch Sonntags erhalten werden.“

Ministerialrat Michell spricht ein Machtwort und

„erklärt, dass die Regierung im Interesse der Landwirthe, die sich nun darnach eingerichtet hätten, gegen den Ausfall dieses Zuges sei.“

Auf der 29. Sitzung am 8. August 1895 bittet Herr Haas

„um Auskunft über die bisherige Frequenz des Zuges 201a; (Gernsheim – Darmstadt).“

Baurat Heyl

„erklärt, dass die Einnahme in diesem Zug anfänglich 17 ℳ täglich betragen habe, in letzterer Zeit aber auf den Betrag von 13 ℳ täglich gesunken sei, an Milch würden an 1 Tag etwa 10 bis 12 Kannen befördert.“

In der vorab verschickten Tages­ordnung zur 30. Sitzung am 19. März 1896 wird hinsichtlich des Sommer­fahrplans 1896 als Konsequenz vermerkt, es werde

„Lokalzug 201a von Gernsheim nach Darmstadt (Gernsheim ab 540 Uhr, Darmstadt an 630 Uhr), der in den beiden letzten Sommern gefahren wurde, in den Fahrplan­entwurf nicht wieder aufgenommen.“

Kreisrat Haas fragt folglich auf der Sitzung an,

„warum der Zug 201a von Gernsheim nach Darmstadt, der in den beiden letzten Sommern gefahren wurde, in den Fahrplan­entwurf nicht wieder aufgenommen worden sei. Er beantrage den Zug, auch wenn er sich noch nicht rentire, nochmals zu befördern, denn die Land­bevölkerung gewöhne sich erst allmählich an neue Züge.“

Baurat Heyl

„erwidert, dass die Frequenz dieses Zuges eine ganz schlechte gewesen sei, dass durch Milch­transport täglich 1 M. 20 Pf. und im Ganzen täglich 14 M. eingegangen seien, während der Zug grosse Kosten verursacht habe.“

Daraufhin wird abgestimmt, und es sprechen sich nur zwei Anwesende für die Bei­behaltung des Zuges aus. Hinter den Kulissen muß anschließend nach­verhandelt worden sein. Denn der ab 1. Juni 1896 geltende Sommer­fahrplan weist den Zug 201a aus: Gernsheim ab 5.40 Uhr, Biebesheim ab 5.47 Uhr, Stockstadt ab 5.55 Uhr, Goddelau-Erfelden an 6.00 Uhr, ab 6.02 Uhr, Wolfskehlen ab 6.08 Uhr, Griesheim ab 6.15 Uhr und Darmstadt an 6.30 Uhr. Im darauf folgenden Winter­fahrplan 1896/97 ist dieser Zug – wie in den Jahren zuvor – nicht enthalten. Folglich heißt es in der vorab versandten Tagesordnung für die 31. Sitzung des hessischen Eisenbahn­beiraths am 6. August 1896:

„Lokalzug 201a Gernsheim – Darmstadt fällt wie immer im Winter weg.“

Diese Sitzung findet jedoch schon einen Monat früher am 5. Juli 1896 statt. Die Tagesordnung für die 32. und letzte Sitzung am 28. Januar 1897 vermerkt:

„Der Lokalzug 201a Gernsheim – Darmstadt, Gernsheim ab 540 Uhr, Darmstadt an 630 Uhr Vorm[ittags], der in den letzten Sommern befördert wurde, ist wegen seiner sehr geringen Benutzung in den Fahrplan nicht wieder aufgenommen.“

Laut Sitzungs­protokoll wurde hierüber nicht noch einmal debattiert, zumindest ist hierzu nichts vermerkt worden.

Hiermit endet zunächst die Geschichte des Frühzuges 201a. Nach der Überführung der Hessischen Ludwigsbahn in die Preußisch-Hessische Eisenbahnbetriebs- und Finanzgemeinschaft zum 1. April 1897 wurde der Frühzug jedoch weiter im Fahrplan aufgeführt. Er trug zunächst die Zugnummer 543, begann seine Fahrt in Gernsheim schon eine Stunde früher um 4.25 Uhr und fuhr um 5.36 Uhr im Darmstädter Ludwigs­bahnhof ein.