Signal in Griesheim. Formsignal in Griesheim.

Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau

Flankenfahrt in Biblis

Dokumentation

1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Hauptverlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten der Strecken­abschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.

Am 9. März 1895 stießen bei einer Flankenfahrt im Bahnhof von Biblis zwei Züge zusammen. Neben organisatorischen Mängeln wird hier eine Überforderung der Bahn­bediensteten deutlich. Menschen kamen an diesem nebligen Morgen nicht zu Schaden.


Am 11. März 1895 vermeldete die „Darmstädter Zeitung“ lakonisch: „Auf der Station Biblis der Strecke Darmstadt – Rosengarten fuhr ein Personenzug in einen Güterzug. Es entstand nur Materialschaden.“ In der Nachmittags­ausgabe desselben Tages wurden Details berichtet (siehe nachstehende Grafik).

Zeitungsmeldung.
Abbildung 1: Ausführlicherer Bericht der „Darmstädter Zeitung“ am 11. März 1895.

Die Specialdirection der Hessische Ludwigsbahn hatte dem Großherzoglichen Regierungs-Commissär monatlich einen Bericht mitsamt Statistik über die Unfälle auf den Gleisen und Bahnhöfen abzuliefern. Neben Arbeitsunfällen werden hier betriebsbedingte Vorkommnisse, Unfälle an Bahnübergängen, aber auch Zugunglücke aufgeführt. In den Jahren 1893 bis 1896 gab es auf der Riedbahn zwei größere Vorkommnisse. Während am 1. Dezember 1893 vor der Station Gernsheim ein von Süden kommender Schnellzug auf einen im Bahnhof stehenden Güterzug auffuhr, bei der ein Zugführer leicht verletzt wurde, fuhr am 9. März 1895 in Biblis ein Personenzug seitlich in einen wartenden Güterzug. Es entstand hierbei einiger Sachschaden, jedoch ernsthaft verletzt wurde keine und niemand.

Es herrschte am Morgen dieses Tages dichter Nebel. Der Bahnhof bot auf vier Gleisen Platz für vier Züge. Nach Norden ging die zweigleisige Strecke über Goddelau-Erfelden nach Frankfurt bzw. Darmstadt, während Ende des 19. Jahrhunderts nach Süden Richrung Mannheim und nach Südwesten Richtung Worms (Endstation Rosengarten) die Bahnlinie eingleisig geführt wurde. In der Regel wurden die Züge von Darmstadt nach Worms bzw. von Frankfurt nach Mannheim kurz hintereinander gefahren, so daß entweder in Goddelau-Erfelden oder in Biblis die Möglichkeit zum Umsteigen gegeben war.

Der Winterfahrplan 1894/95 liegt mir nicht vor. Hier mag die Zugfolge auf der Riedbahn zwei Jahre später im Winterfahrplan 1896/97 genügen. Zug No. 154 kam um 731 Uhr an und fuhr zwei Minuten später nach Mannheim weiter. Kurz darauf kam Zug No. 200 um 739 Uhr an und fuhr eine Minute später nach Worms. In der Gegenrichtung erreichte der Schnellzug No. 155 um 730 Uhr Biblis und besaß dort eine Minute Aufenthalt, bevor er nach Frankfurt weiterfuhr. Von Worms bestand Anschluß mit Zug No. 203, der um 729 Uhr ankam und in Biblis fahrplanmäßig endete. Dieser Zug wurde als Zug No. 202ª um 818 Uhr nach Worms zurück gefahren und stellte den Anschluß von Frankfurt und Darmstadt mit Schnellzug No. 158 her.

Unglücklicherweise hatte an diesem Morgen der Güterzug No. 571 Verspätung, so daß nun fünf Züge auf vier Gleisen abzufertigen waren. Theoretisch war das machbar, es erforderte jedoch einen gewissen logistischen Aufwand, der mit einem Umsetzen einzelner Züge verbunden war. Den Hergang können wir einem Bericht der Specialdirection der Hessischen Ludwigsbahn an den Regierungs-Commissär entnehmen:

Stationsgebäude Biblis.
Bild 2: Das Stationsgebäude des Bahnhofs Biblis heute.

„Am 9. März d[ieses] J[ahre]s Vormittags 747 Uhr fand in der Station Biblis ein Zusammenstoß statt.

An dem genannten Tage war der stark belastete Zug No. 571 mit 122 Achsen erst 720 Uhr Vormittags zu Biblis eingefahren, statt um 625 Uhr. Der Zug war von den Zügen No. 153 und 159 überholt worden. Infolge dessen mußte Zug No. 571 in Biblis verbleiben, bis die Züge No. 154, 203, 200, 155 abgefertigt waren. Zug No. 155 hatte in Gleise I, Zug No. 154 in Gleise II, Zug No. 200 in Gleise III und Zug No. 203 in Gleise IV zu fahren. Zug No. 571 konnte nur in Gleise IV untergebracht werden und mußte zu diesem Zwecke Zug No. 203 in Gleise III statt in Gleise IV einfahren, sowie sofort nach Einfahrt in Gleise IV auswechseln, um dem zu erwartenden Zuge No. 200 Platz zu machen. Gleise IV hat eine nutzbare Länge von 458 m., während Zug No. 571 und Zug No. 203 eine Gesammtlänge von etwa 560 m. einnehmen. Für die Einfahrt von Zug No. 203 hatte Zug No. 571 gegen Norden die Kreuzung der Gleise IV und III überfahren müssen, um die Kreuzung dieser Gleise gegen Süden für den einfahrenden Zug No. 203 frei zu ziehen. Nach Einfahrt des Zuges No. 203 mußte Zug No. 571 gegen Süden über die Kreuzung der Gleise III u[nd] IV herausfahren, um dem von Norden aus Gleis III in Gleis IV auswechselnden Zuge No. 203 und dem hiernach in Gleis III einfahrenden Zuge 200 Platz zu machen. Nach Einfahrt von Zug No. 200 hätte alsdann Zug No. 571 wieder in Gleise IV vorziehen müssen, um dem Zuge No. 200 die Ausfahrt frei zu machen. Zug No. 200 fuhr jedoch ab, ehe Zug No. 571 durch Vorfahren die Kreuzung der Gleise II u[nd] IV gegen Süden frei gezogen hatte. Infolge dessen traf Zug No. 200 an genannter Kreuzung den Zug No. 571 in der Flanke.

