Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Mit dem Triebwagen ins Ried
Gustav Wittfelds neuartiger Zug fand nicht immer ein begeistertes Publikum
1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Hauptverlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten vor allem der Streckenabschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.
1907 begann die Auslieferung neuartiger Akkumulatoren-Triebwagen des Typs „Wittfeld“. Schon bald wurden diese auf der Riedbahn eingesetzt, nicht immer zur Freude des fahrenden Publikums.
Einhundert Jahre später okkupiert die Automobilindustrie den Begriff der Elektromobilität und suggeriert eine vollkommen neuartige Innovation. Wenn die Deutsche Bahn AG sich das gefallen läßt, dann liegt das nicht zuletzt daran, daß sie vollkommen in der Hand der Lobbyisten derselben Automobilindustrie gefangen ist. Deren Manager und Betriebswissenschaftler sind wahre Meister darin, ein funktionierendes System zu destabilisieren.
Eine neue Technik zieht ein
1907 gingen die von Gustav Wittfeld mitentworfenen Akkumulatoren-Triebwagen der Baureihen ETA 177, ETA 178 und ETA 180 in Serie. Dieser preußische Triebwagentyp war derart erfolgreich, daß er bei der Bundesbahn noch in den 1960er Jahren zum Einsatz kam. In Darmstadt wurden 1912 die drei Triebwagen AT 481/482, AT 483/484 und AT 485/486 beheimatet. Ihr Fahrbereich betrug je nach Batterieausstattung zwischen 60 und 300 Kilometern. Beispielsweise besaß AT 483/484 im Jahr 1922 einen Fahrbereich von 165 Kilometern. [1]
Der Einsatz der Triebwagenzüge galt verschiedenen und zum Teil auch wiedersprüchlichen Interessen. Während die Eisenbahndirektion Mainz hierin eine Möglichkeit sah, unrentabel verkehrende dampfgetriebene Personenzüge durch ein rentableres Verkehrsmittel zu ersetzen oder gar neue Verbindungen anzubieten, die zuvor als unrentabel eingeschätzt wurden, nahmen die örtlichen Lobbyisten diese allgemein auch als „Motorwagen“ bezeichneten Züge zum Anlaß, eine Verdichtung des Fahrplans einzufordern. Manche der auf diese Triebwagen gerichteten Hoffnungen zeigten sich jedoch bald als unbegründet. Des öfteren wurden derartige Begehren mit einer Bemerkung wie der, der Transport von 15 Schülern in die nächste Kleinstadt wäre nicht gerechtfertigt, abgebügelt.
Horst Troche zeigt in seinem grundlegenden Werk über die Akkumulator-Triebwagen auf Seite 335 ein Bild des Wittfeld-Triebwagens AT 483/484, das zwischen 1926 und 1932 entstanden ist und laut Bildnachweis von Hermann Maey stammt. Es würde als Dokument hier hervorragend hineinpassen, allerdings nicht vor 2059 (Urheberrecht).
- Eine informative Abhandlung über den letzten Wittfeld-Akkumulator-Triebwagen in Polen, den AT543/544 habe ich in der Bahnfotokiste gefunden: [webseite]. Mit sehr schönen Bildern.
- Der Polnische Verein der Eisenbahnfreunde (Polskie Stowarzyszenie Miłośników Kolei) hat eine interessante Webseite zu dem einzigen noch funktionsfähigen Wittfeld-Triebwagen zusammengestellt: [webseite]
- Ralf Fuchs, Lauterbach (Vogelsberg): [film].
- Fahrt mit der Vogelsbergbahn 1926, [youtube], dort bei Minute 5:16.
