Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Walter Kuhl
Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Rangierfahrt
auf der Riedbahn.
Bahnhof Griesheim.
Bahnhof Griesheim 1919.
Formsignal im Grünbereich.
Formsignal als Erinnerung.
Dampfstrassenbahn.
Dampfstraßenbahn.
Griesheim Wagenhalle.
Wagenhalle in Griesheim.

Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau

Vor hundert Jahren begann der Bau der Eisenbahn in Griesheim …

Eine Artikelserie von Karl Knapp

1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Haupt­verlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten vor allem der Strecken­abschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.

Der Griesheimer Heimat­forscher Karl Knapp schrieb 1966 eine sechs­teilige Artikel­serie für den „Griesheimer Anzeiger“ über die zu diesem Zeitpunkt rund einhundert­jährige Geschichte der Riedbahn in Griesheim. 1966 war der von der Deutschen Bundesbahn betriebene schleichende Tod der einstigen Hauptbahn schon abzusehen. Vier Jahre später wurde der Personen­verkehr eingestellt, 1991 wurden die Gleis­anlagen zugunsten des Baus einer Umegungs­straße abgerissen.

Ein halbes Jahr­hundert nach ihrem Erscheinen ist seine Darstellung selbst schon wieder historisch, wurde sie doch in einer Zeit publiziert, in der das Automobil als Medium der dritten Revolution der Verkehrs­wege (nach Kanälen und Eisenbahnen) den stählernen Schienen­weg als Medium der zweiten zu verdrängen schien. Die Wiedergabe dieser Artikelserie erfolgt mit freundlicher Genehmi­gung des Verfassers.

Der Text wurde aus der Zeitung abfoto­grafiert und durch eine OCR-Software bearbeitet. Beim Korrektur­lesen wurde möglicher­weise nicht jede Fehl­deutung der Software erkannt. Die Bilder wurden dem hier wieder­gegebenen Text hinzu­gefügt.


„Eine höchst wichtige Eisenbahnstation“

Ein Bericht in Fortsetzungen von Karl Knapp

„Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde, unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das ihrige tun“, sagte einmal kein Geringerer als Goethe, und er brachte damit treffend die hohen Erwartungen zum Ausdruck, die jedermann im damaligen Deutschland, in welchem kleinstaat- lerische Eigenbrötelei die üppigsten Blüten trieb, mit dem Ausbau eines Eisenbahnnetzes verband.

Als Goethe diese zuversichtliche Feststellung traf, hatte sich England allerdings schon längst die segensreiche Erfindung von James Watt aus dem Jahre 1770 wirtschaftlich zunutze gemacht und beförderte seit der Eröffnung der ersten öffentlichen Eisenbahn zwischen Stockton und Darlington im Jahre 1825 und nach dem raschen Ausbau weiterer Strecken schon mehrere Jahre lang mit Dampfzügen Personen und Güter schneller und sicherer als jede Post.

In Deutschland selbst entwickelte sich ab 1835 nach Fertigstellung der kleinen Dampf- Eisenbahn-Verbindung Nürnberg – Fürth ebenfalls ein großes Eisenbahnnetz, dessen Schienenlänge 1840 bereits 500 Kilometer, 1846 ca. 3000 km und 1855 schon 8290 km zählte. Etwa ein Drittel davon waren Privatbahnen. Wesentliche Initiative zu dieser Entwicklung war von dem Nationalökonom und Politiker Friedrich List ausgegangen. Staaten und Bürger beteiligten sich mit Milliardenbeträgen am Bau der Linien und schufen so eine neue Welt der Technik aus Eisen und Kohle.

Auch an den Grenzen des damaligen Großherzogtums Hessen hielt die Entwicklung nicht an, und im Jahre 1846 konnte beispielsweise nach Überwindung mannigfacher Schwierigkeiten und nach zehnjährigen Bemühungen die heute so wichtige Mnin-Ncckar-Bahn als Nord-Süd-Verbindung entlang der Bergstraße in Be- trieb genommen werden. Und als bereits schon Strecken von Darmstadt nach Mainz und nach Aschaffenburg vorhanden waren und der wirtschaftliche Nutzen und Vorteil der Bahn in weiten Bevölkerungskreisen erkannt wurde, drängten auch die Bewohner des hessischen Rieds auf eine Beteiligung am Fortschritt, die sie in dem Bau einer Eisenbahnlinie von Darmstadt nach Mannheim über die Orte Griesheim – Crumstadt (oder Goddelau) – Gernsheim – Biblis – Lampertheim (an der Grenze Hessens) erblickten.

Plan von 1863 (Ausschnitt).
Abbildung 1: Ausschnitt aus dem Plan zur Eingabe von 1863.

In den interessierten Orten, darunter auch in Griesheim, bildeten sich „Lokal-Comités“, über welchen ein „Central-Comité“ stand. Nachdem eine gemeinsame Konzeption erarbeitet worden war, wandten sie sich im Februar 1863 mit einem Antrag an den Landesvater. Der Schriftsatz liegt gedruckt unter folgendem Titel vor: „Abdruck der von den Bewohnern des Rieds eingereichten Vorstellung wegen Erbauung der Riedeisenbahn von Mannheim über Gernsheim nach Darmstadt“ [online].

In der an den „Allerdurchlauchtigstcn Großherzog und allergnädigstcn Fürst und Herrn“ gerichteten Petition werden die besonderen Interessen der für die Bahnhofsstationen vorgeschlagenen Orte beleuchtet, und es wird darauf hingewiesen, welche Bedeutung die Bürger der badischen Stadt Mannheim seit Jahren der Durchführung eines solchen Projektes beimessen. Die Linienführung der Main-Neckarbahn über Heppenheim nach dem zwischen Heidelberg und Mannheim gelegenen Ladenburg hatte die Hoffnungen und Erwartungen der Stadt Mannhelm nicht erfüllt. Sie strebten daher nach einer direkten Verbindung nach Darmstadt.

