Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Walter Kuhl
Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Rangierfahrt
auf der Riedbahn.
Zeilhard.
Zeilhard.
Rheinbrücke bei Worms.
Rheinbrücke
bei Worms.
Baustelle Pfungstadtbahn.
Wiederaufbau der
Pfungstadtbahn.
Gitterbrücke.
Gitterbrücke im
Norden Darmstadts.

Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau

Zwischen Kriegern, Küche, Kirche und Kraut

Ein Buch von David Jackson

1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Haupt­verlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten vor allem der Strecken­abschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.

Wir groß die Begeisterung in Griesheim wirklich gewesen ist, wird sich nur schwer feststellen lassen. Der Mobilisierung für den Ersten Weltkrieg ging eine antiserbische Propaganda voraus, die sich nicht hinter der Kriegshetze gegen Jugoslawien Anfang 1999 verstecken muß. Die Fischers und Scharpings trugen damals andere Namen, die Methode blieb gleich. Einen fesselnden Einblick auf die Heimatfront bietet David Jackson in seinem Buch über einen Briefwechsel zwischen Mutter und Sohn. Er, der Krieger, pflegt Pferde nahe der Front und hofft, dem Einsatz an der Front zu entgehen. Sie, die Krautmanagerin, bangt um ihren Sohn und hofft auf einen Orden. Und intrigiert.


Griesheim ist 1914 ein Dorf am Rande der Darmstädter Peripherie. Seit 1869 ist es über die Eisenbahn und, was der Anbindung viel mehr gebracht hat, seit 1886 über eine Dampf­straßenbahn an die Darmstädter Innenstadt angeschlossen. Knapp siebentausend Menschen sind auf die eine oder andere Weise von dieser Verbindung abhängig. Denn das Dorf gehört seit der Industrialisierung Darmstadts in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Lieferanten von Arbeitskräften und Nahrungsmitteln. Die Dampfstraßenbahn transportiert die Waren in eigenen Marktwagen auf den Darmstädter Markt, wenn sie nicht per Pferd und Fuhrwerk hingebracht werden. Diese Mischung aus Bauern- und Arbeitermilieu wird seit den 1880er Jahren ergänzt durch den Wirtschaftsbetrieb eines Truppen­übungsplatzes, auf dem jährlich Zigtausende Rekruten aus weiten Teilen Deutschlands geschliffen und Veteranen in ihrer Todesverachtrung vor dem Feind nachgeschult werden. Jede Menge Gaststätten, Cafés und Hotels tragen zu einem gewiessen Wohlstand bei, selbstredend nur bei denen, die davon profitieren können. Das zugehörige, von den Militärs eingerichtete Bordell wird sicherlich so manchen Besucher aus dem Dorf gehabt haben. Griesheim ist demnach auf Krieg eingestellt, ohne jedoch kriegslüstern zu sein. Und doch greifen die Klauen des großen Krieges massiv in das Leben der Bäuerinnen und Arbeiter ein. Die Todesanzeigen im Griesheimer Anzeiger verraten ein wenig vom Blutzoll, den der Übungsplatz vorbereitet hat.

Ansichtskarte.

Bild 1: Reservisten fahren zu ihren Regimentern, mit einem kurzen Aufenthalt in Darmstadt. Aufnahme: Wilhelm Gerling, Anfang August 1914, Kriegskarte Nr. 5. [1]

