Signal in Griesheim. Formsignal in Griesheim.

Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau

Der fahrende Arbeiterpferch

1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Hauptverlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten der Strecken­abschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.

Zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt sich das Eisenbahn­wesen zu einem Massen­beförderungs­mittel. Schüler und Arbeiter (auch Schülerinnen und Arbeiterinnen ?) nutzen den Zug, um morgens in die Schule und zur Arbeit zu gelangen. Das Angebot steht jedoch häufig im Miß­verhältnis zum Bedarf. Ein Beobachter machte am im März 1902 in einem Leserbrief an den in Frankfurt erscheinenden „General-Anzeiger“ seinem Unmut über derart unhaltbare Zustände Luft. [1]


Mörfelden, 1902

Sprechsaal.

Für die nachfolgenden Mitteilungen übernimmt die Redaktion dem Publikum gegenüber keinerlei Verantwortung.

Mörfelden, 28. März.

Bahnhof Mörfelden.
Bild 1: Der Bahnhof Mörfelden heute. Enge Bahnsteige fassen Passagier­knubbel, die auf ihre S-Bahn warten. Solange kein ICE vorbeibraust, mag das ja gut gehen …

Sehr geehrte Redaktion!

Schon öfters und mit Recht sind in der Oeffentlich­keit und in der hiesigen Arbeiter­schaft die Verkehrs­ver­hält­nisse der Ried­bahn­strecke (Frankfurt – Mannheim) und es wurde besonders unser Stations­gebäude (eine Bretterbude) einer Kritik unterzogen. Jahraus, jahrein müssen jeden Werktag­morgen in aller Frühe ca. 600 Arbeiter, allen Unbilden der Witterung preis­gegeben, harren, bis das „Dampfroß“ kommt, um sie aufzunehmen, wenn sie im Sommer durchnäßt und im Winter durchfroren sind. Wie mir verschiedent­lich zu Ohren gekommen ist, sind die Mittel für den Bau eines neuen Stations­gebäudes schon längst bewilligt, warum zögert denn die Groß­herzogliche Eisen­bahn­direktion Mainz mit dessen Ausführung? Ich komme sodann auf das vorgenannte „Dampfroß“ zu sprechen; gemeint ist damit der morgens um ½5 Uhr von Dornberg eintreffende Arbeiterzug. Dieser Zug führt 10 Wagen mit, welche für die hiesige Arbeiter­schaft bestimmt sind. In diesen 10 Wagen sollen 600 Mann eingepfercht werden, von einem bequemen Unter­kommen, namentlich in 4. Klasse, kann da keine Rede sein. Sobald der Zug kommt, sucht jeder so schnell als möglich unterzu­kommen, wobei es am letzten Donnerstag morgen passierte, daß ein blühender 20jähriger Mensch unter einen Wagen gedrängt wurde und lebens­gefähr­lich an den Beinen verletzt wurde. Selbst, wenn der betreffende Arbeiter am Leben erhalten bliebe, ist er doch zeitlebens ruiniert. Auf welche Weise der Unglücks­fall geschah, ist mir nicht genau bekannt, will ich auch dahin­gestellt sein lassen. Durch Einstellung mehrerer Wagen würden derartige Fälle für die Zukunft vermieden. Dieser Zug kommt um 5 Uhr 20 Min. in Frankfurt an, ist für die Bau­hand­werker, deren Arbeits­zeit um 6 Uhr beginnt, sehr geeignet, während die Werk­stätten­arbeiter, deren Arbeits­zeit erst um 7 oder ½8 Uhr beginnt, solange sich im Bahnhofe herumtreiben, oder zum Zeit­vertreib dem Alkohol­genuß fröhnen müssen. Warum läßt unsere Eisen­bahn­verwaltung nicht den im Sommer v[origen] J[ahre]s eingeführten zweiten Arbeiterzug auch für die Dauer des Winter­fahr­planes durchführen? Zweck dieser Zeilen möge sein, die gerügten Miß­stände zu beseitigen. Mögen diese Worte an maßgebender Stelle Beachtung finden, zum Wohle des Einzelnen wie der Gesamt­heit.

K.