In der dem Antrag an den Großherzog entnommenen Einzelbeschreibung heißt es über unseren Ort:

„Griesheim endlich ist durch die emsige Betriebsamkeit seiner Bewohner weithin bekannt, es bestehen dort mehrere sehr bedeutende Samenhandlungen, eine derselben gibt jährlich mehrere Tausend Gulden für Frachten aus; eine andere dortige Fabrik (eine Streichfeuer­zeugfabrik) zahlt jährl. an 1000 fl. (Gulden) Frachten. Die Zwiebeln von etwa 230 Morgen Landes werden jährlich von Griesheim aus nach anderen Orten versendet; außerdem werden von Griesheim jährlich etwa 20 000 Centner Kartoffel ausgeführt.“

Und weiter heißt es: „Nicht minder bedeutend wird die Riedeisenbahn für den localen Verkehr sein; sie bringt die Eisenstraße einer fleißigen und strebsamen Bevölkerung von etwa 30 000 Seelen, welche schon lange danach strebte, die Producte ihres Fleißes mittelst einer Eisenbahn leicht und rasch in ferne Gegenden entsenden zu können – Ganz gewiß werden Gernsheim und die beiden anderen größeren Orte Lampertheim und Griesheim mit ihrer in stetem Zunehmen begriffenen Productions­fähigkeit für den Personen- wie für den Güterverkehr höchst wichtige Eisenbahn­stationen werden. – Stockstadt und Erfelden werden einigen Ersatz für den Schaden erhalten, welchen sie durch den Rhein­durchstich seit den 1820er Jahren erlitten hatten. – Die betheiligten Gemeinden werden gerne bereit sein, ihrer Seits nahmhafte Opfer für diesen Eisenbahnbau zu bringen. – Wir erlauben uns, eine kleine Karte beizulegen, in welche die projectierte Riedeisenbahn eingezeichnet ist; selbstver­ständlich ist es nicht unsere Absicht, die in der Anlage eingezeichnete Linie als die allein richtige und maßgebende bezeichnen zu wollen. Im Gegenteil werden wir uns den Abänderungen gern fügen, welche nach stattgehabter specieller Sachuntersuchung als zweckmäßig erkannt werden sollen. Nur an dem Einen glauben wir unbedingt festhalten zu dürfen, daß diese Eisenbahn von Mannheim nach Gernsheim und von da nach Darmstadt geführt werde, in erster Linie werden nothwendiger Weise auch die beiden anderen größeren Orte Lampertheim und Griesheim fallen.“

Am Schlusse der Schrift folgen die detaillierten Anträge: „Auf Grund alles hier Vorgetragenen wagen wir das allerunterthänigste Gesuch:

Eure Königliche Hoheit wollten allergnädigst befehlen, daß eine technische Commiision zur Untersuchung des Terrains und zur Ermittlung der zweckmäßigsten Bahnlinie bestellt werde, und daß demnächst den Landständen des Großherzogthums Vorlage wegen Erbauung der Riedeisenbahn auf Staatskosten gemacht werde.“ –

Man strebte also in erster Linie einen Bau auf Staatskosten an, zumal man in der Rentabilität keinerlei Zweifel hegte. Man war aber auch gewillt, erforder­lichenfalls eine private Aktien­gesellschaft ins Leben zu rufen und schrieb daher weiter:

„Für den Fall also, daß nicht dem erstgestellten devotesten Gesuch stattgegeben werden sollte, richten wir unser allerunterthänigrtes Gesuch dahin: Eure Königliche Hoheit wollten in Gnaden geruhen, die Erlaubniß zur Aufnahme des Terrains für die projectierte Riedeisenbahn, sowie zur Bildung einer Actlengesellschaft für den Bau und den Betrieb derselben uns zu ertheilen;

wir wagen es, hieran das zweite ehrerbietigste Gesuch anzureihen: Eure Königliche Hoheit wollten allergnädigst befehlen, daß den Landständen des Großherzogthums demnächst eine Vorlage wegen der Übernahme einer Zinsgarantie für das Actien-Kapital der zu bildenden Actien­gesellschaft gemacht werde. In tiefster Ehrerbietung usw. – Gernsheim, im Februar 1863.“

Es folgen die Unterschriften der Mitglieder des „Central-Comités“ und der „Local-Comités“, auch desjenigen aus Griesheim.

Fortsetzung folgt.


Hohe Selbst­beteiligung Griesheims am Streckenbau

Ein Bericht in Fortsetzungen von Karl Knapp (Teil II)

Wir sollten uns zunächst noch einmal klar vor Augen führen, welch einen umwälzenden Fortschritt die Errichtung der Bahnlinien im 19. Jahrhundert überall, auch in Griesheim, darstellte und wie tief- und vielschichtig das neue Verkehrs- und Transportmittel alle Wirtschafts­bereiche beeinflußte.

Wir sehen es heute fast als selbst­verständlich an, daß Güter aller Art und aus aller Welt zu jeder Zeit und an jeden erreichbaren Ort unseres Lebensbereiches zu erhalten sind. Und es stellt für uns, verkehrstechnisch gesehen, kein besonderes Problem mehr dar, zu jedem Punkt Europas und der Erde zu gelangen. Moderne Beförderungsmittel auf Straße und Schiene, zu Wasser und im Luftraum bieten uns breitgestreute Möglichkeiten. Doch wie lagen die Verhältnisse noch vor hundert und mehr Jahren?

Nun, eine Reise mit der Postkutsche dürfte umständlich und beschwerlich und nur wenigen unserer Vorfahren vergönnt gewesen sein. Wer zur Arbeit, zum Markt, zu Besorgungen oder Besuchen über Land wollte, benutzte das Pferd, das Fuhrwerksgespann oder ging, oftmals noch mit beträchtlicher Last, ganz einfach zu Fuß. Und letzteres traf für den überwiegenden Bevölkerungsteil zu. Da die Entrichtung des Fahrpreises auch nach langjähriger Einführung der Eisenbahn von vielen Menschen als vermeidbare Verschwendung angesehen wurde, blieb man lieber bei Schusters Rappen und nahm eine längere und wohl auch kräftezehrendere Wegezeit gerne in Kauf. Noch in der Zeit nach der Jahrhundertwende war es durchaus nicht ungewöhnlich, Darmstadt und alle Orte der Umgebung gegebenenfalls täglich zu Fuß aufzusuchen.

Aber auch bezüglich des Gütertransportes war vieles zu bewältigen. Als 1629 beispielsweise das Bauholz für das noch heute in der Pfarrgasse stehende historische Pfarrhaus von einer Straßburger Firma gekauft worden war, gelangte es zunächst in Flößen den Rhein herunter, wurde in Stockstadt an Land gebracht und mußte schließlich in vielen Langholzfuhren nach Griesheim gefahren werden. Und ähnlich dürfte bei jedem Hausbau verfahren worden sein. Ein weiteres Beispiel für die seinerzeit notwendigen beträchtlichen Fuhrleistungen ersehen wir aus der Rechnung zum Bau des ersten Abschnitts der heutigen Schillerschule (frühere Bürgermeisterei) im Jahre 1827. Damals mußten von den hiesigen Gespannbesitzern in freiwilliger Gemeinschafts­leistung 42 000 Backsteine in Langen, in 625 Fuhren 40 Kubikklaften (ca. 250 cbm) rauhe Steine aus Darmstädter Steinbrüchen und 465 lfd. Meter Tür- und Fenstergewänder sowie 820 Sandsteinplatten in Steinbrüchen bei Lengfeld und Heubach im Odenwald geholt werden. Der Landwirt Christian Nothnagel allein besorgte 445 zweispännige Fuhren Sand vom Hegelsberg. Und dies alles mit einfachen Fuhrwerken mit vergleichsweiser geringer Ladekapazität, ohne robuste Lastwagen und andere technische Hilfsmittel, von dem Zustand der Landstraßen gar nicht zu reden.

