Rheinstraße.
Rheinstraße.
Auf dem Ernst-Ludwigs-Platz.
Zentraler Umstieg am Weißen Turm.
Landesmuseum.
Vor dem Landesmuseum.
Am Truppenübungsplatz.
Am Truppenübungsplatz.
Marktplatz.
Auf dem Marktplatz.

Die Straßenbahn in Darmstadt

Die Elektrische kommt nach Griesheim

Teil 1 einer Geschichte mit vielerlei Abschweifungen (1918 bis 1926)

1886 errichtete ein privates Konsortium die ersten beiden Straßenbahn­strecken in die Vororte Eberstadt und Griesheim, denen 1890 eine weitere Strecke nach Arheilgen folgte. Im Grunde handelte es sich um die Schmalspur­ausführung einer dampf­betriebenen Eisenbahn. Alle drei Linien standen in Konkurrenz zur parallel verlaufenden Eisenbahn. Die Stadt Darmstadt sah die inner­städtischen Verkehrs­bedürfnisse des Bürgertums nicht abgedeckt und ließ ein eigenes elektrisches Straßen­bahn­netz aufbauen. Aus der Verschmelzung beider Gesellschaften entstand 1912 die Hessische Eisenbahn Aktien­gesellschaft, kurz HEAG. Die Dampfstrecken wurden elektrifiziert; ein Vorgang, der aufgrund des Ersten Weltkriegs und der nachfolgenden französischen Besatzung Arheilgens und Griesheims erst 1926 abgeschlossen war.

Doch bis auch in Griesheim die Umstellung von der Dampfstraßenbahn auf elektrischen Betrieb durchgeführt war, bedurfte es zäher Verhandlungen, offener Grenzen und fleißiger Arbeiter, deren Werk in den seltensten Fällen gewürdigt wird. Lieber feiern sich die Honoratioren ob ihrer genialen Visionen.

Die Darstellung dieser Geschichte beruht weitestgehend auf den Schilderungen und Verlautbarungen im „Neuen Griesheimer Anzeiger“, im Folgenden mit „NGA“ abgekürzt [1]. Dies erweist sich trotz der erkennbaren Einseitigkeit als durchaus nützlich, weil somit der Fokus auf die lokalen Einstellungen, Befindlich­keiten und Interessen gelenkt wird, was bei der üblicher­weise in der Literatur hervor­stechenden Darmstädter Sicht regelmäßig zu kurz kommt. Zu der hier vorliegenden Darstellung gibt es einen ergänzenden Dokumententeil mit der Wiedergabe einzelner Erklärungen des damaligen Griesheimer Bürger­meisters Georg Schüler, der Konzessions­urkunde für den Straßen­bahnbau, sowie einen Schriftwechsel zum Umgang mit dem Bordell in der Nähe des Truppen­übungsplatzes.

Die Rechtschreibung mitsamt syntaktischer Fehler wurde beibehalten, nur dort, wo zum Verständnis erforderlich, (gekennzeichnet) verbessert oder ergänzt. Die im Original gesperrt gedruckten Passagen werden hier kursiv wiedergegeben. Bei Tausenderzahlen wurden die Punkte ergänzt, bei Währungs­angaben die Punkte durch Kommata ersetzt. Die abgeschriebenen Zitate wurden nicht immer noch einmal Wort für Wort gegen­geprüft, so daß Fehler beim Abschreiben unentdeckt geblieben sein können. Diese sind von außen umso schwieriger zu entdecken, da der Redakteur zuweilen auch nicht hat Korrektur­lesen lassen, was dem Text ab und an anzumerken ist.

Für die Möglichkeit, die Zeitung einzusehen und bei Bedarf zu scannen, danke ich der 2020 verstorbenen Griesheimer Stadt­archivarin Frau Dr. Ines Wagemann und für die Bereitstellung der digitalisierten und aufbereiteten Bilder Herrn Volker Raabe.

Aufgrund der Fülle des verwendeten Materials wird die Geschichte, wie die Elektrische nach Griesheim gekommen ist, in zwei Teilen erzählt. Die Fortsetzung gibt es hier.


Die folgende Abhandlung betrachtet nicht nur den Verlauf der Ereignisse, die letztendlich zur Ankunft der elektrischen Straßenbahn in Griesheim geführt haben. Die umfängliche Zeitungslektüre eines ganzen Jahrzehnts läßt auch andere berichtenswerte Ereignisstränge erfahrbar werden, die daher mit der Hauptgeschichte verwoben werden sollen. Dabei handelt es sich zum einen um die französische Besatzung des Ortes, die unmittelbare Auswirkungen auf Mobilität, Einkommen und persönliche Freiheiten hatte. Hierbei wird eine der charakteristischen und in der Lokalpresse ausführlich thematisierten Handlungsweisen nicht weiter verfolgt, nämlich den durch die Verarmung während des Ersten Weltkrieges massiv zunehmenden Diebstahl selbst unscheinbarer Dinge wie die zum Trocknen aushängende Wäsche oder den auf den Äckern aufgetragenen Mist. Der alltägliche Diebstahl ist kein speziell Griesheimer Phänomen, wurd jedoch vor Ort deutlich wahrgenommen. Interessanter scheint mir der ab und an vorscheinende Umgang mit der (in gewisser Weise durchaus gewollten) Prostitution rund um den Truppenübungsplatz zu sein oder die Auseinandersetzung zwischen Griesheimer Markt­beschickerinnen und -beschickern und der Darmstädter Ordnungspolizei.

1918–1920: Griesheim wird besetzt und Kohlen sind immer wieder knapp

Erzwang schon während des Ersten Weltkrieges wiederholter Kohlenmangel zur Einschränkung des Betriebes der Dampfstraßenbahn von Darmstadt nach Griesheim, so schuf der Einmarsch der französischen Besatzungstruppen im Dezember 1918 eine vollkommen neue Situation. Je nach politischer Konjunktur und französischen Maßnahmen waren die Grenzen zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Gebiet geschlossen oder mehr oder weniger durchlässig.

Schaffnerinnen.

Bild 1: Während des Ersten Weltkrieges beschäftigte die HEAG eine Vielzahl von Schaffnerinnen. Am 31. März 1917 beispielsweise waren bei der Dampf­straßenbahn ein Beamter, zwölf Arbeiter und 24 Personen Fahrpersonal beschäftigt, davon insgesamt acht Frauen [heag berichte]. Ob es sich um genau diese hier abgebildeten acht Frauen handelt? Quelle: Stadtarchiv Griesheim, gr.2014.0106.

Zu den Waffenstillstandsbedingungen von Compiègne gehörte neben der Besetzung der linksrheinischen Gebiete auch die Einrichtung mehrerer Brückenköpfe, aufgrund derer sich von Mainz aus in einem Radius von etwa dreißig Kilometern die erweiterte französische Besatzungszone erstreckte. Dieser Zustand endete erst mit dem Abzug der frazösischen Truppen am 30. Juni 1930.

Der vorgesehene Radius von dreißig Kilometern wurde nicht konsequent durchgezogen, vielmehr blieben Darmstadt und Frankfurt in der Regel unbesetzt. Die vor allem in den Anfangsjahren scharf bewachte Grenze zwischen dem besetzten und unbesetzten Gebiet verlief demnach an der Darmstädter Stadtgrenze. Griesheim im Westen und Arheilgen im Norden wurden in die Besatzungszone einbezogen.

„Die Besetzung unseres Ortes durch französische Truppen erfolgte am Samstag, den 13. Dezember [2], nachmittags. Gegen Mittag kam von Büttelborn eine etwa 15 bis 20 Mann starke Radfahrer-Patrouille, die vor der Bürgermeisterei abstieg[,] und ihr folgten gegen 2 Uhr 3 Kompagnien Infanterie. Offiziere und Mannschaften wurden in Bürgerquartieren untergebracht. Das Postamt wurde sofort besetzt und der telefonische und telegraphische Verkehr aufgehoben. Auch der Bahnverkehr nach Darmstadt wurde sofort gesperrt. Der letzte Zug der Straßenbahn kam um 7 Uhr von Darmstadt hier an. Am Sonntag wurde durch die Ortsschelle bekannt gemacht, daß jeder Verkehr auf der Straße von abends 8 bis morgens 7 Uhr untersagt ist.

Bis jetzt hat sich die Bevölkerung mit den angeordneten Maßnahmen in taktvoller Weise abgefunden und wird dies auch weiter tun und sich in das Unvermeidliche fügen. Das Verhältnis zwischen den Einwohnern und den Besatzungstruppen ist höflich und korrekt und hat unseres Wissens bis jetzt noch nicht zu den geringsten Beschwerden Anlaß gegeben. Hoffentlich bleibt es so; durch taktvolles Benehmen muß jede Reiberei vermieden und Ruhe und Ordnung gewahrt werden. Insbesondere gilt es auf unsere Jugend ein aufmerksames Auge zu haben. Wie leicht durch einen Dummen­jungenstreich einer ganzen Gemeinde großes Unheil widerfährt, geht aus folgender Nachricht hervor: In Queichheim (Pfalz) warf ein 12jähriger Schüler einen Feuerwerkskörper unter ein fahrendes Auto mit französischem Militär. Durch die Explosion desselben entstand an dem Auto ein Schaden. Infolge dieses Vorfalls wurde der Gemeinde Queichheim eine Geldbuße auferlegt, zu der jede Familie herangezogen wird. Die ganze Gemeinde muß unter einem solchen Lausbubenstreich leiden. Im Uebrigen verweisen wir auf die im Inseratenteil enthaltene Polizeiverordnung [3] und ermahnen zur genauen Beobachtung der darin enthaltenen Bestimmungen.“ [NGA, 22.12.1918]

Mit Beginn des neuen Jahres 1919 wird ein rudimentärer Personenverkehr zwischen dem besetzten und unbesetzten Gebiet zugelassen. Die in Griesheim lebenden Arbeiterinnen und Arbeiter erhalten so Gelegenheit, zu ihren Arbeitsstellen in Darmstadt zu gelangen.

„Griesheim, 7. Jan.  Wie gestern durch die Ortsschelle bekannt gemacht wurde, ist der Verkehr auf der Chaussee nach Darmstadt im Bereiche des besetzten Gebietes nur noch Arbeitern und Arbeiterinnen gestattet. Verschiedene andere Anordnungen sind aus der untenstehenden Bekanntmachung der Bürgermeisterei zu ersehen. [4]

Seit einigen Tagen ist die Benutzung der auf der Riedbahn eingelegten Arbeiterzüge (7 Uhr 10 morgens ab Griesheim und 5 Uhr 10 nachmittags ab Darmstadt) auch den nicht in den Eisenbahn-Werkstätten zu Darmstadt beschäftigten Arbeitern gestattet. Die Bemühungen der Direktion der Dampfstraßenbahn, den Betrieb auf der hiesigen Strecke wieder aufnehmen zu dürfen, hatten bisher keinen Erfolg. Gleichwohl ist der Fahrplan für die Strecke bereits festgesetzt. Der Betrieb auf der Arheilgerstrecke kann nur deshalb stattfinden, weil dies ganz auf neutralem Gebiet liegt.

Gestern ist hier erstmals die Post aus dem besetzten Gebiet zur Ausgabe gelangt. Die wird von hiesigen Postbediensteten in Goddelau abgeholt [5] und gelangt jetzt wieder regelmäßig zur Ausgabe.

Wie man uns mittelt, wurden in letzter Zeit verschiedenen Hausbesitzern in der Gegend Groß-Gerauerstraße – Frankfurterstraße – Kreuzgasse – Alte Darmstädterstraße die Fensterscheiben eingeworfen. Die Tat geschah jedesmal zwischen 6–8 Uhr abends und wurde jedenfalls von jungen Burschen oder Schulbuben ausgeführt. Wer einen solchen Flegel zur Anzeige bringen kann, erhält 20 Mk. Belohnung.“ [NGA, 8.1.1919]

Lag der Grund für das offensichtlich gezielte Einwerfen von Fensterscheiben an der französischen Requirierung? – Erst Mitte April 1919 konnte die Dampfstraßenbahn wieder zwischen Griesheim und Darmstadt verkehren. „Die Züge fahren vorerst noch durch und halten nur an der Kontrollstation am Mühlweg.“ [NGA, 16.4.1919]

Fahrplan-Bekanntmachung.

Abbildung 2: Fahrplan für die Dampfstraßenbahn von Griesheim über den Luisenplatz nach Arheilgen, gültig ab 14. April 1919. Quelle: Annonce im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 19. April 1919.

„Der Gemeinderat beschäftigte sich in seiner Sitzung am Freitag vergangener Woche [am 11.4.1919, WK] zunächst mit dem neuen Fahrtarif der Heag. Unter Aufhebung seines Beschlusses vom 31. März stimmte der Gemeinderat dem vorgelegten Tarifentwurf zu, jedoch unter der Bedingung, daß der Preis für die Beförderung von Stückgut von 60 auf 50 Pfg. herabgesetzt wird.“ [NGA, 19.4.1919].

Fahrplan-Bekanntmachung.

Abbildung 3: Einschränkung des Betriebs der Dampfstraßenbahn an Sonn- und Feiertagen wegen Kohlenmangels, gültig ab 27. April 1919. Quelle: Annonce im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 3. Mai 1919.

Der Sommerfahrplan 1919 brachte einige Verbesserungen.

„Der neue Sommerfahrplan, der mit dem 1. Juni in Kraft tritt, wird soeben für die Eisenbahndirektion Mainz ausgegeben. Er enthält, was für weite Kreise, die beruflich zu reisen genötigt sind, auf vielen Strecken Verbesserungen und Ergänzungen. Bemerkenswert ist, daß der Uebergangsverkehr vom Brückenkopfgebiet nach Frankfurt und Darmstadt erweitert werden konnte, wobei zum Teil auf die Beförderungs­möglichkeit des allgemeinen Verkehrs, nicht nur des Berufsverkehrs Rücksicht genommen wurde. Hervorzuheben ist weiter, daß vielfach durch Führung von Spätzügen den Bedürfnissen des Verkehrs Rechnung getragen wird.“ [NGA, 21.5.1919]

Bei der Dampfstraßenbahn konnten Einschränkungen im Sonn- und Feiertagsverkehr aufgehoben werden. Vergleicht man und frau die beiden Fahrpläne vom 27. April und vom 25. Mai 1919, ist kein Unterschied erkennbar. Vermutlich gab es zwischendrin weitere Einschränkungen, die in der Griesheimer Zeitung nicht erwähnt worden sind.

Fahrplan-Bekanntmachung.

Abbildung 4: Fahrplan für die Dampfstraßenbahn an Sonn- und Feiertagen ab dem 25. Mai 1919. Quelle: Annonce im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 24. Mai 1919.

Die Sitten waren rauh. Schiebereien und Diebstähle gehörten zum Tagesgeschäft, mit Todesfolge. Die damaligen Zeitungen konnten ihre Spalten mit mannigfachen Berichten füllen, an welchem Ort gehäuft gestohlen und geplündert wurde. Organisierte Diebesbanden waren genauso am Werk wie einzelne Gelegenheitstäter. Vier Jahre Krieg, gefolgt von Besatzung, weiterem Mangel und zunehmender Geldentwertung förderten ein Klima ungesetzlichen, aber im Einzelfall durchaus nachvollziehbaren Handelns. Im Oktober 1923 sollen sich beispielsweise 2000 Menschen auf das Gut Theinhausen des Stahlmagnaten Krupp bei Moers begeben haben, um dessen auf den Knochen seiner Arbeiterinnen und Arbeiter angesammelten Reichtum an Lebensmitteln und Vieh zu vergesellschaften. Die Meldung endet mit einem sich empördenden Appell an die Tränendrüse: „Dies bedeutet eine entsprechende Verminderung der für die Kruppschen Anstalten bestimmten Milch.“ [NGA, 10.10.1923]

„Gestern [am 29.5., WK] in der Frühe ist eine junge Frau von hier, die Waren nach dem neutralen Gebiet verbringen wollte, von einer französischen Patrouille erschossen worden. Die Leiche wurde von Soldaten aus Darmstadt nach dem Darmstädter Waldfriedhof verbracht.“ [NGA, 31.5.1919]

„In Reinheim i. Odenw. wurde in der Nacht zum Sonntag [also 7./8.6., WK] der auf Posten stehende Wachmann B***** aus Ueberau erschossen, als er einen auf dem Bahnhof stehenden Güterwagen mit Leder, den er gewaltsam geöffnet hatte, plündern wollte. Der Bahnbeamte D****, der Nachtdienst hatte, hörte das Geräusch und schoß, als er auf Anrufen keine Antwort bekam, auf den Einbrecher.“ [NGA, 14.6.1919]

„Zu der Erschießung des Depotarbeiters B***** in Reinheim i. O. wird noch mitgeteilt, daß die Diebstähle des dort in gewaltigen Mengen aufgestapelten Heeresgutes ungeheure Ausdehnung angenommen haben. Fast alle Nacht sollen Schießereien zwischen der Bedeckungsmannschaft und den Dieben stattfinden. Vermögende Bauern sollen sich nicht genieren, an den Diebstählen teilzunehmen. Der durch Lynchjustiz stark verletzte Bahnbeamte soll sich auf dem Wege der Besserung befinden.“ [NGA, 18.6.1919]

„Der Versuch, Lebensmittel von hier aus ins unbesetzte Gebiet zu schaffen, hat wiederum einer jungen Frau von hier das Leben gekostet. Am Mittwoch in der Frühe [am 9.7., WK] wurde die 33 jährige Ehefrau des Herrn R******, bei Versuch mit Schmuggelwaren nach Darmstadt zu gelangen, hinter den Landhäusern in der Posch von einem Wachtposten angeschossen. Das Geschoß traf die Frau im Rücken und trat an der Brust wieder heraus. Allem Anschein nach war die Frau nicht sofort tot, sondern wurde von den Wachtposten verbunden und nach dem Postgebäude auf dem Uebungsplatz gebracht, wo sie starb. Die Unglückliche hinterläßt ihren Mann mit drei unmündigen Kindern.

Heute mittag [am 11.7., WK] wurden von französischen Patrouillen nicht weniger als 6 Fuhrwerke eingebracht, die bei dem Versuch, Waren ins unbesetzte Gebiet auszuführen, abgefangen wurden.“ [NGA, 12.7.1919]

„Die Hoffnung, daß mit Aufhebung der Blockade auch die Sperre zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Gebiet fallen würde, hat sich leider nicht erfüllt, diese besteht vielmehr vorläufig noch weiter. Für unsere Landwirte bedeutet dies einen großen Schaden, weil sie dadurch von den Haupt­absatzgebieten für ihren Gemüsebau, den Städten Darmstadt, Offenbach und Frankfurt abgeschnitten sind und die anderen Städte keinen genügenden Ersatz bieten. Es ist daher ganz erklärlich, wenn einzelne Landwirte es versuchen, durch die Sperre durchzukommen, um ihre Produkte auf den früher besuchten Märkten abzusetzen, um sie nicht verderben zu lassen oder mit dem Vieh füttern zu müssen. Wenn dabei mancher abgefangen wird, wie es heute früh [am 15.7., WK] nicht weniger als fünf ergangen ist, so ist das für die Betreffenden ein böses Malheuer, da sie nicht nur ihrer Ware verlustig gehen, sondern auch noch eine empfindliche Geldstrafe zu gegenwärtigen haben. Hoffentlich fällt bald auch diese Verkehrsschranke.“ [NGA, 16.7.1919]

„Griesheim, 18. Juli.  Die Versendung von Waren nach den unbesetzten Gebieten ist seit Mittwoch [dem 16.7.] freigegeben. Die seither noch bestandene Transporterlaubnis ist, nach einer uns heute Nachmittag gewordenen Mitteilung ebenfalls aufgehoben, sodaß also die Ausfuhr von Lebensmitteln keinerlei Beschränkungen mehr unterliegt und die hiesigen Gemüsezüchter jetzt wieder ihre früheren Absatzgebiete aufsuchen können, wenn sie im Besitze eines von der Kommandantur hier ausgestellten Passierscheines sind. Eine große Anzahl beladener Fuhrwerke ist denn auch bereits heute Abend nach Offenbach und Frankfurt abgegangen. Von der Ausfuhr verboten sind Waffen, Munition und sonstige für den Kriegsbedarf hergestellten Gegenstände, Farbstoffe, Platin, Gold, Silber, Wertpapiere.

Als die Aufhebung der Sperre am Mittwoch spät nachmittags bekannt wurde, entwickelte sich sofort ein äußerst lebhafter Verkehr nach Darmstadt, um die gekauften Waren, die auf dem Schmuggelweg dahin verbracht werden sollten, rasch wieder los zu werden. Der Verkehr dauerte bis in die späte Nacht. Der Schmuggel, der manchen zum wohlhabenden Mann, aber auch manchen um seine saueren Ersparnisse gebracht hat, hört nunmehr ganz auf und damit auch die Bestrafungen der Erwischten durch die Militärgerichte, die in letzter Zeit äußerst empfindlich ausfielen. Der allgemeine Personenverkehr ist noch nicht freigegeben.“ [NGA, 19.7.1919]

Zum Tode verurteilt. Das Kriegsgericht in Groß-Gerau verhandelte gestern in der Schmuggelaffaire gegen Heinrich H****** in Goddelau. Trotz geradezu glänzender Verteidigung seitens des Herrn Rechtsanwalts Dr. Neuroth, ist das Gericht, wie der ‚Groß-Gerauer Anzeiger‘ meldet, zum Urteil der Todesstrafe gelangt. Ein Begnadigungsgesuch dürfte möglich sein.“ [NGA, 2.8.1919]

Während sich manche Männer (und Frauen) mit dem Schmuggel von Waren über die grüne Grenze der Griesheimer Wälder und Weiterstädter Felder über Wasser hielten, meinten andere Männer, Frauen dafür zur Rechenschaft ziehen zu müssen, daß sie dem verruchten Feind zu viel Aufmerksamkeit schenkten. Einen anderen Grund kann ich weder für das Haarescheren noch für das angekündigte harte Durchgreifen der französischen Militärs sehen. Jedenfalls wirft diese Episode ein bezeichnendes Licht auf das, was deutsche Männer als ihre Ehre ansehen.

Angriffe gegen Frauen und Mädchen. Man schreibt uns: Seit einiger Zeit haben zahlreiche Angriffe gegen Frauen und junge Mädchen im Gebiete der 10. Armee stattgefunden. Einige von ihnen bekamen die Haare abgeschnitten, andere wurden öffentlich mit beschimpfenden Bemerkungen angeschlagen. Diese Angriffe sind im Allgemeinen das Werk von Banden junger Leute, die sich zu diesem Zweck organisiert haben und im Einverständnis miteinander handeln. Es ist unwahrscheinlich, daß die Lokalbehörden, diese Unternehmungen nicht kennen und sie nicht gut heißen. Der kommandierende General befiehlt, daß in Zukunft, jedesmal, wenn ein Angriff dieser Art stattgefunden hat und die Schuldigen nicht innerhalb 48 Stunden festgenommen worden sind, der Bürgermeister sofort vor das französische Polizeigericht wegen Vernachlässigung seiner Dienstobliegenheiten gezogen wird. Andererseits werden die Attentäter den Kriegsgerichten wegen Gewalttätigkeit, Angriffs gegen die Sittlichkeit und Aufreizung zur Revolte übergeben werden.“ [NGA, 23.7.1919]

Am 6. August druckt das Blatt die Bekanntmachung der HEAG ab, ab Samstag, dem 2. August, an Werktagen einen weiteren Dampf­straßenbahnzug einzulegen. Er fährt vormittags ab 9.45 Uhr in Griesheim bis zum Residenzschloß (an 10.15 Uhr) und kehrt alsdann um 10.20 Uhr mit Ankunft in Griesheim um 10.50 Uhr zurück. Gleichzeitig werde die Haltestelle Schillerplatz der Linie 5 (rote Linie) wieder bedient. Für denselben Tag verkündet der kommandierende General weitere Erleichterungen im Verkehr innerhalb des besetzten, aber auch beim Übergang ins unbesetzte Gebiet. Sogar Jagdwaffen werden ihren Besitzern zurückgegeben [NGA 9.8.1919]. Das klingt nach Entspannung. Doch schon wenige Tage später wird klargestellt, daß der Transport von Waren zwischen dem besetzten und unbesetzten Gebiet allein über die Straßen von Griesheim nach Darmstadt, Eschollbrücken und Pfungstadt erfolgen darf, wo sie genau zu deklarieren sind [NGA 13.8.1919]. Andererseits wird ab dem 20. August nicht nur der direkte Eisenbahnverkehr zwischen Mainz und Darmstadt mit Kontrolle in Weiterstadt hergestellt, sondern es ist Einzelnen und Gruppen, sofern sie hierzu ausgegebene blaue Pässe vorweisen, an Sonn- und Feiertagen der ungehinderte Verkehr zu Fuß, zu Wagen, mit Pferd oder Fahrrad gestattet. Eine Reihe weiterer Erleichterungen sollten folgen, etwa die Zurücknahme des französischen Postens an der Straße von Griesheim nach Darmstadt vom Bassin an das neue Schießhaus [NGA, 27.9.1919].

Fahrplan-Bekanntmachung.

Abbildung 5: Fahrplan für die Dampfstraßenbahn ab dem 6. Oktober 1919. Quelle: Annonce im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 4. Oktober 1919.

Fahrplan-Bekanntmachung.

Abbildung 6: Änderungen im Fahrplan für die Dampfstraßenbahn ab dem 12. November 1919. Quelle: Annonce im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 12. November 1919.

„Wegen Kohlenknappheit ist auf Anordnung der interalliierter [sic!] Feldeisenbahn­kommission der gesamte Schnell- und Personenzugverkehr im besetzten Gebiet vom 12. bis einschl. 21. November ds. Js. auf allen Haupt- und Nebenbahnen eingestellt. Es werden außer den im Interesse der Besatzungsarmee weiter verkehrenden Schnellzügen nur noch die für den unbedingt notwendigen Arbeiterverkehr erforderlichen Personenzüge befördert. Die hierfür in Frage kommenden Züge sind auf den Stationen zu erfahren. Fahrkartenverkauf für den allgemeinen Verkehr findet zu den Personenzügen nicht statt.“ [NGA, 15.11.1919]

Vermutlich wird diese Anweisung für die Dampfstraßenbahn nicht gegolten haben, da selbige mit Kohlen des nicht besetzten Gebietes versorgt wurde. Aber auch in Darmstadt wurden die Kohlen rationiert.

Darmstadt, 9. Jan.  Nach einer Bekanntmachung der ‚Heag‘ wird die elektrische Straßenbahn von heute ab abends 8 Uhr ihren Betrieb einstellen; auch der Betrieb der Dampfstraßenbahn soll ganz erheblich eingeschränkt werden. Die Großabnehmer wurden bis auf weiteres um 40 pCt. ihres Strombedarfs eingeschränkt, sofern sie ihre Betriebe bezw. Teile desselben nicht auf die Nachtzeit zwischen 10 Uhr abends und 6 Uhr morgens verlegen können. Auch die Kinos, größeren Restaurants und Kaffees müssen ihren Betrieb einschränken. Man hofft, daß diese Maßnahmen nur für einige Tage notwendig sind, bis wieder genügend Kohlen zur Verfügung stehen.“ [NGA, 10.1.1920]

„Die Kontrolle am Neuen Schießhaus ist seit vorgestern [11.2., WK] ganz aufgehoben und kann der Verkehr mit Darmstadt jetzt wieder in ungehinderter Weise vor sich gehen.“ [NGA, 14.2.1920]

Am 20. Februar 1920 waren die französischen Besatzungstruppen bis auf eine Wache im Griesheimer Bahnhof sogar gänzlich abgezogen [NGA, 21.2.1919]. Bald darauf später sollte sich die Lage dramatisch ändern.