Offenbach, 1903

Dieser Leserbrief findet sich in der Sonntags­ausgabe des in Frankfurt erscheinenden „General-Anzeiger“ am 30. März 1902. Die Zeitungs­seiten 3 (mit dem Leserbrief) und 4 (Rückseite mit verschiedenen Werbe­anzeigen) fanden sich in den Akten des Groß­herzoglichen Finanz­ministeriums. Auch damals las die Obrigkeit mit. Rechts am Rand neben den Ausführungen zur Verletzung des 20–jährigen Arbeiters ist mit Hand ein Kreuz hinzugefügt worden. Der Arbeiter ist demnach seinen Verletzungen erlegen.

Heinz Schomann schreibt in seinem Band über die „Eisenbahn in Hessen“ zum heute in Mörfelden stehenden Bahnhofsgebäude:

„Individuell um 1905/15 gestaltetes Stationsgebäude mit neobarocken Anklängen östlich der Strecke, doppelgeschossiger Putzbau auf Sandsteinsockel unter Walmdach; zur Stadt zentrierender Giebel, zu den Gleisen polygonaler Treppenturm mit Mansarddach. Seitlich niedrigerer Wartesaal (N[ord]) bzw. offene Wartehalle und Pavillon (S[üd]).“ [2]

Daß Zustände wie die, die im Leserbrief beschrieben wurden, durchaus an der Tages­ordnung waren, belegt eine Zeitungs­notiz im sozial­demokratischen „Offenbacher Abendblatt“ am 29. Juni 1903.

„Ein Mißstand ist es, daß der Zug der Bebraer Bahn, der Montags früh 6 Uhr 3 Minuten von Mühlheim abgeht, regelmäßig so überfüllt ist, daß die denselben benutzenden Arbeiter gezwungen sind, sich während der Fahrt auf den Plattformen, den Brems­häuschen, auf Tritt­brettern [et cetera] aufzuhalten. Dieser Zug ist dermaßen überfüllt, daß beispiels­weise heute Morgen noch eine Anzahl Arbeiter mit dem nach­folgenden Güterzug befördert werden mußten. Hier muß dringend Abhülfe geschaffen werden, denn die Arbeiter haben ein Recht, auf eine ordnungs­gemäße Beförderung so gut wie jeder ‚bessere‘ Passagier. Außerdem schweben bei derartig über­füllten Zügen die Arbeiter auch in größter Lebens­gefahr.“

Tatsächlich wurde gehandelt. Ein großherzoglicher Regierungs-Assessor berichtet in Bezug auf eine Verfügung vom 20. Juli 1903 hierzu am 28. September 1903 der Abtheilung für Finanz-Wirtschaft und Eisenbahn­wesen im hessischen Finanz­ministerium:

„Der P[ersonen]z[ug] 220 wurde bis 5. Juli d[ieses] J[ah]r[e]s nur zwischen Hanau Ost und Frankfurt gefahren und sind Klagen über Platzmangel erst durch den hier beigefügten Zeitungs­ausschnitt [3] bekannt geworden. hiernach scheint es sich um einen, auf dem – insbesondere an Montagen – schwankenden Arbeiter­verkehr beruhenden Ausnahme­fall zu handeln.

Nachdem der P[ersonen]z[ug] 220 seit 6/7 d[ieses] J[ah]r[e]s an Montagen und nach Feiertagen zwischen Gelnhausen und Frankfurt verkehrt und in Folge dessen eine grössere Besetzung hat, wurde durch die Königliche Eisenbahn­direktion in Frankfurt a/M sofort angeordnet, dass an diesen Tagen ein Nachzug zu P[ersonen]z[ug] 220 von Hanau bis Frankfurt a/M durchgeführt wird, welcher alle Reisenden befördert, die im P[ersonen]z[ug] 220 nicht ordnungs­gemäß unter­gebracht werden können. Hierdurch ist dem Bedürfnis Rechnung getragen und sind weitere Klagen auch nicht wieder erhoben worden.“