Wen wundert es da, daß der Anschluß an das Eisenbahnnetz mit allen Kräften angestrebt und schließlich auch erreicht wurde. Die Bemühungen der Riedbewohner fanden für Griesheim ihren erfolgreichen Abschluß, als im Januar und im April 1868 ein Vertragswerk zustandekam, in welchem sich die Hessische Ludwigsbahn Gesellschaft in Mainz zum Bau und Betrieb der Eisenbahnlinie von Darmstadt nach Worms durch die Gemarkung Griesheim verpflichtete. Vorbereitende Arbeiten, wie die Gelände­aufnahmen für die Grundstücks­überschreibungen auf die Ludwigsbahn­gesellschaft, waren bereits durch Dekret vom 30. Oktober 1865 ermöglicht worden.

Hektometerstein.
Bild 2: Hektometerstein als Fundament für ein Vorsignal zwischen Wolfskehlen und Griesheim; Herkunft des Steines unbekannt.

Der grundsätzliche, die allgemeinen Fragen regelnde Vertragsteil datiert vom 15. Januar 1868 und führt als Verhandlungspartner für den Verwaltungsrat der Ludwigsbahn­gesellschaft den Kommerzienrat Probst, Oberingenieur Kramer und Sekretär Brand, alle aus Mainz, und für Griesheim den gesamten Gemeinderat, bestehend aus den Landwirten Philipp Engel 2., Johannes Schick 1., Peter Müller 6., Peter Feldmann 9., Philipp Gerhard 2., Jakob Klippel, Valentin Massing 3., Peter Frank 4. und Peter Nothnagel 11., auf. Der am Tage des Vertrags­abschlusses selbst offenbar verhinderte Großherzogliche Bürgermeister und der Großherzogliche Beigeordnete Keller erteilten unter dem 30. 1. 1868 nachträglich und schriftlich ihre Zustimmung. Der Genehmigungs­vermerk des Großherzoglichen Kreisamtes Darmstadt trägt das Datum vom 7. Februar 1868.

Der Vertrag bezeichnete nun auch den genauen Verlauf der projektierten Eisenbahnlinie. Sie sollte am rechten Rheinufer bei Worms beginnen, über Hofheim, Biblis, Groß-Rohrheim, Gernsheim, Stockstadt, Goddelau und Wolfskehlen durch die Griesheimer Gemarkung führen und von da schließlich Darmstadt erreichen. Die Eisenbahn­gesellschaft verpflichtet sich, die Strecke zu bauen und binnen zwei Jahren nach Erteilung der „Allerhöchsten Conzession“ durch den Landesvater in Betrieb zu setzen.

Eine wesentliche und korrespondierende Vereinbarung enthielten die Artikel 1 und 5 des Vertrages. Hierin wurde Griesheim nämlich auferlegt, die Eisenbahn­gesellschaft nicht nur bei dem Geländeerwerb für die umfangreichen Bahnanlagen entgegenkommend zu unterstützen und zu fördern, sondern außerdem entsprechend dem durch die Gemarkung verlaufenden Streckenanteil einen Beitrag in Höhe von 26 000 Gulden zu den Baukosten zu leisten.

Welche gewaltige Belastung dies für die Gemeinde mit sich brachte, welches Opfer man zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse auf sich zu nehmen gewillt war, ersieht man leicht aus der Tatsache daß der gesamte damalige Gemeinde­haushalt gerade ein Volumen von 29 000 Gulden umfaßte. überträgt man dies auf unsere heutigen Verhältnisse, so müßten wir den für uns beträchtlichen Anteil von rd. 6 Millionen Mark kurzfristig aufbringen.

Allerdings muß diese Vereinbarung als im Sinne einer Risikobeteiligung liegend angesehen werden, denn Artikel 5 legte fest, daß die Eisenbahn­gesellschaft den dritten Teil der Einnahmen, die im Betriebsjahr die Summe von 40 000 Gulden brutto und pro deutsche Meile der Strecke überstiegen, zur sukzessiven Rückzahlung der geleisteten Kostenbeiträge den beteiligten Gemeinden zukommen lassen sollte.

Die Beteiligungssumme von 26 000 Gulden mußte bereits bis Ende des Jahres 1868 aufgebracht werden, was aus Gemeindemitteln allein schlechthin unmöglich war. So besann man den einzig möglichen Weg und nahm bei der Sparkasse Groß-Gerau ein Darlehen in gleicher Höhe auf.

Die günstige Ertragssituation der neuen Riedbahn bewies aber bald, daß die konsequenten Besprechungen, die schließlich zu ihtem Bau geführt hatten, wirtschaftlich fundiert gewesen waren. Schon bis zum Jahr 1876, also nach sieben Betriebsjahren, konnte die Kostenbeteiligung mit 44 751 Reichsmark in neuer Währung restlos durch die Eisenbahn­gesellschaft zurückgezahlt werden. (Zur Herstellung der Reichsein­heitlichkeit hatte man 1875 die Währung von Gulden auf Reichsmark umgestellt. 100 Gulden entsprachen 171,43 Reichsmark).


Ein besonderes Problem: Der Grunderwerb

Ein Bericht in Fortsetzungen von Karl Knapp (Teil III)

Wenn heute größere öffentliche Vorhaben, bei denen Gelände in Anspruch genommen werden muß, zur Verwirklichung heranstehen, so bringen in der Regel die Verhandlungen mit den Grundstücks­besitzern nicht zu überschätzende Schwierigkeiten mit sich. Und so sehr der eine oder andere über so manche erkleckliche Preisforderung den Kopf schütteln mag: Das Bestreben der Grundstücks­besitzer, ihre „Haut so teuer wie möglich zum Markte zu tragen“, ist im Grunde genommen menschlich verständlich, wenn auch nicht angenehm für den begehrenden Teil oder objektiv gesehen gerechtfertigt. Es würde zu weit führen, wollte man sich an dieser Stelle in Einzelheiten verlieren.

Wenn dies gut und gern aus unserer flüchtigeren Zeit gemäß behauptet werden kann, so trifft es ganz besonders für die Jahre des Eisenbahnbaues in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zu. Griesheim besaß noch, wie alle anderen Gemeinden, rein ländlichen Charakter; Grund und Boden war das bedeutendste volks­wirtschaftliche Gut, und die besitzende Bevölkerung hing mit Zähigkeit und Liebe an der Scholle, die sie von den Vorvätern ererbt hatte und die ihre Lebensgrundlage darstellte.

Und so sehr der Eisenbahnbau allgemein auch erwünscht gewesen sein mochte, die Durchführung des Grunderwerbs ging – damals noch wie heute – keinesfalls ohne Unebenheiten vonstatten.

