Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau
Walter Kuhl
Rangierfahrt auf der Riedbahn.
Auf der Riedbahn.
Formsignale Lorsch.
Ausfahrt Lorsch.
Nibelungenexpreß.
Nibelungenexpreß.
Bahnhof Lorsch.
Lorsch.
Königshalle Lorsch.
Monument der Mächtigen.

Die Riedbahn von Darmstadt nach Goddelau

Die Tabakarbeiter in Lorsch meutern

Eine Episode aus der hessischen Reaktion

1869 wurde die Riedbahn zwischen Darmstadt und Worms eröffnet. Die heutige Riedbahn mit ihrem Haupt­verlauf von Mannheim nach Frankfurt wurde erst zehn Jahre später errichtet. Dokumentiert wird auf meinen Riedbahn-Seiten vor allem der Strecken­abschnitt zwischen Darmstadt und Goddelau.

In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts soll die Tabakpflanze ihren Weg ins südhessische Ried bei Worms gefunden haben. 1859 eröffnete ein geschäftstüchtiger Fabrikant die erste Lorscher Tabakfabrik. Weitere Fabrikanten folgten und beuteten die Arbeitskraft hunderter Menschen bei langen Arbeitszeiten und geringen Löhnen aus. Diese Entwicklung geschah nicht reibungslos, wie eine Episode zeigt, die 1865 in den „Hessischen Volksblättern“ ihren Niederschlag gefunden hat.

Die hier vorliegende Darstellung ist als Fragment zu betrachten, denn weitere Informationen zu diesem – angesichts eines nicht vorhandenen Streikrechts sehr ungewöhnlichen – Aufbegehren der Lorscher Bevölkerung fehlen (mir). Dennoch halte ich es für wichtig, diese Auseinander­setzung festzuhalten, denn sie ist in gewisser Weise der Vorbote zu den sich ab 1869 entwickelnden Streiks in Südhessen, vor allem in Darmstadt.


Ein Fragment

[Aufruhr in Lorsch.]

Lorsch, 25. Mai.  Von hier habe ich Ihnen über eine Arbeitseinstellung der Cigarrenarbeiter zu berichten. Es bestehen hier wohl an 10 Cigarrenfabriken die zusammen mehrere Hundert Arbeiter, die eine eine größere, die andere eine kleinere Anzahl beschäftigen. Die Arbeiter sind fast ausschließlich hier ansässig. Nun kam es nicht selten vor, daß einzelne Arbeiter Vorschüsse erhielten, dann aber alsbald ihre bisherigen Dienstherrn verließen, ohne ihre Schuldigkeit abzuverdienen, und bei einem anderen Fabrikanten eintraten.

Auch ein weiterer Mißstand machte sich unangenehm fühlbar. Die einzelnen Arbeiter wechselten in der Regel ohne vorherige Kündigung ihre Dienstherrn und brachten letztere besonders dann in große Verlegenheit, wenn gerade pressante Bestellungen auszuführen waren, sobald namentlich der Austretende mit der Art des bestellten Fabrikats besonders vertraut war.

Um diesen Dingen wirksam zu begegnen, trafen nun die hiesigen Fabrikanten das Uebereinkommen, daß Keiner einen hiesigen Arbeiter aufnehmen dürfe, wenn dieser nicht einen schriftlichen Nachweis erbrächte, daß er von seinem bisherigen Arbeitgeber förmlich der Arbeit entlassen sei. Zugleich wurden die Arbeiter für verbindlich erklärt, bei einem Wechsel 14 Tage vorher zu kündigen. Dieses Ueber­einkommen ward den verflossenen Freitag zwischen den Fabrikanten getroffen und den folgenden Tag unter den Arbeitern bekannt. Dieselben hielten nun Massen­versammlungen und beschlossen, die Arbeit einzustellen, bis dieses Ueber­einkommen für aufgehoben erklärt würde. In der That haben sie denn auch am verflossenen Montag ihre Arbeit eingestellt und feiern bis zur Stunde, doch glaubt man an keine lange Renitenz, da die Arbeiter, wie bemerkt, größtentheils von hier gebürtig und deßhalb, ohne größere Vortheile aufzugeben, nicht in der Lage sind, in auswärtige Fabriken einzutreten. Die Forderungen der Fabrikanten wird aber kein vernünftig Denkender unbillig finden.