1920: Der Kapp-Putsch, französische Truppen besetzen Darmstadt

Am 13. März versuchten mehrere Freikorps mit Unterstützung rechter Parteipolitiker, die Reichsregierung zu stürzen und die Weimarer Nationalversammlung zu entmachten. Dieser sogenannte Kapp-Putsch brach nach wenigen Tagen zusammen, nicht zuletzt durch den entschlossenen Widerstand der sozialdemokratisch und kommunistisch geführten Arbeiterinnen und Arbeiter. In einigen Regionen, etwa im Ruhrgebiet, ging der Streik in den Versuch über, die im Januar 1919 mit Hilfe der SPD zusammengeschossene Revolution voranzutreiben, weil nur so die Errungenschaften des Winters 1918/19 aufrecht zu erhalten waren. Wie recht die Aufständischen damit hatten, sollte sich dreizehn Jahre später erweisen. Die zunächst aus Berlin geflohene Reichsregierung gab nach Ende des Putsches der Reichswehr und pikanterweise einigen Freikorps, die gerade noch gegen sie konspiriert hatten, den Auftrag, den Arbeiteraufstand im Ruhrgebiet niederzuschlagen. Damit verletzte die Reichsregierung den mit den Alliierten geschlossenen Friedensvertrag, der eine von deutschen Truppen freie rechtsrheinische neutrale Zone vorsah. Die Reichsregierung handelte dergestalt in der Erwartung, daß Frankreich, Großbritannien und Belgien keine Einwände gegen die Nieder­schlagung eines Arbeiter­aufstandes haben würden; so wie dies Frankreich mit deutscher Billigung beim Massenmord an der Pariser Commune 1871 selbst vorgemacht hatte. Sie sollte sich täuschen.

„Der Vormarsch der Franzosen

Durch den Einmarsch der französischen Truppen in die Städte Frankfurt, Dartmstadt, Hanau, Homburg ist die deutsche Regierung in eine schwierige Lage geraten. Man war in Berlin über die Absichten der Franzosen durchaus unterrichtet und man stand vor der bedeutungsvollen Frage, ob man die Pöbelherrschaft im Industriegebiet oder die Besetzung der westdeutschen Städte als das kleinere Uebel ansehen sollte. Nach reiflicher Ueberlegung hielt es die deutsche Regierung für wichtiger, schnellstens durch die Reichswehrtruppen im Industriegebiet wieder geordnete Verhältnisse herstellen zu lassen und damit die Gefahr, das ganze deutsche Wirtschaftsleben durch den Kohlenmangel lahmzulegen, zu beseitigen. In einer ausführlichen Darstellung schilderte das Berliner Kabinett die deutsch-französischen Verhandlungen über das Ruhrgebiet. Gleichzeitig wird Verwahrung gegen das Vorrücken der Franzosen eingelegt. Die französische Regierung dagegen läßt erklären, es handele sich bei dem Einmarsch in das neutrale Gebiet lediglich darum, Deutschland zur Beachtung der Artikel 42 und 43 des Friedensvertrages, der die Anwesenheit von Truppen in der 50-Kilometer-Zone östlich des Rheines untersagen, zu zwingen.

Der Pariser ‚Temps‘ vergleicht sogar das Vorgehen der Reichswehr mit den Vorgängen des Aufmarsches von 1914. Wie damals gelte auch jetzt das Wort Schlieffens: ‚Macht mir nur den rechten Flügel stark!‘ und wie damals sei den Deutschen der Versailler Vertrag nichts als ein Fetzen Papier. ‚Die deutsche Regierung‘, sagt das Blatt, ‚folgt immer noch derselben Kaste. Die preußischen Militärs bereiten die Revanche von 1920 vor, wie sie den Krieg von 1914 vorbereitet haben. Die Sache an der Ruhr ist nur die erste Etappe; sie soll das durch Kapp und Lüttwitz verlorengegangene Ansehen der Parteien der Rechten wiederherstellen: sie soll beweisen, daß Vertragsbestimmungen die deutsche Armee nicht aufzuhalten vermögen.[‘]

Wir Deutsche wissen ganz genau, daß unserer jetzigen Regierung nichts ferner liegt, als die Herrschaft der Militärkaste wieder zu proklamieren. In Berlin hat man für das Vorgehen der Truppen im Industriegebiet nur den einen Beweggrund, so rasch als angängig Ordnung und Ruhe zu schaffen, damit wieder eine geregelte Arbeit in den Kohlenbergwerken möglich wird. Und auch Frankreich muß ein interesse daran haben, daß Deutschland bald wieder normale Verhältnisse bekommt und in den Stand gesetzt wird, die Kohlenlieferungen, die es nach dem Friedensvertrag zu erfüllen hat, auch bewerkstelligen zu können. Aus diesem Grunde hoffen wir, daß es bald gelingen wird, eine Verständigung zwischen Berlin und Paris herbeizuführen. Wir haben daher gerne von den Erklärungen des französischen Ministerpräsidenten Millerand, er sei zu einer Einigung bereit, Kenntnis genommen.

Ueber die Haltung der übrigen Alliierten zu dem Vergehen der Franzosen verlautet noch nichts Bestimmtes. Inzwischen geht die Säuberungsaktion im Ruhrgebiet sehr schnell vor sich. Die Haupthandlung soll bereits so gut wie abgeschlossen sein. Die Arbeit der Reichswehrtruppen wird also schon in den nächsten Tagen beendet sein und ihre Zurückziehung aus der neutralen Zone dürfte in Kürze erfolgen.“ [NGA, 10.4.1920]

Welcher Zeitung diese Darstellung entnommen ist, wird nicht ersichtlich. Standgerichte, Todesurteile und Massen­erschießungen bildeten den Kern der „Säuberungsaktion“ mit etwa eintausend ermordeten Arbeiterinnen und Arbeitern. Die Weimarer Republik demonstrierte, wie sie mit Protesten von Links umgehen würde, und bereitete ihren eigenen Untergang von Rechts ohne größeres Unbehagen vor. Reichspräsident Ebert ließ den bewaffneten Mördern freie Hand und der spätere Friedens­nobelpreisträger Gustav Stresemann verhandelte mit den Putschisten um Kapp und Lüttwitz, um deren Staatsstreich zu legalisieren. Seine Partei gab die Parole aus: „Der Feind steht links.“ [6]

Am 6. April 1920 rückten französische Truppen in Darmstadt ein und besetzten zunächst den Hauptbahnhof. Die noch in Darmstadt ansässigen Reichswehrtruppen hatten die Stadt in der Nacht zuvor verlassen.

„Gegen 7 Uhr zog eine Abteilung farbiger Infanteristen in Stärke von etwa 120 Mann mit Maschinengewehren und Lastautomobilen in die innere Stadt ein und machte zunächst am Hauptpostamt halt, das besetzt wurde.“ [NGA, 7.4.1920].

Diese häufig aus dem Senegal stammenden französischen Kolonialtruppen galten der deutschen Bevölkerung als Wilde und daher auch als eine Zumutung. Von „Wilden“ besetzt zu werden, ist eben etwas ganz Anderes, als selbige als Kriegsgefangene zu begaffen und in Ansichtskarten zur Belustigung feilzubieten.

Kriegskarte.

Abbildung 7: Sogenannte Kriegskarte des Darmstädter Fotografen Wilhelm Gerling, Nr. 73. Von diesen Kriegskarten dürften etwas mehr als neunzig Motive angefertigt worden sein, die zum Teil in einer zweiten Auflage herausgebracht wurden, siehe auch meine Übersicht. Was mag in den Köpfen der so demütigend Vorgeführten vorgegangen sein? Und was mögen sich die deutschen Kartenkäuferinnen und -käufer gedacht haben, als sie erfuhren, daß ihnen die Objekte ihrer Zurschaustellung demnächst womöglich als Besatzer gegenüberstehen?

„Darmstadt unter der Besatzung.

Die französische Besatzung ist am Mittwoch [am 7.4., WK] zum Teil wieder von hier abgerückt, dies gab zu den immer stärkerauftretenden Gerüchten Veranlassung, daß die Besatzung der Stadt Darmstadt bis mittags um 12 Uhr geräumt haben müsse. Das ist nicht der Fall. Der Abzug eines Teils der französischen Besatzung wird vielmehr damit erklärt, daß die Franzosen für den Fall eines Widerstandes unter den Besatzungstruppen eine Anzahl sog. Kampf- oder Stoßtruppen beordert hatten, die mit vorgingen. Da sich diese Vorsicht als überflüssig gezeigt hat, wurden diese Kampftruppen, wie Panzerautos, Tanks, ein Teil der Kolonialtruppen mit den nötigen Begagen wieder abgerufen.

Der französische Oberkommandierende der Stadt hat angeordnet, daß die seither um 9 Uhr angeordnete Verkehrssperre erst um 11 Uhr ihren Anfang nimmt und bis 5 Uhr früh dauert. Die Polizeistunde für Wirtschaften, Kaffees usw. wird auf 10 Uhr festgesetzt. Auf dem Luisenplatz findet täglich vor der französischen Hauptwache am alten Palais im Anschluß an das Aufziehen der Wache Konzert statt. Bis zur Beendigung des Konzertes wird der Luisenplatz für den Verkehr gesperrt, nur die elektrische und Dampfbahn dürfen verkehren. – Kontrollstationen für den Verkehr von und nach Darmstadt sind Reinheim, Bickenbach.

Babenhausen und Bad Homburg sind am Mittwoch ebenfalls besetzt worden.“ [NGA, 10.4.1920]

In Griesheim wurde am 6. April der Belagerungs­zustand verkündet, der bis Anfang Mai aufrecht erhalten wird. [NGA, 10.4.1920 und 5.5.1920]

„Die Grenze des neubesetzten Gebietes.

Nach der von dem französischen Verbindungs­offizier in Darmstadt mitgeteilten Karte verläuft, die Richtigkeit in Einzelheiten vorbehalten, die Grenze des neubesetzten Gebietes wie folgt: (Die Orte, die als besetzt anzusehen sind, sind eingeklammert.) Wegegabel an der Straße Hahn – Biebesheim und Hahn – Stockstadt) – (Hahn) – (Pfungstadt) – (Eberstadt) – (Nieder-Ramstadt) – (Ober-Ramstadt) – (Roßdorf) – (Gundernhausen) – (Dieburg) – (Altheim) – (Hapertshausen) – (Höhe 141 südöstlich Babenhausen) – (Harreshausen) – Gersprenz bis zur Mündung in den Main – den Main abwärts bis (Hainstadt.) Alsdann verläuft die Grenze östlich und nördlich um (Groß-Auheim) und (Hanau) und folgt der Bahnlinie Hanau-Nord bis (Heldenbergen) – (Roßdorf) – (Windecken) – (Heldenbergen) – (Marienhof) – (Okarben) – (Rodheim) – (Köppern) – Wehrheim – (Anspach) – (Schmitten) und erreicht bei Seelenberg die alte Brückenkopfgrenze.“ [NGA, 14.4.1920]

Eine französische Patrouille wurde in Bensheim gesichtet, zog sich jedoch wieder zurück. [NGA, 14.4.1920]

„Die Besetzung in Darmstadt hat gewechselt. Am Sonntag [am 11.4., WK] sind die Angehörigen eines französischen Linienregiments hier eingerückt und die Farbigen abgezogen. Nennenswerte Zwischenfälle haben sich bisher nicht ereignet, abgesehen von kleineren Vorkommnissen, zu denen auch der Denkzettel gehört, den zwei freche Weiber von einigen Passanten erhielten, als sie sich mit zwei Senegalnegern in ungehöriger Weise auf dem Marktplatz betrugen.“ [NGA, 17.4.1920]

Was mag eine „gehörige Weise“ sein? – Am 17. April veröffentlicht die Zeitung die seit dem 6. April gültigen Abfahrtszeiten von Staatsbahn und Straßenbahn. Demnach verlassen die Dampfstraßenbahnen Griesheim um 5.40*, 5.50*, 6.40*, 7.54, 9.30, 11.50*, 13.20, 15.04, 16.50*, 18.00, 19.04 und 21.10 Uhr, während sie in Darmstadt um 6.02*, 6.40*, 7.05*, 8.19, 9.55, 12.15*, 13.45, 15.29, 17.15*, 18.25, 19.29 und 21.50 Uhr losdampfen. [7].

Der 2. Mai bringt einige Änderungen. Nunmehr verlassen die Dampfstraßen­bahnen Griesheim um 5.45*, 5.50 (nur an Markttagen), 6.45*, 7.40, 9.06, 11.51*, 13.30, 15.09, 16.50*, 18.00, 19.04 und 21.15 Uhr. Für Darmstadt ist die Abfahrtszeit auf 6.05*, 6.20 (nur an Markttagen), 7.02*, 8.00, 9.25, 12.11*, 13.50, 15.29, 17.10*, 18.20, 19.24 und 21.50 Uhr festgesetzt. [NGA, 5.5.1920]

Am 17. Mai 1920 verließen die französischen Truppen Frankfurt und Darmstadt.

„Die Räumung des Maingaues.

Anfang voriger Woche teilte die deutsche Regierung in einer offiziellen Note der französischen Regierung mit, daß die Stärke der deutschen Truppen im Ruhrgebiet wieder auf das im Versailler Vertrag festgesetzte Höchstkontingent herabgesetzt wurde. Der Vorsitzende der Interalliierten Ueberwachungs­kommission sandte darauf einen Spezialgesandte [sic!] ins Ruhrgebiet, der die Richtigkeit der deutschen Note bestätigen konnte. Darauf erging gestern der Befehl an die Besatzungs­truppen, die Maingaustädte wieder zu räumen. Die Besatzung hat also genau sechs Wochen gedauert. Nach den bisher vorliegenden Meldungen ist die Räumung überall glatt von statten gegangen, Zwischenfälle sind nirgends vorgekommen.“ [NGA, 19.5.1920]

1920–1921: Fahrtarif, Zollschranken und liederliche Fragen um ein Bordell

Putsch und Generalstreik waren vorüber, die lästigen Linken an der Ruhr erschossen, was lag also näher, als sich wieder um das Tagesgeschäft zu kümmern? Die Inflation ging stetig voran und die HEAG verbuchte Verluste. Die Fahrpreise mußten erhöht werden.

„Griesheim, 28. Mai.  Am vergangenen Freitag [am 21.5., WK] fand wieder eine Gemeinderats-Sitzung statt. Zur Beratung stand zunächst der Gemeinde­voranschlag für 1920 […]. Der von der ‚Heag‘ beabsichtigten Tariferhöhung wurde zugestimmt unter dem Vorbehalt, daß die Zahlgrenze an der Mittelschneise in Wegfall kommt. Dadurch würde sich die Einzelfahrt bis zum Hauptbahnhof auf 70, Rheintor 90, und Schloß 110 Pfg. stellen, im andern Falle auf 90, bezw. 110 und 130 Pfg.“ [NGA, 29.5.1920]

Fahrplan ab 1. Juni 1921.
Abbildung 8: Fahrplan für die Dampfstraßen­bahn ab dem 1. Juni 1920. Quelle: Annonce im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 2. Juni 1920.

„Die Verwaltung der Dampf-Straßenbahn scheint sich noch in letzter Sekunde vor dem 1. Juni zur Abänderung ihres Fahrplans entschlossen zu haben, denn gleich dem uns veröffentlichten, enthalten doch auch die Darmst. Fahrplanbücher noch den alten. Oder hielt man eine frühzeitige Bekanntgabe etwa für überflüssig?“ [NGA, 5.6.1920]

Höre ich hier einen süffisanten Unterton heraus? Der abgeänderte Fahrplan: Griesheim ab 5.25*, 6.40*, 7.40, 9.06, 11.40, 13.30, 14.30, 16.09*, 17.20*, 18.15, 19.30, 21.00 Uhr (nur sonntags). Darmstadt ab 6.00*, 7.02*, 8.00, 9.40, 12.11, 13.50, 14.40, 16.29*, 17.39*, 18.44, 19.49 und 21.30 Uhr. [NGA, 5.6.1920] [8]

„Am Mittwoch Abend veranstaltete die hiesige Polizei mit französischer Hilfe eine Streife in dem an das Barackenlager grenzenden Wald. Dabei wurden mehr als 20 liederliche Frauenspersonen aus Darmstadt und auch einige von hier aufgegriffen.“ [NGA, 12.6.1920]

Arbeitslosigkeit, Geldmangel und Inflation erzwangen ungewöhnliche Maßnehman. Prostitution ist an sich in der Nähe von militärischen Einrichtungen nichts Ungewöhnliches. Nicht immer entwickelt sich hieraus ein reger Mädchen- und Frauenhandel wie unter deutscher Protektion im Kosovo [9]. Das von französischen Truppen genutzte Barackenlager an der östlichen Griesheimer Ortslage war keine Ausnahme. Prostitution war zwar geduldet, bildete in der bigott-verklemmten Welt der bürgerlichen Moral aber auch immer einen Stein des Anstoßes. So berichtet der Landeskommissar für das besetzte hessische Gebiet, Best, vermutlich dem hessischen Innenministerium am 19. Juni 1921:

„Als mein Referent am 15. Juni den Beauftragten des Herrn Staatspräsidenten zum Oberbefehlshaber der Rheinarmee begleitete, wurde auch über das Griesheimer Lager gesprochen. Mein Referent nahm Gelegenheit, den Herrn General Degoutte darauf aufmerksam zu machen, dass sich das für die Griesheimer Truppen bestimmte Bordell mitten im Orte Griesheim befinde; das sei für die Bevölkerung aus moralichen wie hygienischen Gründen äußerst unerwünscht und gefährlich. Der Ober­befehlshaber erwiderte, das sehe er wohl ein. Andererseits könne ein Bordell um so weniger entbehrt werden, als es eine gewisse Gewähr dafür biete, dass anständige Frauen von Angriffen verschont blieben. Er glaube nicht, dass die Militärverwaltung des Lagers sich amtlich um diese Angelegenheit kümmern könne, und auch die Reichs­vermögensverwaltung werde sich schwerlich dazu hergeben, die Sache unmittelbar in die Hand zu nehmen. [S]o scheine es ihm am zweckmässigsten, wenn der Bürgermeister von Griesheim dafür sorge, dass das Bordell an eine abgelegene Stelle verlegt würde; gegebenenfalls könnte ja wohl eine Baracke dafür erbaut werden.

Ich habe zunächst beim Kreisamt Gross Gerau und bei der Reichs­vermögensverwaltung um nähere Erläuterung gebeten und dem Kreisamt etwaige bereits jetzt zu ergreifende Schritte anheimgestellt und darf mir weiteren Bericht vorbehalten.“ [10]

Und nun geht die Angelegenheit ihren bürokratischen Gang, denn der Landeskomissar schreibt am selben Tag nach Groß-Gerau:

„Ihr schriftlicher Bericht an das Ministerium des Innern vom 17. Mai besagt, dass ein Vorgehen nicht in ihrer Macht liege. Indessen liese sich vielleicht doch eine Verlegung des Bordells erreichem. Ob die Behauptung, die Reichs­vernögens­verwaltung habe im Innern des Lagers ein Bordell bereits vorgesehen, zutrifft – sie ist von privater Seite geäussert worden – werde ich gieichzeitig feststellen.“

Es klingt ziemlich plausibel, daß für ein solches Lager ein Bordell gleich mitbedacht worden ist. Wir sind ja unter Männern, die ihre „Nöte“ genau kennen. Die Frage ist eher, wie viel sexuelle Frustration dem Einsatz gegen den Feind bekömmlich ist. Das Kreisamt Groß-Gerau schreibt daher am 27. Juni 1921 nach Griesheim:

„zur Kenntnisnahme und Bericht. Liegt das Bordell mitten im Orte? Es handelt sich doch wohl um das ehemal[ige] Hotel Roth? wie weit liegt dies von Griesheim entfernt?“

Am 13. Juli 1921 erstattet Bürgermeister Schüler Bericht an das Kreisamt:

„Auf die Verfügung vom 27. Juni ds Js. beehren wir uns ergebenst zu berichten, daß sich das Bordell im sogen[annten] Wirtschaftsviertel u[nd] zwar im früherern Konzerthaus Roth in unmittelbarer Nähe des Barackenlagers befindet.

Die Entfernung vom Ort beträgt ca. 1 Km.“

Leider finden sich keine weiteren Schriftstücke zu diesem Vorgang. Könnte es sein, daß die „liederlichen Frauenspersonen“ sozusagen freiberuflich und nicht im gesitteten Rahmen eines Bordells tätig waren? Im November 1921 erhält die Griesheimer Bürgermeisterei eine Rechnung der städtischen Puellenstation [11] zu Mainz, die selbst­verständlich beglichen wird; eine Griesheimer Prostituierte wurde dort mehrere Tage lang behandelt. 1925 wird uns das Bordell wieder begegnen. – Ende Juni 1920 kam es in Darmstadt und Worms zu Lebensmittel­unruhen. Im August schützte sich der Landtag gegen die Revolution.

„Darmstadt, 9. Aug.  Zum Schutze des Landtags hat die Regierung des Volksstaats Hessen im Einvernehmen mit dem Präsidenten des hessischen Landtags gegen revolutionäre Angriffe einen genau befriedeten Bannkreis des Landtagsgebäudes in der Rheinstraße festgelegt. Innerhalb dieses Bannkreises dürfen nach reichsgesetzlicher Vorschrift Versammlungen unter freiem Himmel und Umzüge ohne Erlaubnis des Landespräsidenten nicht stattfinden. Den, der an hiernach verbotenen Versammlungen oder Umzügen teilnimmt, treffen die Strafen des Auflaufs und des Landfriedens­bruchs.“ [NGA, 11.8.1920]

Dreizehn Jahre später werden die Nazis einen eleganteren Weg als den der Revolution finden, den Landtag zu erstürmen. Sie lassen sich einfach wählen. Darmstadt wird sich – im Gegensatz zu Griesheim und Arheilgen – bei den Wahlen als besonders braunes Nest erweisen.

Am 24. Oktober wird der Winterfahrplan eingeführt. Nach Maßgabe der Interalliierten Kommission gilt in den besetzten Gebieten für den Eisen­bahnverkehr nunmehr die West­europäische Zeit. Die Züge verkehren von der Zeitlage wie bisher, nur die Bahnhofsuhren werden um eine Stunde vorgestellt und die Fahrplan­aushänge im besetzten Gebiet angepaßt. Außerhalb der Bahnhöfe sollen die Uhren jedoch die Mittel­europäische Zeit anzeigen. Die Abfahrtszeiten der Dampf­straßenbahn sind gegenüber dem Juni-Fahrplan leicht verändert. Ab Griesheim verkehren die Züge um 5.25*, 6.40*, 7.40, 9.06, 11.40, 13.30, 14.30, 16.09*, 17.05*, 18.25 und 19.30 Uhr, ab Darmstadt um 6.00*, 7.02*, 8.00, 9.40, 12.11, 13.50, 14.50, 16.29*, 17.24*, 18.44 und 19.49 Uhr. Nur an Sonntagen verkehrt die Spät­verbindung ab Griesheim um 21.00 Uhr und ab Darmstadt um 21.30 Uhr. [NGA 23.10.1920 und 27.10.1920]

Die Inflation schreitet langsam, aber stetig voran. Tarif­anpassungen sowohl bei der Straßenbahn als auch bei der Eisenbahn sind die Folge. Dort, wo die Dorf­bewohnerinnen und -bewohner die Wahl haben, fahren sie mit dem billigeren Verkehrsmittel. So wohl auch in Griesheim.

„Griesheim, 12. Novbr.  Am Mittwoch Nachmittag [10.11., WK] fand wieder eine Gemeinderats-Sitzung statt in der folgende Beschlüsse gefaßt wurden: […] 7) Unter Mitteilungen gab der Herr Vorsitzende eine Einladung der Freiwilligen Feuerwehr zu ihrem Dekorierungsfest am nächsten Sonntag bekannt. – Die ‚Heag‘ hat in einem längeren Schreiben dargelegt, daß die Abwanderung aus der Straßenbahn in die Staatsbahn trotz des neuen entgegen­kommenden (?) Tarifs anhalte und der Verkehr sich dauernd verschlechtere. Die Folge sei ein monatliches Defizit von ca. 35.000 Mk. Die ‚Heag‘ bittet nun, die Gemeinde möhe monatlich 10.000 Mk. (!) oder einmal 50.000 Mk. (!!) zur Behebung dieses Defizits bewilligen, sonst bliebe nichts anderes übrig, als den Tarif wiederum nicht unbeträchtlich zu erhöhen oder aber den Betrieb ganz einzustellen. Einstimmige Ablehnung ohne Debatte war die Antwort auf dieses Ansinnen. – […]“ [NGA, 13.11.1920]

Zum 1. Dezember 1920 erhöht die HEAG den Fahrpreis für drei Teilstrecken von 50 auf 70 Pfennige, jede weitere Teilstrecke koste nun 15 Pfennige. Als Begründung führt das Unternehmen eine Lohnerhöhung ihrer Bediensteten an. [NGA, 4.12.1920]

Fahrplan-Bekanntmachung.

Abbildung 9: Bekanntmachung der HEAG zur Einlegung zweier Züge an Sonntag­nachmittagen ab dem 23. Januar 1921. Quelle: Annonce im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 21. Januar 1921.

Ab dem 15. März tritt bei den Eisenbahnen im besetzten Gebiet wieder die Sommerzeit in Kraft, so daß im gesamten Volksstaat Hessen wieder dieselbe Zeit gilt [NGA, 2.3.1921]. Zudem wird es in Ausführung der Beschlüsse der Londoner Konferenz vom 7. März 1921 neue Zollgrenzen zwischen dem besetzten und dem unbesetzten Gebiet geben.

„Die Zollgrenze.

Wie von französischer Seite mitgeteilt wird, werden ausländische Zollbeamte und Soldaten die Ostgrenze des Mainzer Brückenkopfes besetzen. Das Abfertigungspersonal in den Aemtern jedoch wird deutsch bleiben. Voraussichtlich können die im besetzten Gebiet Weine ohne größeren Zollaufschlag in das unbesetzte Gebiet gebracht werden. Die einschneidenste Folge der Zollgrenze wird die sein, daß der Absatz deutscher Erzeugnisse im besetzten Gebiet erschwert wird. General Degoutte hat einem Pariser Korrespondenten erklärt, daß die Franzosen mit der Durchführung der Zollmaßnahmen im Brückenkopf Mainz beschäftigt seien. Bisher seien noch keine Zölle erhoben worden, da die Tarife noch nicht fertig seien.“ [NGA, 23.3.1921]

Fahrplan ab 15. März 1921.
Abbildung 10: Fahrplan ab 15. März 1921, veröffentlicht im Neuen Griesheimer Anzeiger am 30. März 1921.

Das lädt zu einem erneuten Schmugglerwesen durch den Wald ein. Zuvor jedoch verbirgt selbiger Wald ein anderes Delikt.