Wohl gewitzt durch einschlägige Erfahrungen hatte das Großherzogliche Ministerium des Innern in Darmstadt schon am 13. April 1869 einen Erlaß an die Kreisämter herausgegeben, der sich mit dem Verfahren bei dem Grunderwerb in den einzelnen Gemeinden befaßte. Es heißt darin einleitend:

„Um den Gemeinden, welche unter den in dem Gesetz vom 14. August 1867, die Aufbringung der Kosten für das zur Erbauung von Eisenbahnen erforderliche Gelände betreffend, bezeichneten Voraussetzungen einen Theil der für das zum Eisenbahnbau abzutretenden Gelände zu leistenden Entschädigung zu übernehmen haben, Gelegenheit zu geben, ihre Rechtszu­ständigkeiten in Bezug auf diesen Gelände-Erwerb und ihre Beitragspflicht. zu den Entschädigungen zu wahren, erscheint es als nothwendig, daß dieselben zu diesem Zwecke Bevollmächtigte ernennen.“ – Himmel, was für ein Satz!

Und später wird ausgeführt: „Sollten die Bevollmächtigten der Ansicht sein, daß der in einzelnen Gemeinden bereits verwilligte Preis für Gelände den wahren Wert übersteige, so werden sie hiervon Veranlassung nehmen, auf eine Verständigung zwischen den beitragspflichtigen Gemeinden und der Gesellschaft (Eisenbahn­gesellschaft) auf billiger Grundlage hinzuwirken.“

Bahnhof Griesheim.
Bild 3: Bahnhof Griesheim etwa 1910. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em2005.0002.

Zum besseren Verständnis dieser Vorschrift muß noch einmal auf das Gesetz vom 14.8.1867 verwiesen werden, das ein Grunderwerbs­verfahren vorsah, welches die Hossische Ludwigsbahn als Trägerin der Eisenbahn vor übervorteilungen beim Grunderwerb schützen sollte. Es war darin nämlich festgelegt, daß zunächst einmal die Gemeinden selbst das in ihren Gemarkungen benötigte Gelände erworben und dann erst auf die Gesellschaft übereignen sollten. Dabei war die Gesellschaft gehalten, nur den „wahren Wort des Geländes“ zu entrichten, während die Gemeinden die vermuteten Übervorteilungen tragen mußten. Wenn man sich nun vor Augen hält, daß alle Gemeinderäte jener Zeit Grundbesitzer waren und als größte Steuerzahler andererseits auch etwaige Mehrforderungen wieder aufbringen mußten, so kann man sich leicht vorstellen, in welche Zwickmühle mancher von ihnen geraten sein mag.

Es ist im einzelnen nicht bekannt, welche „Fälle“ es beim Grundstückserwerb in Griesheim selbst gab. Aus den Akten geht aber hervor, daß auch Griesheim zu dem Kreis der Gemeinden zählte, denen die Hessische Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft nicht die Aufwendungen in voller Höhe zu ersetzen bereit war, gewißlich weil sie „den wahren Wert des Geländes“ überstiegen.

Die Angelegenheit zog ihre Kreise, das Großherzogliche Kreisamt Darmstadt und auch das Großh. Ministerium des Innern wurden eingeschaltet, und letzteres verfügte am 20. Dezember 1873, daß sich Herr Geheimrat von Willich als Regicrungscommissär um die „Vermittelung einer gütlichen Verständigung zwischen den beitragspflichtigen Gemeinden und der Hess. Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft über eine angemessene Ermäßigung der den ersteren zur Last gesetzten Beiträge zu unterziehen“ habe.

Die Bemühungen des Regierungsbeauftragten mußten zu einem Vergleichsvorschlag geführt haben, denen auch einige Gemeinden des Kreises Groß-Gerau ohne Zögern beitraten. Die Bürgermeister der zu einem Vergleichsabschluß nicht bereiten Gemeinden versammelten sich am 15. Juni 1875 in Darmstadt und beschlossen einstimmig:

„in einer, wo möglich von allen betheiligten Gemeinden des Landes ausgehenden gemeinschaftlichen Eingabe an Großh. Staatsregierung das Ersuchen zu richten, einen Act der Gesetzgebung zu veranlassen, durch welchen die durch das Gesetz vom 14. August 1867 den Gemeinden aufgebürdete Last vom Staat übernommen werde.“

Zur Ausführung dieses Beschlusses wurde eine Kommission bestimmt, der Bürgrmeister Ohly von Darmstadt, Justizrath Dr. Kritzler, Hofgerichts-Advocat Dr. Osann, die Bürgermeister von Babenhausen, Höchst, Michelstadt, Hofheim, Nordheim sowie auch Bürgermeister Jakob Leber aus Griesheim angehörten.

Aber auch die Eisenbahn­gesellschaft war nicht tatenlos: Mit Schreiben vom 23. Juli drohte sie den dem Vergleich nicht beigetretenen Gemeinden, ihre Rechte, d. h. Übernahme der Mehrpreise durch die Gemeinden, notfalls auf dem Klageweg verwirklichen zu wollen.

Das Bestreben der dem Vergleich nicht beigetretenen Gemeinden zielte also darauf hinaus, daß der Staat die ihnen obliegenden Lasten übernehmen sollte, daß also die Allgemeinheit verpflichtet würde, ihren Anteil an den Grunderwerbskosten zu tragen.

Das Ersuchen wurde verständlicher­weise durch die Regierung abgelehnt, und Bürgermeister Ohly von Darmstadt schrieb darüber kurz an Bürgermeister Leber: „Geehrter Herr College! Unsere an Gr. Ministerium des Innern gerichtete Vorstellung ist abschlägig beschieden worden. Wir werden uns nun an die Landstände wenden müssen. Falls Sie nicht innerhalb 8 Tagen eine andere Ansicht äußern, werde ich die Vorstellung entwerfen und das Comité wieder zusammenrufen.“

Nun, nach langwierigen weiteren Verhandlungen hatte Griesheim keine weiteren Beteiligungslasten mehr zu tragen. Und am 18. August 1877 konnte schließlich der Tauschbrief zwischen der.Gemeinde Gniesheim und der Hess. Ludwigs-Eisenbahn-Gesellschaft über das für den Bahnbau erforderliche Gelände abgeschlossen werden. Das geschah also volle acht Jahre nach Inbetriebnahme der Bahnlinie. Da sind wir heute doch schneller dran. Die Grundstückd­erwerbungen zum Ausbau des Ortsverbindungs­weges nach Büttelborn konnten immerhin schon nach vier Jahren abgeschlossen werden …


Fortschritt auf allen Gebieten

Ein Bericht in Fortsetzungen von Karl Knapp (Teil IV)

Es steht außer Frage, daß ein modernes Verkehrsmittel wie die Eisenbahn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine große Anziehungskraft auf alle Wirtschaftszweige ausstrahlte und deren Gesamt­entwicklung förderte. Um einen direkten Zugang zum neuen Bahnhof vom alten Ortszentrum aus zu erhalten, und um einen langen Umweg über die Groß-Gerauer Straße oder den Frankfurter Weg zu vermeiden, erwarb die Gemeinde Griesheim 1869 die notwendigen Grundstücke zur Herstellung der Bahnhofstraße. Sie wurde dann 1872 zusammen mit der Pfützenstraße mit einer Pflasterdecke versehen. Nach Beendigung des erfolgreichen Krieges 1870/71 setzte man 1873 in feierlichem Rahmen die noch heute richtig stehende Friedenslinde an der Gabelung zwischen Groß-Gerauer Straße und Bahnhofstraße.