Mörfelden, 1888

Derartige Vorkommnisse waren nicht verwunderlich. Wie die Mehdorns der Moderne an den Bedürfnissen der Menschen vorbei auf den auf Hoch­geschwindigkeit getrimmten Geschäfts­reiseverkehr setzen, so galt auch im 19. Jahrhundert nur der Fahrgast als König, der sich den erwünschten Komfort auch leisten konnte. Arbeiter, wohl seltener Arbeiterinnen, wurden in spezielle Züge verfrachtet. Sie brachten kaum Geld ein, da sie aufgrund der niedrigen Löhne so kosten­günstig wie möglich zur Arbeit fahren mußten. Hier gab es spezielle Arbeitertarife, meist für die dritte, oder wenn vorhanden, auch vierte Wagenklasse, deren Komfort sich kaum von einem Viehwagen mit Holzbank unterschied. Konsequent beförderte die Hessische Ludwigsbahn die in Frankfurt beschäftigten Arbeiter für die abendliche Rückreise mit einem speziellen Arbeiterzug. Dieser Arbeiter­zug trug eine Zug­nummer aus dem Nummernpool der Güterzüge und war nicht im offiziellen Fahrplan verzeichnet.

ICE im Bahnhof Mörfelden.
Bild 2: ICE im Bahnhof Mörfelden, bestimmt kein Arbeiterzug.

Aus einer Dienst­anweisung zu Beginn des Winter­fahrplans im Oktober 1888 geht hervor, auf welchen Zügen sogenannte „Arbeiter-Billets“ gültig waren. Mit so einer Fahrkarte konnte beileibe nicht jeder Zug benutzt werden, sondern nur nach knallharten Rentabilitäts­gesichts­punkten ausgewählte Wagen. So war für die Rückfahrt vom Bahnhof in Sachsen­hausen (der Vorläufer des heutigen Südbahnhofs) nach Mörfelden der Güterzug Nr. 578 vorgesehen: „Güterzug 578 wird an Werktagen von Goldstein bis Mörfelden zur Arbeiter­beförderung benutzt.“ Dieser Zug war wahr­scheinlich deshalb die einzig realistische Alternative, nach Hause zu gelangen, da zwischen 14.31 Uhr und 20.12 Uhr kein Personenzug Frankfurt in Richtung Mörfelden und weiter nach Mannheim verließ.

Dieser Arbeiterzug ging am Abend um 18.43 Uhr am Güter­bahnhof (vermutlich derjenige in Sachsen­hausen) ab und erreichte den Bahnhof Goldstein (heute: Stadion) um 19.03 Uhr. Hier bestand sogar ein regulärer Personen­zug-Anschluß aus Sachsen­hausen. Der Güterzug setzte sich fahrplan­mäßig um 19.14 Uhr wieder in Bewegung, fuhr in Walldorf um 19.33 Uhr ein und sieben Minuten später in Mörfelden. Fahrzeit: rund eine Stunde. Daß es auch schneller ging, belegt die Fahrzeit des nach­folgenden Personen­zuges 172, der ebenfalls zwischen Sachsen­hausen und Mörfelden freige­geben war. Er verließ den Frankfurter Haupt­bahnhof um 20.12 Uhr, sammlte in Goldstein den Flügelzug mit den Arbeitern aus Sachsen­hausen ein und erreichte Mörfelden um 20.45 Uhr. Wessen Arbeitszeit jedoch abends um 18.00 Uhr beendet war, wollte sicherlich nicht noch anderthalb Stunden länger auf einen Zug warten, bei dem es zweifelhaft war, ob er bequemer daher­rattern würde.

Rund zehn Jahre später veröffentlichte die Königlich Preußische und Großherzoglich Hessische Eisenbahn­direktion Mainz, die inzwischen die Strecken der durch Staats­vertrag Anfang des Jahres aufgelösten Hessischen Ludwigsbahn verwaltete, in ihrem Winter­fahrplan für 1897/98 diese Abend­verbindung. Diese führte nun an Werktagen zwischen dem 11. Oktober 1897 und Ende Februar 1898 ganz regulär mit Wagen ausschließlich dritter Klasse vom Frankfurter Haupt­bahnhof um 18.20 Uhr abgehend nach Mörfelden (an 19.02 Uhr).