Quelle: Hessische Volksblätter vom 27. Mai 1865.

Erklärung der Tabakarbeiter.

Erklärung der Tabak­arbeiter als Annonce in den Hessischen Volks­blättern vom 31. Mai 1865.

Vielleicht lag der Konflikt darin begründet, daß die Lorscher Dorf­bevölkerung sich einem ihr aufgezwungenen Fabrikregime nicht so ohne weiteres unterwerfen wollte. Wir erfahren weder etwas über Arbeitszeiten und Arbeits­bedingungen, noch über Lohnhöhen. Hinzu kommt, daß die Arbeiter vermutlich auch noch einen eigenen Hof zu bestellen hatten und somit personell und zeitlich in Konflikt mit der permanten Unterordnung unter die Bedingungen der Fabrikarbeit gerieten. Wenn es ihnen daher beim einen Fabrikanten nicht paßte, gingen sie eben zum nächsten. Daß Fabrikanten derlei ungehörig finden, versteht sich von selbst, denn ihnen ist es einerlei, ob die ihnen vertraglich verpflichteten Arbeiter ganz andere Sorgen haben. Das Fabrikanten­kartell belegt, daß sie sich ihrer Macht bewußt waren und sie auch gezielt zur Disziplinierung der Arbeiter einzusetzen gewillt waren. Vermutlich wird der Massen­ausstand aufgrund des wirtschaftlichen Drucks bald beendet worden sein. Möglicherweise hat dieses Erlebnis zu einer gewissen Politisierung geführt, woraus ein Arbeiterverein entstanden ist. Als gravierendes Problem stellte sich schon hier die als „Schmutz­konkurrenz“ begriffene Frauenarbeit heraus, die selbstredend von den Fabrikanten nicht zuletzt deswegen eingeführt wurde, um die individuelle wie kollektive Verhandlungs­macht der arbeitenden Männer zu brechen.

[Männerbilder über Schmutzkonkurrenz.]

Lorsch, 3. Jan.  Es besteht hier ein Cigarren-Arbeiter-Verein, der gegen hundert Mitglieder zählt. Im Laufe des vergangenen Monates hielt derselbe eine Versammlung, in welcher unter Anderem das Statut zur Gründung einer Assecuranz gegen Arbeits­losigkeit berathen wurde. Einen Haupt­gegenstand der Besprechung bildete aber die Frauenarbeit, eine Concurrenz, welche natürlich den Arbeitslohn des Cigarren­arbeiters bedeutend herabdrückt und dessen Emporkommen hindernd im Wege steht. Diesem Uebel wirksam entgegenzutreten, war schon längst Vieler Absicht und so kam es zu folgendem Beschlusse: Dem ferneren Anlernen von Mädchen zum Cigarrenmachen entschieden entgegenzutreten, zuerst mit der gütigen Vorstellung, daß dem Manne in Folge seiner größeren Bedürfnisse, seiner schwereren, ihm vom Staate, von der Gemeinde und in der Ehe auferlegten Pflichten der bessere Verdienst gebühre und auf den er daher volle Ansprüche mache.

