Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
V 36-Wendezüge auf der Riedbahn
Letzte Aufnahmen vom Planbetrieb
1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Hauptverlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten vor allem der Streckenabschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.
In den 1950er Jahren verkehrten hier neben dampflokgeführten Reisezügen, Dieseltriebwagen und vereinzelten Schienenbussen auch Donnerbüchsen, die mit Diesellokomotiven der Baureihe V 36 bespannt waren.
Ernst Bäppler und Horst Troche wiesen mich bei unterschiedlichen Gelegenheiten auf dieses wenig erforschte Phänomen hin; Ronald Krug steuerte einen Umlauf- und Zugbildungsplan bei. Dem Merck-Archiv verdanke ich die Aufnahme der V 36 in Gernsheim. Für die zutreffenden wie (hoffentlich nicht) unzutreffenden Schlußfolgerungen bin jedoch allein ich verantwortlich.
»» Philipp Schreiber nahm 1959 einen derartigen Wendezug in Griesheim auf.
Wendezüge im Einsatz
Die später als V 36 bezeichnete Diesellokomotive ist ein Resultat der von den Nationalsozialisten forcierten Aufrüstung Mitte der 30er Jahre. Sie war als Rangierlokomotive für die Wehrmacht konzipiert. Da sich die Lokomotive auch abseits der Kriegsführung bewährt hatte, ließ die Reichsbahn / Bundesbahn in den ersten Nachkriegsjahren weitere Exemplare nachbauen, um den dringendsten Bedarf an einsatzfähigen Lokomotiven zu decken. Da die Lokomotive ursprünglich für Rangieraufgaben entwickelt wurde, war ihr späterer Einsatz im Reisezugverkehr nicht unproblematisch. Weniger die geringe maximale Geschwindigkeit war das Problem, denn die meisten Strecken waren nach Kriegsende ohnehin erst wieder für schnelle Beförderungen herzurichten. Es zeigte sich jedoch, daß die hohen Kilometerleistungen zu erhöhtem Verschleiß an dafür nicht eingerichteten Baugruppen führte. Insgesamt jedoch haben die im Personenzugdienst eingesetzten V 36 die an sie gerichteten Anforderungen erfüllt.
Nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg und den als Folge des Totalen Krieges auch in Deutschland angerichteten Verwüstungen ging die Reichsbahn daran, aus den Trümmern und dem rollenden Material einen zunächst bescheidenen Reisezugdienst anzubieten. Zu Beginn der 1950er Jahre war man da schon ein Stück weiter. Noch war die gesamte Gesellschaft nicht automobilgemacht worden, so daß die nicht wenigen Pendlerinnen und Pendler mit der Eisenbahn aus den Vororten zu ihren Arbeitsplätzen in die Städte befördert werden mußten.
Um weitere Zuggarnituren anbieten zu können, kam die Bundesbahn für einzelne Standorte auf die Idee, mit Hilfe von im Grunde dafür nicht geeigneten Diesellokomotiven der Baureihe V 36 sowie vorhandenen Donnerbüchsen und Steuerwagen Zuggarnituren zu bilden. Diese pendelten entweder so, daß die Loks am Ziel umgesetzt werden mußten, oder sie fuhren im Sandwich, oder aber, und das war wohl die ökonomischste Lösung, sie erhielten eine Wendezugsteuerung, mit der von einem Steuerwagen am anderen Ende des Zuges die Diesellokomotive betrieben werden konnte. Die Bundesbahndirektion Frankfurt hatte hierfür zwei Schwerpunkte vorgesehen, zum einen den Vorortverkehr in der hessischen Metropole selbst, zum anderen einzelne Überlandlinien, die von Darmstadt aus angefahren werden sollten.
Die Geschichte dieser V 36-Wendezüge ist in der einschlägigen Literatur ausgiebig abgehandelt, so daß ich mich hier weitgehend auf den Einsatz V 36-gezogener bzw. geschobener Wendezüge auf der Riedbahn beschränken kann. Hierzu ist die „Forschungslage“ dann doch wieder recht dünn.
Ernst Bäppler wies mich an anderer Stelle auf das in den zeitgenössischen Kursbüchern anzutreffende Phänomen einzelner Zugleistungen hin, die keine Triebwagenfahrten waren, nur die 2. Wagenklasse führten und auch kein Gepäck beförderten. Es handelte sich um besagte V 36-Wendezüge.
