Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Von Leeheim-Wolfskehlen nach Stockstadt (Rhein)
Teil 4: Stockstadt (Rhein)
Seit 1869 verband die Riedbahn die damals hessische Stadt Worms und das südliche Ried mit der großherzoglichen Residenzstadt Darmstadt. Als Konkurrenzstrecke zur Main-Neckar-Bahn ließ die Hessische Ludwigsbahn ein Jahrzehnt später die heute als Riedbahn geläufige Nord-Süd-Verbindung von Frankfurt am Main nach Mannheim am Neckar von unzähligen fleißigen und vermutlich nicht gerade üppig bezahlten Arbeitern errichten. Goddelau-Erfelden war ein wichtiger Verknüpfungspunkt von alter und neuer Riedbahn. Die nächsten Stationen im Norden und Süden waren und sind Leeheim-Wolfskehlen (heute S-Bahn-Haltepunkt Riedstadt-Wolfskehlen) und Stockstadt.
Ich habe diese Abhandlung auf vier Unterseiten aufgeteilt. Neues fotografisches Material ließ sich nur so sinnvoll einarbeiten. Ein besonderer Dank geht an Karl Aßmann, Heinz Bartelmeß, Jörn Schramm und Georg und Michael Menzendorff, die für diese Seite eigene Aufnahmen beigesteuert haben. sowie an das Archiv des Eisenbahnmuseums in Darmstadt-Kranichstein, in dem ich so manchen Gleisplan gefunden habe. Ganz besonders aber bin ich Frau Lorenz zu Dank verpflichtet, die in den 80er und 90er Jahren eine Fülle an Material zusammengetragen hat, das ich hier verwenden darf. Für Unzulänglichkeiten in der Darstellung, gar fehlerhafte Zuordnungen, bin jedoch alleine ich verantwortlich.
- Teil 1: Leeheim-Wolfskehlen.
- Teil 2: Goddelau-Erfelden, nördlicher Bahnhofsteil.
- Teil 3: Goddelau-Erfelden, südlicher Bahnhofsteil.
- Teil 4: Stockstadt am Rhein.
Meine eigenen Aufnahmen entstanden zwischen 2008 und 2016.
»» Nach Stockstadt fuhren seit den 1870er Jahren in den Sommermonaten eigens Badezüge aus Darmstadt. Im Altrhein konnte man und frau, bevor der Woog zum Badesee mutierte und das Hallenbad am Mercksplatz Gestalt annahm, der Lust am Schwimmen relativ gefahrlos in einer eigens errichteten Schwimmanstalt frönen. Siehe hierzu auch meine Darstellung Badefreuden in Stockstadt.
Dieses Kapitel ist die Fortsetzung der Beschreibung der Gleisanlagen von Goddelau-Erfelden.
Nur eine Überschrift.
Im April 1869 wurde der Betrieb auf der ursprünglichen Riedbahn von Darmstadt nach Worms aufgenommen. Die zunächst eingleisige Strecke wurde im Zuge der zehn Jahre später erfolgten Erweiterung der Riedbahn nach Frankfurt am Main und Mannheim zweigleisig ausgebaut. Ein drittes Gleis wurde zur Erleichterung des Güterverkehrs zwischen Goddelau-Erfelden und Stockstadt irgendwann im 20. Jahrhundert angelegt. Es wurde mit der Aufgabe der Anschlußgleise in Stockstadt obsolet und ist im Bahnhofsvorfeld von Stockstadt abgebaut; vom ehemaligen Anschluß Hochtief in Stockstadt ab in Richtung Goddelau-Erfelden ist es jedoch [2019] noch physisch vorhanden. [1]
Abbildung S01: Gleisplan des Anschlusses des Bauunternehmes Hoch-Tief in Stockstadt (Rhein) vom September 1959.
Der Gleisanschluß Hoch-Tief
Eine Besonderheit der Strecke zwischen den Bahnhöfen Goddelau-Erfelden und Stockstadt (Rhein) ist das dritte Streckengleis (Gleis 4 bzw. 104), das dem Güterverkehr des Bahnhofs Stockstadt und dem Gleisanschluß des in Ausgsburg ansässigen Bauunternehmens Hoch-Tief vorbehalten war. Von diesem Gleis zweigt bei Kilometer 43,6 mittels Weiche 20 das besagte Anschlußgleis ab, das sich auf dem Hoch-Tief-Firmengelände an Weiche 21 teilt.
