Die Beeteinfassung der Bahnhofsrestauration
Marginalia zwischen Archäologie und Kunstgeschichte
Schon in den 1850er Jahren wurde auf einem Nachbargrundstück des Bahnhofs ein großzügiges Restaurationsgebäude betrieben. Es beherbergte seit 1858 auch die Post und verfügte über eine Gartenwirtschaft. Neben einer der Granitmauern legte frau oder man ein Beet an, das mit einer speziell angefertigten Keramik abgegrenzt wurde. Beim Entwurzeln des jahrzehntelang verwilderten Grundstücks entdeckte ich diese Keramik wieder. Die meisten Exemplare waren zerbrochen, aber einige wenige waren noch relativ gut erhalten. Mit Erlaubnis der Grundstückseigentümerin habe ich sie ausgegraben und zeige sie hier.
»» Siehe auch: Ansichtskartenmotive des Bahnhofs und seiner Umgebung.
Abbildung 1: Bahnhofsszene in Seitschen auf einer Ende 1903 gelaufenen nachkolorierten Ansichtskarte, Verlag Deubner und Schulze, Bautzen.
1903 besaß Seitschen noch einen Bahnübergang über die zweigleisige Strecke, neben der ein Gütergleis verlief. Die Rangierarbeiten müssen derart langwierig und störend gewesen sein, daß sich die Anlieger und Fuhrunternehmer über die lange geschlossenen Schranken beschwerten. Deshalb wurde in den Folgejahren eine Umgehungsstraße gebaut, der Bahnübergang geschlossen und eine Fußgängerunterführung eingerichtet. Die Arbeiten hieran wurden 1914 beendet.
Das Restaurationsgebäude selbst stammt wohl aus den 1850er Jahren. Zu diesem Zeitpunkt scheint es noch keine Wartehalle für die wenigen Reisenden gegeben zu haben. Daß Seitschen schon mit Eröffnung der Strecke eine eigene Station erhalten hat, dürfte eher mit dem Abtransport landwirtschaftlicher Erzeugnisse zusammenhängen. Schon im September 1846 soll J. C. Wobst eine Kalk-Niederlage eingerichtet haben. Die wenig später gebaute Restauration dürfte das erste steinerne Gebäude auf dem Sandhügel oberhalb von Groß- und Kleinseitschen gewesen sein. Vielleicht wird es schon bald Ausflugsverkehr aus Dresden, Bautzen und Görlitz gegeben haben. Neben der hierüber betriebenen Bahnexpedition wurde 1858 eine Poststelle eingerichtet.
Der damalige Postvorsteher Mietsch schrieb anlälich des 75-jährigen Bestehens der Postanstalt Seitschen 1933:
„Das Tax-Regulativ vom Jahre 1841 enthält noch folgende Bestimmungen über die Postversorgung des Landes: 1. Die Briefe werden von den Landbriefträgern den in die Stadt kommenden Landleuten zur Besorgung übergeben. 2. Die Briefe werden durch eigene Boten der Ortsbewohner von der Post zur Besorgung abgeholt. 3. Die Briefe werden durch angestellte Landboten bestellt. 4. In allen anderen Fällen werden die Briefe von 8 zu 8 Tagen durch expresse Boten nach dem Lande befördert. Der Botenlohn wird auf die Sendungen verteilt.
Hier in Seitschen trat vor 75 Jahren, am 1. Februar 1858, eine bedeutende Besserung ein. An diesem Tage wurde an dem an der Sächs.-Schles. Staatseisenbahn gelegenen Haltepunkt Seitschen bei Budissin eine Postexpedition eröffnet. Zum Vorstand ist der Besitzer der Eisenbahnrestauration, Johann Ernst Krahl, ernannt worden. Die Postexpedition hatte bei den Zügen 6 Uhr früh aus Dresden und 6 Uhr früh aus Görlitz Briefe und Fahrpostgegenstände, bei den Zügen 11½ Uhr vormittags und 4½ Uhr nachmittags aus Dresden nur Briefe auf das fahrende Postamt Dresden–Görlitz abzusenden und von ihm zu empfangen. Den Landbestellbezirk bildeten die Orte Birkau, Alt- und Neubloaschütz, Bolbritz, Brösang, Carlsdorf, Coblenz, Cossern, Dahren, Dobranitz, Döberkitz, Döbschke, Drauschkowitz, Klein- und Oberförstchen, Gaußig mit Kleingaußig, Gnaschwitz, Göda, Golenz, Günthersdorf, Jannowitz, Katschwitz, Rothnaußlitz mit Vogelgesang, Weißnaußlitz, Medewitz, Nedaschütz, Pietschwitz, Kleinpraga, Preske, Buscheritz, Puschermühle, Groß- und Kleinseitschen, Semmichau, Siebitz, Spittwitz mit Scala, Schwarzwasser und Neuspittwitz, Techritz und Zockau.