Fünf Jahre später: Verweis auf die billigen Plätze

Fünf Jahre nach den güterzug­ähnlichen Arbeiter­transporten fahren diese Züge aus dem 1888 eröffneten Frankfurter Haupt­bahnhof. Ihre Zugnummer hat sich geändert, doch wir werden noch erfahren, daß für die in Frankfurt arbeitenden und in Mörfelden lebenden Arbeiter ein „besonderer Zug mit besonderem Material“ bereit­gehalten wurde. Welch spartanischer Pferch sich dahinter tatsächlich verbirgt, wird aus der Sprach­regelung nicht deutlich.

Zu Beginn des Winter­fahrplans, genauer: mit dem 16. Oktober 1893 verließ der abends nach Mörfelden verkehrende Arbeiterzug Nr. 172a fahrplan­mäßig 50 Minuten früher den Frankfurter Haupt­bahnhof. Dies scheint dazu geführt zu haben, daß einzelne Arbeiter, deren Arbeitszeit noch nicht beendet war, diesen früher gelegten Zug nicht mehr erreichen konnten. Sie nahmen deshalb den um 19.35 Uhr nach­folgenden Personenzug Nr. 172 – und das gab Ärger. In ihrer Not schrieben diese Arbeiter am 26. Oktober 1893 an die Abtheilung für Eisenbahn­wesen im hessischen Finanz­ministerium:

„Beschwerde u[nd] Gesuch der Unterzeichneten Arbeiter von Mörfelden gegen den abschlägigen Bescheid der Spezial­direction der Hess[ischen] Ludw[igs] Eisenbahn Sitz in Mainz sowie des Betriebs-Amts in Frankfurt a/M betreff des nicht Gestatteten der Benutzung des Zuges ab Frankfurt a/M 735 sowie seitherige Nachzahlung v[on] 65₰ als Zuschlag zu unseren gelösten Wochenbillets

Seit 5 Jahren fahren wir stets Abends mit unseren Wochenbillets von Frankfurt a/M mit dem Zuge 710, welcher kein Arbeiter­zug ist, ohne jeden Anstand. Durch die seit Octob[er] l[aufenden] J[ahres] in Kraft getretene Winterdienst­fahrzeit wird der eigentliche Arbeiterzug schon um 620 in Frankfurt abgelassen.

Unsere Arbeitszeit ist erst um 7 Uhr abgelaufen, wir müssen daher, wenn wir den eigentlichen Arbeiterzug der um 620 von Frankfurt abgeht benutzen wollen, eine Stunde früher aus der Arbeit gehen, verlieren somit diese Stunde an Verdienst und wenn wir, wie es seit 1. Oct[o]b[er] geschehen den Zug um 735 ab Frankfurt benutzen, welcher eigentlich kein Arbeiterzug ist, so müssen wir jeden Abend eine Zuschlag­fahrkarte von 65₰ nachlösen, die Fahrt wird uns daher pro Woche um 6 x 65₰ = ℳ3,90₰ theurer. Nach Aussagen des H[errn] Stations­vorstehers in Mörfelden sei es gestattet den Zug 735 ab Frankfurt zu benützen, wenn der Arbeiter die Bescheinigung bei sich führe, daß er in einer Werkstatt beschäftigt sei.

Nachdem wir nun diese Bescheinigung besitzen, müssen wir doch die Zuschlag­fahrkarte lösen; was bedeutet, daß sich dies nur auf die in den Königl[ichen] Werkstätten beschäftigte Arbeiter bezieht.

Der Zug ab Frankfurt 620 ist für uns nicht passend und verringert unser Einkommen. Seit 5 Jahren haben wir 20 bis 25 Arbeiter von Mörfelden stets den nächst­folgenden Zug nämlich 710 mit unseren Wochen­fahrkarten benützen dürfen, dieser Zug 710 indentisch mit dem heutigen Zuge 735, wenn die mittel­europäische Zeit in Anschlag gebracht wird.