Im Falle der Riedbahn war es seit der Inbetriebnahme der Nord-Süd-Verbindung von Frankfurt nach Mannheim im Jahre 1879 zu einer vollkommenen Neuausrichtung der Verkehrsbedürfnisse gekommen. Die bisherige Ost-West-Verbindung von Darmstadt nach Worms beförderte deutlich weniger Passagiere und konnte daher in zwei alternativen Konstellationen bedient werden, vorausgesetzt, die beiden Äste sollten zum Zwecke des Umsteigens miteinander verknüpft bleiben. Entweder fuhren dann auf dem Teilstück zwischen Goddelau-Erfelden und Biblis zwei Züge parallel im Abstand von etwa 10 Minuten hintereinander, wobei der eine Zug entweder im Bahnhof Goddelau-Erfelden oder in Biblis auf den anderen wartete, um das Umsteigen möglichst am selben Bahnsteig zu ermöglichen. Oder aber die beiden Äste von Worms nach Biblis und von Darmstadt nach Goddelau-Erfelden wurden als Zubringer betrachtet, weshalb es dann ausreichte, nur stark befahrene Verkehrslagen auch weiterhin mit dem genannten Parallelbetrieb zu versehen. In der Tat wurden seit 1879 beide Modelle gefahren.
Bild 1: Der Wismarer Schienenbus des Eisenbahnmuseums Kranichstein bei der Einfahrt in den Darmstädter Ostbahnhof.
Mit der Einführung der Triebwagen konnte nun insbesondere in verkehrsschwachen Zeiten der bisherige Verkehrsumfang auch rentabel aufrechterhalten werden; auch neue Züge wurden eingelegt. Dieses Angebot besaß jedoch seine Tücken, denn die Triebwagen besaßen nur ein Angebot für die dritte und vierte Wagenklasse, Gepäckbeförderung war nur sehr eingeschränkt und die schon damals verbreitete Fahrradmitnahme überhaupt nicht möglich.
Hier besaß der seit 1932 für den Betrieb auf Nebenbahnen in Dienst gestellte Wismarer Schienenbus einen echten Vorteil. Nicht nur, daß er schon mit sechs zahlenden Passagieren rentabel fuhr, er besaß auf dem Dach eine Gepäckablage und konnte durch ein Gestell neben den beiden Motoren auch Fahrräder befördern.
Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts begann nun die Eisenbahndirektion Mainz, den Verkehr zwischen Darmstadt und Worms wieder auf den „Zubringer-Modus“ umzustellen. Die nun zur Verfügung stehenden Triebwagen erleichterten das Unterfangen. Der Winterfahrplan 1911/12 sah zwischen Darmstadt und Goddelau-Erfelden nur eine Triebwagenfahrt als mittägliche Schülerbeförderung vor, in der Gegenrichtung fuhr morgens und am Nachmittag je ein Triebwagen. Zwischen Worms und Biblis werden im Fahrplan drei Triebwagenfahrten angegeben, in der Gegenrichtung jedoch nur zwei. Gebrochene Verbindungen gab es jedoch noch einige mehr.
Das „Darmstädter Tagblatt“ vermeldete am 16. Januar 1912 für den kommenden Februar die Umstellung verschiedener Dampfzüge auf Triebwagenleistungen. So sollten drei Zugpaaren nach Babenhausen und zwei nach Heppenheim gefahren werden. Der ab Mitte April von Götzenhain nach Darmstadt verkehrende Morgenzug werde als Triebwagen verkehren. Neben einem zusätzlichen Zugpaar zwischen Darmstadt und Goddelau-Erfelden wurden vier von Dampfloks gezogene Zugpaare auf Triebwagenfahrten umgestellt; hinzu kam an Werktagen ein Morgenzug von Darmstadt nach Goddelau-Erfelden. [2]
Proteste allerorten
Und so blieb der Protest nicht aus. Die Einwohner Stockstadts beispielsweise mobilisierten gleich mehrere Landtagsabgeordnete und baten um eine Interpellation. In einer von mehr als 50 Personen unterschriebenen Eingabe (Stockstadt ist ein Dorf!) an den Landtagsabgeordneten Raab aus Pfungstadt schilderten sie am 26. Februar 1912 ausführlich die für sie mißlichen Folgen durch die Einführung der neuen Triebwagen:
„Gerechten Unwillen erregt das Vorgehen der Verkehrs-Inspektion mit Einwilligung der Eisenbahndirektion Mainz, die die Strecke Darmstadt-Worms als Nebenstrecke ansieht.