Laut Bedienungsanweisung vom 20. November 1959 wurde der Anschluß wie folgt bedient: Zur Absicherung war eine Gleissperre eingebaut, deren Schlüssel in der Weichenbude III unter Blockverschluß aufbewahrt wurde. Die zugehörige Freigabetaste befand sich auf dem Stelltisch des Fahrdienstleiters von Stockstadt. Nach dessen Weisung wurde der Anschluß durch die Küb mit Kleinlok und Personal des Bahnhofs Goddelau-Erfelden als Rangierfahrt bedient (geschoben). Die Weichenbude III bestand aus einem größeren Fernsprechkasten.
„Nach Einfahrt der Küb in das Gleis 4 und Halt am gewöhnlichen Halteplatz in Stockstadt (Rh) werden die vorderen Wagen für den Bahnhof abgehängt. Mit den für den Anschluß bestimmten Wagen zieht die Rangierabteilung in nördlicher Richtung bis über die Weiche 20 (Anschlußweiche). Nach der Meldung an den Fdl bedient dieser die Schlüsselfreigabetaste, so daß der Schlüssel für die Weiche 20 entnommen werden kann. Der Weichenwärter bedient die Weiche und öffnet die Gleissperre. Auf das Rangiersignal des Rangierleiters schiebt die Abteilung in den Anschluß.“
Demnach telefoniert der Rangierer mit dem Stockstädter Fahrdienstleiter, damit er in der Weichenbude III den Schlüssel für die Weiche 20 freigibt. Dann erst kann der in der Weiche 20 verschlossene Schlüssel für die Gleissperre entnommen werden. Bei der Rückfahrt war das Prozedere entsprechend umgekehrt. Die Höchstgeschwindigkeit war mit 25 km/h festgelegt. Dem Anschluß konnten höchstens 24 Achsen (12 Wagen) zugeführt werden.
Als Werkslokomotive wurde von 1992 bis 1997 eine 1956 von LKM gebaute Kleinlok mit der Fabriknummer 251100 eingesetzt. Bilder vom Werksgelände haben Peter Große und Frank Glaubitz auf rangierdiesel.de eingestellt.
Bild S02: Bei Hektometerstein 43,7 ist die Kranbahn des Spannbetonwerks sichtbar. Dieser Stein befindet sich an der Ostseite der drei Gleise, wobei das dritte Gleis aufgrund von Oberbauschäden nicht mehr durchgehend benutzt wird.
Bild S03: Bei Hektometerstein 43,6 befindet sich die Weiche 20, die jedoch nirgendwohin mehr führt. Auf der gugeligen Erde sind die Anschlußgleise im Luftbild noch auszumachen. Kurz darauf endet das dritte Gleis an einem Prellbock. Hoch-Tief schloß sein Stockstädter Werk (wann?); das Gelände wird inzwischen durch andere Firmen genutzt.
Abbildung S04: Gleisplan des Bahnhofs Stockstadt am Rhein, Bearbeitungsstand 1973, unter Einschluß des Gleisanschluuses der Firma Hoch-Tief. Nach diesem Plan ist das Stockstädter Gleis 3 auf der Südseite schon nicht mehr durchgebunden.
Bild S05: Schon außer Funktion und entsprechend heruntergekommen präsentierte sich das an der Kreisstraße von Stockstadt nach Crumstadt als Posten 58 gelegene Stellwerk von Stockstadt 1988. Das Stellwerk stammt, so Schomann, von etwa 1910. Bildautorin: Eva Lorenz. [2]
Bild S06: Das Stellwerk mit seinem „Hintereingang“; hinter der Bahnstrecke lag das Betonwerk von Hochtief. Bildautorin: Eva Lorenz.
Bild S07: In den 1990er Jahren wurden auch in Stockstadt Eisenbahn- und Straßenverkehr kreuzungsfrei getrennt. Das Stellwerk wurde gleich mit entsorgt, denn so alter Krempel gilt nicht als bewahrenswert. Das nunmehr entstandene Kreuzungsbauwerk erfüllt die Bedürfnisse des Autoverkehrs nach freier Durchfahrt, während sich Radfahrerinnen und Radfahrer einem tückischen Schlängelkurs ausgesetzt sehen. Da weiß frau und man gleich, welcher Geist die Planungsabteilungen durchdringt.
Bild S08: Südlich der Kreisstraße zweigte vom aus Goddelau kommenden Gütergleis das Ladegleis 105 ab, während auf der Ostseite das zum Überholt-Werden genutzte Gleis 103 einfädelte. Die beiden Gütergleise führten vorbei an der Lagerhalle der Firma J.F. Nold & Co., welche heute (auf der Ostseite gelegen) zur RMIG GmbH gehört. Die Lärmschutzwand befindet sich etwa auf der Höhe des Ladegleises 105.