Mit der Inbetriebnahme der Dampf­straßenbahn nach Darmstadt durch die Süddeutsche Eisenbahn­gesellschaft im Jahre 1886 erhielt die Linie der Hessischen Ludwigsbahn­gesellschaft eine ernsthafte Konkurrenz. Ihre Rentabilität konnte dadurch jedoch nicht gefährdet werden, denn die Bewohner des Rieds als Hinterland waren nach wie vor und anders als heute auf die Riedbahn als Verkehrsmittel angewiesen.

Was jedoch viele Griesheimer Benutzer von der Riedbahn auf die Dampf­straßenbahn überwechseln ließ, war vor allem die Tatsache, daß man mit der Straßenbahn vom östlichen Ortsrand Griesheims (heutiger Gg.-Schüler-Platz) bis unmittelbar in das Zentrum Darmstadts gelangen konnte. Das war sowohl für die meinen Arbeiter als auch für die Marktbesucher überaus angenehm.

Um so verständlicher erscheint ein Schreiben der Darmstädter Stadt­verwaltung aus dem Jahre 1870, das bereits die letztere Überlegung abwägt und nach welchem die Stadt nicht ohne weiteres bereit war die Verlegung des Haupt­bahnhofes von seinem ursprünglichen Standort am heutigen Steubenplatz an die jetzige Betriebsstätte hinzunehmen. Schon damals fürchtete man um die Rentabilität der Linie, wenn deren Bahnhof für die damaligen Verhältnisse weit westlich Darmstadts gelegt würde. Und an der Rentabilität waren die anliegenden Gemeinden besonders wegen der Rückzahlung ihrer erheblichen Selbstbeteiligungs­beträge interessiert. Es heißt daher in dem Schreiben vom 17. 5. 1870 an den Griesheimer Bürgermeister:

„Von der innigsten Verbindung der dahier zusammen­laufenden Bahnen hängt deren Frequenz und Ertrag ab, wobei wegen der zu erwartenden Rückzahlungen Ihre Gemeinde ebenso interessiert ist, als wie die Stadt Darmstadt.

Diese innige Verbindung droht, wie Sie wissen, gestört zu werden durch die Weglegung des neu zu erbauenden Bahnhofs auf eine Entfernung von 6-700 Fuß von dem Bahnhof der Main-Neekar-Bahn.“

Nun. die Bemühungen um eine Beibehaltung des Bahnhofs in der Nähe des Stadtzentrums führten zu keinem Erfolg; der neue Hauptbahnhof entstand an der westlichen Peripherie Darmstadts.

Schaffnerinnen.
Bild 4: Schaffnerinnen der Dampfstraßen­bahn nach Griesheim während des 1. Weltkriegs. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, ge2010.0165.

Trotz der Verlegung des Bahnhofs büßten die Bahnlinien von ihrer umfassenden Bedeutung nichts ein. Die Nähe der Riedbahn war es beispielsweise auch, welche Planungen für die Errichtung des Darmstädter Wasserwerks im nordöstlichen Griesheimer Waldbezirk „Brunnenstück am Rabenbaum“ ins Leben rief. Man wollte seinerzeit von der Durchführung dieses Projektes im Eichwäldchen absehen und den Wald an der Kreuzung der alten Mainzer Landstraße mit der Riedbahn als Standort vorsehen, weil dort die leichte Herbeischaffung der Betriebskohle gewährleistet war. Die Bohrungen jedoch – die Brunnenanlagcn sind heute noch vorhanden – brachten nicht den gewünschten Erfolg, so daß man wegen der günstigeren Wasser­verhältnisse dann doch beim Eichwäldchen verblieb.

Eine weitere nicht zu unterschätzende Rolle spielte die Riedbahn aber beim Transport der in Griesheim erzeugten Marktgüter zu den umliegenden Großstädten. Nachdem es 1890 zur Bildung des Frankfurter Marktvereins gekommen war, konnten schon bald wöchentlich 500-600 Zentner gärtnerische Erzeugnisse im wesentlichen mit der Bahn nach Frankfurt befördert werden. Und 1928 lieferte immerhin die stattliche Zahl von 200 Erzeugern jährlich die beachtliche Menge von ca. 160 000 Zentner Gemüse dorthin, wofür die Reichsbahn rund 1000 Waggons bereitstellen mußte. Für die Marktfrauen selbst wurde täglich ein zwischen Griesheim und Frankfurt verkehrender Triebwagen eigens eingesetzt. Man sieht: Der Griesheimer Bahnhof war keineswegs immer so verlassen wie heute.

Für eine rasche und pünktliche Beförderung der Arbeiter in die Betriebsorte war die Eisenbahn unerläßlich. Dabei muß beachtet werden, daß es damals insgesamt vier Wagenklassen gab und daß die Arbeiter auch in der niedrigsten, der vierten Wagenklasse nur die Hälfte des normalen Preises bezahlen mußten. Insofern war es eine soziale Vergünstigung, die ihnen gewährt wurde. Allerdings durften sie dafür auch keine besonderen Bedingungen stellen, wie aus einer Anordnung der Königlich-Preußischen und Großherzoglich-Hessischen Eisenbahndirektion in Mainz vom 7. 9. 1898 zu entnehmen ist. Darin heißt es unter anderem: „Die Arbeiter­beförderung geschieht wie bisher in derjenigen Wagenklasse, für die von dem sonstigen Publikum das niedrigste Fahrgeld erhoben wird, vom 1. Oktober d. J. mithin in der IV. Wagenklasse. Die Arbeiter zahlen hierbei nur die Hälfte des Fahrpreises der übrigen Reisenden dieser Wagenklasse. Es ist daher selbstverständlich ausgeschlossen, sie in günstigerer Weise zu befördern als diese. Die Wagen IV. Klasse enthalten nur zum Theil Sitzplatze, im übrigen Stehplätze. Ein Anspruch auf einen Sitzplatz steht keinem Reisenden dieser Wagenklasse zu.“