(Im Orte Göda ist am 16. April 1883 eine Postagentur eingerichtet worden.)
Vorsteher der Postanstalt Seitschen waren: Krahl, Ruick, Dienal, Oeser, Kröner, Gattermann, Pohle, Thiele, Lange und seit 1. Oktober 1900 Mietsch.
Das Postlokal befand sich von 1858 bis 1866 in der Bahnhofsrestauration, 1866 bis 1883 im Rittergut Großseitschen, 1883 bis 31. März 1895 in der Bahnhofsrestauration und seit dem 1. April 1895 im jetzigen Postgebäude.“ [1]
Eine erste Wartehalle entstand 1872 als Vorläufer des bald darauf errichteten Empfangsgebäudes; möglicherweise handelt es sich hierbei um den noch erhaltenen, wenn auch umgebauten Schuppen einige Meter westlich des Bahnhofes.
Das Restaurationsgebäude konnte von der Straße her seitlich über eine Treppe erreicht werden oder vom Bahnhofsvorplatz aus über eine von zwei Seiten begehbare Treppe. Diese muß noch vor dem Ersten Weltkrieg umgebaut worden sein. Überhaupt standen 1899/1900 einige größere Umbauten am Bahnhofsgebäude an. [2]
Bild 2: Mehr als einhundert Jahre später verfällt das einst stattliche Gebäude vor sich hin. Oberhalb der Granitmauer befindet sich das Beet. Aufnahme vom Februar 2019.
Jahrzehntelang diente das Gebäude als Poststelle, Kneipe, Versammlungsort, Ausflugslokal und Herberge. Mitte der 1980er Jahre konnte der damalige schon recht betagte Wirt die Gaststätte nicht länger betreiben; und mit der Eingemeindung der DDR in das Hoheitsgebiet des ehemaligen Klassenfeindes wurden auch die Übernachtungsplätze für das einstmals reichliche Reichsbahnpersonal entbehrlich. Das Grundstück samt Gebäude verschwand mit der Bahnreform von 1994 im undurchdringlichen Dickicht des Aktiengesellschafts-Konglomerats; welche Abteilung der Deutschen Bahn AG hierfür heute zuständig ist, dürfte nur Eingeweihten bekannt sein. Irgendwie gelang es der Deutschen Bahn, das Gebäude dem Denkmalschutz zu entziehen. Anders als das liebevoll restaurierte Postgebäude der Jahrhundertwende [3] und das mehrfach umgestaltete Bahnhofsgebäude wird ausgerechnet das erste Haus am Ort mit weitreichender, auch kulturgeschichtlicher Bedeutung nicht auf der Liste der Kulturdenkmäler des Freistaates Sachsen geführt [4]. Folglich wacht kein Denkmalschutz darüber, daß die ehemalige Bahnhofsrestauration zumindest vor dem Verfall bewahrt wird.
Gerüchten zufolge sollte das Grunstück vorgehalten werden, um im Falle einer irgendwann einmal kommenden Elektrifizierung der Eisenbahnstrecke von Dresden nach Görlitz einem Umspannwerk Platz zu bieten. Ein internes Gutachten der Deutschen Bahn AG empfiehlt aufgrund der Schäden an Dach und Dachgeschoß einen Gebäuderückbau. Daher stand im Spätsommer 2019 das Gebäude mitsamt Grundstück zum Verkauf. Die Gemeinde Göda bekundet Interesse an dem Grundstück; sie möchte dort einen Parkplatz für Pendlerinnen und Pendler errichten. Ob sie dafür auch das Gebäude abreißen lassen muß, ist angesichts des dokumentierten Verfalls nicht auszuschließen; auch wenn das Grundstücksgelände daneben für den angedachten Zweck ausreichen sollte. Wundern sollten wir uns jedoch nicht, wenn ein architektonisches Denkmal aus der Zeit des Eisenbahnbaus irgendwann einmal der Spitzhacke zum Opfer fällt. Kulturbarbarei hautnah erlebt. [5]
Bild 3: Erstaunlich intakt präsentieren sich diese fünf Beeteinfassungskeramiken bei der Freilegung des von Gestrüpp überwucherten ehemaligen dekorativen Beetes der Gartenwirtschaft. Die hier sichtbaren Scherben lagen schon etwa an dieser Stelle zerdeppert im Erdreich.