Der in letzter Zeit eingerichtete Triebwagenverkehr schliesst das Mitnehmen von Fahrrädern und Gepäck ausser dem Handgepäck aus. Was das heisst, kann nur der voll und ganz ermessen, der bei schlechtem Wetter gezwungen wird, mit seinem Rad die Bahn zu benutzen. Er steht vor einem Triebwagen, der ihn in seine Heimat bringen könnte, aber er wird von dem diensttuenden Beamten zurückgewiesen mit der kurzen und bündigen Bemerkung: Im Triebwagen ist die Beförderung von Fahrrädern ausgeschlossen.“
Nach einer kurzen tabellarischen Darstellung, zu welchen Zeiten hierdurch die Beförderung eingeschränkt wird, wird darauf hingewiesen, daß es doch ein leichtes sein müsse, ein Plätzchen für das Fahrrad zu reservieren: „Viele Räder werden niemals zusammenkommen.“ Im Vorgriff auf das Argument, der Verkehr zwischen Darmstadt und Worms sei ohnehin viel geringer als der zwischen Frankfurt und Mannheim, wird listig bemerkt, daß man sich darüber nicht zu wundern brauche, wenn man die Passagiere aus Darmstadt und Worms so „rückschrittlich“ behandele:
„Kein Wunder, dass sich der Verkehr von Darmstadt und Worms nach Frankfurt und Mannheim lenkt, denn die Wartezeit für die Passagiere von Darmstadt kommend ist namentlich im Winter auf dem zugigen freistehenden Bahnhof in Goddelau geradezu gesundheitsgefährlich.“
Bild 2: Der Bahnhof Riedstadt-Goddelau um 2010.
Insbesondere dann, wenn man oder frau schon fahrplanmäßig zu einem Zwangsaufenthalt von 22 oder gar 31 Minuten auf der Station Goddelau-Erfelden gezwungen ist, von den Verspätungen gar nicht zu reden. Auch die Abfahrt des letzten Personenzuges um 2256 Uhr ab Darmstadt sei zu bemängeln. Früher hätte der letzte Zug Darmstadt erst kurz vor Mitternacht verlassen. So jedoch sei an „einen Besuch von Vorträgen und Konzerten […] nicht mehr zu denken, da das Zufrüheverlassen der Lokalitäten jedem den Genuss vergällt.“ Sobald der neue Hauptbahnhof in Darmstadt eröffnet werde, der noch weiter im Westen liegt, „wird die Kalamität noch schlimmer.“
Alsdann werden die unzureichenden Zugverbindungen mit dem Odenwald kritisiert, ehe die schlechte morgendliche Versorgung der Stockstädter Schüler (und Schülerinnen?) nach Gernsheim angesprochen wird:
„So müssen die Schüler schon um 646 Uhr morgens fahren Ankunft in Gernsheim 658 Uhr. Der Schulbeginn ist um 8 Uhr. Nach diesem Zug fahren 723 und 728 Uhr 2 Eilzüge ohne Zuschlag, die 734 und 739 Uhr in Gernsheim ankommen. Warum lässt man da nicht einen Zug [in Stockstadt] halten, der die nicht unbeträchtliche Anzahl der Realschüler mitnimmt.“
Ein bei der Eisenbahndirektion Mainz beschäftigter Regierungsrat wird beauftragt, dem hessischen Finanzministerium Bericht zu erstatten. Ganz Bürokrat kann er die Befindlichkeiten der Stockstädter Bevölkerung nicht gelten lassen. Fahrräder könnten mit den Triebwagen nicht befördert werden, weil kein Platz vorhanden sei. Der Aufenthalt auf der Station Goddelau-Erfelden sei nicht zu vermeiden. Diese Triebwagenfahrt sei ohnehin lediglich für den Schülerverkehr von Darmstadt nach Goddelau eingerichtet worden:
„Die Abfahrt von Darmstadt wird dem Schluß des Unterrichts angepaßt. Es ist deshalb nicht angängig, eine spätere Abfahrt von Darmstadt festzusetzen, um einzelnen Reisenden nach Stockstadt dem Aufenthalt in Goddelau zu ersparen. Eine Früherlegung des Personenzuges 2674 Frankfurt (Main) – Worms zur Vermeidung des Aufenthalts in Goddelau ist mit Rücksicht auf die anderweit vorliegenden Verkehrsinteressen, namentlich der Orte Walldorf und Mörfelden nicht angängig.“
Was die Konzerte „pp.“ beträfe – die seien bei Abfahrt des Zuges um 2256 Uhr beendet. Der gute Mann kann sich wohl nicht vorstellen, daß zu einer derartigen Geselligkeit nicht nur das Konzert, sondern auch der gesellige Plausch gehört – und der läßt sich nicht mit der Hektik vereinbaren, den letzten Zug unbedingt erreichen zu müssen. – Doch auch morgens sähe es nicht besser aus:
„Die Verbindungen nach Gernsheim für die Schüler lassen sich mit den vorhandenen Zügen leider nicht verbessern. Auch läßt sich die Führung besonderer Schülerzüge bei der geringen Schülerzahl nicht vertreten. Ein Halten von Eilzügen in Stockstadt ist mit Rücksicht auf die entstehenden Berufungen anderer Orte mit größerem Verkehr, wo Eilzüge nicht halten, nicht angängig.“
Der Alptraum jedes Bürokraten: nur ja kein Zugeständnis machen, auf die sich Dritte berufen könnten! Keine Präzedenzfälle!
Eine Klassenfrage
Als ein Sprachrohr dieses Protestes trat am 5. März 1912 der Abgeordnete Köhler in der 10. Sitzung der II. Kammer der hessischen Landstände auf. Er thematisierte die Problematik des vermehrten Einsatzes der Triebwagen auf der Riedbahn, insbesondere auf den Streckenabschnitten zwischen Worms und Biblis sowie Goddelau-Erfelden und Darmstadt:
Abbildung 3: Die „Darmstädter Zeitung“ informiert am 16. Januar 1912 über den Triebwagen-Lokalverkehr [online].
„Ich möchte der Großherzoglichen Regierung auch diesmal wieder sagen, daß die Eisenbahnschmerzen, die ich im vorigen Jahre hier vorgetragen habe, sich bis jetzt nicht gebessert haben, und ich möchte die Regierung ersuchen, auch weiterhin in der Richtung tätig zu sein.
Da kommt in erster Linie die Verbindung zwischen Worms und der Bergstraße in Betracht. Die Bemerkungen darüber möchte ich hier der Kürze halber nicht wiederholen. Ich möchte aber um so nachdrücklicher darauf hingewiesen haben, daß hier eine Änderung des bestehenden Zustandes dringend erforderlich ist.
Des weiteren möchte ich auch betonen die Klagen über die Verbindungen von Worms nach der Stadt Darmstadt. Da möchte ich insbesondere eins hervorheben, was meines Dafürhaltens ganz unerträglich ist und noch unerträglicher zu werden droht, wenn sich das verwirklicht, was darüber in den Zeitungen angesagt war. Diese Strecken werden zurzeit mit mehreren Zügen in drei verschiedenen Abteilungen gefahren, und zwar von hier aus bis Goddelau, von Goddelau bis Biblis und von Biblis bis Worms. Nun gehen seit einiger Zeit auf Teilen dieser Strecke sogenannte Triebwagen, die bekanntlich nur dritte Klasse enthalten und kein Gepäck befördern. Nun ist mitgeteilt worden, daß auf dieser Strecke noch acht Dampfzüge in Triebwagenzüge umgewandelt werden sollen, so daß von einer richtigen Verbindung demnächst überhaupt kaum noch die Rede sein kann. Das ist eine ganz wesentliche weitere Verschlechterung für alle die Reisenden, die auf dieser Linie fahren. Sie müssen zweimal umsteigen und müssen auch zweimal mit Triebwagen fahren.