Die Riedbahn war zunächst nur eingleisig ausgebaut worden. Die betriebliche Entwicklung ließ diesen Zustand aber bald mangelhaft erscheinen, so daß man um 1900 bereits mit dem Bau eines zweiten Gleises begann, das am 1. Mai 1901 in Betrieb genommen werden konnte. Hierzu sandte das Großherzogliche Kreisamt am 19. 4. 1901 eine Verfügung folgenden Inhalts an die Griesheimer Bürgermeisterei:

„Nach Mitteilung des Großherzoglichen Ministeriums der Finanzen vom 13. d. Mts. sind die Bauarbeiten zur Herstellung des zweiten Gleises der Bahnstrecke soweit gefördert, daß es am 1. Mai d. Js. in Betrieb genommen werden soll. Zur vorherigen landespolizeilichen Abnahme wurde vom Großh. Ministerium der Finanzen eine Fahrt auf Donnerstag, 25. d. Mts. vormittags festgesetzt. Zu diesem Zwecke wird das Gleis in seiner ganzen Ausdehnung mittelst Sonderzuges befahren werden, der kurz nach 9 Uhr vormittags vom Bahnhof in Darmstadt abfahren und an allen Stellen anhalten wird, wo Einwendungen und Anträge vorgebracht werden sollen oder sonst zu verhandeln ist. Sie wollen daher in Ihrer Gemeinde baldigst die öffentliche Aufforderung erlassen, daß etwaige Ansprüche wegen Verlegung und änderung öffenlicher Wege, Ab- und Zufahrten auf Grundstücke, Einfriedigungen, Wasserläufe und Wasserverhältnisse usw., soweit sie mit dem Bau des zweiten Gleises zusammenhängen, bei dem Termin zu erheben sind. Zu diesem Behufe soll sich der Reklamant zweckmäßig an Ort und Stelle aufstellen und dem Lokomotivführer des sich nähernden Sonderzuges rechtzeitig ein Zeichen zum Halten geben.

Zu dieser Tagfahrt werden im Auftrage des Großh. Ministeriums der Finanzen die Vorstände der beteiligten Gemeinden eingeladen; diese können von ihrer Gemarkungsgrenze oder auch von der vorliegenden Station ab den Sonderzug benutzen.[“]


Erweiterung und Ausbau der Bahnanlagen

Ein Bericht in Fortsetzungen von Karl Knapp (Teil V)

Mit der Inbetriebnahme des zweiten Gleises der Riedbahn im Mai 1901 war den Ansprüchen aber keineswegs Genüge getan. Immerhin war Griesheim auch Verlade­bahnhof für die zahlreichen Truppenteile, vorwiegend Artillerie, die aus ganz Deutschland den „Griesheimer Sand“, den Artillerie-Schießplatz, aufsuchten, um dort ihre Gefechtsübungen abzuhalten.

Nach der Herstellung des zweiten Gleises war zunächst ein ordentliches Bahnhofsgebäude vonnöten, mit dessen Bau im Frühjahr 1902 begonnen werden sollte. Offensichtlich entsprachen die planerischen Ideen der Eisenbahn­gesellschaft nicht ganz den Vorstellungen der selbstbewußten Griesheimer, denn der Bürgermeister sah sich, wohl auf entsprechenden Beschluß des Gemeinderates, im Herbst 1901 veranlaßt, folgendes Schreiben an die „Königlich-Preußische und Großherzoglich Hessische Eisenbahn Direktion Mainz“ ergehen zu lassen:

Stationsgebäude.
Bild 5: Stationsgebäude 1903 oder kurz darauf. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em2007.0615.

„Wie wir in Erfahrung gebracht haben, ist für nächstes Frühjahr auf der hiesigen Station die Errichtung eines Stationsgebäudes geplant, und soll dasselbe, wie verlautet, nur einstöckig gebaut werden. Daß dies für einen Ort, wo ein derartiger Verkehr, wie hierorts, insbesondere noch durch das auf dem Übungsplatz lagernde Militär besteht, und der nahezu 6000 Einwohner zählt, gegenüber anderen kleineren Gemeinden eine Herabsetzung bedeutet, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. Da die hiesige Gemeinde bei dem Bahnbau bzw. Geländeerwerb verehrlicher Direktion stets Entgegenkommen gezeigt hat, glauben wir mft Sicherheit annehmen zu dürfen, daß uns hohe Direktion ein Entgegenkommen in gleicher Weise angedeihen läßt.
Der Großherzogl. Bürgermeister …

Die von soviel Lokalpatriotismus getragenen Einwendungen der Griesheimer hatten wohl ihren Eindruck auf die Eisenbahn­direktion in Mainz nicht verfehlt, und schließlich erhielt unser Ort dann das attraktive Bahnhofsgebäude, das uns bis zu seiner Zerstörung im Jahre 1944 vertraut war. Nun, seit dem Jahre 1901 hat sich einiges geändert, und zuletzt hat sich die Eisenbahn­direktion doch noch als die stärkere behauptet. Griesheim besitzt wiederum ein neues Bahnhofsgebäude, aber dieses Mal einstöckig …

Nun soll man nicht meinen, daß alles bezüglich der Eisenbahn mit eitel Freude gekennzeichnet gewesen wäre. Es gab auch unangenehme Vorkommnisse, und beispielsweise erreichte auch Griesheim über das Kreisamt in Darmstadt eine Verfügung des Großherzoglichen Ministeriums des Innern vom 10. September 1904, die sich mit dem „Werfen nach fahrenden Personenzügen[“] befaßte. Es heißt da:

„In letzterer Zeit ist wiederum häufiger auf Eisenbahnstrecken nach fahrenden Personenzügen geworfen worden. Abgesehen von der Beschädigung des Materials sind wiederholt Reisende sowie das Fahrpersonal verletzt worden. Wir beauftragen Sie, die Polizeiorgane anzuweisen, auf die nach Lage der örtlichen Verhältnisse besonders geeigneten Stellen der Bahnstrecken in Ortschaften und Städten, namentlich auf Wegeüber­gänge und Überführungen, gen, ihr Augenmerk zu richten und zu ihrer Kenntnis gelangte Fälle zur Anzeige zu bringen. Hierbei bemerken wir, daß die Königliche Eisenbahn­direktion zu Frankfurt zur Gewährung entsprechender Belohnungen für die erfolgreiche Ermittelung der Täter gern bereit ist. Da namentlich Schulkinder geneigt sein sollen, nach fahrenden Zügen zu werfen, so wären auch die Schulvorstände entsprechend zu verständigen.“

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Die Entwicklung schritt aber rasch voran. Nachdem das zweite Gleis erst wenige Jahre in Betrieb genommen und das Bahnhofsgebäude errichtet worden war, begann man schon 1905 wieder mit Vermessungs­arbeiten für die Erweiterung der Bahnanlagen, die bis zum Jahre 1913 dann das Ausmaß erhielten, wie es im wesentlichen noch heute vorhanden ist. Dabei wurden auf Drängen der Gemeinde an den wichtigen Bahnübergängen Pfützenstraße und Frankfurter Weg auch Gasbeleuchtungs­körper aufgestellt. Als man im Herbst 1913 dazu überging, auch die übrigen Bahnhofsanlagen nachts zu beleuchten, entschied man sich für die moderne elektrische Anlage.