Seit Mitte der 1980er, spätestens Beginn der 1990er Jahre ist das Gelände sich selbst überlassen. Das allgegenwärtige Unkraut kleinerer Robinienbäumchen hat sein Wurzelwerk unterirdisch angelegt. Im Juli 2014 mußte die Freiwillige Feuerwehr anrücken, um zwei kleine Linden zu zersägen, die auf den Bahnhofsvorplatz gefallen waren bzw. zu fallen drohten [6]. An der Seitentreppe mußte schon vorher ein Baum gefällt werden, der die Granitmauer zu sprengen drohte; neben dem Baum wurde gleich auch das Mauerwerk an dieser Stelle entsorgt. Das wohl schon Ende des 19. Jahrhunderts angelegte Beet blieb erstaunlicherweise erhalten, auch wenn sich dort Pflanzen niedergelassen hatten, die da nicht hingehörten. Es müssen einstmals rund fünfzig Beetbegrenzungen aus Keramik eingesetzt worden sein. Knapp ein Dutzend hiervon ließen sich mit minimalen Beschädigungen aus dem Erdreich holen, von weiteren Exemplaren sind nur noch mehr oder weniger große Scherben vorhanden.
Bild 4: Zwei dieser Keramiken in der Vorderansicht.
Bild 5: Dieselben beiden Keramiken in der Rückenansicht. Gut zu erkennen ist die leichte Krümmung.
Derartige Beeteinfassungskeramiken scheinen von mehreren Ziegeleien gegen Ende des 19. Jahrhundert hergestellt worden zu sein. H. Liebelt schreibt hierzu in der Tonindustrie-Zeitung 1929:
„Die einfacheren Formen kann sich jeder einigermaßen geschickte Ziegler, der auf der Fachschule etwas modellieren und formen gelernt hat, selbst anfertigen. Das notwendige Handwerkzeug zur Bearbeitung des bildsamen Tones besteht aus einer Anzahl Modellierhölzern, einigen Pinseln und einem Schwamm. Das Modell wird in Ton geformt und dann in Gips abgegossen, damit erhält man das Negativ in Gips. Die Gipsform wird vorsichtig abgenommen, von anhängenden Tonrückständen gesäubert, und man ist in der Lage, mit ihr eine große Anzahl von Beeteinfassungssteinen in Ton abformen zu können. Wenn es sich um schwierigere Modelle handelt, auch solche mit Unterschneidungen, tut man besser, die Hilfe eines Formgießers auf kurze Zeit in Anspruch zu nehmen. Anfänglich lassen die Formlinge mitunter schwer von der Gipsform los; man hilft sich dann dadurch, daß man die frischgetrocknete Form mit weichem Tonschlicker bewirft und den Schlicker in der Form ansteifen läßt. Nachdem man den Schlicker entfernt hat, geht das Einformen ohne Schwierigkeiten vor sich. Die Einfassungsziegel werden gerade und gebogen hergestellt; die Durchbiegung wird so erreicht, daß der gerade geformte Einfassungsstein auf gebogene Trockenrähmchen gelegt wird. Er nimmt ohne weiteres die Form an, die ihm durch das gerundete Trockenbrettchen vorgeschrieben wird.“ [7]
Bild 6: Inmitten des vom Gestrüpp durchsetzen Erdreichs fand sich diese Bodenfliese.
Die Scherben einer Bodenfliese lagen derart unmotiviert im Erdreich, daß ich annehme, sie entstammen dem Restaurationsgebäude. Da selbiges aus gutem Grund unzugänglich verbarrikadiert ist – das Dach ist undicht und damit sind Feuchteschäden aller Art zu gewärtigen –, kann ich hier nur eine Vermutung anstellen. Leider fehlt ein weiteres Stück dieser Fliese, die sich ansonsten wohl recht paßgenau wieder zusammenflicken ließe. Ähnliche Exemplare habe ich in den Bahnhofsunterführungen von Horka und Hoyerswerda entdeckt. Der Herstellungszeitraum muß erst einmal unbestimmt bleiben.
Bild 7: Bahnhofsunterführung von Horka.