„Am Sonntag Abend [20.3., WK] wurde auf dem Heimweg von Darmstadt ein junger Mann von hier (Kriegsinvalide), der von auswärts kam und in Darmstadt den letzten Zug nach hier nicht mehr erreichen konnte, oberhalb der Wixhäuser Hausschneise von drei Kerlen überfallen, zu Boden geworfen, schwer mißhandelt und seines Geldes, seiner Uhr, und seiner sonstigen Habseligkeiten beraubt, und dann bewußtlos neben in den Wald geschleppt[,] wo er nach einiger Zeit zu sich kam und den Heimweg fortsetzte. Der Wert der ihm geraubten Sachen beläuft sich auf weit über 2000 Mk. Anzeige ist erstattet. Es besteht aber nur geringe Aussicht, daß man der Räuber habhaft wird, da sie ihre Gesichter mit Taschentüchern verhängt und sich so unkenntlich gemacht haben.“ [NGA, 23.3.1921]

Die Eröffnung der Zollstationen läßt aufgruznd organisatorischer Vorbereitungen noch auf sich warten. „Für die Zollstation zwischen hier und Darmstadt haben die Franzosen in der Villa Saxe zwei Zimmer für einen Zollbeamten beschlagnahmt. Die Einrichtung muß die Gemeinde stellen.“ [NGA, 26.3.1921] Derweil geht die hessische Regierung gegen den Feind von links vor.

„Darmstadt, 31. März.  Die kommunistischen Umtriebe haben auch unsere Regierung zu großen Vorsichts­maßregeln veranlaßt. Die öffentlichen Gebäude, wie Post, Ministerien, Banken usw., sind mit starken Sicherheitsposten besetzt, starke Patrouillen, teilweise im Auto mit Maschinengewehren, durchfuhren am Dienstag [29.3., WK] die lebhafteren Straßen, doch war in keiner Weise Veranlassung zum Einschreiten gegeben. Im Laufe des heutigen Tages wurden sieben Kommunisten verhaftet, die an den vorhergehenden Tagen kommunistische Flugblätter verteilt und angeklebt hatten. Verhaftet wurden, wie wir dem ‚Volksfreund‘ entnehmen: Zwei Gebrüder Rau (Fabrikarbeiter), der Dreher Wiegand, die Arbeiter Ehrenkäufer und Wegner (beschäftigt bei der Fa. Bahnbedarf)[,] der Friseur Anstaett, sowie der Schlosser Avemarie. Der geistige Führer der hiesigen Kommunisten, Stadtv. Kollmann, befindet sich nicht unter den Verhafteten.“ [NGA, 2.4.1921]

Die HEAG scheint Griesheims Lokalzeitung nicht mit aktuellen Fahrplandaten zu bedienen, weshalb sie auf das Fahrplanbuch der Staatsbahn zurückgreuft. Prompt findet sich ein fehlerhafter Eintrag. Der Dampf­straßenbahnzug Griesheim ab 17.20 Uhr fährt nämlich schon eine Viertelstunde früher ab, „was viele Reisende schon zu ihrem Leidewesen erfahren mußten. Die Tariferhöhung führt zu einer Abwanderung auf die Staatsbahn, etwa in Eberstadt.“ [NGA, 20.4.1921 und 27.4.1921] – Die Zollgrenze tritt in Kraft.

„Die Zollgrenze am Rhein.

Nachdem in den letzten Tagen an allen Zollstationen an der Ostgrenze des Brückenkopfes Mainz der französischen [sic!] Schlagbaum über die deutschen Landstraßen gelegt und damit das besetzte Gebiet noch weit mehr als bisher vom übrigen Deutschland abgeschnürt ist, haben in der Nacht zum Mittwoch punkt 12 Uhr [19./20.4., WK] die französischen Zollbeamten ihre Tätigkeit aufgenommen. Die Sanktionen sind in ihrer ganzen Schwere in Kraft getreten. Die Ueberwachungs­geschäfte werden durch Besatzungstruppen ausgeführt, jedoch unter der technischen Leitung von alliierten Zollbeamten. Die Zollhandlungen selbst nehmen deutsche Beamte unter der Aufsicht von alliierten Zollbeamten vor. Jeder Reisende, der eine Kontrollstation passiert, ganz gleich in welcher Richtung, muß sich der Zollkontrolle unterwerfen. Sämtliche Personenzüge haben auf den Ueberwachungs­bahnhöfen einen Aufenthalt von mindestens 10, in der Regel aber 20 Minuten. Alle Strafmaßnahmen gegen Zollhinterziehung werden nach den Vorschriften des Besatzungsheeres festgesetzt und erstrecken sich bis zu 500.000 Mark Geldstrefe und fünf Jahren Gefängnis.“ [NGA, 23.4.1921]

Da Griesheim an der Zollgrenze liegt, wird hier die Überwachung besonders ausführlich beschrieben.

„Griesheim, 22. April.  Seit Mittwoch früh sind an den Grenzen des besetzten und unbesetzten Gebietes die seit Wochen angekündigten Zollschranken mit allen ihren unliebsamen Begleiterscheinungen für die beiderseitigen Bewohner aufgerichtet und die Abschnürung des besetzten Gebiets vom unbesetzten Deutschland in die Wege geleitet. Alle dem Personenverkehr dienenden Züge haben jetzt auf den Grenz-Ueber­wachungsbahnhöfen (Griesheim, Biebesheim, Weiterstadt u. s. w.) zum Zweck der Kontrolle des Gepäcks vorläufig bis zu 10 Minuten Aufenthalt, der bei Eintritt des Sommer-Fahrplans wahrscheinlich auf 20 Minuten ausgedehnt wird. Diese Zollkontrolle wird Unregelmäßigkeiten im Zugverkehr mit sich bringen und das reisende Publikum wird daher bis auf weiteres mit und vermeidlichen [sic!] Anschluß­verschlechterungen rechnen müssen. Alle Bahn- und Postsendungen nach dem unbesetzten Gebiet gehen jetzt von hier ais zunächst nach der Zollstation in Groß Gerau, wo sie auf ihren Inhalt geprüft und dann weiter befördert werden. Jedem dem Bahn- oder Poststück ist außer dem Frachtbrief oder der gelben Paketkarte in doppelter Ausfertigung eine Zollinhalts-Erklärung beizufügen; der Zoll wird vom Absender nacherhoben. Ueber die Taxen der einzelnen Warengattungen geben die Herren Zollbeamten Auskunft. An Gebühr werden erhoben: Einfuhr: aus dem Zollausland: Zoll nach dem deutschen Zolltarif und 900 Prozent Goldzoll; aus dem unbesetzten Deutschland: 25 Prozent des Zolles nach dem deutschen Zolltarif und 900 Prozent Goldzoll. Ausfuhr: Ins Zollausland: Ausfuhrabgabe nach dem auf der Ausfuhrbewilligung von der bewilligenden Stelle berechneten Summe; in das unbesetzte Deutschland: Zollbetrag nach dem deutschen Zolleinfuhrtarif in Papiermark; für zollfreie Waren wird bei Ein- und Ausfuhr eine Stat[istische] Geb[ühr] von 1 Mk. für 1000 Kg. Packstück usw. entrichtet.

Das Personengepäck bei den Personen wird gleichfalls kontrolliert und einer Verzollung unterworfen. Im Staatsbahnhof, wo der deutsche und französische Zollbeamte ihr Bureau haben, ist eine Sperre errichtet, die alle Fahrgäste passieren müssen. Gemüse, das von hier nach Darmstadt, Frankfurt, Offenbach oder sonst wohin geht, ist zollfrei, nur muß für jede Sendung eine Ausfuhrgenehmigung bei dem Zollbeamten im Staatsbahnhof bewirkt werden, die eine Mark kostet, ganz gleich ob es sich um einen Korb oder eine Wagenladung handelt. Alle vom unbesetzten Gebiet per Fuhrwerk eintreffende Sendungen müssen zur Zollabfertigung nach der Zollstelle im Bahnhof verbracht werden. Wegen der Ungewißheit, ob ihre Waren auch rechtzeitig eintreffen, haben die Frankfurter Marktvereine gestern keinen Markt nach Frankfurt verladen.“ [NGA, 23.4.1921]

Diese umständliche Zollabfertigung scheint auch zu Stockungen im Güterverkehr geführt zu haben. Zunächst blieben im Eisenbahn­direktionsbezirk fast einhundert Güterzüge liegen, dann mußte der gesamte ein- und ausgehende Verkehr in Worms und Bischofsheim vollständig gesperrt werden. „Die Ursache für diese trostlosen Zustände sind lediglich in der Langsamkeit der Zollbehandlung zu suchen.“ So seien in Bischofsheim vor Errichtung der Zollschranke täglich vierzig Güterzüge abgefertigt worden, nunmehr seien es nur noch drei. Im Eisenbahn­direktionsbezirk Mainz waren alsbald 5.000 Waggons noch nicht abgefertigt worden. Die Verstopfung des Bahnhofs scheint auch Mitte Mai unverändert gewesen zu sein. Erst Mitte Juni wird zumindest die Annahmesperre für Eil- und Frachtgut aus dem unbesetzten Gebiet in die benachbarten besetzten Gemeinden wieder aufgehoben werden. [NGA 27.4.1921, 30.4.1921, 14.5.1921 und 15.6.1921] – Die Dampfstraßenbahn nach Darmstadt ist ohnehin von der Zollgrenze betroffen.

„Der Wartesaal der Dampfstraßenbahn und ein neuerrichteter Seitenbau des Herrn Philipp B***** in der Oberndorfer­straße, sind von der Interalliierten Rheinland­kommission zur Errichtung von Zollposten mit Beschlag belegt worden.“ [NGA, 7.5.1921]

„Die Abfertigung der Zollscheine für den Marktverkehr nach Darmstadt erfolgt jetzt auch im Stationsgebäude der Dampf­straßenbahn.“ [NGA, 14.5.1921]

Fahrplan-Bekanntmachung.

Abbildung 11: Fahrplan der Dampfstraßenbahn ab 1. Juni 1921, Annonce im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 28. Mai 1921.

Mitte Juni werden Vereinfachungen und Erleichterungen in der Zollabfertigung verfügt. [NGA, 18.6.1921]

Fahrplan-Bekanntmachung.

Abbildung 12: Fahrplan der Dampfstraßenbahn ab 23. Juni 1921, Annonce im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 22. Juni 1921.

Juli und August 1921: Marktboykott und weitere Zollschranken

Die Einrichtung der Dampf­straßenbahn 1886 ermöglichte es den Griesheimer Bäuerinnen und Bauern, ihr Obst und Gemüse ohne größeren Aufwand direkt auf den Darmstädter Markt zu bringen. Die Endhaltestelle am Schloß lag nur wenige Meter vom Marktplatz entfernt. Während des Ersten Weltkriegs traten zur Sicherung der Grundversorgung der Bevölkerung Restriktionen in Kraft, die den Marktzugang und die Marktpreise regeln sollten. Auch wenn derlei Maßnahmen gegen den zunehmenden Schwarzhandel gerichtet waren, so war der Erfolg durchaus zweifelhaft. Nach Ende des Krieges besserte sich die Versorgung mit Nahrungsmitteln nur langsam, während gleichzeitig die Inflation auch bei landwirt­schaftlichen Produkten einen Preisschub hervorrief. Vermutlich zur Sicherung der Grund­versorgung behielt der Darmstädter Magistrat die im Kriege erlassene Marktordnung bei, sehr zum Unwillen der Griesheimer Bäuerinnen und Bauern, die selbst darüber bestimmen wollten, mit wem sie Geschäfte machten. Diese gegenteiligen Ansichten, Grundversorgung versus Markt, entluden sich im Sommer 1921. Der „Neue Griesheimer Anzeiger“ stand hier ganz und gar auf Seiten der Marktprofiteure. Hierbei ist nicht zu übershen, daß so manche Bäuerin, so mancher Bauer aufgrund der miserablen wirtschaftlichen Verhältnisse im französisch besetzten Gebiet auf gute Erträge angewiesen waren, während den eher wohlhabenden Bauern die Bedürfnisse der kleinen Leute ohnehin egal waren.

„Griesheim, 5. Juli.  Vor etwa fünf Wochen haben sich die hiesigen Besucher des Darmstädter Wochenmarktes, die dem Darmstädter Marktverein angehören, mit einer Eingabe an die städtische Verwaltung gewendet in welcher um Aufhebung der Bestimmung der Darmstädter Wochenmarkt-Ordnung gebeten wurde, nach welcher es den Marktbesuchern verboten ist, vor 10 Uhr vormittags an Händler zu verkaufen oder die von Großabnehmern bestellten Waren vom Markt wegzubringen. Die Eingabe hatte keinen Erfolg, ebensowenig die persönlichen Vorstellungen einiger Marktbesucher von hier bei dem Dezernenten für das Marktwesens [sic!], Herrn Beigeordneten Delp. Die rigorose Handhabung dieser Bestimmung dauerte fort und ein zahlreiches Schutzmanns­aufgebot an jedem Markttag sorgte dafür, daß sie eingehalten wurde. Jedes Vergehen gegen diese Bestimmungen der Marktordnung, und diese kamen fast an jedem Markttag vor, wurde mit einer empfindlichen Geldstrafe geahndet.

Diesen unerträglichen Zustand wollen sich die hiesigen Marktbesucher nicht länger gefallen lassen und sie drohten schon vor mehr als 14 Tagen, den Darmstädter Markt nicht mehr zu beschicken, wenn der Marktverkehr nicht von Beginn an freigegeben wird, wie dies in andern Städten schon längst wieder der Fall ist. Da weder die Eingabe, noch die persönlichen Vorstellungen bei Herrn Beigeordneten Delp einen Erfolg hatten, beschlossen die hiesigen Marktbesucher am Donnerstag voriger Woche [am 30.6., WK], den Darmstädter Wochenmarkt nicht zu besuchen und führten diesen Entschluß am vergangenen Samstag auch aus. Nicht ein Sack oder Korb mit Gemüse u. s. w. kam von hier nach Darmstadt auf den Markt, was zur Folge hatte, daß am Samstag großer Mangel an Frischgemüse herrschte, der im Laufe dieser Woche noch größer werden dürfte, weil sich die Darmstädter Gemüsehändler mit den hiesigen Marktbesuchern solidarisch erklärt haben und ebenfalls nichts auf den Markt bringen wollen. Die maßgebenden Herren in Darmstadt hatten offenbar geglaubt, daß die Griesheimer Bauern ihre Streikandrohung nicht ausführen, sondern doch auf den Markt kommen würden. Als sie sich in dieser Erwartung getäuscht sahen, benachrichtigten sie noch am Samstag vormittag die hiesige Bürgermeisterei, daß der Großeinkauf schon von ½9 Uhr vormittags ab beginnen könne und daß die Schutzleute bis auf zwei Mann zurückgezogen werden sollen. Jetzt, wo es zu spät war, konnte man Zugeständnisse machen, die man vorher unter allerhand Ausflüchten verweigert hatte. Aber sie reichen heute nicht mehr aus die aufgeregten Gemüter zu beruhigen, denn eine am Sonntag stattgefundene Versammlung der Marktbesucher, die überaus zahlreich besucht war, beschloß einstimmig, den Darmstädter Markt solange nicht zu besuchen, bis die Marktverordnung, die während der Kriegszeit erlassen wurde und auch angebracht war, wieder beseitigt ist.

Wenn in der Samstags-Nummer des ‚Hessischen Volksfreund‘ der Streik zu einer Hetze gegen die hiesigen Gemüsehändler und Gemüsezüchter benutzt und behauptet wird, der Streik bezwecke eine Preistreiberei, so schlägt dies der Wahrheit ins Gesicht. Hinter dem Streik steht weder der deutschnationale Bauernbund noch soll er zu einer Kraftprobe dienen, hinter der die deutschnationale Volkspartei steht, wie in dem Artikel fälschlicherweise behauptet wird. Wenn schon einmal der Partei­standpunkt bei der Angelegenheit in Vordergrund gerückt werden soll, so kann man es ruhig aussprechen, daß die Kreise, die am Streik hauptsächlich beteiligt sind, der sozialdemokratischen Partei viel näher stehen, als jeder anderen politischen Partei. In der heutigen Nummer des ‚Darmstädter Tageblatt‘ wird die Angelegenheit in durchaus ruhiger und sachlicher Weise besprochen und ausgeführt, daß die Wochenmarkt-Verordnung auf einer Verordnung des Reichskanzlers vom Juni 1915 beruht, die noch nicht aufgehoben ist. Im Uebrigen wird die Befürchtung ausgesprochen, daß bei völliger Aufhebung der Verordnung die Darmstädter Gemüse-Kleinhändler (Ladenbesitzer) früh morgens die schönsten Waren aufkaufen und hiernach die Preise bestimmen und die Hausfrauen, denen es ganz unmöglich sei, zu so früher Stunde auf dem Markt zu erscheinen, das Nachsehen haben. Dem ist entgegenzuhalten, daß die Darmstädter Ladeninhaber doch nicht alles schöne Gemüse aufkaufen können, das auf den Markt kommt die Darmstädter Hausfrauen ihren Bedarf hierin auch in der Vorkriegszeit gedeckt haben, wo die Verordnung, welche den Verkauf an Händler vor 10 Uhr vormittags verbietet, nicht bestanden hat. Man kann doch den Verkäufern, welche nicht im Kleinen, sondern nur an Händler absetzen wollen, oder denen, die größere Lieferungen an Krankhäuser [sic!], Restaurationen etc. haben, nicht zumuten, damit zu warten, bis es gewissen Hausfrauen gefällt, auf den Markt zu gehen, um einzukaufen. Wer zuletzt kommt, der muß eben mit dem vorlieb nehmen, was übrig bleibt. Das war schon immer so und bleibt auch so. Zudem kann man unseren Landfrauen, die an Markttagen schon sehr früh auf den Beinen sein müssen und denen zu Hause eine Fülle von Arbeiten wartet, nicht zumuten, länger auf dem Darmstädter Wochenmarkt zu bleiben, als sie es für nötig erachten. Hoffentlich behandelt die Darmstädter Stadtverordneten-Versammlung in ihrer Sitzung am Donnerstag die Angelegenheit, nicht blos vom Standpunkt der Käufer, sondern trägt auch den Forderungen der Erzeuger und Händler Rechnung.“ [NGA, 6.7.1921]

Griesheim, 8. Juli.  Für gestern Abend hatte der Darmstädter Marktverein im Saale des ‚Darmstädter Hofes‘ eine Versammlung seiner Mitglieder einberufen, die wiederum außerordendlich zahlreich besucht war und in welcher über den Abbruch oder Fortsetzung der weiteren Bestreikung des Darmstädter Wochenmarktes Beschluß gefaßt werden sollte. Da sich mit der Angelegenheit auch die Darmstädter Stadtverordneten in ihrer gestrigen Sitzung beschäftigten, waren einige Mitglieder des Vorstandes des Marktvereins nach Darmstadt geschickt worden, um den Verhandlungen beizuwohnen und Bericht über das Ergebnis der Beratungen zu erstatten. Die Herren berichteten, daß Herr Beigeordneter Delp das Referat erstattet und die Versammlung nach teilweise recht erregter Debatte dem Vorschlag der Verwaltung zugestimmt habe, die Bestimmung der Marktordnung dahin abzuändern, daß der Verkauf an Händler von jetzt ab bis zum Herbst von 8½ Uhr ab und in den Wintermonaten von 9 Uhr ab gestattet sein soll. Für später sei die Errichtung eines Großmarktes am Schloßgraben oder auf dem Schillerplatz geplant [12]. Bei der Debatte hätten sich namentlich die extrem links gerichteten Stadtväter in Angriffen gegen die hiesigen Marktbesucher hervorgetan, die Aussperrung der Griesheimer Arbeiter aus den Darmstädter Fabriken, die Abstellung des Landwehrwassers und ein noch viel schärferes Einschreiten der Polizei verlangt. Einer der Herren habe sogar verlangt, daß die Polizei das Gemüse in Griesheim mit Gewalt hole, was natürlich mit Heiterkeit aufgenommen worden sei.

Nach längerer Aussprache teils für, teils gegen die Fortsetzung des Streiks, wurde beschlossen, sich mit dem erreichten vorerst zu begnügen, den Streik abzubrechen und den Darmstädter Wochenmarkt vom Samstag ab wieder zu besuchen, und alles zu vermeiden, was der Polizei Anlaß zum Einschreiten geben könne, dann daß diese noch schärfer wie bisher schon, vorgehen werde, ist nach den Eindrücken, welche die Delegierten in der Darmstädter Stadtverordneten-Versammlung gewonnen haben, mit Bestimmtheit zu erwarten. Deshalb wurde auch vielfach der Wunsch laut, sich nach anderen Absatzgebieten umzusehen, was bei den heutigen Verhältnissen nicht schwer falle oder hier einen Großmarkt zu errichten.“ [NGA, 9.7.1921].

„In der gestrigen Stadtverordneten-Versammlung zu Darmstadt [am 21.7., WK] brachte Stadtverordneter Sames die Frage der Errichtung eines Großmarktes zur Sprache und gab bekannt, daß in den nächsten Tagen in Griesheim ein Großmarkt errichtet werden soll. Es bestehe nun die Gefahr, daß von dort aus alles Gemüse nach Frankfurt wandert und Darmstadt das Nachsehen hat. Die Stadtverwaltung möge ihr Augenmerk auf diese für die städtische Bevölkerung sehr wichtige Angelegenheit richten und dieser Gefahr rechtzeitig begegnen.“ [NGA, 23.7.1921]

Marktszene.

Bild 13: Marktszene in Darmstadt vor dem Bau der elektrischen Straßenbahn 1897. Möglicherweise sah das Treiben in den Anfangsjahren der Weimarer Republik weniger idyllisch aus. Quelle: Stadtarchiv Griesheim.

Ungemach drohte nun wieder mehr von anderer Seite.

„Wie durch Plakatanschlag an der Zollsperre nach Darmstadt bekannt gegebn ist, werden Reisende, welche zollpflichtige Gegenstände mit sich führen, vom 20. ds. Mts. ab, nur noch morgens 9 Uhr und nachmittags 3 Uhr der Zollstation am Bahnhof vorgeführt. Wer also mit Fuhrwerk oder mit der Straßenbahn von Darmstadt kommt und unliebsamen Aufenthalt an der Zollsperre vermeiden will, muß es so einrichten, daß er zu den angegebenen Zeiten an der Sperre ist oder aber er muß mit der Riedbahn fahren.“

„Die lange befürchtete Einführung eines besonderen Zollfahrplanes im Verkehr zwischen dem besetzten und unbesetzten Gebiet wird von morgen [am 20.7., WK] ab Wirklichkeit. Der gesamte Personenverkehr erhält an den Uebergangs-Bahnhöfen der Rheinzollinie einen längeren Aufenthalt, um die aus der Sanktionspolitik abgeleitete Zollrevision durchzuführen. Der Aufenthalt beträgt für Personenzüge 10 und für Schnellzüge 20 Minuten und zwar in Weiterstadt, Griesheim, Biebesheim, Goldstein und Höchst a. M. im Eisenbahn­direktionsbezirk Mainz. In Darmstadt fahren die Züge nach Worms und Mainz um soviel früher ab, als die Zollrevision ausmacht, um die Anschlüsse rechtzeitig zu erreichen.“

„Die verschärfte Handhabung der Zollvorschriften hat dazu geführt, daß in den letzten Tagen verschiedene hiesige Einwohner wegen mehr oder weniger geringer Verstöße gegen dieselben zu recht empfindlichen Geldstrafen verurteilt wurden. Diese Fälle sollten Jedermann zur gewissenhaften Beachtung der Vorschriften und zur Vorsicht mahnen. Gestern Abend sind von den nach Offenbach fahrenden Marktfuhrwerken eine Anzahl angehalten und durchsucht worden. Drei mußten bis heute früh an der Sperre halten und mußten dann nach der Zollstation im Bahnhof zurückfahren. Da keine Zollhinterziehung vorlag, sondern lediglich eine geringe, gar nicht beabsichtigte Differenz in der Stückzahl, kamen die Besitzer mit einer geringen Geldstrafe davon. Wer sich vor Strafe schützen will, beachte auch bei der Verpackung die gegebenen Vorschriften.“[NGA, 20.7.1921]

Wiederum erfordern neue Stauungen im Güterverkehr eine Sperre für Eilgut, Frachtgut, Stückladung und Waggonladung, die über Worms oder Bischofsheim transportiert werden. [NGA, 6.8.1921]

1921–1922: Die HEAG entledigt sich der Dampfstraßenbahn

Die HEAG gibt am 7. September 1921 mittels Annonce bekannt …

„Wegen zu geringer Benutzung des um 500 Uhr morgens von Griesheim abfahrenden Zuges wird derselbe vom Montag, den 12. ds. Mts. ab, nur noch an Werktagen, nämlich Dienstag, Donnerstag und Samstag, verkehren.“ [NGA, 10.9.1921]

… und das ist nur der Vorbote zur gänzlichen Einstellung des Dampfbetriebes.

Fahrplan ab 15. Oktober 1921.
Abbildung 14: Fahrplan ab 15. Oktober 1921, veröffentlicht im Neuen Griesheimer Anzeiger am selben Tag.

„Die ‚Heag‘ hat in einem Schreiben an die Gemeinde dargelegt, daß sie den Betrieb der Dampf­straßenbahn zum 1. Novbr. d. J. einstellen müsse, da er unrentabel sei. Der Dampfbetrieb solle in elektrischen umgewandelt werden, wenn die Gemeinde sich verpflichtet, einen jährlichen Baukostenzuschß von 600–800.00 Mk. (!!!) zu bewilligen. Obwohl der Gemeinderat von der Bescheidenheit dieses Ansinnens überzeugt ist, wurde demselben doch nicht näher getreten und so wird mit der Einstellung des Betriebes der Dampfstraßenbahn am 1. Novbr. zu rechnen sein, wenn das Ministerium seine Genehmigung erteilt.“ [NGA, 1.10.1921]

„Der Winter-Fahrplan der Straßenbahn tritt schon von morgen (15.) ab in Kraft. Die für gestern Nachmittag anberaumt gewesenen Verhandlungen vor dem Demobil­machungs-Kommissar in Darmstadt wegen Stillegung des Straßenbahn­betriebes sind auf nächsten Dienstag verlegt worden.“ [NGA, 15.10.1921]

Der mit dem Ende der Sommerzeit in den besetzten Gebieten zusammenfallende ab dem 26. Oktober gültige Fahrplan enthält einige kleinere Verschiebungen, wobei nicht klar ist, ob diese einfach nur fehlerhaft in der Vorlage der Griesheimer Zeitung vorlagen. Er wurde ihr bekanntlich nicht seitens der HEAG mitgeteilt, sondern dem Fahrplanbuch der staatlichen Eisenbahnen entnommen. Demnach verkehren die Dampfzüge ab Griesheim wie ab dem 15. Oktober, ab Luisenplatz jedoch zu anderen Zeiten (mit einer offenkundigen Dopplung): 5.40*, 6.55, 7.50, 9.55, 10.00, 12.10, 13.50, 14.50, 16.20, 17.25 und 18.50 Uhr. [NGA, 29.10.1921] – Die beabsichtigte Betriebseinstellung der Dampfstraßenbahn mit ihren beiden Ästen nach Arheilgen und Griesheim erfolgte zum 1. November 1921 dann doch nicht.