Nun möchte ich mir dazu eine allgemeine Bemerkung gestatten. Meines Dafürhaltens ist die Verwendung von Triebwagen im Eisenbahndirektionsbezirk Mainz derartig, daß sie nicht der Bedeutung der Triebwagen entspricht. Triebwagen sollen doch nach ihrer ganzen Einrichtung den Pendelverbindungen zwischen zwei nicht allzu entfernten Orten dienen und sollen diejenigen Reisenden, die ein Interesse daran haben, rasch und glatt auf dieser Strecke befördert zu werden, auch rasch und glatt befördern. Nunmehr werden aber gerade auf der Strecke Worms–Darmstadt – und ich fürchte, auch auf anderen Strecken – die Triebwagen benutzt, um einen durchgehenden Verkehr herzustellen, so daß die Leute von hier bis Goddelau in einen Triebwagen geladen werden, dann dort umsteigen müssen auf einen gewöhnlichen Zug, um dann von Biblis ab wieder mit dem Triebwagen befördert zu werden. Dafür sind die Triebwagen ganz gewiß nicht vorhanden. Denn ein Reisender, der Gepäck hat, kann auf dem Triebwagen überhaupt nicht befördert werden, und ein Reisender, der zweiter Klasse fahren will, kann dies auf den Triebwagenstrecken nicht. Nimmt er ein Billett 2. Klasse, so bietet ihm die Bahn in den Triebwagen nur 3. Klasse, nimmt er 3. Klasse, so kann er auf der Dampfzugstrecke auch nur 3. Klasse fahren. Meines Dafürhaltens ist das unbedingt revisionsbedürftig, und die Verwendung der Triebwagen, um einen derartigen durchgehenden Verkehr herzustellen, ist nicht richtig. Es müßte seitens der Großherzoglichen Staatsregierung im Interesse des Reiseverkehrs mit allem Nachdruck dagegen eingeschritten werden [3]. Wenn es sich um Verbindungen handelt, wie z. B. zwischen Mainz und Oppenheim oder auch zwischen Worms und Oppenheim und dergl., da hat der Triebwagen gar kein Bedenken. Aber da, wo wirklich Dampfzüge sich daran anschließen, ist der Triebwagen ganz entschieden nicht am Platze.“
Derlei parlamentarische Eingaben wurden aufmerksam registriert und fanden so Eingang in die Akten des zuständigen hessischen Finanzministeriums. Regierungsrat Dr. Schneider berichtete am 6. Mai 1912 an das Ministerium, wie es sich nach Ansicht der Behörden um die Benutzung der verschiedenen Züge verhielt:
„Die Verhältnisse auf der Strecke Darmstadt – Goddelau – Biblis – Worms sind auf die früheren Eingaben und Anträge wiederholt behandelt. Der Personenverkehr ist auf dieser Strecke – die Morgens-, Mittags und Abendzüge abgerechnet – sehr gering. Reisende 2. Klasse sind soweit die Personenzüge und Triebwagenfahrten nicht Anschlüsse in Goddelau an die Eil- und Schnellzüge haben, nur selten und in ganz geringer Zahl vorhanden, sodass ein Bedürfnis zur Einrichtung der 2. Wagenklasse in den Triebwagen überhaupt nicht vorliegt.