Mit dem so geschärften Blick ins Kursbuch läßt sich der von Darmstadt ausgehende Einsatz von V 36-gezogenen Wendezügen sicherlich nachvollziehen und beschreiben. Mir liegt nun ein Umlaufplan für den Winterdienst 1959/60 vor, aus dem sich dieser Einsatz auch tatsächlich belegen und einordnen läßt.
Abbildung 2: Umlaufplan 11124 für zwei Diesellokomotiven der Baureihe V 36.4 des Bw Darmstadt ab dem 4. Oktober 1959. Quelle: Sammlung Ronald Krug.
Der zugehörige Zugbildungsplan weist drei Donnerbüchsen sowie eine weitere als Steuerwagen umgebaute Donnerbüchse als Wagenpark aus. Von dieser Garnitur müssen, da der Umlaufplan zwei Tage umfaßt, zwei Einheiten vorhanden gewesen sein. Am Tag I wurden folgende Zugleistungen gefahren: 3606, 3605, 3610, 3615, 3623, 3622, 3628, 3627, 3638, 3639, 3656, 3657 und 3664. Am Tag II: 3613, 3619, 3634, 3635, 3652, 3651, 3658 und 3655. An den Tagen rund ums Wochenende gab es einzelne Abweichungen. Der Umlauf berührte demnach von Darmstadt aus alle Riedgemeinden bis hin nach Worms, Groß-Gerau, Mainz-Bischofsheim (mit Anschluß vom Opelwerk in Rüsselsheim), und samstags mit den Personenzügen 2872, 2873, 2880 und 2883 auch Aschaffenburg. Die Kursbuchtabellen für die Riedbahn sind weiter unten als Anhang 1 angefügt.
Lassen sich anhand dieser Fahrleistungen Aussagen über den Beginn des Wendezugverkehrs auf der Riedbahn machen? Gewiß sollte es möglich sein, nach bekanntem Muster die entsprechenden Zugleistungen seit Beginn der 1950er Jahre herauszufiltern. Doch diesem Vorhaben steht folgende Aussage von Klingensteiner / Ebner für die Fahrplanperiode 1954/55 im Weg:
„Ein Teil der V 36 ist im Wendezugbetrieb eingesetzt. Während der Einsatz im Bremer Raum mit 8 V 36 im wesentlichen unverändert geblieben ist, wurde der im Frankfurter Raum vollkommen neu gestaltet. Gegenüber bisher 4 Diesellokomotiven V 36 sind im erweiterten Vorortverkehr ab 23.5.1954 eingesetzt:
3 Diesellok V 80 auf den Strecken Frankfurt – Bad Homburg nach Kronberg. 1 Diesellok V 36 auf der Strecke Frankfurt-Höchst – Bad Soden, 3 Diesellok V 36 auf der Strecke Hanau – Höchst.
Es ist geplant, den Wendezugbetrieb mit weiteren Diesellok V 36 auf den Strecken Pfungstadt – Eberstadt, Bickenbach – Seeheim und Darmstadt – Groß-Gerau – Dornberg aufzunehmen.“ [1]
Das klingt so, als habe es bis dato keinen Wendezugbetrieb mit V 36 auf der Riedbahn gegeben. Der Schluß, es seien erst Mitte der 50er Jahre V 36-geführte Reisezüge auf der Riedbahn eingesetzt worden, dürfte dennoch unzutreffend sein. Vielmehr kommen wir zu einem Problem, das Rolf Löttgers so umschreibt:
„Über die Einsätze der V 36 im Bereich der BD Frankfurt, namentlich im Rhein-Main-Gebiet, ließe sich wohl ein Buch füllen. Je mehr man sich mit dem Thema befaßt, um so deutlicher wird, warum dies bis heute nicht geschehen ist […]. Die Materie ist unglaublich unübersichtlich, sie zu beschreiben, würde intensive Archivarbeiten voraussetzen – sofern das Material überhaupt noch erhalten ist.“ [2]
Stefan Lauscher hingegen datiert den Einsatz von V 36 auf der Riedbahn von Darmstadt nach Biblis auf 1951. Leider gibt er hierzu keine belastbare Quelle an [3]. Die Kursbücher sind erst ab Sommer 1951 aussagekräftig. In den Ausgaben zuvor verkehrt jeder Personenzug auf der Riedbahn zwar 3. Klasse, Angaben über Triebwagenfahrten und Gepäckbeförderung fehlen jedoch. Wir werden demnach wohl zwei Phasen zu unterscheiden haben. Von etwa 1951 bis 1955 waren V 36-gezogene Personenzüge von Darmstadt bis nach Hofheim im Ried unterwegs, wobei Fahrten nach Groß-Gerau und Worms nicht auszuschließen sind. Ab etwa 1955 wurden zwei Einheiten mit Wendezugsteuerung versehen, die dann auf jeden Fall nach Worms und im Einzelfall zum Opelwerk nach Rüsselsheim gelangt sind. Ab Sommerfahrplan 1960 sind die Wendezüge durch Triebwagenfahrten ersetzt. Folgerichtig wurden im Mai 1960 zwei der sieben vorhandenen V 36 vom Bw Darmstadt an das Bw Hanau abgegeben.