„Die Damfstraßenbahn hat ihrem [sic!] Betrieb mit dem Heutigen nicht eingestellt, wie von Seiten der Direktion angekündigt war. Jedenfalls hat sie von der Regierung die Genehmigung hierzu nicht erhalten. Jedoch soll sie die Absicht haben, den Betrieb aufs Alleräußerste einzuschränken.“ [NGA, 2.11.1921]

Es erfolgt eine letzte Fahrplananpassung, die bis zum Ende des Dampfbetriebes beibehalten wird.

Fahrplan-Bekanntmachung.

Abbildung 15: Fahrplan der Dampfstraßenbahn ab 7. November 1921, Annonce im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 5. November 1921. Auffällig ist die Reduktion der Verkehrsfrequenz auf jeweils sieben Fahrten nach Griesheim und Arheilgen, sowie die Auftrennung in zwei voneinander unabhängige Linien.

Griesheims Bürgermeister Georg Schüler lädt am 8. November 1921 zu einer Versammlung angesichts der Stillegung der Dampf­straßenbahn ein.

„Die Direktion der Hessischen Eisenbahn-Aktien-Gesellschaft hat wegen angeblicher Unrentabilität die weitere Aufrechterhaltung des Dampfstraßen­bahnbetriebs von der Leistung eines sehr erheblichen Zuschusses seitens der in Betracht kommenden Vorortgemeinden abgängig gemacht. Der Gemeinderat hat sich in seiner letzten Sitzung mit der Angelegenheit befaßt. Er ist der Ansicht, daß vor seiner endgültigen Stellungnahme denjenigen hiesigen Bevölkerungs­kreisen, die an der Aufrechterhaltung des Dampfstraßen­bahnbetriebes in erster Linie interessiert sind, Gelegenheit gegeben werden soll, zu dieser zweifellos hochwichtigen Angelegenheit ebenfalls Stellung zu nehmen. Zu diesem Zwecke findet am Donnerstag, 10. ds. Mts., abends 8 Uhr, im Restaurant ‚Zum Kaisersaal‘ hier eine öffentliche Versammlung statt. Da der Gemeinderat großen Wert darauf legt, die Stimmung der beteiligten Kreise kennen zu lernen, ersuchen wir die hiesige Einwohnerschaft, sich an dieser Versammlung zahlreich zu beteiligen.“ [NGA, 9.11.1921]

Offensichtlich hatten die Griesheimerinnen und Griesheimer andere Sorgen, vor allem aber als Alternative die Riedbahn. Die heran­gezogene Entschuldugung für den schwachen Besuch dürfte eher eine ziemlich durchsichtige Ausrede gewesen sein.

„Die für gestern Abend im ‚Kaisersaal‘ einberufene Bürgerversammlung, welche zu der beabsichtigten Stillegung der Dampfstraßenbahn am 1. Januar k[ommenden] J[ahres] Stellung nehmen sollte, war nur schwach besucht. Die Schuld an dem schwachen Besuch ist ohne Zweifel auf das kalte windige Wetter zurückzuführen, denn es gibt hier Niemand, der die Stillegung dieses Verkehrsmittels herbeiwünscht, wenn sich diese vermeiden läßt, ohne daß der Gemeinde ein unbilliges Opfer zugemutet wird. In längeren Ausführungen gab Herr Bürgermeister Schüler der Versammlung Kenntnis von den in der Angelegenheit von der Gemeinde unternommenen Schritten und den zwischen der Aufsichtsbehörde, der ‚Heag‘, den Industriellen, der Stadt Darmstadt und den Gemeinden Griesheim und Arheilgen geführten Verhandlungen, die aber zu keinem Ergebnis geführt haben. Nach den Angaben der ‚Heag‘ arbeitete diese seither auf der Strecke Griesheim – Arheilgen mit einer monatlichen Unterbilanz von 40.000 Mk., die von den beteiligten Gemeinden, der Stadt Darmstadt und den Industriellen gedeckt werden soll. Auf die Gemeinde Griesheim entfielen etwa 4.000 Mk., er meint aber, daß sich dieser Betrag durch Ersparnisse im Betrieb noch wesentlich niedriger stellen werde.

In der sich anschließenden Aussprache bemängelte Herr Direktor Hesse von den Hessenwerken die hohen Betriebskosten, welche die ‚Heag‘ in ihrer Rentabilitäts­berechnung anführt, besonders die Personalausgaben von 94.000 Mk. monatlich für 29 auf der Dampfbahnstrecke beschäftigte Arbeiter und Beamte erschienen ihm sehr hoch. Er ist der Meinung, daß sich noch sehr wesentliche Ersparnisse erzielen ließen, sodaß das Defizit noch ganz beträchtlich vermindert würde und sich die Zuschüsse der beteiligten Gemeinden auf ein Mindestmaß herabdrücken ließen. Unter allen Umständen müsse verhindert werde [sic!], daß die Bahn jetzt schon stillgelegt werde, und daß der Betrieb wenigstens bis zum 31. März aufrecht erhalten bleibe. Andere Redner finden es unverständlich, daß die ‚Heag‘ diese beiden Teilstrecken, wegan angeblicher Unrentabilität aus ihrem Gesamtbetrieb ausscheiden und stillegen wolle. Solange der Gesamtbetrieb noch eine Ausschüttung von 5 pCt. Dividende gestatte, wie im vorigen Betriebsjahr, dürfe dies die Regierung nicht zugeben. In den Jahren vor und während des Krieges habe die Dampf­straßenbahn und besonders die Griesheimer Strecke große Ueberschüsse gebracht, die neben der Verzinsung des Anlagekapitals hohe Rücklagen und Abschreibungen gestatteten. Wo seien denn diese geblieben, da sie doch nicht zur Erneuerung und Unterhaltung des Materials und der Strecke verwendet wurden, wie der Zustand des Fahrparks beweise. Jedenfalls seien diese in hoch­verzinslichen Werten angelegt und jetzt, wo die beiden Strecken, infolge der eingetretenen wirtschaftlichen Verhältnisse, die doch vorübergehend seien, keine Rente abwerfen, sondern einen Zuschuß verlangten, wolle man sie stillegen. Bei der hiesigen Strecke brauche die ‚Heag‘ sich übrigens nur dem Tarif der Staatsbahn für Arbeiter-Wochen- und Monatskarten anpassen und sofort sei die Rentabilität gesichert. Besonders scharf gegeißelt wurde von einigen Rednern, daß die ‚Heag‘ entgegen einem früher gegebenen Versprechen, schon 15 Angestellten gekündigt hat, jetzt wo der Winter vor der Tür steht; darunter einem Angestellten von hier, der schon 25 Jahre im Dienst der ‚Heag‘ steht. Alle Redner und besonders die vom Uebungsplatz und der Villenkolonie gekommenen Interessenten waren darin einig, daß alles geschehen müsse, um die Stillegung des Dampf­bahnbetriebes zu verhindern. In seinem Schlußwort dankte Herr Bürgermeister Schüler den Erschienenen und versprach, alles zu versuchen, um die Angelegenheit zu einem guten Ende zu führen.“ [NGA, 9.11.1921]

Seit 1914 verbindet die Dampfstraßenbahn nurmehr Arheilgen und Griesheim miteinander, während Eberstadt noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges elektrifiziert werden konnte. Die Pläne, auch die Reststrecke auf elektrischen Bettrieb umzustellen, konnten kriegsbedingt nicht mehr umgesetzt werden. Dieser Inselbetrieb war nur begrenzt wirtschaftlich, wenn auch die Einlassungen des Direktors Hesse einen eher ideologischen Kern enthalten. Selbstverständlich ist es für einen Fabrikanten aus einem gewinnorientiert betrieblichen Egoismus heraus sinnvoll, wenn möglichst wenige Arbeiterinnen und Arbeiter möglichst lange möglichst viel zu einem möglichst geringen Einkommen arbeiten; daraus sind jedoch nur begrenzt Schlüsse auf Struktur und Gedeihen öffentlicher Dienstleistungen zu ziehen, da dieser einer anderen Logik gehorchen. Der Verweis auf Dividenden­zahlungen ist hingegen durchaus geeignet, dem Lamentieren der HEAG etwas entgegenzusetzen; aber das Verkehrsaufkommen der Inflationszeit bemißt sich nicht zuletzt an Verdienst- und Arbeits­möglichkeiten und, wenn die Arbeitslosigkeit zunimmt, sind auch hier Grenzen gesetzt. Wenn zudem die ähnlich unregelmäßig verkehrende Riedbahn einen günstigeren Tarif nach Darmstadt anbieten kann, scheint die von der HEAG beklagte Misere zumindest teilweise hausgemacht zu sein.

Bürgermeister und Gemeinderäte in Griesheim und Arheilgen sehen sich demselben Druck der HEAG ausgesetzt und vermutlich werden die Veranwortlichen in beiden Orten hierbei eher an Erpressung gedacht haben. Die HEAG nutzt die Gelegenheit, wie es damals durchaus üblich war, den Gemeinden, die an ihre Bahnstrecken angeschlossen werden wollten, einen Obolus abzuverlangen. Daran sind andere Projekte, etwa die Verlängerung der Straßen­bahnlinie über das Böllenfalltor hinaus ins Mühltal bis hin nach Ober-Ramstadt, gescheitert oder wurden, wie die ebenfalls seit längerem projektierte Straßenbahnlinie über Eberstadt hinaus entlang der Bergstraße bis hin nach Zwingenberg, verzögert und verkürzt. Die Bürgermeister und Gemeinderäte von Griesheim und Arheilgen werden jedenfalls noch versuchen, den Spieß umzudrehen. Sie werden argumentieren, daß die noch 1922 eingerichteten Straßenbahn­verbindungen bis zum Waldfriedhof im Westen und zur Firma Merck im Norden nur dann wirtschaftlich betrieben werden können, wenn sie nach Griesheim und Arheilgen verlängert werden, so daß es doch eigentlich vorwiegend im Interesse der HEAG liegen müsse, schnellstmöglich den Anschluß herzustellen. Allerdings konnte eine gemeinsame Interessen­bekundung seitens Arheilgens und Griesheims gegenüber der HEAG nur im Fall der Dampf­straßenbahn funktionieren, während nach der Stillegung desselben beide Gemeinden hinsichtlich des elektrischen Betriebs von der HEAG einzeln angegangen werden konnten, da die elektrische Straßenbahn nicht zwingend eine neue Linie zwischen Arheilgen und Griesheim erforderte, sondern nur die Verlängerung oder Verlegung bestehender Strecken. Aufgrund ihrer Marktmacht saß die HEAG dann wohl doch am längeren Hebel.

„Griesheim, 18. Novbr.  Die Gemeindevertretung von Arheilgen hat den von der ‚Heag‘ geforderten monatlichen Zuschuß in der Höhe von 4.000 Mk. für die Weiterführung des Betriebes der Dampfstraßenbahn abgelehnt. Wie man uns mitteilt, will die ‚Heag‘ den Betrieb nur auf beiden Strecken zugleich aufrechterhalten, so will [sie] also auch die Strecke stillegen, wo die Rentabilität gewährleistet werden kann[,] wenn diese Voraussetzung bei der anderen Strecke nicht zutrifft. Es ist dies der gleiche Standpunkt, den die ‚Heag‘ einnahm, als sie sich vor etwa 10 Jahren mit der Absicht trug, den Dampfbetrieb der drei Vorortstrecken Arheilgen – Eberstadt – Griesheim in elektrischen Betrieb umzuwandeln und die drei Vorortgemeinden um eine Zinsgarantie anging. Die hiesige Gemeindevertretung war damals bereit, für die hiesige Strecke die Zinsgarantie zu übernehmen. Sie kontnte auf dieses Risiko umso eher eingehen, als von vornherein feststand, daß bei der ausgezeichneten Frequenz der hiesigen Strecke die Gemeinde gar nicht in die Lage gekommen wäre einen Zuschuß leisten zu müssen. Sie lehnte nur ab, weil die ‚Heag‘ die Zinsgarantie der drei Vorortgemeinden auch für ihre viel weitergehenden Pläne, wie Ausbau der elektrischen Bahn nach Pfungstadt [13], Bickenbach, Jugenheim, Seeheim, Alsbach, Zwingenberg in Anspruch nehmen wollte. Bei den damaligen Verhandlungen erklärte Herr Direktor Rötelmann auf den Hinweis eines hiesigen Gemeindevertreters, daß unsere Gemeinde doch gar kein Interesse an dem Ausbau dieser Strecken hätte, das ganze Projekt sei ein unteilbares Ganze, aus dem eine einzelne Strecke nicht herausgenommen werden könne. Daß sich die Regierung diesen Standpunkt ebenfalls zu eigen macht, möchten wir denn doch bezweifeln, denn dies wäre eine Begünstigung der Heag, die durch nichts gerechtfertigt wäre. Uebrigens scheint die ‚Heag‘ diesen Standpunkt von der Unteilbarkeit des Ganzen nur da angewendet wissen zu wollen, wo es ihr gepaßt. In ihrem letzten Jahresbericht hat sie bekanntlich ausgeführt, daß ihr die Gewährung einer 5prozentigen Rente nur durch die Ueberschüsse der Ueberlandzentrale möglich gewesen sei. Und jetzt will sie die Ueberlandzentrale, die doch ebenfalls zu dem unteilbaren Ganzen ihres Betriebes gehört, davon ausgenommen wissen. Also, wies eben paßt.“ [NGA 19.11.1921]

Am 27. November erleidet ein Personenwagen der Dampfstraßenbahn einen Achsbruch an der Haltestelle Hauptbahnhof. Die Darmstädter Stadtverordneten­versammlung genehmigt am Tag darauf einen monatlichen Beitrag von 8.000 bis 10.000 Mark, sofern Arheilgen und Griesheim einen entsprechenden Zuschuß leisten. Auf der Griesheimer Gemeinderats­sitzung am 2. Dezember wird eine Kommission gebildet, um mit der Stadt Darmstadt und der HEAG in vertrauliche Verhandlungen einzutreten, bevor man entscheidet. Der Kommission gehören die Gemeinderäte Maus und Hofmann, Direktor Hesse, Betriebsingenieur Nothnagel und Revisor Hubach an. Am 9. Dezember tagt der Griesheimer Gemeinderat erneut und behandelt das Ersuchen der HEAG, die Fahrpreise erneut anzuheben. Da dem Gesuch keine Fahrpreise für die Relation Griesheim – Luisenplatz zu entnehmen sind, will er zunbächst den Ausgang der Verhandlungen hinsichtlich des geforderten Zuschusses abwarten. Auch die Reichseisenbahn­verwaltung plant eine Erhöhung der Tarife, die im Personenverkehr „im allgemeinen“ auf 75 Prozent belaufen soll. [NGA, 30.11.1921, 3.12.1921 und 10.12.1921]

„Die Darmstädter Stadtverordneten haben der Erhöhung der Fahrpreise der elektrischen Straßenbahn um durchschnittlich 40–45 pCt. ihre Genehmigung erteilt, sodaß die seither billigste Strecke von 1 Mk. jetzt 1.50 Mk. kostet. Der Fahrpreis nach 10 Uhr abends verdoppelt sich. Die Fahrt von hier nach Darmstadt-Luisenplatz soll jetzt 2.50 Mk. kosten.“ [NGA, 14.12.1921]

„Die am 1. Februar d. J. erhöhten Eisenbahn-Fahrpreise betragen das 15fache der Friedens-Fahrpreise. Die einfache Fahrt von hier nach Darmstadt kostet dann 3.50 Mk.“ [NGA, 4.1.1922]

Ein halbes Jahr nach dem Marktboykott in Darmstadt rief der Marktverein Darmstadt für Samstag, den 18. Februar 1922, zu einer außerordentlichen Mitgliederversammlung ein, um zwei Dinge zu klären: die Errichtung eines Großmarktes in Darmstadt und die Tariferhöhung der Marktstandplätze mit zugehöriger Neuverteilung derselben.

„Am Samstag abend fand im Saale des Herrn Gastwirt Klippel eine sehr stark besuchte Mitglieder-Versammlung des Darmstädter Marktvereins hier statt, welcher auch Herr Beigeordneter Delp aus Darmstadt und der städtische Marktmeister beiwohnten. Zur Besprechung standen die Errichtung eines Großmarktes in Darmstadt und die Tariferhöhung der Marktstandplätze und deren Neueinteilung. Bekanntlich bestimmte bis zum Juni v J. die Darmstädter Wochenmarkt-Ordnung, daß vor 10 Uhr vormittags an Großhändler und Wiederverkäufer nichts verkauft werden durfte. Diese Bestimmung wurde so rigoros gehandhabt, daß nicht einmal Großabnehmer, wie Hotels, Gasthäuser und Spitäler beliefert werden konnten. Als daraufhin die hiesigen Marktbesucher dem Darmstädter Wochenmarkt fernblieben, änderte man die Bestimmung dahin, daß der Großverkauf schon von ½9 Uhr ab erlaubt wurde und stellte im Uebrigen die Errichtung eines Großmarktes in Aussicht. Nach den Ausführungen des Herrn Beigeordneten Delp will man diesen Großmarkt jetzt anschließend an den Kleinmarkt auf dem Schillerplatz einrichten[,] wodurch 35 Standplätze für den Kleinmarkt verloren gehen. Die hiesigen Interessenten vermuten dahinter eine beabsichtigte Preistreiberei bei der demnächst stattfindenden Vergebung der Marktstand­plätze und lehnten diesen Vorschlag des Herrn Delp einstimmig ab. Sie verlangen freien Verkauf an Jedermann vom Beginn bis zum Schluß des Marktes, da man Erzeugern, die nicht im Kleinen verkaufen wollen, nicht zumuten könne, länger auf dem Markte zu verbleiben, als dies ihre Absicht ist und ihre Zeit erlaubt. Ueber das Auftreten der Marktpolizei wurde ebenfalls wieder Klage geführt.

Zu der demnächst stattfindenden Vergebung der Marktstandplätze teilte Herr Beigeordneter Delp mit, daß die Taxation auf den zehnfachen Betrag der Vorkriegszeit, also auf 100 Mk. pro Qmtr. erhöht werden müsse. In Anbetracht der heutigen Geldentwertung und die der Stadt entstehzenden Unterhaltungs- und Säunberungs­kosten des Marktplatzes müßte die Taxation eigentlich auf das Zwanzigfache erhöht werden. Die Stadt habe aber hiervon Abstand genommen und wolle die Hälfte der Unkosten selbst tragen. Auch dieser Vorschlag des Herrn Delp wurde abgelehnt und darauf hingewiesen, daß alle diese Unkosten und Preissteigerungen letzten Endes die Darmstädter Käufer tragen müßten, da der Erzeuger gezwungen sei, sie auf die Preise zu schlagen. Der fünffache Betrage werde eher als angemessen angesehen. Durch die fortgesetzten Scherereien, aller Art, denen die Besucher des Darmstädter Wochenmarktes ausgesetzt seien, und die beständige Preiserhöhung der Plätze, werde nur erreicht, daß den hiesigen Erzeugern der Besuch des Marktes immer mehr verleidet werde und sich diese anderen Absatzgebieten zuwendeten. Daß dies dem Interesse der Darmstädter Bevölkerung nicht dienlich sei, liege auf der Hand.“ [NGA, 22.2.1922].

Apropos Preissteigerungen. Die HEAG veröffentlicht ihre von der Stadtverordneten­versammlung am 22. Februar 1922 genehmigten erhöhten Preise für Wochen- und Monatskarten, die ab dem 27. Februar gelten sollen. Die günstigste Wochenkarte kostet nunmehr 11,40 Mark und die teuerste 30,20 Mark. Dafür falle der doppelte Fahrpreis ab elf Uhr abends fort. [NGA, 25.2.1922]

„Die Darmstädter Stadtverordneten-Versammlung hat in ihrer gestrigen Sitzung [am 2.3., WK] die Abänderung der Marktordnung nach den Wünschen der hiesigen Interessenten, nach denen der freie Verkauf an allen Markttagen gestattet sein soll, abgelehnt und der Erhöhung der Gebührensätze für die Wochenmarktplätze auf das Zehnfache des bisherigen Tarifs mit allen gegen 4 Stimmen zugestimmt. Herr Beigeordneter Delp trat sogar für eine Erhöhung auf das Fünfzehnfache ein. Die Preise auf dem Wochenmarkt würden selbst bei gänzlichem Wegfall des Standgeldes um keinen Pfennig heruntergehen. Die Beschränkung der Verkaufszeit sei durchaus berechtigt; die Verhandlungen wegen Einrichtung eines Großmarktes haben ergeben, daß hieran nicht das Interesse besteht, wie man annahm. Den Darmstädter Hausfrauen müsse Gelegenheit gegeben werden, ihr Gemüse und Obst einzukaufen, bevor von den Wiederverkäufern die beste Ware ausgesucht. Immerhin solle insofern eine Aenderung vorgeschlagen werden, daß der Verkauf an Wiederverkäufer im Sommer um ½9 Uhr und im Winter um ½10 Uhr freigegeben wird. Die Gefahr der Abwanderung der Verkäufer nach Frankfurt und anderen Städten sei nicht so groß. Die Wiederverkäufer sollten selbst auf das Land gehen und ihre Waren einkaufen, das wäre eine richtigere kaufmännische Tätigkeit als den Hausfrauen die Ware vor der Nase weg zu kaufen. Er möchte bei dieser Gelegenheit einmal feststellen, daß bei dem Boykottieren des Darmstädter Wochenmarktes im letzten Sommer die Griesheimer durchaus nicht für den Boykott waren, vielmehr sei durch Diskussionsredner festgestellt worden, daß Darmstädter Interessenten nach Griesheim gefahren sind, um diese zur Boykottierung aufzustacheln. – Wie sich die hiesigen Interessenten mit den Beschlüssen abfinden, bleibt abzuwarten.“ [NGA, 4.3.1922]

„Griesheim, 10. März.  Morgen Abend hält der Darmstädter Marktverein im Saale des Herrn Klippel in der Bahnhofstraße eine außerordentliche Mitglieder-Versammlung ab, um zu der am Montag stattfindenden Versteigerung der Marktstandplätze in Darmstadt Stellung zu nehmen. Auch soll die Erschließung neuer Absatzgebiete beschlossen werden, da man mit der Regelung der Darmstädter Marktverhältnisse, wie sie vorige Woche durch die Darmstädter Stadtverordneten-Versammlung erfolgt ist, sich keineswegs zufrieden geben will. Viele der seitherigen Besucher wollen sich dem Wiesbadener Markt zuwenden, weil der Darmstädter Wochenmarkt von hier aus mit Gemüse und Gartenerzeugnissen überfahren wird und sie dort ein besseres Absatzgebiet zu finden hoffen.“ [NGA, 11.3.1922]

„Wie man uns mitteilt, hat bei der gestrigen Versteigerung der Darmstädter Wochenmarktplätze [am 13.3., WK] nicht einmal die Hälfte der hiesigen Marktbesucher ihre seitherigen Plätze wieder gesteigert. In einer gestern Abend einberufenen Versammlung wurde eine Kommission gewählt, die mit der Stadt Wiesbaden wegen Besuchs des dortigen Wochenmarktes in Verhandlungen treten soll.“ [NGA, 15.3.1922]

Während dessen steht die Stillegung der Dampf­straßenbahn von Griesheim nach Arheilgen an. Die vorgesehene „sofortige Elektrifizierung“ wird sich aufgrund der politischen Verhältnisse und der Forderungen der HEAG vier Jahre bis zum Herbst 1926 hinziehen.

„In einer heute vormittag [am 14.3., WK] unter dem Vorsitz des Demobilmachungs­kommissars im Kreisamt zu Darmstadt stattgehabten Sitzung der Vertreter der Gemeinden Griesheim und Arheilgen, der Firma Merck und der ‚Heag‘ wurde die Stillegung des Dampfbahn­betriebs ab 1. April beschlossen. Die Strecken sollen sofort elektrifiziert werden und zwar vorerst bis zur Merck'schen Fabrik bezw. bis zum Waldfriedhof. Die völlige Elektrifizierung wird ebenfalls sogleich durchgeführt, wenn die beteiligten Gemeinden sich zu einem größeren, noch zu berechnenden Baukostenzuschuß verstehen.“ [NGA, 15.3.1922]

„Griesheim, 17. März.  In der gestrigen Gemeinderats-Sitzung [gab der Bürgermeister] Kenntnis von einem Schreiben der ‚Heag‘, daß der Betrieb der Dampf­straßenbahn am 1. April wegen zu großen Defizits eingestellt wird. Gleichzeitigt ersucht die Heag um Genehmigung eines Zuschusses zu dem innerhalb der letzten fünf Monate entstandenen beträchtlichen Defizit, was abgelehnt wurde. Was einen Beitrag zur Elektrifizierung der Bahn anbelangt, so sollen erst genaue Vorschläge abgewartet werden.“ [NGA, 18.3.1922]

Die Griesheimer Marktbeschicker, die ohne größeren Aufwand ihre Waren mit eigenem Marktwagen auf der Dampf­straßenbahn transportieren konnten, sind vorerst ohne passendes Verkehrsmittel. Sie müssen auf die unbequemere Riedbahn ausweichen oder Fuhrwerke oder eines der wenigen Lastautos anmieten. Sie versuchen daher nicht nur in Wiesbaden, sondern auch in Mainz ihr Glück, nicht immer zur Freude der dortigen lokalen Konkurrenz.

„Man teilt uns mit: In der vorletzten Woche sollten auch in Mainz die Marktplätze zur Versteigerung gelangen. Wie in Darmstadt, hatte auch die Mainzer Stadtverwaltung die Taxen in ganz horrender Weise gesteigert, sie verlangte pro Quadratmeter 4 Mk. pro Markttag, das sind bei 50 Wochen und zwei Markttagen 400 Mk. im Jahr. Gegen diese ganz unerträgliche Forderung machten die in Vereinen zusammen­geschlossenen Erzeuger und Händler aus allen umliegenden Orten entschieden Front und sie beschlossen, zu der Versteigerung nur ihre gewählten Vertreter zu senden, welche die Forderung der Stadt einstimmig ablehnten und kein Gebot machten. Daraufhin setzte die Stadt ihre Forderung um 15 pCt. herab, aber damit gaben sich die Interessenten noch nicht zufrieden und bei der zum zweiten Male anberaumten Versteigerung wurde wiederum kein Gebot abgegeben.

Von den Griesheimer Besuchern des Mainzer Marktes, die sich mit den Mombachern, Gonsenheimern usw. solidarisch erklärt hatten, machten bei der zweiten Versteigerung einige Miene, aus der Reihe zu tanzen, aber ihnen wurde so zugesetzt, daß sie es vorzogen, in der Reihe zu bleiben. Bei diesem einmütigen Zusammenhalt der Interessenten, wird der Mainzer Stadtverwaltung nichts anderes übrig bleiben, als ihre Forderung auf ein vernünftiges Maß zurückzuschrauben.“ [NGA, 25.3.1922]

Am 28, März 1922 gibt der Darmstädter Oberbürger­meister per Zeitungs­annonce bekannt, daß die Angebote der Versteigerung vom 13. März genehmigt seien und die zugehörigen Ausweiskarten gegen Zahlung des Standgeldes für April und Mai beim städtischen Marktmeister im Rathaus erhältlich sind. [NGA, 1.4.1922]

Dampfstraßenbahn in Griesheim.

Bild 16: Dampfbahn am Griesheimer Straßenbahnhof, vor 1912. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, gr.2014.0107.

„Zur Stillegung der Straßenbahn.