In den Jahren 1912 und 1913 bemühten sich auch Gaswerks­verwaltung und Gemeinde, die Herstellung eines Gleisanschlusses für das Gaswerk auf dem heutigen Gelände der Firma Fahrzeugbau Nothnagel zu erwirken. Die Verhandlungen scheiterten jedoch. Die beträchtlichen Aufwendungen für Herstellung und spätere Bedienung des Privat­anschlusses ließen Gaswerks­gesellschaft und Gemeinde bald Abstand von dem Projekt nehmen.

Bis Ende 1913 zeigte der Bahnhof Griesheim folgende Einrichtungen: Bahnhofsgebäude, Arbeiterraum, Eilguthalle, Güterschuppen mit Laderampe, zwei Magazinen, einem Petroleumkeller, einer Werkstätte, zwei Stellwerke an der Pfützenstraße und am Frankfurter Weg, einer Militär­laderampe an der Nordseite, Gleisanlagen in nahezu dem heutigen Umfang.

Und dann begann der 1. Weltkrieg. Selbstver­ständlich mußte zur Mobilmachung und zum weiteren Truppentransport jeglicher Verkehrsraum der Eisenbahn bereitgestellt werden, so daß andere Bereiche Einschränkungen hinnehmen mußten. Dies galt insbesondere auch für den Transport des Griesheimer Gemüses in die umliegenden Städte. Verständlich sind daher die Beweggründe für das Schreiben, das die Gemeinde Griesheim am 20. August 1914 an die Eisenbahn­direktion Mainz richtete:

„Infolge der Mobilmachung ist die Beförderung der hiesigen Marktgüter nach Frankfurt und Offenbach durch die Bahn vorläufig eingestellt worden.

Diese Maßnahme hat für die hiesige Landwirtschaft treibende Bevölkerung höchst nachteilige Wirkungen zum Gefolge. Durch die stattgefundene Aushebung der Pferde sind der Landwirtschaft fast sämtliche leistungsfähige Pferde entzogen worden, wodurch die Möglichkeit des Marktguttransports per Achse in sehr hohem Maße eingeschränkt ist.

In einzelnen Fällen, in denen Landwirten noch Pferde zur Verfügung stehen, ist der Transport mittels Fuhrwerks deshalb nicht möglich, da die jüngeren Kräfte, die den Transport bewirken könnten, zum Kriegsdienst einberufen sind.

Wenn nun nicht alsbald Gelegenheit zur Bahnbeförderung geboten werden könnte, so würde ein guter Teil der hier produzierten Gemüse dem Verderb ausgesetzt, während sich in den in Betracht kommenden Städten ein Mangel an Gemüse fühlbar machen wurd. Durch den Umstand, daß vielen hiesigen Einwohnern die Möglichkeit zur Verbringung ihrer Produkte auf den Markt genommen ist und infolgedessen die Absatzmöglichkeit, würden dieselben auch bei weiterer Entbehrung der Transport­gelegenheit zur Erfüllung ihrer finanziellen Verpflichtungen außer Stande sein.

Zum Zwecke der Abwendung einer allgemeinen Krisis erlauben wir uns deshalb bei verehrlicher Direktion dahin vorstellig zu werden:

Verehrliche Direktion wolle, wenn es der Truppentransport einigermaßen zuläßt, zur Beförderung der Marktguter nach Frankfurt und Offenbach die erforderlichen Wagen zur Verfügung stellen.“

Fortsetzung folgt


Und wohin rollt die Bahn?

Ein Bericht in Fortsetzungen von Karl Knapp (Teil VI und Schluß)

Bis lange nach Ende des zweiten Weltkrieges war die Bedeutung der Eisenbahn als wichtigstes Transportmittel für alle Güter unbestritten. Daran änderte sich zunächst auch wenig, als nach dem ersten Weltkrieg am 14. Dezember 1918 ein Regiment französischer Infanterie und ein Regiment Kavallerie im Bahnhof ausgeladen wurden und Griesheim als vorgeschobensten Punkt des Brückenkopfes Mainz besetzten. Ganz im Gegenteil. Die jetzt eintretenden mannigfachen Erschwernisse im hergebrachten regen Verkehr mit Darmstadt führten vom 1. 4. 1922 bis Oktober 1926 zu einer Einstellung der Dampfstraßenbahn (der heut. Heag-Linie 9), was wohl zu einem erhöhten Zuspruch für die Eisenbahn geführt haben mag. Dabei ist sie gewiß aber auch zur Schieberei, was in dieser Zeit keineswegs als unehrenhaft galt, benutzt worden. Auch Beamte des Griesheimer Bahnhofs waren an diesen Geschäften beteiligt, wurden aber gefaßt und mußten Haus und Hof verlassen.

Der zweite Weltkrieg führte in seinem Verlauf zu schweren Schäden an den Bahnanlagen. In ihren größten Ausmaßen entstanden sie bei den Großangriffen in der Nacht zum 26. August 1944 und am Heiligabend 1944. Aber auch die durch die in der letzten Kriegsphase fast täglichen Jagdflieger­angriffe verursachten Schäden an Anlage und fahrendem Material dürfen nicht unterschätzt werden. Und schon garnicht darf man die Bahnbediensteten und Fahrgäste vergessen, die bei diesen Angriffen ums Leben kamen oder verwundet wurden. Angesichts dieser Tatsachen muteten die auf den passierenden Zügen angebrachten Durchhalte­parolen wie „Räder müssen rollen für den Sieg“ wie Hohn an. Und auch gelegentlich auf dem Bahngelände stationierte Flakzüge konnten keinen Schutz bieten oder gar eine Wende herbeiführen.

Nach dem Einmarsch der Amerikaner ergriff die ausgehungerte und ausgeblutete Bevölkerung von allem Besitz, was ohne unmittelbare Aufsicht war. Und wo gab es die damals schon? Auch auf dem Bahngelände stehende Waggons wurden durchstöbert. Und findige Köpfe hatten rasch entdeckt, daß unmittelbar östlich vom Bahnübergang an der alten Mainzer Landstraße ein von Tieffliegern zum Halten gezwungener Güterzug allerlei nützliche Sachen enthielt. Neben kistenweise vorhandenem Alkohol und Benzin in Tankwagen waren es vor allem Textilien, Schuhe und Zwirn, die das rege Interesse der Bevölkerung fanden. Während der kurzen Ausgehzeit, aber auch in gefährlichen nächtlichen Alleingängen, waren die Waggons das Ziel emsiger Leute aus Griesheim, die sie im Handumdrehen, mit großem Sinn für das Praktische und wenig Rücksichtnahme aufeinander, eilends entleerten und die kostbaren Güter auf den Schultern, auf Handwagen und sogar Pferde­fuhrwerken nach Hause in Sicherheit brachten. Diese überall gefragten Waren bildeten in der Folgezeit den Grundstock für unzählige Tauschgeschäfte, mit denen die Griesheimer wiederum ihre Ernährungslage verbessern konnten. Und bald trugen Frauen und Mädchen in der näheren Umgebung die typischen, buntgefleckten „Ziggelcheskleider“, während sich die Männer durch militärisch zugeschnittene, gelbgrüne Jacken und Reithosen auszeichneten.