Die Frage, wie groß die Kriegsbegeisterung im Dorf gewesen sein mag, wird nachträglich schwer zu entscheiden sein. Vielleicht war es einfach nur eine Klassenfrage. In Darmstadt versammeln sich Honoratioren und Studenten auf dem Marktplatz und jubeln der ausrückenden Kavallerie zu, die einen, weil sie, da zu alt, davon ausgehen, nicht mehr eingezogen zu werden, die anderen, weil sie gleich ihren Vätern von einem leichten Sieg und viel Ruhm gegen den Erzfeind auf den französischen Schlachtfeldern träumen. Die Parolen auf den Darmstadt durchfahrenden Zügen können der Propagandaabteilung des Heeres genau so entsprungen sein wie der spontanen Kriegsbegeisterung junger Männer, die den dumpfen Kadavergehorsam des Kaiserreichs abschütteln wollten. Die Arbeiter hingegen und ihre Familien wissen nur zu genau, wer das Kanonenfutter sein wird, obwohl sie noch keine Ahnung davon haben können, was der moderne unheroische Krieg für Schrecknisse für sie bereit hält. Dort, wo diese Arbeiterinnen und Arbeiter in der großen sozialdemokratischen Partei organisiert sind, sind sie jahrzehntelang geschult worden, und sie wissen aus eigener Erfahrung, wer ihr Feind ist. Der wartet weder in Serbien noch in Frankreich auf sie, um ihnen die Gurgel abzuschneiden, obwohl dann doch genau dies geschehen wird. Auf den Feind stießen sie besonders heftig in der Zeit der Sozialistengesetze, aber auch danach wird jede sozialdemokratische Tätigkeit von der Obrigkeit streng überwacht. Und auch wenn sich Arbeitszeiten, Arbeitslöhne und Arbeitsbedingungen im Vergleich zu denen der frühen Industrialisierung gebessert haben mögen, der tiefe Groll gegen die Schikanen der Meister im Betrieb und der Schleifer beim Militär ist allgegenwärtig und wird häufig genug im Suff ertränkt. Nach Massen­kundgebungen vor allem in Deutschland und Frankreich, auf denen große Reden gegen den Krieg und für Brüderlichkeit und Frieden geschwungen werden, knickt die deutsche Sozialdemokratie ein und schließt einen Pakt mit dem Teufel, den sogenannten Burgfrieden.

Es wäre zu leicht, von Verrat zu sprechen. Im Grunde ist die Führung der deutschen Sozialdemokratie inzwischen derart verbürgerlicht, daß sie nur allzu gerne der antirussischen und antiserbischen Propaganda folgt. Ein Aufbegehren, wie es noch beim Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zu spüren war, bei dem sozialdemokratische Abgeordnete der beiden konkurrierenden Organisationen sich entweder den Kriegskrediten verweigerten oder gar offen gegen sie stimmten und agitierten, was der Sozialdemokratie den Ruf einbrachte, vaterlandslose Gesellen zu sein, ist kaum zu spüren. Man möchte lieber dabei sein als abseits und geächtet; zu groß ist der Wunsch, endlich mitgestalten zu dürfen, auch wenn es zunächst nur das Abschlachten des imaginierten Feindes ist. Selbst die sozialdemokratische Linke, deren herausragende Persönlichkeiten Rosa Luxemburg, Klara Zetkin, Karl Liebknecht und Franz Mehring waren, ist durch die umschlagende Stimmung wie gelähmt. Sie benötigt einige Monate, um sich neu zu sammeln und gegen den Krieg zu agitieren [2]. Von all dem ist in Griesheim wenig zu spüren, denn Berlin ist fern und die radikale Linke zumindest im bäuerlichen Milieu und bei denen, die wirtschaftlich vom Truppen­übungsplatz profitieren, verhaßt.

Wie in Darmstadt, so versammeln sich auch in Griesheim Männer und Frauen, um „das folgenschwere Ereignis“ zu besprechen. Von Hurra-Parolen ist hier nicht die Rede, sondern von einem würdevollen Ernst, der sich in der Kirche fortsetzt, als Pfarrer Gerhard, der in den Folgejahren zur Sinngebung eines immer sinnloser erscheinenden Krieges beiträgt, die Wehrpflichtigen verabschiedet. Maria Müller, die in Rohrheim im Ried [3] geboren wurde, und ihr Sohn Wilhelm, der nun ins Feld zu ziehen hat, werden bei der Andacht dabeigewesen sein. Die beiden sind die Hauptpersonen eines bemerkenswert tiefsinnigen Buches, das der walisische Germanist David Jackson aus einem erhaltenen Briefwechsel zwischen Mutter und Sohn rekonstruiert hat. Daß Briefe aus dem Ersten Weltkrieg erhalten geblieben sind, ist so ungewöhnlich nicht, und doch liegt hier etwas ganz Eigenes vor, nämlich der fast vollständig erhaltene Briefwechsel über vier lange Jahre hinweg. Ein Soldat an der Front hat in der Regel Besseres zu tun, als die Briefe von Daheim aufzuheben und im ohnehin eng bemessenen Marschgepäck mit sich herumzuschleppen. Der findige Sohn hingegen trachtete danach, seine eigene Heldengeschichte in die einer siegreichen Armee einzuflechten und darüber eine Art Tagebuch zu schreiben, und so schickte er ab und an die erhaltene Post zur späteren Verwendung wieder nach Griesheim zurück. Doch zum Heldentum kam er nicht, und seine Anflüge von Lyrik verschwieg er der darob verständnislosen Mutter lieber.