Morgen, am 1. April, wird die Dampf­straßenbahn, wie wiederholt angekündigt, wegen Unrentabilität ihren Betrieb endgültig einstellen. Nahezu 36 Jahre hat die Bahn dem Verkehr zwischen Griesheim und der Stadt Darmstadt gedient und verlohnt es sich deshalb wohl, einen kurzen Rückblick auf die Geschichte des Unternehmens und die Zeit seiner Entstehung zu werfen, dem wie keinem anderen eine so große Bedeutung für die Entwickelung unserer Gemeinde zukommt. Als den sogenannten Gründerjahren nach dem Krieg 70/71 in der zweiten Hälfte der siebenziger Jahre der wirtschaftliche Rückschlag folgte, trat, wie auf allen Strecken der ehemaligen Hess[ischen] Ludwigsbahn, so auch auf der Strecke Darmstadt – Worms, eine ganz bedeutende Verkehrs­verschlechterung ein. Die bis dahin gefahrenen Arbeiterzüge fielen ganz aus und die übrigen Züge waren so gelegt und der Fahrpreis für die damaligen Zeitverhältnisse so hoch, daß nur die Wenigsten die Bahn benutzen konnten und am allerwenigsten die Arbeiter, die von nun ab wieder den Weg nach ihren Arbeitsplätzen in Darmstadt bei Wind und Wetter zu Fuß zurückelegen mußten. Daß unter solchen Umständen die Betriebs-Eröffnung des neuen Verkehrs-Unternehmens gegen Ende August 1886 mit lebhafter Freude begrüßt wurde, läßt sich leicht denken. Schon zwei Jahre zuvor war eine Darmstädter Baufirma im Besitz der Konzession für den Bahnbau und hatte, wie es hieß, während dieser Zeit Erhebungen über den Verkehr anstellen lassen, aber nicht den Unternehmungsgeist zur Ausführung besessen.

Bekanntmachung der HEAG.
Abbildung 17: Bekanntmachung der HEAG über die Betriebseinstellung, veröffentlicht im Neuen Griesheimer Anzeiger am 1. April 1922.

Da kam der Berliner Kleinbahn-Unternehmer Bachstein, erwarb die Konzession von der Firma und kaum ein Vierteljahr später wurde nicht allein die Strecke Darmstadt – Griesheim, sondern auch die Strecke Darmstadt – Eberstadt eröffnet, denen dann später die Strecke nach Arheilgen folgte. Sie wurden gebaut, ohne daß an die Gemeinden das Ansinnen eines Baukosten­zuschusses über Uebernahme einer Zinsgarantie gestellt wurde [14]. Alles freute sich über die neue Verkehrs­gelegenheit, die nicht allein den Bewohnern der drei Vorort­gemeinden von Darmstadt, sondern auch der Stadt selbst von allergrößtem Nutzen waren und Herr Bachstein machte ein gutes Geschäft.

Später gingen die Bahnen in den Besitz der Süddeutschen Eisenbahn-Gesellschaft über. Durch den wirtschaftlichen Aufschwung wurde der Verkehr immer größer[,] der Bahnkörper genügte den Anforderungen nicht mehr, er mußte umgebaut und von der Chaussee auf eigenes Gelände verlegt werden. Auch dies erfolgte ohne Zuschuß der Gemeinde, lediglich ein zwei Meter breiter Geländestreifen zwischen Hofmannstraße und Friedrichstraße, hinter der Bahnhofsanlage, wurde kostenlos abgetreten, eine weitere Geländestellung, die beantragt war, wurde abgelehnt. Daß die Bahn ausgezeichnet rentierte und bei reichlichen Abschreibungen noch recht hohe Betriebsüberschüsse lieferte, beweisen die alljährlich veröffentlichten Geschäftsbilanzen.

Nach langen Verhandlungen kam dann 1912 die Hess[ische] Eisenbahn-Aktien-Gesellschaft zustande. Die Darmstädter Straßenbahnen und das von der Stadt errichtete Elektrizitätswerk gingen in den Besitz der Gesellschaft über. Die Stadt Darmstadt erhielt 50 pCt. der Aktien, die Süddeutsche Eisenbahn-Gesellschaft 49 pCt. und der Kreis 1 pCt., die interessierten Vorortgemeinden gingen leer aus. Nun sollte die Umwandelung des Dampfbetriebes in elektrischen Betrieb vorgenommen werden, zugleich tauchte aber auch das Bergstraßen-Projekt auf. Jedenfalls setzte die neue Aktien-Gesellschaft in die Rentablität dieses Projektes kein allzugroßes Zutrauen, denn sie verquickte jetzt die beiden Unternehmen miteinander und verlangte von den drei Vorortgemeinden, die man bei Gründung der Aktiengesellschaft ganz beiseite geschoben hatte, die Uebernahme einer Zinsgarantie auf 10 Jahre, die für Griesheim auf 10.000 Mk. jährlich festgesetzt war. Als die Gemeinden dieses Ansinnen ablehnten, verlangte man für 10 Jahre jährliche feste Beiträge, die auf Hälfte der Garantiesummen herabgesetzt waren. Auch dieses Ansinnen wurde von den drei Gemeinden zurckgewiesen, nur Eberstadt erklärte sich später zur Uebernahme des jährlichen Zuschusses bereit, weil es an der Weiterführung der Bahn in die Bergstraße am meisten interessiert war. Die Strecke nach Eberstadt wurde daraufhin für elektrischen Betrieb umgebaut und der Verkehr kurz vor Ausbruch des Krieges 1914 eröffnet. Mit den Gemeinden Griesheim und Arheilgen wurden die Verhandlung fortgesetzt, führten aber zu keinem Ergebnis. (Ein weiterer Artikel folgt.)“

„Zur Stillegung der Straßenbahn.

Wenn die ‚Heag‘ die Uebernahme einer Zinsgarantie bei Umwandlung des Dampfbetriebes in elektrischen Betrieb nur für die hiesige Strecke oder auch für die drei bereits in Betrieb befindlichen Vorortlinien von Darmstadt verlangt hätte, so wäre diese Forderung in unserer Gemeindevertretung sicher von allem Anfang an auf keinen großen Widerstand gestoßen, denn die Rentabilität dieser Strecken stand von vornherein fest. Daß sie aber die Zinsgarantie, oder an deren Stelle jährliche feste Beiträge auch für die Darmstädter Straßenbahnlinien und die projektierte Bergstraßenbahn nach Bensheim, an der wir doch das allergeringste Interesse hatten, leisten sollte, wurde von unserer Gemeindevertretung mit Recht abgelehnt. Wie unberechtigt die Forderung der ‚Heag‘ gerade unserer Gemeinde gegenüber war, zeigte sich, so recht während der Kriegsjahre, wo der Truppen-Uebungsplatz fortgesetzt stark belegt war und sie den ständigen großen Verkehr nur mit Mühe und Not bewältigen konnte. Sicher wären die Einnahmen der ‚Heag‘ noch viel bedeutender gewesen, wenn der Betrieb elektrisch eingerichtet gewesen wäre und oft konnte man damals vernehmen, daß dies auch die Ansicht der Direktion gewesen sei und sie diese Unterlassung lebhaft bedauert habe. Jedenfalls lag es auch in der Absicht der ‚Heag‘, den elektrischen Betrieb alsbald nach Beendigung des Krieges auch ohne Zinsgarantie einzuführen, denn anders ist es nicht zu erklären, daß sie den ganzen Fuhrpark so herunterwirtschaften ließ, wie es tatsächlich geschehen ist.

Dies war aber nach dem unglücklichen Ausgang des Krieges und infolge der eingetretenen schwierigen Verhältnisse nicht möglich. Durch die Besetzung unseres Ortes war der Verkehr längere Zeit unterbunden und als er wieder aufgenommen werden konnte, fanden rasch nach einander beträchtliche Erhöhungen des Fahrpreises statt bei gleichzeitiger Verminderung der Fahrgelegenheit. Die Folge war eine starke Abwanderung des fahrenden Publikums und besonders der Arbeiter nach der Staatsbahn, wo der Fahrpreis wesentlich billiger und auch die Zugverbindung eine bessere war. Dies führte natürlich zu einem bedeutenden Einnahmenausfall, den man aber nicht durch Anpassung an die Verhältnisse zu beheben suchte, sondern man trat an die Gemeinde mit dem Ansinnen heran, zur Deckung des entstandenen recht beträchtlichen Defizits beizutragen und als dies abgelehnt wurde, beschloß man den Betrieb am 1. November v. J. einzustellen, was aber durch das Eingreifen des Demobilmachungs­kommissars verhindert wurde. Es wurde eine Frist bis zum 31. März d. J. gesetzt; sollte es in dieser Zeit nicht gelingen, die Einnahmen mit den Ausgaben in Einklang zu bringen, so wollte die Regierung der Stillegung der Bahn keine Hindernisse mehr in den Weg legen. Um Ersparnisse zu erzielen wurde ein Teil des Personals entlassen und der Fahrplan nochmals eingeschränkt. Aber auch diese Maßnahmen versagten, trotzdem die Einzelfahrt nach Darmstadt bei der Staatsbahn um eine Mark teuerer wurde, wie bei der Straßenbahn. Sie mußten versagen, weil sie verkehrt waren und die ‚Heag‘ nichts tat den Verkehr wieder an sich zu bringen. Viele Leute meinen, die ‚Heag‘ habe mit Absicht auf die Stillegung des Dampfbetriebes hingearbeitet, weil dieser in dem Rahmen ihres übrigen Betriebes nicht mehr gepaßt habe und hoffe, durch die Einstellung des Dampfbetriebes die Vorortgemeinden ihren Forderungen geneigter machen zu können. Ob diese Meinung zutreffend ist, wird die Zukunft lehren. Wir glauben, daß die Vorortgemeinden heute noch weniger in der Lage und auch gewillt sind, die verlangten hohen Baukostenzuschüsse zu leisten, wie früher. Sie werden es ruhig der ‚Heag‘ überlassen, wie lange sie das in der Bahnanlage investierte Kapital brach liegen läßt oder ob sie nach Mitteln und Wegen sucht, dasselbe wieder nutzbringend zu machen.

Mit der jetzt zur Tatsache gewordenen Stillegung der Dampfstraßenbahn müssen wir uns abfinden. Besonders schwer betroffen werrden dadurch die Bewohner des Truppen-Uebungsplatzes [15] und die Bewohner der Landhäuser längs der Darmstädter Chaussee. Auch unsere Darmstädter Marktfrauen werden die Straßenbahn schwer vermissen, aber sie müssen sich hier mit ihren Schwestern trösten, die den Frankfurter, Offenbacher oder andere Märkte der umliegenden Städte besuchen und bisher schon nicht die Bequemlichkeit hatten, mit ihrem Marktgut bis zum Verkaufsplatz befördert zu werden. Zu den Frachtsätzen, wie sie die Straßenbahn zuletzt erhoben hat, werden sich wohl auch Fuhrunternehmer finden, welche das Marktgut befördern. Läuft die elektrische Bahn erst einmal bis zum Waldfriedhof, so ist mit Gewißheit anzunehmen, da sie in nicht allzulanger Zeit auch nach hier läuft.

Jetzt sind wir im Verkehr mit Darmstadt wieder auf die Staatsbahn angewiesen. Der Weg dahin ist für die Bewohner der südlich gelegenen Ortsteile wohl etwas weit, aber sie müssen sich notgedrungen damit abfinden, wie wir uns alle auch mit dem Weg vom Hauptbahnhof in die Stadt abfinden müssen. Dafür haben wir kürzere Fahrzeit und im Winter geheizte Wagen und was die Hauptsache ist, günstige Fahrgelegenheit, besonders morgens und nachmittags ein stündlicher Zugverkehr herrscht. Erwünscht wäre nur noch die Einlegung eines Zug [sic!], der zwischen 12 und 1 Uhr in Darmstadt abgeht, da die Zeit von 10 bis ½2 Uhr etwas zu lang ist. Sache unserer Gemeindevertretung sollte es sein, bei der Mainzer Eisenbahn-Direktion darauf hinzuwirken.“

Quelle: Neuer Griesheimer Anzeiger vom 1. und vom 5. April 1922.

Annonce im Neuen Griesheimer Anzeiger am 19. April 1922: „Mein Rollfuhrwerk geht von jetzt ab jede Woche 1–2mal nach Darmstadt und mit Beginn der Gemüse-Saison wöchentlich 3mal auf den Markt. Ebenso können Güter usw. mit zurückgenommen werden. Peter Höhl, Fuhrunternehmer. Kreuzgasse 3 – Telefon 65.“

„Wie die ‚Eberstädter Ztg.‘ meldet, hat mit Beginn dieses Monats eine große Abwanderung von Arbeitern und Angestellten von der Straßenbahn nach der Staatsbahn stattgefunden. Die Ursache ist der gewaltige Fahrpreis­unterschied, besonders seit der letzten Fahrpreiserhöhung der ‚Heag‘. Da wird die ‚Heag‘ wohl auch bald an die Gemeinde Eberstadt mit der Forderung eines Zuschusses herantreten und wenn dieser nicht gewährt wird, zu einer Betriebseinschänkung übergehen.“ [NGA, 26.4.1922]

Der Zeitung wird mitgeteilt, daß die frühmorgendliche Triebwagenfahrt von Griesheim nach Darmstadt, die bislang nur an Montagen und Donnerstagen verkehrt, im Sommerfahrplan ab dem 1. Juni 1922 auch an den anderen Wochentagen verkehren soll [NGA, 3.5.1922]. Schon mit dem ab dem 1. Juni geltenden Sommerfahrplan 1921 war mittwochs und samstags eine neue Frühverbindung eingerichtet worden, die vermutlich gezielt die Markttreibenden ansprechen sollte, vermutlich mit Anschluß an einen Frühzug nach Frankfurt. Aufgrund der verschärften Zollrevision ab Mitte Juli 1921 scheint diese Fahrt wieder aufgegeben worden zu sein. In dem ab dem 26. März 1922 gültigen Fahrplan ist sie wieder enthalten. Angesichts der Einstellung des Dampfstraßen­bahnverkehrs dürfte diese Frühverbindung positiv aufgenommen worden sein.

„Griesheim, 23. Mai.  […] In der Stadtverordnetensitzung am vergangenen Donnerstag [18.5., WK] in welcher über die Erhöhung der Straßenbahntarife beraten wurde, wurde auch die Weiterleitung der elektrischen Bahn bis zur Merck'schen Fabrik auf der Arheilger Strecke und bis zum Waldfriedhof auf der hiesigen Strecke bis zum Herbst in Aussicht gestellt. Herr Beigeordneter Ritzert hat hierbei geäußert, daß die Gemeinde Arheilgen bei den Verhandlungen Entgegenkommen gezeigt, Griesheim aber abgelehnt habe. Nach dieser Aeußerung des Herrn Beigeordneten Ritzert könnte es scheinen, als ob die Gemeinde Griesheim die Umwandlung des Dampfbetriebes in elektrischen Betrieb abgelehnt habe. Dies ist keineswegs der Fall, hier steht der Gemeinde kein Einspruchsrecht zu und überdies kann es uns ganz gleich sein, welche Betriebsart die ‚Heag‘ gewählt hätte, wenn die den Betrieb hätte weiterführen wollen. Daß die Einführung des elektrischen Betriebes bis zum Waldfriedhof nur ein Bruchstück sein kann, das niemals rentiert und nach seiner Weiterführung bis zur Endstation Griesheim förmlich schreit, liegt auf der Hand. Kürzlich wurde uns erzählt, ein Beamter der ‚Heag‘ habe geäußert, man habe geglaubt in Griesheim gebe es Revolution, wenn die Dampfbahn nicht mehr ginge und sei sehr verwundert gewesen, weil man das hier so ruhig hingenommen habe. Wenn das die Direktion wirklich geglaubt hat, so hat sie sich gründlich geirrt.“ [NGA, 24.5.1922]

Der Redakteur der Zeitung nutzt die Veröffentlichung einer Anfrage der HEAG zu einer kleinen Polemik.

„Die ‚Heag‘ hat unterm 17. März folgendes Schreiben an die hiesige Bürgermeisterei gerichtet: ‚Wir bitten um baldgefällige Mitteilung, wie hoch nach ihrer Meinung die Zahl der Personen bestenfalls wohl sein könnte, welche bei der Elektrisierung der Dampfbahnstrecke die el[e]ktrische Bahn täglich benutzen würden. Desgleichen interessiert es uns zu wissen, ob die Errichtung einer Güter- und Gepäckbeförderung in den Bereich der Möglichkeit gezogen werden kann. Wir benötigen die Angaben für die Aufstellung der Rentabilitäts­berechnung des Elektrisierungs-Projektes. Für die Beantwortung bis Anfang nächster Woche würden wir Ihnen besonders dankbar sein.[‘] – Es muß wirklich befremden, daß sich die ‚Heag‘ von unserer Bürgermeisterei die Beantwortung von Fragen erbittet, über die ihr jeder ihrer Schaffner, der auf der Strecke fuhr, eine viel bessere und zutreffendere Antwort geben konnte, wie unsere Bürgermeisterei. Zudem hat sie doch auch alle Unterlagen selbst in der Hand. Sie brauchte doch nur in ihren Aktenschrank zu greifen, um zu sehen, wie viel Tagesfahrscheine, Monats- und Wochenkarten oder Gepäckbeförderungs­scheine usw. ausgegeben oder was an Mark[t]gut in den letzten Jahren verladen wurde. Eine auf Grund dieser Feststellungen gemachte Rentabilitäts­berechnung würde sicher ein befriedigendes Resultat ergeben haben, denn es unterliegt gar keinem Zweifel, daß sich neun Zehntel des Verkehrs nach Darmstadt, bei Einhaltung der Fahrpreise wie bei der Staatsbahn der Heag zuwenden würde.“ [NGA, 21.6.1922]

1922: Die Baukosten laufen davon und Griesheim stellt sich quer

In einer kurzen Notiz aus Darmstadt schimmert ein wenig Hoffnung durch.

„In der gestrigen Sitzung der Darmstädter Stadtverordneten [am 22.6., WK] erklärte Beigeordneter Ritzert: Die Elektrisierung der Dampfstraßenbahn sei im Gang. Der Bürgermeister von Griesheim habe unverbindlich erklärt, daß sich auch die Gemeinde Griesheim jedenfalls mit einem Zuschuß beteilige.“ [NGA, 24.6.1922]

Der Griesheimer Gemeinderat und Gastwirt Wilhelm Maus (Demokratische Partei) schreibt zur Elektrifizierung – bzw., im damaligen Sprachgebrauch, Elektrisierung – der Straßenbahn:

„Nach längerer Pause fand gestern im K[r]eisamtsgebäude unter dem Vorsitz des Herrn Provinzialdirektor [Wilhelm, WK] Best ein Termin der an der Straß[en]bahn interessierten Gemeinden und Kreise statt. Von hier wohnten der Sitzung Bürgermeister Schüler, die Gemeinderäte Höhl, Mall, Maus und Vermessungs-Inspektor Metzger bei [16]. Es kann sich vorläufig nur um eine Provisorium handeln, das auf der Benutzung der vorhandenen Bahnkörper und Betriebs-Einrichtungen fußt. Erst in einer späteren, wirtschaftlich hoffentlich besseren Zeit, kann der Bahnkörper ganz umgebaut werden. – Es erfordert die Strecke Darmstadt – Arheilgen ca. 3,8 Millionen Mk., Darmstadt – Griesheim 4,7 Millionen Mk. nach dem Voranschlag der ‚Heag‘. Diese Voranschläge sind aber längst überholt und kann man vorsichtigerweise für die hiesige Strecke heute ca. 6,5 Mill. Mk. einstellen. Längere Debatten über die Finanzierung führten zu keinem Ergebnis. Auf Vorschlag des Herrn Beigeordneten Ritzert soll die ‚Heag‘ in kürzester Zeit einen genauen Kostenvoranschlag vorlegen, der die von den Interessenten: ‚Heag‘, Stadt Darmstadt, Firma Merck, Arheilgen, Griesheim mit Villenkolonie Posch zu tragenden Anteile fest umgrenzt nachweist. Die Interessenten hätten sich dann in festgesetzter, kurzer Frist über die Bewilligung des als ‚à fond perdu‘, als verlorenen Baukostenzuschuß geltenden Anteils, zu entscheiden.

Damit entscheidet sich nun das Schicksal unserer Straßenbahn, deren Mangel man heute, trotz ihrer großen Mängel doppelt spürt und die man im Herbst und Winter erst recht vermissen wird. Wir wollen hoffen, daß unsere Gemeindevertretung in dieser Frage nicht wie in früheren Jahren entscheiden möge, wo sie das Interesse der ‚Heag‘ vor das Interesse der Einwohnerschaft gestellt hat, durch Einnahme des Standpunktes, daß eine privatkapitalistische Gesellschaft öffentlicher Mittel nicht bedürfe. Wie falsch dieser Standpunkt, wie so manch anderer unserer öffentlich wirtschaftliches Leben betreffender, gewesen ist, können wir heute voll und ganz beurteilen, d. h. wenn man objektiv urteilen kann.

Hoffen wir, daß es uns heute noch wirtschaftlich möglich ist, die Fehler von gestern wieder gut zu machen. Es warten unserer noch größere Aufgaben, die gelöst werden müssen. Kritik allein hilft da nicht weiter, sondern Mitarbeit in des Wortes wahrster Bedeutung.“ [NGA, 19.7.1922]

Man oder frau fragt sich, wer dem Herrnb Redakteur diese Volte in der Argumentation diktiert haben mag. Denn auch Bürgermeister Georg Schüler scheint sich einen schnellen Abschluß zu wünschen. In einer am 5. August in der Griesheimer Zeitung veröffentlichten Einlassung geht er auf die nunmehr letzte Besprechung im Kreisamt ein, bei der die HEAG nunmehr von Kosten in Höhe von 14 Millionen Mark ausgeht, von denen Griesheim 4 Millionen zu tragen hätte. Den Einwohnern solle Gelegenheit gegeben werden, sich dazu zu äußern, aber sie mögen dabei berücksichtigen, welche Strapazen es nunmehr insbesondere für die Markt­besucherinnen bedeute, ohne Straßenbahn nach Darmstadt zu gelangen. Die Riedbahn biete keine gleichwertige Alternative. Wenn die Gemeinde­vertretung bei ihrem Nein bleibe, könne der Zug womöglich auf längere Zeit abgefahren sein. Der vollständige Text ist im Dokumententeil zu dieser Seite nachzulesen.

„Die Bewilligung des von der ‚Heag‘ verlangten Baukostenzuschusses in Höhe von 4 Millionen Mark zur Einrichtung des elektrischen Betriebes auf der Straßenbahn­strecke Darmstadt – Griesheim, steht zur Zeit im Vordergrund des Interesses unserer Gemeinde. Bereits in zwei Sitzungen hat sich unsere Gemeindevertretung mit der Angelegenheit befaßt und ist nach einem eingehenden Bericht der Kommission, welche die Verhandlungen mit der ‚Heag‘ und der Stadt Darmstadt geführt, zu dem Entschluß gekommen, ihre Entscheidung nicht eher zu fällen, bevor sie sich über die Ansicht der Einwohnerschaft in dieser Angelegenheit verlässigt hat. Um diese zu erkunden, hatte sie am Samstag Abend [5.8., WK] eine Besprechung mit den zunächst beteiligten Interessentenkreisen im ‚Darmstädter Hof‘ und am Sonntag eine Volksversammlung im ‚Kaisersaal‘ anberaumt.

Der Resultat der in diesen beiden Versammlungen gepflogenen ausgiebigen Aussprache ist, daß Jedermann, ohne Ausnahme, die Wiedereröffnung des Straßenbahn­betriebes mit größter Freude begrüßen würde, daß aber die weitaus größte Mehrzahl der Einwohnerschaft sich gegen die Bewilligung des Baukostenzuschusses in der verlangten Höhe sträubt, weil dies zu einer ungeheueren finanziellen Belastung unserer Gemeinde führen würde, der ein Sachwert nicht gegenübersteht. Besonders die im Gewerkschafts­kartell vertretene Arbeiterschaft lehnt die Bewilligung strikte ab. Andere Kreise wären bereit zu bewilligen, wenn der Gemeinde für die 4 Millionen Aktienbesitz oder ein Einfluß auf die Tarifgestaltung zugestanden würde, was natürlich ausgeschlossen ist. Im Interesse der Schießplatz­bewohner wäre man wohl zu einem Opfer bereit, man glaubt aber nicht, es in dieser Höhe bringen zu können, wo der Gemeinde noch andere dringende Millionenausgaben bevorstehen. Die Entscheidung liegt jetzt beim Gemeinderat, der in einer morgen (Mittwoch) Abend stattfindenden Sitzung endgültigen Beschluß fassen muß.“ [NGA, 9.8.1922]

Währenddessen am anderen Ende der stillgelegten Dampf­straßenbahn …

„Die Gemeindevertretung von Arheilgen hat am Samstag [5.8., WK] den von der Heag geforderten Baukostenzuschuß in Höhe von 2 Millionen Mark zur Elektrisierung der Straßenbahn einstimmig bewilligt. Zur Aufbringung dieser Summe und der aus dem Bau [v]on sechs Wohnhäusern entstehenden Kosten, will sie eine Fläche älteren Waldbestandes in der Leonhardstanne abholzen lassen, wovon sie einen Erlös von 3–4 Millionen Mark erhofft. Ob sich auch die Firma Merck zur Uebernahme des ihr angesonnenen Kostenbeitrages in Höhe von 2 Millionen Mark bereit erklärt, steht noch nicht fest.“ [NGA, 9.8.1922]

… und im Griesheimer Gemeinderat:

Griesheim, 11. Aug.  Der Gemeinderat hat in seiner Sitzung am Mittwoch Abend [9.8., WK] die Anforderung der ‚Heag‘ auf Bewilligung eines Baukostenzuschusses von 4 Millionen Mark für die Einführung des elektrischen Betriebes auf der ehemaligen Straßenbahn Griesheim – Darmstadt mit 19 gegen 7 Stimmen abgelehnt. Auf Antrag des Kreisamts Darmstadt war für gestern Abend [ebenfalls am 9.8., WK] 8 Uhr eine nochmalige Sitzung anberaumt, in welcher Herr Kreisdirektor Muhl anwesend war. Er sprach sich dahin aus, daß die Gemeinde mit der Ablehnung des Baukosten­zuschusses der ‚Heag‘ nur einen Gefallen erzeige, da dieser am Ausbau der Strecke im gegenwärtigen Augenblick bei den hohen Materialpreisen wenig gelegen sei und sie sich deshalb auch nur bis zum 11. August an ihr Gebot gebunden halte. Wenn sich die Griesheimer Gemeindevertretung zur Uebernahme des verlangten Baukosten­zuschusses jetzt nicht bereit erkläre, werde die elektrische Bahn jetzt wohl bis zum Waldfriedhof, in absehbarer Zeit aber nicht weiter gebaut werden. Da die Gemeinderats­mitglieder in beschlußfähiger Anzahl nicht erschienen waren, konnte ein Beschluß nicht gefaßt werden. – Wie Herr Kreisdirektor Muhl weiter mitteilte, hatte die Firma Merck den von ihr verlangten Kostenzuschuß bis gestern früh ebenfalls noch nicht bewilligt. Herr Beigeordneter Ritzert habe deshalb im Laufe des Tages bei derselben deswegen nochmals vorgesprochen, mit welchem Erfolg ist nicht bekannt. Lehne auch sie die Forderung ab, so sei das ganze Projekt hinfällig.“ [NGA, 12.8.1922]

Am 28. August 1922 begannen die Arbeiten zum Bau der elektrischen Straßenbahn bis zum Waldfriedhof mit der Verlagerung der Gleistrasse von der Süd- auf die Nordseite der Chaussee. Der Verkehr soll am 1. November eröffnet werden. [NGA, 2.9.1922 und 23.9.1922] – Die zunehmende Geldentwertung stellt nicht nur den Ausbau des Streckennetzes infrage, sondern führt auch im Kernbereich zu drastischen Einschränkungen.