Jene Aktion hatte also einen guten Erfolg gezeigt. Dies konnte man aber nicht von einem anderen Unternehmen behaupten, bei welchem die Griesheimer an einem lauen Abend einen auf dem Bahngelände vorübergehend abgestellten Zug mit Tankwagen der Amerikaner restlos leerten. Wohlverstanden: Die Tankwagen waren an und für sich praktisch geleert, enthielten aber auf dem Boden ihrer dicken Bäuche noch viele Liter kostbaren Benzins, das eilends abgelassen oder herausgeschöpft und mit Eimern, Gießkannen und Waschbutten nach Hause gebracht wurde. Es versteht sich von selbst, daß dies nicht das Wohlgefallen der siegesbewußten Amerikaner erregte. Sie veranstalteten unversehens eine Razzia und erwischten viele der Sünder, die sich anschließend im Kerker von den Anstrengungen ihres Beutezuges erholen konnten.

Stationsgebäude.
Bild 6: Stationsgebäude in den 1960er Jahren. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em2008.0077.

Wie bereits erwähnt, stand die Bedeutung der Eisenbahn bis lange nach Kriegsende außer Frage. Die Reisenden jener Zeit werden sich noch lebhaft an die chronisch überfüllten Zuge erinnern können, und das Holzvergaserauto stand gegen die mächtige Dampfkraft auf verlorenem Posten. Aber die Entwicklung schritt voran: Die Ausbesserung der Kriegsschäden an Anlagen und Material, die hohen Versorgungslasten und die notwendige Modernisierung verschlangen Unsummen. Die steigende Motorisierung brachte eine Verlagerung von Schiene auf Achse sowohl beim Personen- als auch beim Güterverkehr. Die Rentabilität der Eisenbahn sank zunehmend. Und heute? Der zerstörte Bahnhof wurde 1963 durch ein modernes eingeschossiges Zweckgebäude ersetzt, aber die gesamten Bahnanlagen lassen den früher alltäglichen regen Betrieb vermissen. Von der Pfützenstraße ab wurde das zweite Gleis in Richtung Wolfskehlen herausgerissen. Nach hundertjährigem Bestehen in Griesheim scheint die Eisenbahn im Wettlauf mit der Straße zu erliegen. Nach hundertjährigem Betrieb in Griesheim scheint sie – wichtige Strecken sind natürlich ausgenommen – überaltert und nicht mehr verlangt. Und heute sei die Frage danach erlaubt, was sie uns gebracht hat: Fortschritt und Geschwindigkeit – und Zeitgewinn zu noch rastloserem Tun.

Angesichts der aktuellen Tagespolitik sei aber die ketzerische Frage gestellt, ob man es sich, auf lange Sicht gesehen, weiterhin leisten kann, ein vollaufgebautes und funktionsfähiges Eisenbahnnetz, in das im Verlaufe der Entwicklung ein ungeheurer Teil des Volksvermögens investiert worden ist, brach und ungenutzt als totes Kapital liegen zu lassen, ein Eisenbahnnetz, das in jedem Falle einen billigen und sicheren (man bedenke: rund 15 000 Verkehrstote jährlich auf den Straßen) Transport garantieren kann, wenn es auch nicht unumschränkt der heute geforderten Bequemlichkeit entspricht. Man sollte eine Lanze für die Eisenbahn brechen. Sie wird augen­scheinlich vernachläßigt zugunsten eines hektischen Massen­individualismus, Auto genannt, dem man gerade auch in unserer weiteren Heimat manches zu opfern bereit ist. Warnungen von Fachleuten und Wissenschaftlern werden geflissentlich überhört und Wälder zum Autobahn- und Straßenbau abgeholt. Irreparable Schäden an der Natur nimmt man in Kauf. Wenn alle planerischen Vorstellungen der Straßenbauer verwirklicht werden, findet sich Griesheim in einigen Jahren in einer wenig schönen Schlinge von Autobahnen und Umgehungs­straßen, die seine Ausdehnungs­fähigkeit erheblich beeinträchtigen können. Das sollen nur kurze Andeutungen sein. Und alles dies zugunsten eines Verkehrsmittels, das alle Merkmale eines luxuriösen Modeartikels trägt und überaus krisenanfällig ist. Die jüngste Entwicklung in Fragen Benzinpreise, Kilometer­pauschale, Kraftfahr­zeugsteuer usw. beweist dies recht augenfällig.

Nun soll die derzeit volks­wirtschaftliche Bedeutung der Automobil­industrie und der Zulieferer- und verwandten Zweige keineswegs unterschätzt werden. Aber so wie die Eisenbahn als Transportmittel an Wert eingebüßt zu haben scheint, so kann es in gleicher Weise einmal mit dem Auto geschehen, so daß Autostraßen in gleicher Weise wie heute Eisenbahn­strecken überflüssig werden können. Wer will sie wohl dann wieder in fruchtbare Felder verwandeln? Man mag vielleicht über solche Gedanken lächeln, aber wer will in die Zukunft sehen? Nicht einmal Jules Vernes oder Hans Dominik hätten geglaubt, daß ihre utopischen Vorstellungen so bald Wirklichkeit werden könnten. Dabei ist es heute keineswegs utopisch anzunehmen, daß beispielsweise die Eisenbahn mittels der Atomenergie einen gewaltigen Vorteil gegenüber dem Kraftfahrzeug erringen könnte. Oder daß nach weiteren fünfzig Jahren Entwicklung der Luftverkehr dem Kraftfahrzeug den Rang ablaufen kann. Vor hundert Jahren sah man im Bau der Eisenbahn­strecken das wirtschaftliche Allheilmittel – heute werden Autobahnen als unerläßlich erachtet. Heute legt man Eisenbahn­strecken still – was wird in hundert Jahren mit den Autobahnen geschehen? Vielleicht werden sich dann unsere Enkel und Urenkel mit den unliebsamen Folgen eines motorisierten Massenwahns plagen müssen. Wer vor hundert Jahren der Eisenbahn düstere Prognosen gestellt hätte, wäre bestimmt verschrien worden. Den, der heute gleiches für den Autoverkehr tut, mag es vielleicht nicht besser ergehen.