Wir bitten Hohe Regierung dahinzu­wirken, daß uns von der Hess[ischen] Ludw[igs] Eisenbahn erlaubt wird, auch fernerhin wir seit 5 Jahren den Zug 710 jetzt 735 ab Frankfurt a/M mit unseren Wochen­fahrkarten ohne Zuschlag benützen zu dürfen und verharren

Respectvollst“

Winterfahrplan 1893/94
Zugnummer172a172b172
Frankfurt Hbf. ab18.2019.1019.35
Niederrad18.2919.1919.42
Goldstein18.3719.2719.48
Walldorf18.5519.4520.00
Mörfelden an19.0219.5220.05
Zugnummer569a569b 
Mörfelden ab19.1220.06 
Frankfurt Hbf. an19.4920.42 

Der Arbeiterzug Nr. 172a verkehrte werktags vom 16. Oktober 1893 bis Ende Februar 1894, sein Pendant Zugnummer 172b werktags bis zum 15. Oktober 1893 und ab Anfang März 1894. Personenzug Nr. 172 fuhr täglich nach Mannheim. Bei den Zügen Nr. 569a und 569b handelt es sich um die Leerfahrten der nach Frankfurt zurück­kehrenden Lokomotiven. Diese fuhren dann am folgenden Werktag­morgen als Leerfahrt zum bereit­stehenden Arbeiterzug nach Mörfelden.

Tags darauf fragt der dem Finanz­ministerium unterstellte Großherzogliche Regierungs-Commissär Wetz bei der Special-Direction der Hessischen Ludwigsbahn an, weshalb dem Gesuch der Arbeiter nicht statt­gegeben worden sei. Die Special-Direction antwortet mit Schreiben vom 16. November 1893:

„Unter Rückgabe der uns mit gefälliger Zuschrift No. 33858 vom 27. v[origen] M[ona]ts übersandten Eingabe von Arbeitern aus Mörfelden erwidern wir Ew. Hochwohlgeboren ganz ergebenst, daß die Abfahrt des Arbeiterzuges von Frankfurt a/M. nach Mörfelden am 16. October d[iesen] J[ahres] auf Wunsch der über­wiegenden Mehrzahl der Arbeiter auf 6 Uhr 20 Min[uten] Abends verlegt worden ist. Für diesen Verkehr ist ein besonderer Zug mit besonderem Material bestimmt, welches nicht getheilt werden kann, weil am Morgen sämmtliche Arbeiter mit diesem nämlichen Zuge nach Frankfurt a/M. zur Arbeit fahren. Wollten wir gestatten, daß ein Theil der Arbeiter einen anderen Zug zur Heimfahrt benutzt, so würde der eigentliche Arbeiterzug seinen Charakter als solcher verlieren. Ueberdies käme in Betracht daß die Verstärkungs­wagen bei Zug No. 172 in Mörfelden abgestellt und auf den Arbeiterzug, welcher über Nacht in Mörfelden steht, umgesetzt werden müßten, wofür aber in Mörfelden keine Kräfte zur Verfügung stehen. Beim Eintreffen des Zuges 172 in Mörfelden ist die Locomotive des Arbeiterzuges bereits leer nach Frankfurt a/M. zurück­gekehrt. Aus diesen Gründen kann dem Gesuch der Arbeiter nicht entsprochen werden.“

Dies war jedoch nicht so ganz die Antwort, die der Regierungs-Commissär erwartet hatte, weshalb er am 23. November 1893 nachhakt:

„Auf das gefällige Schreiben vom 16. d[es] M[onats] No 40759 beehre ich mich, Ihnen ergebenst zu erwidern, daß Gr[oß­herzogliches] Ministerium der Finanzen eine Äußerung darüber vermißt, ob die Behauptung der Arbeiter, sie haben seit 5 Jahren den Personen­zug 172 unbeanstandet mit Arbeiter­wochenkarten benutzen dürfen, zutreffend ist. In diesem Falle würde in der jetzt getroffenen Maßregel eine große Härte gegen die Arbeiter liegen, welche ihre Arbeitszeit nicht nach Belieben einrichten können. Da die über­wiegende Mehrzahl der Arbeiter den Abgang des Arbeiterzuges um 6 Uhr 20 gewünscht hat, so handelt es sich allem Anschein nach um nur wenige Leute, zu deren Beförderung mit Zug 172 die Einstellung eines besonderen Wagens nicht erforderlich wäre. Es könnte daher, ohne daß die von Ihnen angeführten Mißstände eintreten, vielleicht dem Wunsche der Petenten dadurch entsprochen werden, daß die Benutzung des Personen­zugs 172 nur bei nachgewiesener, bis Abends 7 Uhr dauernder, regel­mäßiger Arbeitszeit u[nd] gegen Entrichtung einer mäßigen Zuschlags­gebühr auf besonders abgestempelte Wochenkarten gestattet würde. Im Auftrage Gr[oß­herzoglichen] Ministeriums der Finanzen ersuche ich Sie, in dieser Richtung die Angelegen­heit nochmals in wohl­wollende Erwägung zu ziehen u[nd] mir demnächst Ihre Ent­schließung gefälligst mitzutheilen.“

Bahnhofsgebäude Mörfelden.
Bild 3: Das Bahnhofsgebäude in Mörfelden gab es 1893 noch nicht, allenfalls eine Bretterbude.