Darmstadt, 12. Okt.  Wie das ‚Darmst. Tgbl.‘ meldet, hat das Versagen aller bisherigen Bemühungen, die elektrische Straßenbahn rentabel zu erhalten, nunmehr wie in einer ganzen Reihe anderer Städte auch in Darmstadt zu der Politik der Betriebs­einschränkung und im Zusammenhang damit zu Entlassungen von Arbeitern und Angestellten geführt. Vorerst sollen die Linien 5, 6 und 7, das sind die Linien nach dem Ostbahnhof imd Pallaswiesenstraße und Heidelbergerstraße – Taunusstraße ganz eingestellt werden. Die Linien 1, 2, 3, 8, das sind die nach dem Bahnhof führenden vom Böllenfalltor und Landskronstraße und die Eberstädter Vorortbahn, sollen weiter fahren, wenn auch mit Einschränkungen, besonders der Eberstädter Linie, die morgens halbstündlich, tagsüber nur stündlich fahren wird. Mit diesen Betriebs­einschränkungen gehen Hand in Hand Entlassungen, wie in Mainz, Frankfurt, Wiesbaden, Essen, Hannover usw.

Die Linie nach Griesheim wird vorerst nicht zur Ausführung kommen, da Griesheim noch immer den Zuschuß ablehnt. Hingegen wird die Ausdehnung der Rheinstraßenstrecke bis zum Waldfriedhof in etwa vier bis sechs Wochen in Betrieb genommen werden können. Der Bau der Vorortlinie nach Arheilgen ist wegen der ungeheuren Steigung der Kosten durch die neuerliche Markentwertung verschoben worden. Die Ursache des katastrophalen Rückgangs der Straßenbahnen ist unzweifelhaft, in erster Linie in der allgemeinen Wirtschaftslage begründet, mit der ungeheureren Preissteigerung für alle Materialien, besonders auch für die Kohle zur Stromerzeugung, dann aber auch in der achtstündigen Arbeitszeit, welche die Ausgaben um 33 1/3 Prozent gesteigert hat. – In der heutigen Stadtverordneten-Sitzung teilte Oberbürgermeister Glässing mit, daß auf Grund des Ergebnisses der letzten Tariferhöhungen und der letzten Lohnerhöhung der Vorstand den Fehlbetrag der Straßenbahn pro Jahr auf 25 Millionen Mark berechnet, vorausgesetzt, daß nicht weitere Lohnerhöhungen eintreten.“ [NGA, 14.10.1922]

„Von den 210 Angestellten der Darmstädter Straßenbahnen 112 einschließlich solcher der Verwaltung entlassen. Sie sollen zum Teil in anderen Betrieben der ‚Heag‘ Verwendung finden.“ [NGA, 18.10.1922]

Die erstrittenen Lohnerhöhungen gleichen nicht einmal ansatzweise die weiter gestiegenen Kosten aus. Während die Herren Krupp und Stinnes und auch so manche Eigner großherrschaftlicher Rittergüter gar fürstlich speisen und behaglich wohnen können, wird andernorts die organisierte Selbsthilfe geradezu überlebenswichtig.

„Eine aus 500 bis 600 Personen bestehende Räubergesellschaft suchte in der Nacht die Felder der Rundorfer Rittergutsflur (Sachsen) auf und entwendete 100 Zentner Kartoffeln.“ [NGA, 18.10.1922]

Bei der Gemeinderatswahl am 19. November 1922 erringen die Sozialdemokraten elf Sitze, die Mittelstandspartei vier und der Bauernbund drei. Diesmal ist nicht einmal mehr eine Alibifrau dabei. Hundert Prozent der Gemeinderats­mitglieder vertreten bei einer Wahlbeteiligung von rund 76 Prozent gerade einmal 38 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung. [NGA, 22.11.1922]

1923–1924: Die Ruhrbesetzung bringt in Griesheim den Verkehr vollends zum Erliegen

Die Heag beabsichtigt, in verkehrsschwachen Stunden nach Eberstadt statt der großen Vorortwagen die kleineren und leichteren Stadtwagen laufen zu lassen.“ [NGA, 3.1.1923]

Ab dem 11. Januar 1923 besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet, als die vorgesehenen Reparations­leistungen nur unvollständig geliefert wurden. Am 30. Januar wird der Eisenbahnverkehr innerhalb des besetzten und nach dem unbesetzten Gebiet vollständig eingestellt. Am 2. Februar können auch Fuhrwerke und Automobile die Demarkationslinie nicht mehr Richtung Darmstadt überqueren. [NGA, 31.1.1923 und 3.2.1923]

Nach einem umgehend wieder eingestellten Versuch, wenigstens eine rudimentäre Anbindung Griesheims an Darmstadt zu ermöglichen, wird die Riedbahn erst wieder am 10. März 1924 befahren. Der Bahnhof Goddelau-Erfelden war am 4. Februar besetzt und für den deutschen Durchgangs­verkehr gesperrt worden, weshalb der versuchsweise ab Darmstadt gekommene Zug in Wolfskehlen wenden mußte. [NGA, 7.2.1923]

„Wie man uns mitteilt, sollen von heute [16.2., WK] ab zwischen Darmstadt und Wolfskehlen versuchsweise zwei Arbeiterzüge verkehren und zwar ab hier 632 Uhr früh und 452 Uhr nachmittags ab Darmstadt. Der letztere Zug wurde heute zum ersten Male gefahren.“ [NGA, 17.2.1923]

Griesheim, 20. Febr.  Den Versuch den Bahnverkehr zwischen Darmstadt und Wolfskehlen wenigstens in den Früh- und Spätnachmittags­stunden durch zwei Züge nach jeder Richtung wieder aufzunehmen, um den in Darmstadt beschäftigten Arbeitern Fahrgelegenheit zu verschaffen, ist gescheitert. Der am Freitag Nachmittag [am 16.2., WK] in Darmstadt abgelassene Zug wurde bei der Rückfahrt im hiesigen Bahnhof angehalten und am Weiterfahren gehindert, aber am Samstag Nachmittag wieder freigegeben. Wie von authentischer Seite gemeldet wird, haben die Franzosen bei den vorher gepflogenen Verhandlungen mit der Eisenbahner-Gewerkschaft den Arbeiter­zugverkehr davon abhängig gemacht, daß das Eisenbahnpersonal an den Stationen im besetzten Gebiet an der Errichtung der Zollinie mitwirkt und sich den Anordnungen der Unterkommission unterwirft, was abgelehnt wurde. Wie gemeldet wird, werden die Verhandlungen wegen Freigabe der Arbeiterzüge auf den Strecken Darmstadt – Wolfskehlen und Darmstadt – Klein-Gerau zwischen den Gewerkschaften und der Interalliierten Kommission in Mainz weitergeführt. Mit welchem Erfolg bleibt abzuwarten.“ [NGA, 21.2.1923]

Seit dem 22. Februar 1923 werden nunmehr auch die Straßenübergänge an der Demarkationslinie schärfer überwacht. Es werden Pässe kontrolliert, doch Autos, Fuhrwerke o. ä. dürfen das besetzte Gebiet nicht verlassen [NGA, 24.2.1923]. Am 3. März rücken französische Truppen nach Darmstadt und Mannheim vor.

„Französische Truppen rückten am Samstag früh gegen 6 Uhr vom hiesigen Uebungsplatz aus gegen Darmstadt vor, schwenkten an der Eisenbahnbrücke an der breiten Allee links ab und marschierten zum Güterbahnhof, zum Elektrizitätswerk und den Werkstätten am Dornheimerweg. Gegen 6 Uhr wurde die Eisenbahn-Ausbesserungs­werkstatt, das Elektrizitätswerk und das Betriebsamt besetzt. Die zur Arbeit anrückenden Arbeiter wurden von dem kommandierenden französischen Offizier gefragt, ob sie die Arbeit unter französischer Aufsicht weiterführen wollten, was rundweg abgelehnt wurde. Sie legten die Arbeit nieder und verließen ihre Arbeitsstätte. Darauf besetzten die Franzosen auch die Betriebs­werkstätte [17]. Auch hier verweigerten die Arbeiter die Weiterarbeit und verließen die Werkstätte. Bei der Abteilung der Franzosen befand sich ein französischer Ingenieur, der über die betriebswichtigen Punkte genau Bescheid wußte und überall dort Posten aufstellte. Gegen 11 Uhr vormittags ließ der Kommandant der französischen Truppen den Vorständen mitteilen, daß der Betrieb nicht gestört werden sollte, daß man den Gesamtbetrieb und die Arbeit ruhig fortführen könne. Nichtsdesto­weniger behielten jedoch die Franzosen die Posten im Betriebsamt vor der Lokomotiv­werkstätte und im Elektrizitäts­werk bei. Sie umstellten später auch den Lokomotivschuppen und sperrten dessen Zugänge. Ebenfalls wurde der Güterbahnhof von einem Doppelposten besetzt und der Verkehr stillgelegt. Mehrfach im Laufe des Vormittags wurde mit den Franzosen wegen der Fortführung des Betriebes verhandelt. Das Ergebnis dieser Verhandlungen war, daß der Personenzug­verkehr mit Ausnahme des Durchgangsverkehrs eingestellt wurde. Es wurden keine Züge, die in Darmstadt münden, hereingelassen, ebensowenig wurden aus Darmstadt ausgehende Züge herausgelassen, was auch gar nicht möglich war, da die vorhandenen Lokomotiven rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden waren. Gegen Abend wurde auch diese Beschränkung zum größten Teil wieder aufgehoben. Ebenso wurde der Güterbahnhofs­posten von den Franzosen zurückgezogen und die Postierung an der Griesheimer Chaussee etwas zurückgenommen. Der elektrische Betrieb bis zum Waldfriedhof wird am 29. März 1923 aufgenommen werden, worüber im „Neuen Griesheimer Anzeiger“ nichts zu finden ist, weil er für mehrere Ausgaben im März und April von der französischen Militärverwaltung verboten wurde.

Seit Sonntag ist der Personenzugverkehr wieder normal. Auch den Güterzugverkehr hat man versuchsweise wieder aufgenommen.“ [NGA, 7.3.1923]

Im Gegensatz zu 1920 wurde demnach nicht das gesamte Darmstädter Stadtgebiet, sondern nur das Gebiet westlich der Main-Neckar-Bahn besetzt. Eisenbahner aus dem besetzten Gebiet, die nicht mit den französischen Behörden kooperierten, wurden (mitsamt ihrer Familien) ins unbesetzte Gebiet ausgewiesen. Aufgrund der weit verbreiteten Verweigerungshaltung übernahmen die französischen und belgischen Besatzungstruppen die Eisenbahnen im besetzten Gebiet in eigener Regie.

„Etwa 60 ausgewiesene Eisenbahnbeamte und Arbeiter aus Wolfskehlen, Goddelau, Dornheim, Groß-Gerau und Klein-Gerau wurden am Samstag Nachmittag mit der Bahn bis zur Hammelstrift befördert, von wo sie zu Fuß nach Darmstadt gehen mußten. Eine andere Gruppe wurde bei Gernsheim ausgeladen. Die Familien­angehörigen müssen innerhalb vier Tagen folgen. Im Ganzen sind es über 100 Eisenbahner mit Familien.“ [NGA, 18.4.1923].

Am 24. April folgten etwa 13 Arbeiter und Beamte aus Griesheim, u. a. der Stationsvorsteher Funk; weitere Ausweisungen werden im Laufe der kommenden Monate folgen. [NGA, 25.4.1923] – Nach mehreren versuchten und durchgeführten Bombenanschlägen auf Züge und die Eisenbahn-Infrastruktur im französisch besetzten Gebiet wurde ab dem 1. Juli der Verkehr zwischen dem besetzten und unbesetzten Gebiet vollständig unterbunden. Die Verkehrssperre, die zunächst auf zwei Wochen angesetzt war, wurde erst am 26. Juli wieder aufgehoben. Eine (erneute oder anders restriktive ?) Grenzsperre wird erst Ende August aufgehoben werden. [NGA, 4.7.1923, 18.7.1923, 28.7.1923 und 18.8.1923]

In Darmstadt kostet ein Fahrschein für eine bzw. zwei Teilstrecken nunmehr 40.000 Mark. [NGA, 25.8.1923]

„Durch die Verlegung der Grenzsperre an die Eisenbahnbrücke in der Nähe des hisigen Hauptbahnhofes ist seit Samstag der Verkehr nach dem Waldfriedhof unterbrochen. Seither war die Grenzsperre noch hinter dem Friedhofe in der Richtung Griesheim, sodaß derselbe im unbesetzten Gebiet lag, während hinter dem Friedhof, der Teil Waldkolonie zum besetzten Gebiet zählt (Richtung Weiterstadt) und dort die Eisenbahn­werkstätte stets mit Posten besetzt ist. Es wurden sofort Verhandlungen eingeleitet, um den Zugang zum Waldfriedhof wieder frei zu bekommen. Wie verlautet beabsichtigen die Franzosen zu bestimmten Tagen und Zeiten das Betreten des Waldfriedhofes zu gestatten und eine ähnliche Regelung für das Beerdigungswesen zu treffen.“ [NGA, 5.9.1923]

Darmstadt, 8. Okt.  Nach einer Mitteilung der französischen Behörde sind die Grenzposten an der Straße Darmstadt – Griesheim (Eisenbahnbrücke dicht südlich des Hauptbahnhofes) dahin unterrichtet worden, daß der Verkehr nach dem Waldfriedhof gestattet ist. Jedoch müssen die Besucher des Waldfriedhofes im Besitze eines weißen (deutschen) Ausweises sein, der an der Sperre gegen Aushändigung einer besonderen Karte abgeliefert wird. Die Rückgabe des Ausweises erfolgt gegen Rückgabe der Karte. Südlich des Bahnübergangs an der Griesheimer Chaussee verläuft die Grenze nunmehr entlang der westlichen Seite des Bahngeländes. Vor dem Betreten der ‚Tanne‘ westlich des neuen Bahngeländes muß daher gewarnt werden. Im Norden der Stadt sollen die Grenzposten bis zum Nordbahnhof ausschließlich vorgeschoben werden.“ [NGA, 10.10.1923]

Griesheim, 12. Okt.  Wie gestern Nachmittag durch die Ortsschelle bekannt gemacht wurde, ist über unsern Ort in der Zeit von 7 Uhr abends bis 6 Uhr morgens die Verkehrssper[r]e verhängt. Französische Polizei in Zivil übt die Kontrolle aus. Als Ursache für diese Maßregel wurden Sabotageakte angegeben. Wie lange dieselbe bestehen bleibt, wurde nicht mitgeteilt.Die für gestern Abend anberaumt gewesene Gemeinderats-Sitzung konnte aus diesem Grunde nicht stattfinden. Auch über Walldorf bei Groß-Gerau ist die Verkehrssperre verhängt worden.“ [NGA, 13.10.1923]

Annoncen für Dünger und Transport.
Abbildung 18: Zwei Annoncen im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 9. Februar 1924 zur Versteigerung von Stalldünger und zum Transport von Griesheim nach Darmstadt.

Der von der Reichsregierung verkündete passive Widerstand gegen die Besetzung des Ruhrgebietes wurde im September 1923 beendet. Diese Entscheidung ermöglichte die Neuverhandlung der Reparationen und eine Währungs­reform. Zudem reduzierte sich das Niveau der Eskalation, so daß auch die Aufnahme des unterbrochenen Eisenbahn­verkehrs möglich wurde. Das Ende der Inflationszeit gab zudem der HEAG eine solidere Planungsbasis für den Ausbau des Straßenbahnnetzes, weil nunmehr die Kosten verläßlich und perspektivisch eingeschätzt werden konnten.

Griesheim, 4. Dez.  Wie wir bereits oben mitteilten, besteht die Möglichkeit, daß in Kürze der Verkehr mit dem unbesetzten Gebiet wie vor dem 11. Januar wieder aufgenommen wird. Als Termin hierfür ist der 10. Dezember ins Auge gefaßt. Besonders wäre es für unseren Ort von großem Wert, wenn der regelrechte Zugverkehr mit Darmstadt wieder aufgenommen wird. Ob damit auch die Paßschwierigkeiten behoben sind, ist noch nicht bekannt, da aber die gepflogenen Verhandlungen noch keine weiteren Details mitgeteilt wurden. – Wie wir weiter erfahren, steht die Aufhebung der über unseren Ort verhängten Verkehrssperre bevor.“ [NGA, 5.12.1924]

Die Eisenbahnregie soll weiterhin die Eisenbahnen im besetzten Gebiet betreiben, während die Strecken von Frankfurt nach Darmstadt und von Darmstadt nach Worms von der Reichsbahn betrieben werden [NGA 8.12.1923]. Damit würde auch der erzwungene Umweg des Nah- und Fernverkehrs von Frankfurt nach Darmstadt über die Rodgaubahn entfallen.

„Der Verkehr nach dem Waldfriedhof ist nach einer Mitteilung der Stadtverwaltung von nun an unbeanstandet gestattet, wenn die Besucher einen vom Polizeiamt ausgestellten Ausweis mit Lichtbild bei der Wache hinterlegen, gegen eine nummerierte Karte. Der Verkehr nach dem Waldfriedhof ist von 8–11 Uhr vormittags und von 2–4 Uhr nachmittags offen. Wer nach Griesheim will, muß im Besitze eines französischen Visum sein.“ [NGA, 22.12.1923]

Mit Jahresbeginn 1924 wird der Verkehr zwischen dem besetzten und unbesetzten Gebiet weitgehend freigegeben. Im besetzten Gebiet werden wieder alle Strecke befahren, mit Ausnahme der Riedbahn. [NGA 11.12.1923 und 5.1.1924]

Vom Griesheimer Gemüsebau
das Wort „Markt“ und vom Griesheimer Fortbildungs­schulfeld 1923
von Jakob Heß, Fortbildungs­schullehrer, Griesheim. (3. Fortsetzung)

Die Erbauung der Riedbahn (1868), mit der Entwicklung der Nachbarstädte von 1871 ab, mit der Errichtung des Schießplatzes 1874 – der § 5 des mit dem Reich abgeschlossenen Vertrages sprach der Gemeinde sämtlichen sich ergebenden Dünger zu – mit der Anlegung der Dampf­straßenbahn 1886, mit der Gestaltung der Nutzbarmachung des Darmstädter Abfallwassers und der Gründung der beiden Wasser­genossenschaften in der Gemarkung ging Hand in Hand die Vergrößerung der Gemeinde, die Vermehrung der Gartenflächen und der Anbauflächen für Feld-Gemüsebau. Gewaltige Gemüsemengen züchtete der Griesheimer Fleiß, auch fand er Wege für den Massenabsatz. Hierin standen stets die Frauen und Mädchen aus allen Kreisen an erster Stelle. Die Straßenbahn stellte an den Markttagen Sonderwagen und in den Haupt­erntemonaten sogar Marktzüge ein. Nach Frankfurt und Offenbach gingen wöchentlich zwei- bis viermal ebenfalls durch die Eisenbahn beförderte Gemüsewagen. Die Gemüsezüchter errichteten zur Vertretung bei den Bahnen und der Marktpolizei in den Städten Darmstadt, Frankfurt und Offenbach Marktvereine. Ueberhaupt alle Wochenmärkte der näheren und weiteren Umgebung hatten ihre stetigen Besucherinnen aus der hiesigen Gemeinde. Von Juli ab bis in den November brachten noch die Großzüchter ihre Markterzeugnisse durch Ein- und Zweispänner­fuhrwerke nach den Hauptmärkten. Alle diese gewaltigen Arbeiten ohne ständige Hilfskräfte auf den Ackern, in den Gärten, in den Hofraiten, dazu noch das Verpacken und Verbringen über Bahn- und Fuhrwerk nach den Märkten und hier den Massenverschleiß in die Hände der Verbraucher durchzuführen, dazu gehört eine Körper- und Geistesanspannung, wie sie eben nur die Männer, Frauen und Mädchen der hiesigen Bevölkerung aufzubringen vermag. Der äußere Wohlstand wuchs und mehrte sich zusehends. Häuser und Hofraiten bauten sich aus und frischten sich auf, auch sahen sie zeitgemäße Einrichtungen. Sparkassen und Banken hatten ihre Freude an der guten Kundschaft aus der Bewohnerschaft.

Nach der amtlichen statistischen Aufstellung vom Jahr 1913 steht Griesheim mit seiner vielseitigen Gemüsepflanzerei einschließl[ich] des Frühkartoffel­anbaues in Hessen an erster Stelle und es wird wohl auch wenige Gemeinde[n] in Deutschland geben, die sich einer größeren und ausgedehnteren kleinbäuerlichen Volkswirtschaft erfreuen wie unsere Griesheimer. Freilich steht Mombach in Morgenzahl mit über 1400 Morgen voran. Nach Griesheim mit 900 Morgen folgt Gonsenheim mit 850, Biblis mit 800 und Finthen mit 780 Morgen.

Unter den Nachwirkungen des Weltkrieges änderten sich die günstigen Anbau- und Absatzverhältnisse. Die Naturdünger von der früheren Garnison Darmstadt und vom hiesigen Schießplatz fehlen zur rationellen Bewirtschaftung, und die Bahnen stellten ihren Betrieb ein. Mit übergroßen Schwierigkeiten kämpften die Landwirte um den Absatz ihrer Produkte in diesem Jahre und es wäre für die große Gemeinde ein folgenschweres Verhängnis, wenn der mehrhundert­jährige Betrieb zu Schaden käme. […]

Quelle: Neuer Griesheimer Anzeiger vom 16. Januar 1924. Die vierteilige Artikelreihe erschien am 9., 12., 16. und 19. Januar 1924.

„Wie der Bürgermeisterei durch das Kreisamt mitgeteilt wurde, haben die von hier ausgewiesenen Eisenbahnbeamten Funk, M*****, R**********, K*****, H****** und S****** durch die interalliierten Rheinlandkommission die Einreiseerlaubnis erhalten. Die Wiederaufnahme des Eisenbahnbetriebes auf der Strecke Darmstadt – Worms soll, nach einer Mitteilung der Eisenbahndirektion Mainz an gleicher Stelle, in den allernächsten Tagen erfolgen. Diese Nachricht wird hier und in allen Riedgemeinden mit größter Freude vernommen werden.“ [NGA 23.2.1924]

Der Verkehr wird dann am 10. März wieder aufgenommen werden. [NGA, 8.3.1924] – Die HEAG ist zwischenzeitlich nicht untätig geblieben und streckt ihre Fühler auch in andere Richtungen aus.

„Die ‚Heag‘ hat bei der Gemeinde Pfungstadt die Wiederaufnahme der Verhandlungen über den Bau der Straßenbahnlinie Eberstadt – Pfungstadt angeregt, mit der Begründung, daß die wirtschaftliche Lage sich gebessert habe und der gegenwärtige Moment günstig für den Ankauf von Materialien etc. erscheine.“ [NGA, 19.3.1924]

Am 20. September 1924 geht die Straßenbahnlinie zum Waldfriedhof, „die durch die Besetzung unterbunden war“, wieder in Betrieb. [NGA, 20.9.1924] – Die Rückgabe der durch die Regiebahn betriebenen Strecken an die Reichsbahn stehe bevor; tatsächlich wird die Übergabe aber erst in der Nacht vom 15. auf den 16. November erfolgen. Eine Nacht später wird auch die Besatzungsgrenze wieder auf den Stand zurückversetzt, wie sie im Waffenstillstands­abkommen vom 11. November 1918 vorgesehen war. Damit ziehen sich die französischen Truppen aus der Waldkolonie und dem Lokomotiv­ausbesserungswerk am Dornheimer Weg zurück. [NGA 15.11.1924 und 18.11.1924]

Griesheim, 8. Dezbr.  […] Wie wir erfahren, hat das Ministerium der ‚Heag‘ die Genehmigung zum Bau und Betrieb einer elektrischen Straßenbahn Arheilgen – Darmstadt – Griesheim erteilt.“

Darmstadt, 9. Dez.  Die neuerbaute Linie der elektrischen Straßenbahn nach der Merckschen Fabrik soll noch vor Weihnachten in Betrieb genommen werden. Vorläufig soll der Halbstunden­verkehr zur Einführung gelangen. Auch der Bau einer Linie nach dem Martinsviertel soll alsbald in Angriff genommen werden [18]. Mit den Gemeinden Griesheim und Arheilgen sind erneut Verhandlungen im Gange. Auch nach Seeheim und Alsbach sollen die Linien erweitert werden, ebenso der Ausbau der Strecke Eberstadt – Pfungstadt. Die Verhandlungen mit den in Frage kommenden Gemeinden dürften wohl keine unüberwindlichen Schwierigkeiten bieten, sodaß man wohl in absehbarer Zeit mit der Inangriffnahme der Arbeiten rechnen kann.“ [NGA, 11.12.1924]

„Im ‚Darmst. Tagbl.‘ von heute [15.12.1924] lesen wir: das Finanzministerium hat am 25. November 1924 für die Geltungsdauer der erteilten älteren Konzessionen der Heag die Konzession zum Bau und Betrieb elektrischer Straßen- und Vorortbahnen erteilt. Beide Bahnlinien werden vorerst nur auf den beiden Teilstrecken vom Neuen Gerichtsgebäude bis zur Blumenthalstraße [heute Kasinostraße, WK] und vom Stirnweg [heute Goebelstraße, WK] bis jenseits der Straßenbrücke über den Hauptbahnhof zweigleisig und von da ab eingleisig bis zu den beiden vorläufigen Endhaltestellen (Chem. Fabrik Merck und Waldfriedhof) mit je einem Ausweichgleis dortselbst errichtet werden. Wenn auf beiden Bahnlinien vorhandene Gleise der früheren Dampf­straßenbahnen keine Verwendung finden können, sind die älteren Gleisanlagen zu beseitigen.“ [NHA, 16.12.1924]

»»  Wiedergabe der Konzessionsurkunde.

„Das Hotel Roth-Wölfing an der Straße Griesheim – Darmstadt ist in den Besitz des Herrn Restaurateur Bender in Darmstadt übergegangen.“ [NGA, 16.12.1924]

Hotel Roth.

Bild 19: Das Hotel Roth auf einer Ansichtskarte der Vorkriegszeit, im Vordergrund das Gleis der Dampfstraßenbahn. Quelle: Stadtarchiv Griesheim, em2007.0581.

Das angekaufte Hotel Roth verwandelte sich in die Restauration „Waldschlößchen“, die – mit wechselnden Besitzerinnen und Besitzern und verändertem lukullischen Angebot – bis heute besteht. Das einstmals hierin befindliche Bordell scheint infolgedessen an einen anderen Standort gezogen zu sein.