Bild 3: Wendezug mit schiebender V 36 417 in Gernsheim. Bildquelle: Merck-Archiv, Bestand Y-01/gern-3012, dort datiert 1955. Mit freundlicher Genehmigung.
Diese Lokomotive bedaß zwar eine Wendezugsteuerung, war jedoch nicht für den Einmannbetrieb ausgerüstet, denn sie besaß keine „Kanzel“. Mit viel Wohlwollen (und Schrauben an den Reglern meines Bildverarbeitungsprogramms) ist aus dem Bild eine Zeitangabe auf der Bahnhofsuhr zu entnehmen. Demnach wäre es kurz vor halb 12. Gibt es aus den 1950er Jahren eine Zugleistung Richtung Goddelau-Erfelden, die hier passen würde? Tatsächlich gibt es für den Jahresfahrplan 1952/53 einen Zug, der in Frage kommen kann, und zwar den Personenzug 4567, der stimmig als 3. Klasse-Zug ohne Gepäckbeförderung ausgewiesen ist. Er verläßt Hofheim im Ried um 11.10 Uhr und Gernsheim um 11.31 Uhr. Demnach müßte er soeben auf Gleis 2 eingelaufen sein. Ziel ist Darmstadt mit Ankunft um 12.13 Uhr. Die Aufnahme wäre dann im Sommer 1952 entstanden, wobei Anfang/Mitte Mai 1953 bis zum Fahrplanwechsel zum 16./17. Mai nicht ganz ausgeschlossen ist.
Lauscher ergänzt, daß das Bw Darmstadt im Wendezugverkehr vorzugsweise seine beiden mit einer Aussichtskanzel versehenen Diesellokomotiven eingesetzt hat, und zeigt hierzu ein auf den 9. Mai 1958 datiertes Bellingrodt-Bild eines aus Groß-Zimmern in den Darmstädter Hauptbahnhof einfahrenden Wendezuges mit drei Donnerbüchsen [4]. Der obige Umlaufplan 11124 weist jedenfalls zwei V 36 ohne Kanzel aus. Der aus derselben Fahrplanperiode stammende Umlaufplan 11120, der eine durchaus bemerkenswerte Zugleistung von Reinheim über Offenbach nach Frankfurt-Sportfeld enthält, weist zwei (?) V 36 mit Führerkanzel aus, ohne den beiden Loks an den Plantagen 2 und 3 bestimmte Aufgaben zuzuweisen.
Abbildung 4: Umlaufplan 11120 für zwei oder drei Diesellokomotiven der Baureihe V 36.4 des Bw Darmstadt ab dem 4. Oktober 1959 Vergleiche hierzu Anhang 2. Quelle: Sammlung Ronald Krug.
Anhang 1: Die Kursbuchtabellen der Riedbahn
Abbildung 5: Kursbuchstrecke 315a, Nord-Süd-Richtung, Sommerfahrplan 1959. Da mir der Winterfahrplan 1959/60 nicht vorliegt, weiche ich zur Darstellung auf den weitgehend gleichen vorangehenden Sommerfahrplan aus. Personenzug 3640 erfüllt die weiter oben besprochenen Kriterien für einen V 36-Wendezug, wurde jedoch wie gefahren (siehe unten)?
Abbildung 6: Kursbuchstrecke 315a, Süd-Nord-Richtung, Sommerfahrplan 1959. Personenzug 3635 erfüllr die weiter oben besprochenen Kriterien für einen V 36-Wendezug, wurde jedoch wie gefahren? Vermutung: Eine dritte V 36 mit einem weiteren vorhandenen Wagenmaterial.
Anhang 2: Fahrplanauszug zum Umlaufplan 11120
Abbildung 7: Kursbuchstrecken 317c uns 192a des Sommerfahrplans 1959 mit nachweislichen V 36-Wendezug-Leistungen.