Die Führung von Kurswagen zwischen Darmstadt und Worms zur Vermeidung des Umsteigens in Goddelau und Biblis ist leider nicht möglich, weil hierzu eine erhebliche Verlängerung des Aufenthalts in Goddelau und Biblis notwendig wäre, die Zeit für das Umstellen der Wagen aber nicht gewonnen werden kann. Der Personenverkehr zwischen Darmstadt [sic! WK] ist im allgemeinen so gering, dass der ganze Verkehr bequem mit Triebwagen bewältigt werden könnte. Auch die Besetzung der Eilzüge lässt viel zu wünschen übrig. Es soll jedoch im Laufe des Sommers nochmals eingehend geprüft werden, ob und inwieweit eine Verbesserung der Zugverbindungen möglich ist.“
So ganz erfolglos scheint die parlamentarische Intervention nicht gewesen zu sein. Am 17. September 1912 schreibt die Eisenbahndirektion Mainz an das hessische Finanzministerium, daß jetzt die Genehmigung der Aufsichtsbehörde vorläge, die Umwandlung einzelner Triebwagenfahrten zwischen Darmstadt und Goddelau-Erfelden in Personenzüge vorzunehmen. Und weiter:
„Von der Einrichtung der 2. Wagenklasse in den Triebwagen hat zunächst noch abgesehen werden müssen. Hierzu dürfte auch ein dringendes Bedürfnis z. Z. noch nicht vorliegen, weil bis jetzt Reisende 2. Klasse nur selten und auch nur in ganz geringer Zahl vorhanden gewesen sind. Wir haben aber Anordnung getroffen, daß den Reisenden 2. Klasse in den Triebwagen das kleine Abteil 3. Klasse angewiesen wird.“
Immerhin wird hiermit den Bedürfnissen der Bessergestellten abgeholfen. Das gemeine Volk hingegen wird mit dem Zungenschlag des Verwaltungsapparates im Regen stehen gelassen. Platzprobleme ganz anderer Art erforderten im März 1914 eine Verfügung, die im Amtsblatt der Eisenbahndirektion Mainz zur Kenntnisnahme der Triebwagenschaffner und Aufsichtsbeamten abgedruckt wurde:
„Im hinteren Führerstande der Triebwagen ist, wie die Anschrift daselbst besagt, Raum für 6 Stehplätze vorhanden. Durch den Aufenthalt der Reisenden in diesem Wagenteile wird das Aus- und Einsteigen der übrigen Reisenden häufig erschwert, es entstehen Unzuträglichkeiten und Mehraufenthalte. Zur Vermeidung solcher Behinderungen haben sich die Triebwagenschaffner eine günstige Verteilung der Plätze angelegen sein zu lassen, besonders wenn der Wagen innen noch nicht vollständig besetzt ist. Der hintere Führerstand ist möglichst nur mit solchen Reisenden zu besetzen, die auf der nächsten Haltestation aussteigen.“
Allein – das Ein- und Aussteigen war bei den Wittfeld-Triebwagen aufgrund des hoch liegenden Wagenkastens gar nicht so einfach; dies ähnelte eher einer Kletterpartie. Aber wir sehen, daß damals schon die Notwendigkeit eines effizienten Fahrgastflusses erkannt wurde, ohne daraus die naheliegenden Schlußfolgerungen zu ziehen. Die hier angesprochene Lösung des Problems besteht in einer effektiven Umschichtung der Fahrgäste, damit sie sich nicht zu einem Verkehrshindernis auswachsen.
Bild 4: Bahnsteighalle des Darmstädter Hauptbahnhofs, etwa 1912. Im Bildhintergrund steht ein Wittfeld-Triebwagen. Collection Lautz, Darmstadt.
Bild 5: Nicht genau zu erkennen ist, ob der Triebwagen auf Gleis 10 oder 11 steht, auch das Zielschild läßt sich nicht entziffern. Aufgrund der Kürze des Namens läßt sich als Ziel Biblis oder, wahrscheinlicher, Worms vermuten.
Ein halbes Jahrhundert im Dienst
Der Zugbetrieb mit Akkumulator-Triebwagen wurde in Darmstadt mit Ende des Sommerfahrplans am 6. Oktober 1934 eingestellt. Die Zugleistungen wurden durch Dieseltriebwagen oder Dampfloktraktion übernommen, im Einzelfall auch von den in Worms beheimateten Fahrzeugen. In Worms blieben die Wittfeld-Triebwagen noch bis 1960 im Einsatz. Anschließend wurden sie im Arbeitszugdienst noch bis 1963 solange verwendet, bis die Batterien abgefahren waren. So kam es dazu, daß in den 1950er Jahren auf der Riedbahn zwischen Worms und Darmstadt sowohl die älteren Akkumulator-Triebwagen als auch die neuen Schienenbusse parallel verkehrten.
Bild 6: Rückkehrende Kriegsgefangene im Bahnhof Griesheim, wohl Januar 1920. Links der aus unzähligen Wagen bestehende Transport, rechts ein Wittfeld-Triebwagen am Hausbahnsteig im regulären Streckendienst. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em2008.0206.