1925: Das Ringen um die Zinsgarantie

Nachdem eine regelmäßige Busverbindung von Darmstadt nach Oppenheim am 1. April 1925 in Betrieb gehen soll [NGA, 17.3.1925], regen sich diesbezüglich Wünsche auch in Arheilgen.

„Wie wir im ‚Arheilger Anzeiger‘ lesen, beabsichtigt die Gemeinde Arheilgen einen Kraftwagenverkehr nach Darmstadt einzurichten, weil die ‚Heag“ scheinbar kein Interesse am Ausbau der Linie Merck – Arheilgen habe. Ueberdies soll die Forderung des Zuschusses eine so hohe sein (man spricht von 100.000 Mk.), daß es der Gemeinde unmöglich ist, dem Projekt näher zu treten. – Ja! ja! Billig tuts die ‚Heag‘ nicht. Wenn die Darmstädter Vororte den elektrischen Ausbau der Bahnen auf ihre Kappe nehmen, dann ist sie schon bereit, die Bewohner für ein sicher nicht zu knapp bemessenes Fahrgeld nach und von Darmstadt zu befördern. Das werden wir erfahren, wenn sie auch mit uns die Verhandlungen aufnimmt.“ [NGA, 24.3.1925]

Druck erhält die HEAG von anderer Seite, was die Hoffnungen der Griesheimerinnen und Griesheimern womöglich hat wachsen lassen, günstig davonzukommen.

„In der Sitzung der Handelskammer Darmstadt am Montag voriger Woche [am 6.4.1925, WK] wurde mitgeteilt, daß bezüglich der elektrischen Bahnlinien nach Griesheim und Arheilgen das zuständige Ministerium auf eine Eingabe der ‚Heag‘ wegen Weiterführung der Linie nach dem Oberwaldhaus erwiederte, daß vor der Fertigstellung der beiden Linien Konzessionen für andere Bahnlinien nicht erteilt würden.‘ [NGA, 16.4.1925]

Es folgt ein aktualisierter Zwischenstand beim Grenzregime.

„In den letzten Tagen haben dem ‚Darmst. Tgbl.‘ zufolge die französischen militärischen Besatzungs­behörden die Tafeln an der Grenze des besetzten Gebietes bei Darmstadt neu aufgestellt. Darnach verläuft die Grenze des besetzten Gebietes von der Weiterstädter Straße die Wixhäuser­schneise entlang bis zur Südostecke des Waldfriedhofes (diese Schneise bleibt ganz im besetzten Gebiet)[,] der Weg längs des Waldfriedhofes bis zum Eingang des Friedhofes (im besetzten Gebiet), der Weg, der vom Eingang senkrecht zur Straße Darmstadt – Griesheim führt (im besetzten Gebiet), diese Straße bis zur Eisenbahn südlich des Hauptbahnhofes (Straße ausßerhalb des besetzten Gebietes), den Weg der Eisenbahn entlang bis zur Stadtschneise, Mittelschneide, die Mittelschneise bis zur Eschollbrücker­chaussee (die drei Wege im besetzten Gebiet), die Eschollbrü­ bis zur Sandbachbrücke (die Chaussee im besetzten Gebiet). Die neue Grenze bedeutet zwar im ganzen eine Zurückverlegung der im Januar 1923 anläßlich des Rhein- und Ruhreinbruchs vorgeschobenen Grenze und bleibt innerhalb der 30 Kilometer-Grenzlinie des Brückenkopfes Mainz. Sie geht jedoch über die Grenzlinie, wie sie vor dem Ruhreinbruch gestanden hat, hinaus, so daß gegen die neue Grenz­festsetzung, wie verbunden, Protest erhoben wurde. Die diplomatischen Verhandlungen sind noch nicht abgeschlossen.“

„Durch Entscheidung der Rheinlandkommission wurde für das ganze besetzte Gebiet die Broschüre ‚Phantastische Schicksale der Schmied vom Rhein‘ von Karl Schworm, herausgegeben durch Hans Lhetzky Verlag Ludwigshafen am Bodensee und der Roman ‚Im Weltkriege der Andern‘ von [Eduard, WK] Dannert [19], herausgegeben vom Verlag von Neumann, Neudamm, verboten.“ [NGA, 21.4.1925]

Zur Reichspräsidentenwahl am 19. März und 26. April 1925 fand auch in Griesheim eine Kundgebung für den reaktionären Kandidaten Hindenburg statt. Die demokratischen Kräfte Griesheims waren wenig begeistert.

Kundgebung für Hindenburg.

Der Reichsblick hatte für Mittwoch Abend [den 22.4.1925, WK] zu einer großen Kundgebung für seinen Präsidentschafts­kandidaten Feldmarschall Hindenburg, der Retter aus Deutschlands Not, gerufen. Der Kaisersaal war überfüllt. Allerdings ein beträchtlicher Teil der Anwesenden war als Gegner zu erkennen. Es ist bedauerlich, daß man den Abend benutzen wollte, um die Versammlung zu sprengen, um der auch in Griesheim anwachsenden vaterländischen Bewegung einen Stoß zu geben. Denn das glaubt doch den sozialdemokratischen Führern niemand, daß die das Wesen einer geschlossenen, einheitlichen Kundgebung nicht verstanden hätten, als sie stürmisch das Recht der freien Aussprache forderten. Es ist ein Zeichen schlechter Erziehung, als sie nach Verlassen des Saales von der Straße und vom Vorsaal her ihre Störungs­versuche fortsetzten, durch plumpe Zurufe, lautes Singen der Internationale, Werfen von Stinkbomben, Abstellen des Gashahnes und anderen Mätzchen und wenn sie den Redner des Abends und die Herren vom Vorstandstisch auch noch beim Verlassen des Saales persönlich wüst beschimpften. Waren die Störungen auch unliebsam so konnten sie doch den Ertrag des Abends nicht beeinträchtigen. Gerade die Zurufe lösten bei dem Redner des Abends, Herrn Reichs- und Staatsminister Dr. Becker [vermutlich], zielsichere Schläge von größter Wucht aus. – Herr Dr. Becker umriß die Machtfülle, die die Weimarer Verfassung in die Hände des Staatsoberhauptes legt. Das Amt schreit aber nach dem starken Mann, als Gegengewicht gegen die papierenen Parteiprogramme, die Reichstag und sehr oft auch Reichsregierung beherrschen. – Wer ist nun der rechte Mann, Hindenburg oder [Wilhelm] Marx? Der Mann, der im Soldatenrock groß geworden ist, kennt kein Parteiprogramm, bedeutet aber selbst ein fest umrissenes Programm. Marx hingegen ist der Mann des ausgeklügelten Wortes; der Buchstabe ist ihm Evangelium. Hindenburg war, bis auf die heutigen Tage der Giftsaat, vom Vertrauen des ganzen Volkes getragen. Und wenn einer berufen ist, das zerrissene deutsche Volk wieder im vaterländischen Sinn zu einigen, dann ist es Vater Hindenburg. Mag sich nur erst die Giftwelle des Wahlkampfes wieder gesenkt haben. Marx geht in Parteketten. Das Bleigewicht von sieben Millionen sozialdemokratischer Stimmen zieht ihn immer mehr hin zu seinem Parteifreund Wirth, der das Wort prägte: ‚Der Feind steht rechts!‘ In volksverräterischer Weise hat die Linke fieberhaft gearbeitet, um das Ausland gegen die Kandidatur Hindenburg mobil zu machen. Aber das Lügengewebe zerreißt. Das Ausland ist klug genug, es weiß, auf wessen Wort man mehr bauen kann, auf das Wort eines Hindenburg, der die verkörperte Wahrhaftigkeit ist, oder auf Marx, der heute rechts, morgen links Geschäfte zu machen sucht. Die Aufforderung des Versammlungsleiters Herrn Beigeordneten Feldmann, daß auch der Letzte am Sonntag mit dem Wahlzettel für den Eckart der Deutschen eintreten müsse, fand warme Aufnahme.

Quelle: Neuer Griesheimer Anzeiger vom 25. April 1925. Der zweite Wahlgang zur Reichs­präsidentenwahl führte in Griesheim zu einer recht hohen Wahlbeteiligung von 89%, gegenüber 80% iim ersten Wahlgang und 87% bei der voran­gegangenen Reichtsgswahl am 7. Dezember 1924. Hindenburg (Reichsblock) erhielt in Griesheim 1.312 Stimmen, Marx (Volksblock) 2.374, Thälmann (KPD) 164. Ungültig waren 64 Stimmen und zersplittet zwei. [NGA, 28.4.1925]

»»  Zu Hindenburg siehe auch mein Sendemanuskript Hindenburgstraße vom 30. Januar 2006.

»»  Eine Ansichtskarte mit der Ansicht des Kaisersaals ist als Digitalisat des Staatsarchivs Darmstadt zugänglich.

Ab dem 4. Mai 1925 wird ein neuer Triebwagenzug von Griesheim nach Darmstadt eingerichtet, um den Marktbesuch in Frankfurt zu erleichtern. [NGA, 28.4.1925] [20] – Schulkinder oder „böse Buben“ haben wohl die „vaterländische Stimmung“ genutzt, um ihr Mütchen an ein paar Glasscheiben zu kühlen. In einer Bekanntmachung des Griesheimer Bürgermeisters Schüler am 30. April heißt es zu diesem „groben Unfug“:

„Die Reichsvermögensstelle Griesheim teilt mit, daß hiesige Schulkinder in dem früheren Gefangenenlager ca. 100 Fensterscheiben demoliert haben.

Wir fordern die Eltern und Lehrer auf, die Kinder zu verwarnen, da durch die Besatzungsbehörde strenge Strafen zu erwarten sind. Die Eltern sind für derartigen Unfug haftbar.“ [NGA, 2.5.1925]

Eindringlich wird auf diesen Umstand auch in einer eigenen Kurzmitteilung in der Griesheimer Zeitung verwiesen.

Böse Buben haben an einem der letzten Sonntage an den Baracken des ehemaligen Kriegs­gefangenenlagers eine große Anzahl von Fensterscheiben eingeworfen. Die Sache ist der Gendarmerie zur Feststellung der Uebeltäter übergeben worden und kann für die Eltern der Kinder ein böses Nachspiel haben, wenn es gelingt, die Schuldigen ausfindig zu machen. Nicht allein, daß sie für den angerichteten Schaden aufzukommen haben, sind sie auch noch einer Bestrafung durch die Besatzungsbehörden ausgesetzt, denn das Betreten des Truppen-Uebungsplatzes ist für Zivilpersonen streng verboten. Es liegt deshalb im eigensten Interesse der Eltern, ihre Kinder nicht nur vor der Begehung solchen Unfugs zu warnen, sondern ihnen auch das Betreten des Platzes überhaupt zu verbieten.“ [NGA, 7.5.1925]

Wenn es gelingt, die Schuldigen ausfindig zu machen … – Auch wenn dies wie ein Aufruf zum kollektiven Schweigen klingt, zeigt die Praxis der französischen Behörden, daß sie in solchen Fällen regelmäßig Kollektivstrafen gegenüber einem ganzen Dorf auszusprechen pflegte. Ob dies auch hier geschehen ist, wäre noch herauszufinden. Auf das Verbot, den Truppenübungsplatz zu betreten, wird – offensichtlich mit mäßigem Erfolg – seit Jahren hingewiesen. Geschoßhülsen und ähnliche Materialien waren ein begehrtes Metallobjekt, Schiebereien gewiß je nach wirtschaftlicher Lage ebenfalls anzutreffen, und die „liederlichen Frauen“, die in gemeinsamer Aktion von deutschen Polizisten und französischen Militärs aufgegriffen wurden, haben womöglich ihr Geschäft ebenfalls im Lager ausgeübt. – Die HEAG und die Aktiengesellschaft für Bahnbau und -Betrieb nehmen ihre Voarbeiten für eine elektrische Überlandbahn von Offenbach nach Darmstadt wieder auf, die durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen worden waren [NGA, 7.5.1925]. Diese Arbeiten gehören zu einer Reihe von Vorhaben, Darmstadt, Arheilgen, Langen und Sprendlingen entweder mit Offenbach oder mit Frankfurt zu verbinden. Keine davon kam über das Plaungsstadium hinaus. Vielleicht war die Prospektion des Geländes ja auch nur pro forma beantragt, um mögliche Konkurrenten von einem solchen Vothaben abzuhalten. Andernorts wird auf einen Autobus gesetzt.

„Da Leeheim wegen der in einem nicht befahrbaren Zustand sich befindenden Straße Leeheim – Geinsheim in die Kraftpost­linie Darmstadt – Oppenheim nicht einbezogen werden konnte, soll ab Anfang Mai eine private Autoverbindung zwischen Leeheim und Wolfskehlen eingerichtet werden.“ [NGA, 12.5.1925]

Am 19. Mai 1925 faßt Bürgermeister Schüler seine Position zum Stillstand des Straßenbahnbaus zwischen Darmstadt und Griesheim auf rund anderthalb Zeitungsspalten zusammen, die tags darauf veröffentlicht werden. Darin verweist er auf die hohe Forderung der HEAG, einen einmaligen „verlorenen“ Baukostenzuschuß in Höhe von 80% der geplanten Baukosten für den eingleisigen Betrieb in Höhe von 460.000 bzw. den zweigleisigen Betrieb in Höhe von 700.000 Mark zu leisten. Zum Dokument. – Eine Woche darauf meldet die Zeitung, die HEAG habe die Absicht, mit de Bau der Straßenbahn nach Griesheim im März 1926 zu beginnen [NGA, 28.5.1925]. Doch zunächst lotet Arheilgen aus, wie weit sich die Forderungen der HEAG zurückdrängen lassen.

„Die Gemeinde Arheilgen soll sich bereit erklärt haben, eine bestimmte Zeit einen gewissen Zuschuß, dessen Höhe aber noch nicht endgültig feststeht, an die ‚Heag‘ zu leisten und dadurch die Fortführung der elektrischen Straßenbahn­linie von der Merck'schen Fabrik nach Arheilgen gesichert sein. Die Inbetriebnahme der Linie soll für den 1. April 1926 ins Auge gefaßt sein. Für den Ausbau der Strecke vom Waldfriedhof nach Griesheim ist, falls der Vertrag zwischen der Gemeinde und der ‚Heag‘ demnächst zustande kommt, für das Jahr 1926 geplant. Die Eröffnung des Betriebes ist für das Frühjahr 1927 (1. April) ins Auge gefaßt.“ [NGA, 30.6.1925]

„Der Gemeinderat von Arheilgen hat den von der Heag vorgelehten Vertragsentwurf über die Erbauung der elektrischen Straßenbahn in seiner jetzigen Form abgelehnt und der Kommission Richtlinien gegeben, nach denen dieselbe weiter mit der Hessischen Eisenbahn-Gesellschaft verhandeln soll. Man ist von einer Uebernahme der Zinsgarantie abgekommen und schlägt vor, auf eine bestimmte Reihe von Jahren eine jährliche Summe zu zahlen.“ [NGA, 9.7.1925]

„Am Dienstag Vormittag haben zwischen der Gemeinde­vertretung und der ‚Heag‘ Verhandlungen über die Weiterführung der elektrischen Bahn von der Merck'schen Fabrik nach Arheilgen unter Leitung des Provinzial­direktors stattgefunden, die aber, wie das ‚Darmst. Tgbl.‘ meldet, ergebnislos verlaufen sind. Die Gemeinde Arheilgen hat die Bedingung einer 10jährigen Zinsgarantie abgelehnt, sich aber erboten für drei Jahre einen Zuschuß von 3000 Mk. jährlich zu leisten; auch verlangt sie dann eine Gewinn­beteiligung. Von diesem Standpunkt ging sie bei den Verhandlungen auf der Provinzial­direktion nicht ab, sodaß die Verhandlungen ergebnislos blieben, da auch die ‚Heag‘ von ihrem Standpunkt, eine Zinsgarantie zu verlangen, nicht ablassen will. – Wenn der alte Bachstein, der Erbauer der Bahn, noch lebte, wäre die Arheilger wie auch die hiesige Linie sicher längst gebaut, ohne eine Zinsgarantie oder Baukostenzuschuß, wie es die Heag ganz unberechtigterweise verlangt. Es handelt sich doch nur um eine Umstellung im Betrieb der früher hochrentablen Strecken, die bei Inbetriebsetzung heute sicher nicht weniger rentieren würden, wie vorher.“ [NGA, 16.7.1925]

„Die Verwaltung der Stadt Darmstadt hat dem ‚Darmst. Tagbl.‘ über die Fortführung der elektrischen Bahn nach Arheilgen nachstehendes Schreiben zugehen lassen: Die ‚Heag‘ ist schon vor einiger Zeit von ihrem früheren Verlangen, daß die Gemeinde Arheilgen für die Strecke Merck – Arheilgen eine Garantie für die Verzinsung und Betriebs­einnahmen leisten soll, abgekommen. Sie hat sich, um in der Angelegenheit vorwärts zu kommen, dazu bereit erklärt, das erhebliche Risiko, das heute in der Erbauung der Strecke gefunden werden muß, selbst zu übernehmen, wenn ihr ein bestimmter jährlicher Zuschuß auf zehn Jahre gegeben wird. Der Anteil der Gemeinde Arheilgen an diesem Zuschuß soll 6000 Mark pro Jahr betragen. Die Gemeinde hat dieses Anerbieten nicht angenommen; sie hat im Gegensatz dazu nur 3000 Mark Zuschußleistung pro Jahr geboten, und diese Liestung auch noch von der Rentabilität der Bahn abhängig gemacht, ohne daß dabei die Fehlbeträge früherer Jahre berücksichtigt werden sollen. Die ‚Heag‘ hat dazu erklärt, daß sie ein derartiges Anerbieten unter gar keinen Umständen annehmen könne. Entweder leistet die Gemeinde, wie das früher verlangt wurde, die Zins- und Betriebsgarantie, dann muß selbstverständlich alljährlich der Fehlbetrag für die Strecke Merck – Arheilgen in seiner vollen Höhe bezahlt werden, oder aber die Gemeinde lehnt diese Garantie ab, wie dies früher schon geschehen ist, dann kann die ‚Heag‘ sich auf eine Nachprüfung der Betriebsrechnung nicht einlassen, vielmehr muß der verlangte Pauschal­zuschuß in voller Höhe bestimmt auf zehn Jahre geleistet werden. Da ein weiteres Nachgeben der ‚Heag‘ nach den abgegebenen Erklärungen nicht zu erwarten ist, liegt es bei der Gemeindevertretung Arheilgen, ob die Bahn alsbald nach dieser Gemeinde fortgesetzt wird. – Man darf gespannt sein, welche Forderungen die ‚Heag‘ für die Weiterführung der Bahn vom Waldfriedhof nach hier an unsere Gemeinde stellen wird.“ [NGA, 21.7.1925]

Nach dem „Angebot“ für Arheilgen trat die HEAG nunmehr wieder mit Griesheim in Verhandlungen.

„Gestern Abend fand auf der Bürger­meisterei hier eine Besprechung zwischen Herrn Direktor Bohnenberger von der ‚Heag‘ und der vom Gemeinderat gewählten Kommission wegen Erbauung der elektrischen Bahn Darmstadt – Griesheim statt. Die Strecke soll nach den Angaben des Herrn Bohnenberger gleich so ausgebaut werden, daß sie zweigleisig befahren werden kann; die Baukosten sollen sich auf etwa 550.000 Mark belaufen, wofür die Gemeinde die Zinsgarantie übernehmen soll, die Zinsen berechnet mit einem Prozent über den jeweiligen Reichsbank­diskont und 5 Prozent Amortisation. Die Zinsgarantie soll sich auf 10 Jahre erstrecken, rentiert die Strecke schon in den ersten drei Jahren, so soll die Zinsgarantie für die folgenden Jahre ganz in Wegfall kommen.‘ [NGA, 29.8.1925]

Am 17. September 1925 berichtet das Blatt, die HEAG beabsichtige, bis zur Herstellung der elektrischen Straßenbahn einen Kraftwagen­verkehr einzurichten. Weiterhin sei die Straße von Darmstadt nach Büttelborn, die spätere Reichs- und Bundesstraße 26, auf deren Trasse heute die A 67 verläuft, gesperrt. Daher würden die Postautobusse von Darmstadt nach Oppenheim über Griesheim verkehren. „Wir haben also jetzt für einige Zeit Gelegenheit auf direktem Wege ins Herz von Rheinhessen zu gelangen.“

1925–1926: Der Gemeinderat gibt nach, der Bau beginnt

Am 22. September wird über ein Einvernehmen zwischen der Gemeide Arheilgen und der HEAG berichtet, wonach die Strecke vorerst eingleisig auf dem Gleis der früheren Dampfstraßenbahn verlaufen solle. Die Eröffnung sei bis Weihnachten vorgesehen. Auf der Griesheimer Gemeinderatssitzung am 1. Oktobver wird den Gemeinderäten ein Vertragsentwurf zwischen der Gemeinde und der HEAG zur Kenntnis gebracht. Fünf Wochen später, am 29. Oktober, verlautet aus der Gemeinderatssitzung, daß die HEAG die Verhandlungen wegen der Zinsgarantie wieder aufnehmen wolle und im Falle einer Einigung der Bau der Griesheimer Strecke im März beginne.[NGA, 3.10.1925 und 31.10.1925]

Die Verhandlungen scheinen erfolgreich gewesen zu sein, wie einer längeren Einlassung des Griesheimker Bürgermeisters Georg Schüler, abgedruckt in Griesheims Zeitung am 26. November 1925 [zum Dokument] zu entnehmen ist. Der Gemeinderat stimmt dem Vertrag am 17. Dezember zu und macht hierbei eine neue Baustelle auf, nämlich die Verlängerung der Straßen­bahnlinie in die Ortsmitte.

„Erster Punkt der Tagesordnung der gestrigen Gemeinderats-Sitzung war der Ausbau der elektrischen Straßenbahn Darmstadt – Griesheim. Die vorliegenden Vertrags­bestimmungen, die in einem Artikel im 2. Blatt unserer heutigen Nr. wiedergegeben sind, wurden nach eingehender Durchberatung einstimmig genehmigt und der Vertrag in dreifacher Ausfertigung unterzeichnet. Die Weiterführung der Linie bis zur Bürgermeisterei, die gleichzeitig in Angriff genommen werden soll, sowie die Bestimmungen über die Anstellung des Betriebspersonals und die Anlegung der aus dem Zuschlagstarif sich ergebenden Gelder, werden besonderen Verhandlungen zwischen der Bürgermeisterei und der ‚Heag‘ überlassen. Die für die Herstellung der Linien erforderlichen Arbeiten und Bauten sollen nach Möglichkeit an hiesige Gewerbetreibende vergeben werden.“ [NGA, 19.12.1925]

Griesheims Bürgermeister muß nunmehr der Bevölkerung die unterzeichnete Kröte schmackthaft machen.

„Der Ausbau der elektrischen Bahn Darmstadt – Griesheim.
Von Bürgermeister Schüler.

Nachdem ich in den drei vorhergehenden Artikeln Straßenbau, Wasserversorgung und den Ausbau der elektrischen Bahn Darmstadt – Griesheim besprochen habe, bin ich heute in der Lage, Näheres über den Ausbau der elektrischen Straßenbahn veröffentlichen zu können. Zuvor möchte ich aber noch einmal auf die Vorgänge in früheren Jahren zurückkommen.

Als in der Gemeinderatssitzung vom 27. Februar 1913 der ‚Ausbau der Vorortbahnen[‘] erstmals auf der Tagesordnung stand, beschloß die Gemeindesvertretung folgendes: ‚Die Uebernahme von Zinsgarantie im Betrage von 3500 Mk. jährlich wird abgelehnt. Bezüglich der Geländestellung wünscht der Gemeinderat erst die Vorlage von entsprechenden Plänen.‘ Am 23.10.1913 wurde erneut die ‚Umwandlung der Dampf­straßenbahn in elektrischen Betrieb: Hier Stellung des erforderlichen Geländes‘ behandelt und folgendes beschlossen: ‚Der Gemeinderat ist bereit, der Hess. Eisenbahn Aktien­gesellschaft Entgegen­kommen zu zeigen, wenn die 'Heag' die vertragliche Verpflichtung eingeht, auf eine Zeitdauer von 20 Jahren keinerlei Fahrpreis­erhöhung eintreten zu lassen, sowie die Tarife für den Frachtverkehr entsprechend herabzusetzen.‘ – Jawohl auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Hier stieß Hart auf Hart.

Wenn alle Geschäfte gegenseitig so erledigt werden sollten, käme man nie zu einem Resultat. Ich bin auch nicht Derjenige, der Gemeindegelder ohne weiteres im Interesse eines Unternehmens zu verausgaben, das Wort redet. Vor allem ist es nötig zu prüfen, ob nicht letzten Endes doch die Vorteile die Nachteile überwiegen. Hier ist das sicher der Fall gewesen. Ueber die Forderungen der ‚Heag‘ kann man gewiß geteilter Meinung sein. Es bekommt kein Geschäftsmann aus Mitteln der Allgemeinheit einen Pfennig um ein Geschäft gründen zu können. Diese Argumentation hört man oft. Ist dies aber richtig? Ich verneine es. In der Vorkriegszeit haben kleinere Städte, um Garnisonstadt zu werden, selbst die Kasernen hergestellt, oder Zuschüsse nebst freier Geländestellung bewilligt. Oft kostenlos baureifes Land zur Verfügung gestellt um Fabriken zu erhalten. Warum? Heute noch würden die Gemeinden, die früher die Geländestellung für Bahnbauten ablehnten, Tausende ausgeben, das früher Versäumte nachzuholen.

Ist nun die Einführung einer Bahn oder die Verbindung zwischen Stadt und Land ein Unternehmen, das mit jedem anderen verglichen werden kann. Und kann man es mit solchen in einen Topf werfen? Nein! Wenn man die Forderungen der Heag auf Stellung von Gelände und Uebernahme einer Zinsgarantie schlankweg als unverschämt bezeichnet, wie ist dann aber der Beschluß der Gemeindevertretung, wie er am 23.10.1913 gefaßt wurde zu bezeichnen? Ist da von einem Entgegen­kommen, trotzdemder Gemeinderat von einem solchen spricht, auch nur die leiseste Spur vorhanden? 20 Jahre keine Fahrpreis­erhöhung! Diese Forderung wird die ‚Heag‘ genau mit diesem Schmeichelwort ‚Unverschämtheit‘ bezeichnet haben, wie die Uebernahme der Zinsgarantie bezeichnet worden ist.

Warum ist nun ein Betrieb wie die Straßenbahn nicht mit einem anderen Unternehmen zu vergleichen? Weil es dem allgemeinen Verkehr dient, unsere Wirtschaft hebt und ganz besonders eine schnelle und bequeme Verbindung mit unserer Nachbarstadt herstellt, wo nicht nur Hunderte von einheimischen Arbeitern das ganze Jahr über Arbeit und Verdienst finden, sondern wir auch den weitaus größeren Teil unserer Gartenerzeugnisse absetzen. So wenig man die Geländestellung für ein großes Industrie-Unternehmen, das Hunderte von Arbeitern beschäftigen würde, ablehnen könnte, so wenig darf man sich einem Unternehmen gegenüber ablehnend verhalten, das dem allgemeinen Verkehr dient. Hat die breite Oeffentlichkeit ein Interesse an dem Ausbau der Elektrische? oder genügt der Verkehr wie er zur Zeit besteht? Ist die Uebernahme der Zinsgarantie durch die Gemeinde gleichfalls im öffentlichen Intersse? Ich bejahe diese Fragen. Würde jeder Einwohner, der eine ist mehr der andere weniger beteiligt, den Schaden berechnen, der ihm durch das Fehlen einer schnellen Verbindung seit 1914 erwachsen ist, so würde Mancher aus dem Staunen nicht herauskommen, was er schon geopfert hat an Geld, Zeit und nicht zuletzt an Gesundheit. Ich bin überzeugt, daß mehr als die verlangte Zinsgarantie an Verlust jeder Art gebucht werden kann.