Leider war dieses seither umgekehrt der Fall, besonders jetzt durch die „Frauenemancipateurs.“ Geschieht jedoch dieser Vorstellung nicht Genüge, so haben die Mitglieder freiwillig erklärt, die Arbeit zu verlassen, und daß, wer dies nicht thue, seiner Rechte an die Krankenkasse verlustig sein wolle, was die Versammlung als endügltigen Beschluß entgegen nahm. Drei weitere Puncte: Die Aufhebung oder Einstellung der „Zuchthausarbeit“; die Einrichtung gesunder Arbeitslocale und die Gründung von Productiv­associationen wurden nicht eingehend in Berathung gezogen, da in den gegebenen Verhältnissen die nothwendigen Voraussetzungen fehlen, um in dieser Hinsicht mit Aussicht auf Erfolg thätig zu sein.  (M[annheimer] Ab[en]dbl[att]).

Quelle: Hessische Volksblätter vom 6. Januar 1866.

Die Erwähnung ungesunder Arbeitslokale scheint darauf zu verweisen, daß die Arbeits­bedingungen in den Zigarren­fabriken alles andere als angenehm waren. Worin das ungesunde Klima bestanden haben mag, erfahren wir leider nicht. Daß die Arbeiter davon ausgegangen sind, daran nichts ändern zu können, ist bezeichnend für die Geisteshaltung von Fabrikanten, denen ihr Geschäft über alles geht. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Die überregionale Organisierung der Tabakarbeiter in Gewerkschaften oder Unterstützungs­vereinen wurde von Anfang an mit polizeilichen Maßnahmen und Verboten behindert. Das Sozialisten­gesetz von 1878 war ohnehin gegen jedwede sozial­demokratische Politik gerichtet, mußte aber 1890 fallengelassen werden. Selbst­verständlich suchte die Arbeiterbewegung auch innerhalb dieses repressiven Rahmens nach Möglich­keiten, die staatliche Gängelung zu unterwandern. Die Frage nach der Organisierung von Frauen und ein geändertes Verhältnis zu den Tabak­arbeiterinnen wurde in diesem gesell­schaftlichen Klima als nachrangig betrachtet. Die Selbst­organisierung der Arbeiterklasse war eben eine männliche Veranstaltung. Der Kongreß des Unterstützungs­vereins Deutscher Tabakarbeiter 1889 in Erfurt räumte immerhin mit der Vorstellung auf, mit dem Verbot der Frauenarbeit eine lästige Konkurrenz loswerden zu können.

„Der Kongreß erkannte in der zunehmenden Frauenarbeit nur eine Wirkung der modernen Produktion. Er hielt ‚daher ein gesetzliches Verbot oder auch nur eine Einschränkung der Frauenarbeit, soweit nicht eine solche nötig erscheint in Bezug auf den der verheirateten Frau zur Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten notwendigen Schutz, wie in Bezug auf diejenigen Beschäftigungen, welche der körperlichen Beschaffenheit der Frau widersprechen, nicht nur für vollständig unwirksam, sondern auch für eine nicht zu rechtfertigende Beeinträchtigung der auch von den Frauen zu beanspruchenden wirtschaft­lichen Bewegungs­freiheit.‘ Der Kongreß erklärte deshalb als einzig wirksames Mittel zur Beseitigung der im Gefolge der Frauenarbeit entstandenen Übelstände die politische und wirtschaft­liche Gleich­stellung der Frau mit dem Mann und forderte zur Erreichung dieses Zieles zunächst das unbeschränkte Koalitionsrecht auch für die Frauen und die Beseitigung aller dasselbe beschränkenden Gesetze und Verordnungen. Von allen zielbewußten männlichen Tabak­arbeitern verlangte er, unablässig für die Aufklärung und die Organisation der Kolleginnen, besonders aber für die unbedingte Gleichstellung der Löhne der Frauen mit denen der Männer zu wirken.“ [1]

Es war eben nicht einfach die rückständige Gesinnung der Lorscher Land­bevölkerung, die sie Frauenarbeit ablehnen ließ, sondern überhaupt das patriarchale Denken, nur dem Manne gehöre der bessere Verdienst. Ein Denken übrigens, das durchaus auch im 21. Jahrhundert hierzulande anzutreffen ist.