Frontcover Jackson.
Abbildung 2: Ansicht des Buchs von David Jackson.

Zunächst sah es so aus, als könne der französische Feind ähnlich leicht wie im glorreichen Krieg vier Jahrzehnte zuvor recht bald besiegt werden. Der hierzu erdachte Schlieffenplan sah einen schnellen Durchstoß durch Belgien ins Herz von Frankreich vor; nach dem dadurch erhofften schnellen Sieg wollte man die Truppen nach Osten werfen. Doch es kam anders als von den Militärs ordentlich geplant und erdacht. Belgische Truppen leisteten heftigeren Widerstand, als ihnen zugestanden ward, und der Zar konnte seine Truppen schneller mobilisieren, als dies die deutschen Strategen für möglich hielten. Einige Tage lang sah es so aus, als könnten deutsche Truppen in Nordfrankreich die französischen und mit ihnen verbündeten britischen Verbände umgehen und nach Paris vorrücken, doch mangelnde Koordinierung, fehlende Kommunikation und Erschöpfung nach tagelangen Gewaltmärschen rissen derart große Lücken, daß sich die Heeresleitung aus Furcht vor Umzingelung und Vernichtung zum Rückzug entschloß. Damit war der Krieg im Grunde entschieden, was folgte, waren lange Jahre der Abnutzung. Auf einen langen Stellungskrieg war die deutsche Kriegsführung nicht vorbereitet. Der Heimatfront durfte diese Erkenntnis allerdings nicht mitgeteilt werden, hier regierten Durchhalteparolen und immer stärkere Einschränkungen. Die Folge: frieren und hungern. Es sei denn, man und frau besaß ein Spezereigeschäft, das nicht mehr lief, und ein Einmachgeschäft, hauptsächlich für Gurken und Kraut, das mehr und mehr florierte. Auf gewisse Weise erwuchs aus Ferdinand Müller ein Kriegsgewinnler, während er gleichzeitig unter der Fuchtel seiner resoluten Frau Maria stand.

Diese, vielleicht eher den (verhältnismäßig) Neureichen zuzurechnen, kam, wie erwähnt, nicht aus Griesheim, mußte ihr Renommée also woandersher als aus dem Eingebundensein in Griesheimer Beziehungsgeflechte herholen. Ein Sohn, der tapfer das Vaterland verteidigt, wäre hilfreich gewesen, doch die Müllers versuchten alsbald, ihren Sohn vor der Front zu schützen, was selbigem nicht unrecht war. Kleine Bestechungsgaben an richtiger Stelle erwiesen sich als hilfreich. Wenn ihr Sohn wenigstens heldenhafte Taten geschildert hätte! Doch in dieser Hinsicht erwies er sich als wortkarg, so daß Mutter Müller andere Wege beschreiten mußte, um an im Bekanntenkreis erzählbare Geschichten zu gelangen. Der Truppenübungsplatz mit den vielen Rekruten, die nunmehr auf den Krieg im Schnelldurchgang vorbereitet wurden (und die dann doch nicht auf das vorbereitet waren, was sie erwartete), erwies sich als Glücksfall. Sie suchte und fand die Jahre hindurch junge Männer, die sich von ihr mit Lebensmitteln und Zuneigung versorgen ließen, was sie alsdann durch häufiges Briefeschreiben vergalten. Insofern liegt hier nicht nur ein Schriftwechsel vor, sondern zudem Fragmente von einigen weiteren, die ein Bild von dem vermitteln können, was die Soldaten an der Front im Westen und Osten dachten und erlebten, aber auch von dem, was zu Hause von ihnen erwartet wurde. Beide Seiten gingen mit der Wahrheit vorsichtig um. Die Soldaten sollten nicht durch die Wiedergabe der Stimmungslage und der Entbehrungen zuhause entmutigt, die Heimat nicht durch allzu realistische Schilderungen des Grauens verstört werden.