Eine kleine Rechnung, die ich aufgestellt habe und auf meinen Beobachtungen beruht, mag als Beweis dienen. Nehmen wir an, daß durchschnittlich nur 50 Personen an jedem Tag gezwungen sind, sich durch Verspätung oder durch Warten auf den nächsten Zug in Darmstadt aufzuhalten. Diese Zahl ist meines Erachtens keineswegs zu hoch gegriffen. Diese 50 Personen geben pro Person 50 Pfg. aus, sind in einem Tag 25 Mk. mal 365 = 9.125NMk. jährlich. Es wird aber mehr als das Doppelte durch die jetzigen Verkehrsverhältnisse in Darmstadt gelassen. Die Zinsgarantie machte im Jahr 1913 nur 3500 Mk. Von der Bequemlichkeit und daß man für dasselbe Geld wie jetzt bei der Reichsbahn, mit der Elektrische direkt bis zum Marktplatz gelangen könnte, will ich ganz absehen, sondern nur das Gebiet in gesundheitlicher Beziehung schildern. Betrachten wir unsere Marktfrauen. Auf dem Wochenmarkt sind sie allen Unbilden der Witterung ausgesetzt, bei Regen, Schnee, Hitze und der jetzt herrschenden grimmigen Kälte sind sie gezwungen auf einem Bauernwagen oder per Lastauto ihre Heimstätte aufzusuchen. Starrend vor Frost erwarten sie oft sehnsüchtig, die durchnäßten Kleidern [sic!] ablegen zu können. Wieviel Krankheiten mögen darauf zurückzuführen sein? Niemand kann dies abschätzen. Ist angesichts solcher feststehenden Tatsachen eine Gemeindevertretung nicht geradezu verpflichtet derartige Zustände selbst unter Aufbringung von Mitteln zu beseitigen? Kein Tag, keine Stunde darf verloren werden, um schnelle Abhilfe zu schaffen. Die größten Gegner von heute werden morgen die größten Freunde werden.

Wie bereits in meinem ersten Artikel bemerkt, ist die Vollendeung der elektrischen Bahn gesichert; wäre der Krieg nicht ausgebrochen, so glaube ich sicher, daß auch wir heute mit Darmstadt durch die Elektrische verbunden wären. Am 18.4.1914 wurde die Umwandlung der Straßenbahn in elektrischen Betrieb einer Kommission, bestehend aus den damaligen Gemeinderats­mitgliedern Wenner, Göbel, Nothnagel und Schüler übertragen. Am 23.5.1914 wurden die Arbeiten der genannten Kommission in einem entworfenen Vertrag als Grundlage für weitere Verhandlungen von der Gemeindevertretung gutgeheißen. Es würde zu weit führen den damaligen Vertragsentwurf zu veröffentlichen. Auch hier hatte der Krieg den weiteren Verhandlungen ein Ende gemacht. Wir brauchen die späteren Verhandlungen nach dem Kriege über den Ausbau der elektrischen Bahn hier nicht näher zu erläutern. Er dürfte wohl noch allen Interessierten im Gedächtnis sein. Nun ist endlich die Sache so weit gediehen, daß im kommenden Frühjahre mit dem Bau begonnen werden kann. Vorerst soll der Ausbau eingleisig vorgenommen werden. Eine Geländestellung seitens der Gemeinde dürfte bei dem jetzigen Projekt nicht in Frage kommen.

Es ist eine Zinsgarantie von 10.000 Mk. jährlich zu übernehmen. Auf Wunsch der Bau- und Finanzkommission hat Herr Direktor Bohnenberger die Stadt Darmstadt ersucht eine Zinsgarantie von 4.000 Mk. jährlich mit zu übernehmen und die Stadt Darmstadt hat demgemäß beschlossen, so daß für die Gemeinde Griesheim noch 6.000 Mk. verbleiben. Die Zinsgarantie wird nur in Anspruch genommen, wenn das Gesamtunternehmen nicht mit 15% des Anlagekapitals rentiert. Ergibt sich eine Rentabilität in drei aufeinanderfolgenden Jahren, dann ist die Gemeinde auch für die Zukunft von jeglicher Garantie befreit.

Geplant ist auf dem jetzigen Platze zwischen Neuer Darmstädterstraße und Jahnstraße eine große Wagenhalle zu errichten[,] die sich in moderner Aufmachung sehen lassen kann. Unmittelbar bei der Bürgermeisterei wird eine Wartehalle errichtet werden, die ein Stück des jetzigen Schulhofes beansprucht. Ob letzteres jedoch zur Ausführung kommt ist noch fraglich, da dies von der Befestigung der Neuen Darmstädterstraße abhängt. Kann die Straße aus Mangel an Mitteln nicht hergestellt werden, so muß auch die Gleisführung bis Mitte des Ortes unterbleiben. In der Jahnstraße wird eine Rampe errichtet werden, wo der Markt verladen wird, so daß derselbe auch des Nachts unter Verschluß steht.

Das Wichtigste an der Sache ist die Aufbringung der Zinsgarantie. Würden die Einnahmen nicht die vorgesehene Höhe erreichen und die Gemeinde mit der vollen Garantiesumme von 6.000 Mk. herangezogen werden, so würde dies unser Gesamtbudget schwer belasten. Wir müssen deshalb versuchen auf einem anderen Wege zum Ziele zu gelangen, da die Belastung der Steuerzahler wirklich aufs höchste angespannt ist. Deshalb ist folgender Vorschlag gemacht worden. Der Fahrpreis der Reichsbahn nach Darmstadt beträgt zurzeit 40 Pfg. in der vierten und 60 Pfg. in der dritten Klasse. Mit der elektrischen Bahn stellt sich der Fahrpreis bis zum Hauptbahnhof Darmstadt auf 35 Pfg. und bis Schloß bezw. Markt auf 40 Pfg. Für denselben Fahrpreis wie bei der Reichsbahn wird man also bei der Elektrischen nicht nur bis zum Hauptbahnhof, sondern bis zum Schloß befördert. Nun sind in dem Fahrtarif der Elektrischen weitere 5 Pfg. vorgesehen, durch welche die evtl. Zinsgarantie aufgebracht werden soll, sodaß die Gemeinde in ihrem Voranschlag also keinerlei Mittel für die Zinsgarantie vorzusehen braucht. Auf jeden verkauften Fahrschein bis Hauptbahnhof und Schloß kommen 5 Pfg. Erhöhung, die nur solange in Frage kommen, als die Garantiesumme in Anspruch genommen werden muß. Braucht in einem Jahre keine Garantiesumme geleistet zu werden, dann ermäßigt sich der Fahrpreis für beide Stationen wieder um 5 Pfg. Mit diesem Abkommen denkt die Gemeindevertretung zur Einführung der elektrischen Bahn alles getan zu haben, wozu sie verpflichtet war und hofft, daß es bei dem fahrenden Publikum keine Mißstimmung, sondern eine freudige Zustimmung auslöst.“

Quelle: Neuer Griesheimer Anzeiger am 19. Dezember 1925, Zweites Blatt.

Nachdem nun der Vertrag geschlossen ist und die zukünftigen Fahrgästinnen und Fahrgäste wissen, daß sie zur Kasse gebeten werden, kann sich die Gemeinde einer anderen brennenden Frage widmen, nämlich der dörflichen Prostitution. Im Dezember 1925 fragt Bürgermeister Schüler beim neu ernannten Kommandanten des Truppenübungsplatzes an, ob das von den französischen Militärs mitbenutzte Bordell nun endlich geschlossen werden könne. Die Antwort ist ausweichend; man müsse die Angelegenheit erst überprüfen. Weitere Schriftstücke hierzu sind nicht vorhanden, so daß es durchaus sein kann, daß das Bordell am Rande des Truppenübungsplatzes zumindest bis Ende der französischen Besatzung im Juni 1930 fortbestanden hat.

»»   Das Schreiben des Griesheimer Bürgermeisters vom 9. Dezember und die Antwort des Kommandanten vom 15. Dezember 1925 sind als gescannte Dokumente im Dokumententeil zu dieser Darstellung, wie die Elektrische nach Griesheim gekommen iat, abgebildet.

Obere Rheinstraße in Darmstadt.

Bild 20: Die obere Rheinstraße zwischen Schloß und Luisenplatz auf einer Ansichtskarte von Wilhelm Gerling, entstanden vor 1930 (Poststempel).

Die Gleise der elektrischen Straßenbahn verlaufen am linken Straßenrand, was sich bei zunehmender Automobilisierung als hinderlich erweisen sollte. Es verkehren zwei Triebwagen, deren Nummern nicht zu erkennen sind, von denen der hintere als Linie 2 Richtung Hauptbahnhof und die nachfolgende als Linie 5 zum Schloßgartenplatz oder zur Heinheimer Straße unterwegs zu sein scheint. Auf der rechten Straßenseite befindet sich das nun entbehrliche Gleis der Dampf­straßenbahn mitsamt Umsetzgleis für die Dampfloks. Das auf diesem Gleis parkende Fahrzeug könnte ein Hinweis darauf sein, daß die Aufnahme nach Einstellung des Dampfbetriebes 1922 entstanden ist, wäre da nicht die Erwägung, daß Autofahrer (und Autofahrerinnen) damals wie heute „nur mal kurz“ zur Erledigung hochwichtiger Geschäfte die Gleise blockiert haben bzw. blockieren. Der Polizist am unteren Bildrand wird wohl den Verkehr an der damals bedeutsameren Kreuzung geregelt haben.

Das neue Jahr 1926 beginnt mit froher Erwartung seitens der Griesheimer Zeitung.

„Wie man uns mitteilt, ist der Vertrag zwischen der Gemeinde Griesheim und der ‚Heag‘ wegen Erbauung der elektrischen Bahn jetzt perfekt geworden. Die Pläne für die Gleisanlagen zwischen Hofmann- und Friedrich Ebertstraße und die Wagenhalle sind der Bürgermeisterei Ende vergangener Woche zugegangen und von dieser bereits am Samstag dem Kreisbauamt zur Genehmigung vorgelegt worden. Da von dieser Seite Hindernisse wohl kaum zu erwarten sind, wäre es sehr zu begrüßen wenn die ‚Heag‘ mit den Arbeiten recht bald beginnen würde, damit wenigstens ein Teil unserer Erwerbslosen Beschäftigung findet.‘ [NGA, 18.2.1926]

In Arheilgen scheint man schon weiter zu sein.

„Die Arbeiten an der Straßenbahn Darmstadt – Arheilgen schreiten derart rüstig voran, daß man mit der Inbetriebnahme zum 1. März rechnet.“ [NGA, 18.2.1926]

Am 25. Februar tagte der Griesheimer Gemeinderat.

„Erster Gegenstand der Tagesordnung der gestrigen Gemeinderats-Sitzung war die Beschaffung der Materialien für die Befestigung der Neuen Darmstädterstraße. Kreis und Provinz haben die auf sie entfallenden anteiligen Kosten bewilligt. Da die Gemeinde wegen der Ausführung der Pflasterarbeiten mit Rücksicht auf den späteren Gleiseinbau der elektrischen Bahn und einer allenfallsigen Kanalisierung der Straße verschiedene Wünsche berücksichtigt sehen möchte, wurde eine Kommission gebildet, die dieserhalb und auch wegen der Materialbeschaffung mit den zuständigen Stellen in Unterhandlungen treten soll. – Bei der ‚Heag‘ soll angefragt werden, ob sie nicht geneigt ist, ihre Wagenhalle mit Rücksicht auf die Schule nach dem Gelände hinter dem Reinheimer'schen Anwesen zu verlegen und der Gemeinde das dafür vorgesehene jetzige Gelände im Austausch gegen das dortige Gebäude zu überlassen.“ [NGA, 27.2.1926]

„Wie man uns mitteilt soll bestimmt am 15. März mit dem Umbau des Gleises der Dampf­straßenbahn und der hiesigen Bahnhofsanlagen für elektrischen Betrieb begonnen werden. Die Arbeiten sollen so beschleunigt werden, daß schon im Laufe des Monats Juni der Betrieb eröffnet werden kann. Vorerst wird die Bahn nur bis zur jetzigen Endstation gebaut. Die Neue Darmstädter­straße soll mit Reihen-Kleinpflaster versehen werden, damit bei dem späteren Gleiseinbau kein allzu hoher Kostenaufwand entsteht, wie ein solcher bei Asphaltierung entstehen würde.“ [NGA, 27.2.1926]

Der Umbau der Gleisanlagen wurde der Firma Siemens und Halske in Berlin übertragen. [NGA, 20.3.1924] – Aus Arheilgen werden neue Begehrlichkeiten der HEAG gemeldet.

„In der letzten Gemeinderats-Sitzung zu Arheilgen kam ein Schreiben der ‚Heag‘ zur Verlesung demzufolge diese nach den Vorkommnissen der letzten Zeit eine erhöhte Zinsgarantie verlangt. Der Gemeinderat hat beschlossen, es bei den bisherigen Abmachungen zu belassen und hat die Erhöhung der Garantiesumme abgelehnt.“ [NGA, 10.4.1926]

Welche Vorkommnisse?

„Wie man uns mitteilt zieht sich der Umbau des Gleises für die elektrische Straßenbahn deshalb so in die Länge, weil die Genehmigung durch die Besatzungsbehörde immer noch nicht eingetroffen ist. Sobald diese eintrifft, wird mit den Arbeiten sofort begonnen. Für deren Inangriffnahme sind bereits alle Vorbereitungen getroffen, sodaß die Arbeit in längstens 6–8 Wochen beendet sein wird. Die Ausweichen liegen bereits fertig montiert in der Werkstätte am Böllenfalltor in Darmstadt. Die Strecke soll vorläufig eingleisig betrieben und ein Halbstundenverkehr eingerichtet werden. Gestern und am Sonntag Vormittag [am 18. und 20.4., WK] weilten Vertreter der ‚Heag‘ hier, welche mit Vertretern der Gemeinde die Strecke zwischen hier und dem Felsenkeller besichtigten, da von den vier Gewannübergängen die beiden mittleren in Wegfall kommen sollen, weil sonst die vorgesehene Stunden­geschwindigkeit von 30 Kilometern nicht eingehalten werden könne. Dafür soll ein Weg auf der Nordseite des Gleises angelegt werden. Die Weiterführung des Gleises bis zur Bürgermeisterei kommt vorerst nicht in Betracht, doch soll die Herstellung von Kleinpflaster in der Neuen Darmstädterstraße dadurch nicht aufgehalten werden.“ [NGA, 22.4.1926]

Der Griesheimer Gemeinderat faßte hierzu am 29. April den Beschluß, das für einen zweigleisigen Ausbau der Strecke bis zu Möllers Brauerei und für den nördlich der Strecke vorgesehenen Parallelweg aufzukaufen. Das Straßengelände zwischen Friedrich-Ebert- und Hofmannstraße soll die HEAG der Gemeinde zum Preis von 70 Pfg. pro Quadratmeter abkaufen. Mitte Mai liegt dann auch die Genehmigung der Besatzungsbehörde vor. Da die HEAG die Strecke zum Oberwaldhaus fertiggestellt habe, könne mit den Arbeiten in Griesheim sofort begonnen werden. Die Pflasterarbeiten für die Neue Darmstädter Straße werden ausgeschrieben. [NGA, 1.5.1926 und 15.5.1926]

„Der Gemeinderat hat in seiner gestrigen Sitzung [am 20.5., WK] den Ankauf des zur Herstellung des zweiten Gleises der Straßenbahn nötige Gelände zum Preise von 2 Mk. pro Q.-Mtr. genehmigt und beschlossen, darauf zu dringen, daß die Gleise unbedingt bis zur Bürgermeisterei weitergeführt werden. Wegen der Anlage einer Rampe zum Verladen von Marktgut und Verlegen eines Ausweichegleises an der Haltestelle Hofmannstraße soll mit der ‚Heag‘ nochmals Rücksprache genommen werden.“ [NGA, 22.5.1926]

Dann wird es langsam Sommer. Optimistisch blickt man in die Zukunft.

„Die gestrige Gemeinderats-Sitzung [am 3.6., WK] beschäftigte sich fast ausschließlich mit dem elektrischen Bahnbau Darmstadt – Griesheim. In der Sitzung waren Herr Direktor Bohnenberger und Herr Oberingenieur Rausch von der ‚Heag‘ zugegen. Bekanntlich ist es der Wunsch der Gemeinde, daß die Linie bis ans Ende der Neuen Darmstädterstraße, also bis zur Bürgermeisterei geführt wird. Dem widersprach bisher das Kreisamt und das Ministerium mit der Begründung, daß die Straße hierfür zu schmal sei. Die ‚Heag‘ ist bereit dem Wunsch der Gemeindevertretung nachzukommen und ersucht die Gemeinde die Genehmigung hierzu beim Kreisamt und Ministerium zu erwirken, was beschlossen wurde. Die Strecke soll dann mit der Hauptstrecke zugleich gebaut werden. Mit der Errichtung der Laderampe in der Jahnstraße und der projektierten Ausweiche auf der Neuen Darmstädterstraße erklärte sich der Gemeinderat einverstanden. Für alle von der Friedrich-Ebertstraße bis zum Anwesen des Herrn Philipp Reinheimer bereits erbauten oder noch zu erbauenden Häuser sollen Ueberfahrten errichtet werden; die von da ab weiter erbauten Häuser erhalten einen Parallelweg mit der Darmstädter Chaussee. Die Pläne liegen gegenwärtig noch beim Kreisbauamt; sobald sie von dort aus ihre Genehmigung erhalten haben, soll mit dem Bau sofort begonnen werden, sodaß bis Anfang August der Verkehr aufgenommen werden kann.“ [NGA, 5.6.1926]

Bekanntmachung.
Abbildung 21: Bekanntmachung der Bürgermeisterei im Neuen Griesheimer Anzeiger vom 17. Juni 1926 zur Auslage der Pläne für den Weiterbau der elektrischen Straßenbahn nach Griesheim. Auf dem Truppen­übungsplatz findet zum Leidwesen der Griesheimer Bäuerinnen und Bauern wieder einmal ein französisches Scharfschießen statt.

Das Kreisamt genehmigt die von der HEAG geforderte und der Gemeinde Arheilgen beschlossene Erhöhung der Zinsgarantie nicht, wogegen die Gemeinde vor das Verwaltungsgericht ziehen will. Auch in Griesheim verzögert sich der Bau, da die Pläne für den Ausbau der Strecke ab Waldfriedhof noch bis zum 23. Juni im Kreisamt ausliegen. [NGA, 15.6., 24.6. und 17.6.1926]

In den mitunter hysterischen Abgrenzungsversuchen gegen Links wird kommunistische Propaganda ungerne gesehen, vor allem, wo sie von Sergej Eisenstein stammt. Allen Ernstes soll einer der besten Filme aller Zeiten verboten werden.

Darmstadt, 21. Juni.  Die hessische Regierung ist dem Antrage Württembergs auf Widerruf der Zulassung des Films ‚Panzerkreuzer Potemkin‘ und der Beschwerde gegen die Entscheidung der Filmprüfstelle Berlin beigetreten. Wie verlautet, hat das Ministerium des Innern die Kreisämter angewiesen, die Inhaber von Lichtspiel­theatern zur Vermeidung von Schäden darauf hinzuweisen, daß nach anderwärts gemachten Erfahrungen die Besorgnis einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung begründet erscheine und ihnen die Bestellung des Films oder die Abnahme zu widerraten.“ [NGA, 22.6.1926]

Hessischer Innenminister war zu dieser Zeit der Zentrumspolitiker Otto von Brentano. Ende des Jahres 1926 sollte der Film, allerdings in einer teilweise drastisch zensierten Fassung, auch in den Lichtspielen „Zur Straßenbahn“ in Griesheim zu sehen sein. Ausdrücklicklich wurde hier die musikalische Bearbeitung durch ein „verstärktes Orchester“ vermerkt. [NGA, 25.11.1926]

Der Griesheimer Gemeinderat wählt am 21. Juni eine Kommission, bestehend aus dem Beigeordneten Feldmann, den Gemeinderäten Metzger und Höhl und Gemeindebau­aufseher König, um die in Groß-Gerau ausliegenden Pläne zu begutachten. Der Kommission erhält eine Vollmacht, um gegebenenfalls den Plänen zu widersprechen. [NGA, 24.6.1926]

„Entsprechend dem Gemeinderats­beschluß vom Montag begab sich am Dienstag die zur Besichtigung der am Kreisamt in Groß-Gerau offenliegenden Pläne für die Erbauung der elektrischen Straßenbahn Darmstadt – Griesheim bestimmte Kommission nach Groß-Gerau. Die Kommission fand gegen die offenliegenden Pläne an sich nichts einzuwenden, nur machte sie Vorbehalte wegen Errichtung der Wagenhalle, die bekanntlich auf dem Gelände zwischen der Neuen Darmstädter- und Jahnstraße errichtet werden soll und Weiterführung der Bahn bis zur Bürgermeisterei, die von den zuständigen Stellen noch nicht genehmigt ist. Eine Verzögerung der Arbeiten wird dadurch nicht herbeigeführt, vielmehr hat die ‚Heag‘, wie man uns mitteilt, mit dem Umbau des Schienengleises bereits begonnen, sodaß zu erwarten ist, daß die Strecke in kurzer Zeit bereits dem Verkehr übergeben werden kann.“ [NGA, 26.6.1926]

Während dessen erweitert die Rheinlandkommission ihre Liste von im besetzten Gebeiet verbotenen Büchern um die Nummern 165 bis 173. In der Regel dürfte es sich hierbei um revanchistische deutsche Flugschriften gehandelt haben. Am 23. Juli wird der Film „Die Wacht am Rhein“ [21] verboten. [NGA 29.6. und 5.8.1926]

Der Darmstädter Markt ist mittlerweile so überlaufen, daß an Boykott nicht zu denken ist.

„In welcher Weise der Darmstädter Wochenmarkt von hier aus befahren wird, ersieht man aus einer Zählung, der Fuhrwerke, Lastautos usw. die ein Gemeindebediensteter am Samstag früh, in der Zeit von 2 bis 5 Uhr, vorgenommen hat. Er hat gezählt 70 Fuhrwerke, 4 Handwagen und 4 Lastautos. Dazu kommen jetzt noch diejenigen Marktwaren, die nach 5 Uhr und mit der Bahn nach Darmstadt befördert wurden. Kein Wunder, daß der Darmstädter Wochenmarkt mit Gemüsen meistens überfahren ist und die Besucher keinen lohnenden Absatz finden. Sich weitere Absatzgebiete zu erschließen ist deshalb für unsere gemüsebautreibende Bevölkerung eine unabweisbare Notwendigkeit.“ [NGA, 13.7.1926]

„Gestern [am 20.7., WK] vormittag 10¼ Uhr fand die landespolizeiliche Prüfung des Entwurfs über die Verlängerung der elektrischen Straßenbahn vom Waldfriedhof bis nach Griesheim an Ort und Stelle statt. Anwesend waren: Geh[eimer] Ober-Baurat Geibel vom Finanzministerium, Min[isterial]-Rat Knapp für die Kreisbauverwaltung Darmstadt, Reg[ierungs]-Ass[essor] Dr. Schmahl für das Kreisamt Groß-Gerau, Reg[ierungs]-Radt Dr. Wolff für das Kreisamt Darmstadt, Direktor Bohnenberger von der Heag, Beigeordneter Feldmann, Gemeinderäte Maus und Metzger für die Gemeinde Griesheim, sowie Vertreter von der Stadt Darmstadt, Oberförsterei Darmstadt und der Oberpostdirektion Darmstadt. An Einwendungen waren eingegangen diejenige des Herrn Peter K****** in Darmstadt, der aus Anlaß der notwendig werdenden Abtretung eines Geländestreifens eine spätere Wertminderung seines Baugeländes (jetzt Wald) befürchtet und diejenige des Kreisamts Darmstadt, das gegen die beabsichtigte Einlegung einer Weiche in die Kreisstraße Beschwerde führt. Während die Einwendung des Herrn Peter K****** in Darmstadt für gegenstandslos erklärt wurdem da die Einwendung keine landes­polizeilichen Gesichtspunkte betreffen, wurde die Beschwerde des Kreisamts Darmstadt zurückgenommen, da sich die Heag mit der Verlegung des Bahnhofs nach Süden einverstanden erklärte. Was die Beschwerde der Gemeinde Griesheim wegen Fortführung der Bahn bis zur Bürger­meisterei betrifft, so soll eine weitere Offenlage der entsprechenden Pläne beim Kreisamt Groß-Gerau stattfinden und über die Beschwerde selbst in einer neuen Tagfahrt am Donnerstag, den 29. Juli ds. Jahres Entscheidung getroffen werden.“ [NGA, 22.7.1926] [22]

Bekanntmachung.

Abbildung 22: Bekanntmachung der Griesheimer Bürgermeisterei zur Auslage der Pläne und zur beabsichtigten Abnahme am 29. Juli 1926, veröffentlicht im Neuen Griesheimer Anzeiger am 24. Juli 1926.

Auf der Gemeinderatssitzung am 19. August kam man mit dem HEAG-Direktor Bohnenberger überein, die Wagenhalle zu verlegen. Die betroffenen Grundstücksbesitzer sind einverstanden, die daraus entstehenden Mehrkosten trägt die Gemeinde. Auch in Arheilgen liegen keine Hindernisse zum Ausbau der Strecke mehr vor. [NGA, 21.8. und 4.9.1926] – Am 20. September beschäftigte sich der Gemeinderat erneut mit dem nun angelaufenen Straßenbahnbau bei zwei Punkten der Tagesordnung.

„2. Einführung einer weiteren Tarifstrecke vom akten Straßenbahnhof bis zur Bürgermeisterei. Für diese Strecke wurde ein besonderer Tarif genehmigt, der aber die Kosten der Fahrt über diese Strecke hinaus nicht verteuert. – 3. Der Plan zur Aufstellung der Masten für die Stromzuleitung der Straßenbahn wurde genehmigt unter der Bedingung, daß die ‚Heag‘ die Kosten trägt für die Aufstellung und alle später notwendig werdenden Versetzungen.“ [NGA, 23.9.1926]

Fortsetzung folgt …

Im September 1926 stehen die Arbeiten kurz vor dem Abschluß. Die Wiedereröffnung der Straßenbahn­strecke nach Griesheim wird im Oktober 1926 stattfinden. Während sich die Honoratioren selbstgefällig feiern, frieren anschließend die Arbeiterinnen und Arbeiter in den zugigen, ungeheizten und teils auch offenen Straßen­bahnwagen. Die vom Griesheimer Gemeinderat der HEAG gewährte Zinsgarantie wird für zusätzlichen Ärger sorgen. Zweimal stoßen Straßenbahnen zusammen, was glücklicher­weise ohne größere Blessuren abgeht. Hiervon handelt die Fortsetzung der Geschichte, wie die Elektrische nach Griesheim gekommen ist.