Durch den Unfall wurden Personen nicht verletzt.

Von Zug No. 200 wurde die Maschine, von Zug No. 571 wurden 6 Wagen, darunter 4 erheblicher beschädigt, 3 umgeworfen. Der Materialschaden beträgt etwa 1500 M[ar]k. Die Gleiseverbindung mit Rosengarten war gesperrt. Zug No. 200 konnte nicht weiter gefahren werden. Die Reisenden wurden mit Zug No. 158 über Bürstadt befördert. Zug No. 590ª fiel aus, Zug No. 592 wurde vereinigt mit Zug No. 582 über Lampertheim und von da in Sonderfahrt bis Rosengarten gefahren. Bei Zug No. 204 wurde an der Unfallstelle umgestiegen zu welchem Zwecke von Rosengarten ein besonderer Zug abgesondert war. Zug No. 205 fiel bis Biblis aus. Die Reisenden wurden über Bürstadt mit Zug No. 157 befördert. Zug No. 206 konnte zuerst passiren, erhielt jedoch 21 Minuten Verspätung. Wegen fehlender Maschine erhielt Zug No. 580 in Rosengarten 210 Minuten Verspätung. Sonstige Störungen kamen nicht vor.

Die Schuldfrage anlangend, so behauptet Stationsverwalter M., nur dem Zug No. 154 (Frankfurt – Mannheim), der neben dem Zug No. 200 (Darmstadt – Worms) gehalten hat, Abfahrtserlaubnis gegeben zu haben. Trotzdem habe auch der Zugführer R. von Zug No. 200 seinem Zug Signal zur Abfahrt gegeben, und sei es ihm, dem Verwalter, als er diese bemerkte, nicht mehr möglich gewesen, den Zug No. 200 zu stellen. Zugführer R. dagegen behauptet, von dem Verwalter die Abfahrtserlaubnis erhalten zu haben.

Dieser Widerspruch wird nur durch die gerichtliche Untersuchung, welche auf unsere Anzeige hin, eingeleitet ist, aufgeklärt werden können.

Den Lokomotivführer des Zuges No. 200 scheint ein Verschulden nicht zu treffen, da durch Zeugen bestätigt ist, daß der Nebel zur Zeit des Unfalls so dicht war, daß man nur auf kurze Entfernung sehen konnte.“

Unter normalen Voraussetzungen ist der Bericht nicht ganz schlüssig. Weshalb konnten beispielsweise die Züge No. 154 und 200 nicht hintereinander auf demselben Gleis II abgefertigt werden? Damit wäre Gleis IV für den Güterzug und Gleis III für den in Biblis endenden Personenzug aus Worms bzw. Rosengarten verfügbar gewesen. Oder gab es nach Südwesten hin keine Weiche von Gleis II in Richtung Worms? (Hier wäre ein Gleisplan aus der damaligen Zeit hilfreich.) Vermutlich, vielleicht auch aufgrund des Nebels, kam Zug No. 155 aus Mannheim mit Verspätung an, weshalb Zug No. 154 wegen der eingleisigen Strecke zwischen Biblis und Lampertheim warten mußte. Deshalb standen dann die Züge No. 154 und 200, die sonst mit einigen Minuten Abstand hintereinander geführt wurden, auf demselben Bahnsteig nebeneinander. Diese Frage wird hier nicht thematisiert.

Auch ist unklar, was aus Zug Nr. 203 geworden ist, nachdem er über die nördliche Weiche aus Gleis III in Gleis IV gewechselt ist. Wenn es heißt, Zug No. 571 hätte in Gleis IV wieder von Süden nach Norden vorziehen müssen, heißt das, daß Zug No. 203 solange auf der freien Strecke zwischen Groß-Rohrheim und Biblis „geparkt“ wurde? Allerdings wäre dann zu beachten gewesen, daß in knapp einer halben Stunde der Schnellzug No. 158 aus Frankfurt einfahren würde. Hat es ein Abstellgleis gegeben? Wo war Zug No. 159 geblieben, der um 705 aus Mannheim kommend in Biblis geendet hatte?

Im vorliegenden Bericht scheint nur die Schuldfrage zu interessieren, also: wurden beide Züge auf dem Mittelbahnsteig abgefertigt oder gab es ein kommunikatives Mißverständnis zwischen Stationsverwalter und dem Zugführer von Zug No. 200? Dabei wäre es doch sicherlich sinnvoll gewesen, den Unfallhergang vollständig zu rekonstruieren, um eine Wiederholung dieses Vorfalls zu vermeiden.


Literatur


 
 
 
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