Bild S09: Zwischen Lärmschutzwand und den beiden Streckengleisen verlief das aus Goddelau-Erfelden kommende Gleis 104. Es endete an einer Rampe, deren begrünter Sockel dem aufmerksamen Blick nicht entgeht.
Bild S10: Eine Ahnung vom ursprünglichen Zustand der Stockstädter Gleisanlagen vermittelt diese im Sommer 1988 angefertigte Aufnahme von Eva Lorenz.
Bild S11: Das Ensemble des Bahnhofsgebäudes mit dem Eilgutschuppen von der Straßenseite aus gesehen. Der Schuppen macht einen traurigen Eindruck und scheint im Innern arg erneuerungsbedürftig zu sein. [3]
Bild S12: Als ich im Sommer 2012 vorbeischaute, leuchteten die Ziegel in der Sonne, während ein Teil des Stationsschildes abgefallen war und hinter dem Fahrradständer stand. Im Herbst 2012 wurde das Gebäude versteigert, doch der Käufer konnte, nachdem er herausgefunden hatte, was alles nicht im Kleingedruckten stand, vom Kauf zurücktreten. Eine erneute Auktion erbrachte 36.000 Euro für einen gewiß stark renovierungsbedürftigen Bau. Mit etwas Pech ist solch ein Bahnhofskauf ein Faß ohne Boden, vor allem wenn maroder Erhaltungszustand, Denkmalschutz, Brandschutz, Wärmedämmung und Nutzungsbedürfnisse miteinander in Einklang zu bringen sind.
Bild S13: Vielleicht noch im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts kam das Bedürfnis auf, den Bahnsteig in Richtung Frankfurt trockenen und staubfreien Fußes zu erreichen, und so wurde eine Unterführung erbaut. Die Wellblechüberdachung ist wohl kaum original. Weshalb sich damit die Hessische Ludwigsbahn oder die preußisch-hessische Eisenbahndirektion Mainz nur in Stockstadt, aber nicht andernorts in Unkosten gestürzt hat, ist eine noch zu klärende Frage, denn das gemeine Volk durfte üblicherweise ruhig die Gleise überqueren. – Obwohl das dritte Bahnsteiggleis schon längst außer Funktion ist, wird die Fläche freigehalten. Der übliche Pflanzenbewuchs überwuchert die noch erkennbaren Betonschwellen.
Selbst heute meinen die ganz Eiligen, mal schnell über die Gleise huschen zu können, und ab und an meldet die Lokalpresse ein weiteres Opfer dieser Idiotie. Wer ein wenig länger an den Bahnsteigen der Riedbahn verweilt, länger als ein paar Minuten jedenfalls, wird alsbald diese unvorsichtigen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen antreffen, denen es egal ist, ob die Bahnsteigkanten hoch oder niedrig sind. In Goddelau habe ich einmal einen derartigen Idioten gesehen, der schnell noch die S-Bahn erreichen wollte und vor dem Triebwagen in dem Moment ins Gleis sprang, als die Bahn losfuhr. Er hatte Glück gehabt, daß der Fahrer geistesgegenwärtig eine Notbremsung hinlegte.
Erich Ellermann versucht auf die Frage nach dem Zweck der Unterführung eine Antwort zu geben, die wohl eher eine Legende als wahr ist. Demnach pflegte der hessische Großherzog seine standesgleichen Gäste mit auf die Jagd auf dem Kühkopf zu nehmen, und die nahe gelegene Eisenbahnstation war Stockstadt.