Inmitten dieser auf einer Art Warenbeziehung beruhenden Briefeschreiberei tragen Mutter und Sohn, mal sehr direkt, mal hinhaltend und intrigant, einen ganz eigenen Stellungskrieg aus. Da gibt es eine Frau, der Wilhelm zugetan ist, die seiner Mutter mißfällt, während diese eine Bauerstochter präferiert, die wiederum nicht unbedingt Wilhelms erste Wahl gewesen wäre. Beide galt es jedoch zu hofieren, weil deren Eltern Gemüse und andere landwirtschaftliche Produkte liefern konnten, die auf dem freien Markt nicht erhältlich, für das eigene Geschäft und die Versorgung des Sohnes und der anderen jungen briefe­schreibenden Soldaten aber unumgänglich waren. Wenn es etwas an David Jacksons Buch zu kritisieren gäbe, dann ist es des Autors Vorgabe, wie dieser untergründig ausgetragene Konflikt zu interpretieren sei. Vielleicht hätte er seiner Darstellung erst einmal freien Lauf lassen sollen, ohne die Leserin und den Leser zu gängeln. Daß seine Interpretation des Verhältnisses von Mutter und Sohn durchaus treffend ist, hätte sich bei der Lektüre wohl auch von selbst erschlossen.

Umso mehr lernen wir es zu schätzen, wenn der Autor die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen einfließen läßt, die mannigfaltigen Dekrete der Einschränkung benennt, um zu begreifen, wie fragil der letztlich doch kriegsgewinnlerische Weg der Müllers durch den Krieg gewesen ist. Wobei die Gewinne der Müllers in keinem Verhältnis zum Absahnen der großen Wirtschaftsbetriebe und Waffenlieferanten steht; da sind Müllers nicht einmal kleine Fische. Aber im Bezug auf die Lebensumstände ganz normaler Arbeiterinnen und Arbeiter in Griesheim und Darmstadt, oder auch in Mainz, in das Wilhelm einen ganz eigenen Briefwechsel unterhält, geht es den Müllers richtig gut. Umso typischer – für Emporkömmlinge wie für ohnehin Betuchte – sind die Tiraden von Frau Müller, wenn sie den im Sommer Hungernden und im Winter Frierenden vorwirft, nicht gut genug gewirtschaftet zu haben. Ohnehin kommt Frau Müller in der Charakterisierung des Buches nicht gut weg. Dabei ist sie clever genug, den Krieg und seine Unbilden, wie das im neoliberalen Neusprech heißt, als ihre Chance zu nutzen; und daß sie schon vor dem Krieg Zigaretten rauchte, mag auf dem Dorf doch recht ungewöhnlich gewesen sein. Dieser Hauch von Moderne wird jedoch konterkariert von ihrem absoluten Gottvertrauen und der bedingungslosen Nachbeterei der Verlautbarungen der militaristischen Obrigkeit. Hier wäre vielleicht genauer Klassenlage und individuelles Streben nach Glück zu trennen gewesen; denn so unangenehm sie sich in die Belange ihres Sohnes einmischt, so scheint sie andererseits auch kein Unmensch gewesen zu sein. Hier nur die armen unterdrückten Männer ihres Haushaltes zu sehen, halte ich für einen stilistisch vielleicht naheliegenden, aber inhaltlich problematischen Ansatz des Autors. Ist Maria Müller vielleicht einfach nur zu forsch und emanzipiert für ihre Männer gewesen, die, weil sie mit diesem rollenungerechten Verhalten nicht umgehen können, vordergründig nachgeben und sich auf Hinhaltetaktiken verlegen? Wie das Männer eben so machen …

Wilhelms Wortkargheit und seine Zuneigung zu der von der Mutter nicht geliebten Schwiegertochter in spe lassen aber noch eine weitere Interpretations­ebene zu. Wilhelm, der bislang nur das Dorf und die nahegelegene eher provinzielle Stadt kennengelernt hat, wird nunmehr in die große Welt geschleudert, in der er mannigfaltige Anregungen erhält. Neben lyrischen und zeichnerischen Versuchen, diese für ihn neue Welt zu verarbeiten, hat er gewiß auch andere Meinungen und Gedanken kennengelernt und vielleicht erfahren, daß die Welt nicht nur aus Adligen und einer Obrigkeit besteht, der man bedingungslos zu folgen hat. Seiner Mutter kann er derlei nicht vermitteln, sie ist durch ihre bäuerliche Herkunft und ihren Geschäftssinn zu sehr in Zeiten be- und gefangen, in denen alles noch seinen geregelten Gang zu gehen hatte. Obwohl der Krieg alles andere ist als das. Aber hier hilft das Festklammern an Religion und den Glauben an eine göttliche Prüfung, die sie (und Deutschland) nur zu bestehen habe. Das Emanzipierte hat demnach Grenzen, zu stark dürfte der soziale Druck gewesen sein, sich als Frau nicht allzuviel herauszunehmen, wie etwa die von Wilhelm bevorzugte junge Frau.