Jetzt kommen wir der Sache schon näher, denn die Special-Direction antwortet am 20. Dezember 1893:

„In Beantwortung des gefälligen Schreibens No 36798 vom 23. v[origen] M[onats] beehren wir uns, Ew. Hochwohl­geboren ergebenst mitzutheilen, dass im Jahre 1888 12 Arbeiter der Werkstätte der Main-Weser-Bahn die Erlaubnis erhielten, den Zug No 172 zu benutzen.

Wenn hie und da auch andere Arbeiter unbe­anstandet den gleichen Zug benutzt haben, so geschah dieses ohne besondere Erlaubnis und würde vielleicht auch fernerhin nicht beanstandet worden sein, wenn der Zudrang nicht plötzlich auf etwa 60 Personen angestiegen wäre, was eine Verstärkung des Zuges nothwendig gemacht haben würde.

Den Werk­stätten­arbeitern der Staatsbahn haben wir inzwischen auf Empfehlung der K[öni]gl[ichen] Eisenbahn-Direction zu Frankfurt a/M. die Benutzung des Zuges No172 wieder erlaubt, bedauern aber, den übrigen Arbeitern die nach­gesuchte Genehmigung aus den bereits mitgetheilten Gründen nicht ertheilen zu können.“

Es folgt der letzte Akt, in dem das Finanz­ministerium die schlechte Botschaft verkaufen muß. Es teilt am 28. Dezember 1893 einem der Beschwerde­führer, dem Fabrik­arbeiter Jacob Dickhaut II, mit:

„Auf die Eingabe am 26. Oktober l[aufenden] J[ahres] benach­richtigen wir Sie, daß die Spezial­direktion der Hessischen Ludwigs-Eisenbahn uns folgenden Gründen es abgelehnt hat, die Gültigkeit der Arbeiter-Wochen­karten auf den um 7 Uhr 35 Abends von Frankfurt a/M. abfahrenden Personen­zug 172 zu erstrecken.

Der Arbeiterzug zwischen Mörfelden u[nd] Frankfurt a/M. sei in der Voraussetzung eingelegt worden, daß derselbe von sämmtlichen Arbeiter sowohl bei der Hinfahrt wie bei der Rückfahrt benutzt werde. Die Benutzung des Personen­zugs 172 zur Rückfahrt sei auch bisher nicht erlaubt gewesen, aber unbeanstandet geblieben, so lange es sich um nur wenige Personen gehandelt habe. Nachdem aber die Abfahrt des Arbeiterzugs von Frankfurt auf den Wunsch der überwiegenden Mehrzahl der betheiligten Arbeiter auf 6 Uhr 20 Abends festgesetzt worden, sei plötzlich ein Zudrang von etwa 60 Personen zu dem Personen­zug 172 eingetreten, deren Beförderung mit demselben nicht möglich sei. Es müßten sonst einige Wagen des Arbeiterzugs in Frankfurt zurück­gelassen u[nd] an den späteren Zug angehängt werden. In Mörfelden wären diese Wagen sodann abzustellen u[nd] wieder mit dem Arbeiterzug zu vereinigen, damt dieser am anderen Morgen alle Arbeiter aufnehmen könne. Zu einem solchen Verschieben der Wagen stehen aber in Mörfelden die erforderlichen Arbeits­kräfte nicht zur Verfügung.

Wir bedauern unter diesen Umständen außer Stande zu sein, die Spezial­direktion zur Gewährung Ihrer Bitte zu bestimmen.

Den übrigen Unterzeichnern der Eingabe wollen Sie gefälligst von Obigem Mittheilung machen.“


Literatur

Anmerkungen

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