„Allen Riedbahnbenutzern und Kundigen der Strecke kann nicht entgangen sein, daß von den meisten Bahnstationen im Umkreis nur Stockstadt eine dachtragende, gut ausgebaute Unterführung vorzuzeigen hat. Einen echten Bahnsteig, sozusagen. Auch das Bahnhofsgebäude weicht in seiner Beschaffenheit von denen anderer ab. Seine verspielte Eleganz, das zergliederte Walmdach mit funktionslosem Häubchenturm und die verzierende Klinkerstein-Ornamentik lehnen stark an den Baustil der kurzen Gründerzeit von 1871/73 an und verraten somit auch schon sein ungefähres Alter. Stockstadt verdankt die Außenseiterstellung seines Bahnhofes der familiären Bindung des Darmst. großherzoglichen Hauses mit dem russischen Zarenhof. Die Schwester des Großherzogs Ernst-Ludwig II., Prinzeß Alice (Alicen-Hospital nach ihr benannt), heiratete 1894 den Zaren von Rußland Nikolaus II. Schon vorher weilte der junge Zarewitsch des öfteren zu Besuch bei der großherzoglichen Familie in Darmstadt. Ernst-Ludwig unternahm mit seinem hohen Gast manche abwechslungsreiche Jagdausflüge auf die Insel ‚Kühkopf‘, wobei sie die Eisenbahn bis nach Stockstadt nutzten. Es hätte gegen die Hofetikette verstoßen, die illustre Jagdgesellschaft hochgestellter Persönlichkeiten, unter ihnen auch vornehme Hofdamen, über offene Gleise zu geleiten (zu dieser Zeit schon zweispurig). Außerdem wollte sich der Großherzog dem Zaren gegenüber, für dessen großzügiges Geschenk des russ[ischen] Kapelle auf der Künstlerkolonie revanchieren, indem er den Bahnhof Stockstadt eigens für ihn ausbauen ließ.“ [4]
Erich Ellermann besaß hier eine vielleicht zu lebhafte Phantasie, und auch die historischen Zusammenhänge sind nicht so ganz zutreffend. Zunächst einmal ließ die Hessische Ludwigsbahn zur Streckeneröffnung im April 1869 nur ein sogenanntes „provisorisches“ Empfangsgebäude errichten, vermutlich ein einfacher Fachwerkbau. Erst nach der Übernahme der privaten Aktiengesellschaft durch die Preußisch-Hessische Eisenbahngemeinschaft 1897 wurde mit dem Bau eines „definitiven“ massiven Steinbaus begonnen. Den Baustil mit der Gründerzeit in Verbindung zu bringen ist jedenfalls abwegig. Ob die Unterführung schon im November 1903 vorhanden war, als Zar Nikolaus II. tatsächlich einmal auf dem Kühkopf zum Frühstücken und zur Jagd verweilte, ist derzeit nicht aufzuklären. [5]
Großherzog Ernst Ludwig war zwar innerhalb der jahrhundertealten hessischen Dynastie der zweite seines Namens, aber der erste Großherzog. Alice wiederum, nach der das Hospital benannt ist, war die zweite Tochter der Queen Victoria und somit seine Mutter. Ihre aus der Ehe mit Ludwig IV. hervorgegangene Tochter Alix hingegen war diejenige, die 1894 den Zaren heiratete. Die Orthodoxe Kirche auf der Darmstädter Mathildenhöhe datiert von 1897. Wenn die von Erich Ellermann erzählte Legende einen Sinn ergeben soll, kann die Unterführung erst danach angelegt worden sein; und das paßt dann auch zur selben Zeit vorgenommenen Errichtung des Steinbaus von Stockstadt.
Bild S14: Genau wie bei der nördlichen Einfahrt in den Bahnhof von Goddelau-Erfelden wurde auch am südlichen Ende von Stockstadt eine Kurvenbegradigung durchgeführt. An beiden Stellen sollte die Höchstgeschwindigkeit für die neu einzuführenden ICEs angehoben werden. Diese verkehrten ab dem 2. Juni 1991 planmäßig auch auf der Riedbahn. Jörn Schramm verdanken wir diese Aufnahme eines „Malheurs“ am 15. August 1990, nachdem ein bei den Bauarbeiten eingesetzter Kran umgestürzt war. Im Hintergrund zieht Knallfrosch 141 187 drei Silberlinge nach Mannheim auf dem „falschen Gleis“. Es sieht so aus, als wäre die Oberleitung für das Richtungsgleis nach Mannheim auf der neuen Trasse noch nicht montiert. So wurde wohl vorerst noch dort gefahren, wo nunmehr der umgestürzte Kran den Betrieb behindert. Bemerkenswert sind die Bastelkünstler, welche die Strippe wieder neu montieren, und vor allem die gewiß den Maßgaben der Berufsgenossenschaft genügende Leiterkonstruktion. Den durch das Gebüsch leicht verdeckten Hilfszug hat 212 052 zur Unfallstelle gebracht.
Bild S15: Unbekannter Streckenläufer am südlichen Ende des Bahnhofs Stockstadt (Rhein). Die Strecke ist noch nicht elektrifiziert und das Überholgleis des Bahnhofs Richtung Frankfurt ist auch am südlichen Ende noch angebunden. Das Aufnahmejahr ist unbekannt, das Bild ist in einem Winter vor 1964 entstanden. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em2008.0082.