Ansichtskarte.

Bild 3: Innenleben einer Baracke im Kriegsgefangenenlager Griesheim – Intérier d'une Baraque. [4]

Gleich zu Anfang des Krieges wird neben dem Truppenübungsplatz auf dem Griesheimer Sand ein Kriegs­gefangenenlager eingerichtet. Noch im August 1914 werden französische Soldaten, bald auch aus anderen Nationen, eingeliefert. Sie werden nicht an einer eigens eingerichteten Militärrampe am Griesheimer Bahnhof ausgeladen, sondern müssen zu Fuß vom Darmstädter Hauptbahnhof mehrere Kilometer ins Lager marschieren oder, falls sie schwerer verletzt sind, werden sie im Pferdewagen gebracht. Dort erwartet sie Hunger. Insbesondere die sogenannten Senegalschützen erregen die Aufmerksamkeit des sensationsgierigen Publikums, das aus dem Gefangenenlager zunächst eine Art Kirmes macht. Das ändert sich, insbesondere als der Krieg nicht so verläuft wie erhofft. Mag sein, daß die Verhältnisse im Griesheimer Lager nicht so schlimm waren wie andernorts. Aber gehungert wird, was Wilhelm von mehreren Bekannten und Verwandten berichtet wird. Die Verhältnisse sind so trostlos, daß diese Schilderungen bald einschlafen. Im weiteren Kriegsverlauf hungern auch die Deutschen, und die Kriegsgefangenen gewiß noch mehr.

Hingegen erhalten Müllers ab 1916 ihre Sauerkraut- und Rübenzuteilungen zur weiteren Verarbeitung an den Griesheimer Bahnhof gesandt. Dies erwähne ich hier bloß nebenbei, denn auf dieser Webseite geht es ja nicht zuletzt um die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau.

Ein kleiner Fauxpas ist dem Autor dann doch noch gelungen. So schreibt er auf Seite 365 von der „Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober“, die jedoch, wie wir wissen, nach unserem gregorianischen Kalender im November stattgefunden hat. Positiv ist die Zusammenstellung des sorgfältig bearbeiteten Bild- und Kartenmaterials hervorzuheben, das uns auch visuell einen Eindruck vom im Text behandelten Kriegsgeschehen gibt und von David Jackson sachkundig erläutert wird. Insgesamt erhalten wir ein wundervoll aufgearbeitetes Stück Heimatgeschichte; und wenn das Buch im Essener Klartext Verlag seine Heimat gefunden hat, so darf dies nicht verwundern, denn dieser ist für seine sachlich fundierten und gut aufbereiteten Abhandlungen über den Ersten Weltkrieg seit Jahren wohlbeleumdet.

Der Zusammenbruch der deutschen Kriegsführung geschah nach einer langen Zeit der Stagnation recht schnell. Im Bemühen, den Gegner an allen Fronten zu zermürben, überspannte man die eigenen Kräfte. Die Heimatfront murrte zunächst, dann rebellierte sie. Wilhelm Müller hingegen wird im unpassenden Moment krank. Als das deutsche Heer sich zurückziehen muß, kann es ihn wegen vermuteter Ansteckungsgefahr nicht mitnehmen. Er gerät in französische Kriegs­gefangenschaft. Ob er mit einem der Truppentransporte zum Griesheimer Bahnhof zurückgebracht wurde, wie er hier im Bild festgehalten worden ist?

Transport in Griesheim.

Bild 4: Ankunft eines Transports mit Kriegsgefangenen in Griesheim im Januar 1920. Am rechten Bildrand steht ein Wittfeld-Triebwagen, vielleicht zur Weiterfahrt nach Darmstadt. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em2008.0206.

Jedenfalls heiratet Wilhelm Müller – wen, das muß die Leserin oder der Leser des Buchs selbst herausfinden. Seine Mutter stirbt Mitte der 1920er Jahre, der Vater heiratet erneut … eine wesentlich jüngere Frau. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. [5]