Die Straßenbahn in Darmstadt
Erst Milch, dann Personen
Das Stichgleis in die Waldkolonie
1886 errichtete ein privates Konsortium die ersten beiden Straßenbahnstrecken in die Vororte Eberstadt und Griesheim, denen 1890 eine weitere Strecke nach Arheilgen folgte. Im Grunde handelte es sich um die Schmalspurausführung einer dampfbetriebenen Eisenbahn. Alle drei Linien standen in Konkurrenz zur parallel verlaufenden Eisenbahn. Die Stadt Darmstadt sah die innerstädtischen Verkehrsbedürfnisse des Bürgertums nicht abgedeckt und ließ ein eigenes elektrisches Straßenbahnnetz aufbauen. Aus der Verschmelzung beider Gesellschaften entstand 1912 die Hessische Eisenbahn Aktiengesellschaft, kurz HEAG. Die Dampfstrecken wurden elektrifiziert; ein Vorgang, der aufgrund des Ersten Weltkriegs und der nachfolgenden französischen Besatzung Arheilgens und Griesheims erst 1926 abgeschlossen war.
Der Erste Weltkrieg führte zu drastischen Veränderungen beim Darmstädter Straßenbahnbetrieb. Einzelne Linien wurden gänzlich eingestellt, teilweise wurde der Fahrdraht zur Rohstoffgewinnung abmontiert. Personal war knapp, die Fahrzeuge waren hoffnungslos überfüllt, konnten aber nur notdürftig gewartet und repariert werden. Pferde- und Fahrzeugmangel führten 1918 zu einem neuen Betätigungsfeld der elektrischen Straßenbahn in Darmstadt, nämlich der Milchversorgung der Stadt.
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Von 1918 bis 1968 existierte eine Straßenbahnstrecke in die Waldkolonie, die zunächst für Güter-, ab 1929 auch für Personenverkehr genutzt wurde.
„1918 wurde eine Anschlußstrecke für Material- und Brennstoff-Transporte zum südlich des Dornheimer Wegs liegenden E-Werk II in Betrieb genommen. Die Strecke zweigte an der Ecke Bismarckstraße / Goebelstraße aus der Goebelstraße heraus ab und führte über die Eisenbahnbrücke in südlicher Seitenlage zum E-Werk II. Sie bog rechtwinklig am Werkstor ab und verzweigte sich im Werksgelände in einige Stumpfgleise. Bald nach Eröffnung des Personenverkehrs auf dieser Strecke am 1. Juli 1929 wurde sie noch um etwa 120 Meter verlängert und endete stumpf ohne Umsetzgleis vor dem Rodensteinweg. Die Länge der eingleisigen Strecke betrug bis zum Rodensteinweg 580 Meter, von der Ecke Goebelstraße aus gerechnet.
Die Abzweigung aus der Goebelstraße war zweigleisig, doch wurde die Strecke noch vor der Brücke eingleisig. Hinter der Eisenbahnbrücke lag das Gleis auf besonderem Bahnkörper bis zur Endstation. Eine Geradeaus-Verbindung aus der östlichen Bismarckstraße zu dieser Strecke hat niemals bestanden; sie konnte nur vom Hauptbahnhof aus als Stichstrecke befahren werden. Der Verkehr auf ihr wurde 1968 eingestellt und die Gleise wurden bald danach abgebaut.“
Der Abschnitt vom Rodensteinweg zum Hauptbahnhof wurde wechselnd von den Linien 1, 3 oder 6 bedient.
- Juli 1929 bis August 1939: Linie 3, Rodensteinweg – Landskronstraße.
- Von Januar 1940 mit Unterbrechung bis November 1946: Linie 4, Wendelstadtstraße (zu diesem Zeitpunkt: Sudetengaustraße) – Rodensteinweg.
- August 1946 bis Januar 1949: Linie 1, Rodensteinweg – Moosbergstraße (Mo–Fr) bzw. Rodensteinweg – Hauptbahnhof (So). Und samstags?
- Ab 1953: Linie 6, Ausweiche Regerweg – Rodensteinweg (nur werktags).
- Um 1956: Linie 3, Rodensteinweg – Landskronstraße.
- 1956 bis 1968 : Linie 6, Rodensteinweg – Oberwaldhaus. [1]
Abbildung 1: Auszug aus dem Sommerfahrplan 1939. Der Hinweis „nur für Arier“ fehlt, weil inzwischen selbstverständlich.
Der Geschäftsbericht der HEAG für das Betriebsjahr 1917/18 gibt eine Variante zum Grund der Anlage des Betriebsgleises zum Umspannwerk am Dornheimer Weg:
„Auf Veranlassung der Kriegsamtsstelle Frankfurt a. Main wurden die in Betracht kommenden Behörden auf die Aufnahme des Güterverkehrs auf den elektrischen Straßenbahnen aufmerksam gemacht. Mit der Kaiserlichen Ober-Postdirektion Darmstadt wurde Vertrag getätigt über die Beförderung von Postsachen vom Bahnpostamt nach den in der Stadt gelegenen Postämtern und umgekehrt. Mit der Stadt Darmstadt wurden die Verhandlungen wegen Beförderung von Milchkannen von der städtischen Molkerei am Dornheimerweg nach verschiedenen Stadtteilen zum Abschluß gebracht. Wegen der Dringlichkeit wurde sofort mit dem Ausbau begonnen, sodaß im Laufe des Sommers 1918 die Anlagen in Betrieb gesetzt werden konnten.“
Im Fahrzeugbestand sind nunmehr vier Güterwagen und ein Milchwagen aufgeführt. Der Geschäftsbericht für 1918/19 ergänzt:
„Für die Milchbeförderung, welche am 16. September [1918] aufgenommen wurde, ist ein Anschluß an das Elektrizitätswerk Dornheimerweg gebaut, woselbst die Milch für die Stadt Darmstadt auf unserem Staatsbahnanschluß eintrifft und alsdann in die Straßenbahn-Güterwagen umgeladen wird. Von dort erfolgt dann der Transport nach den einzelnen Verteilungsstellen der Stadt. Zum Unterstellen der Motorwagen, welche für den Milchtransport benötigt werden, wurde auf dem Grundstück Dornheimerweg eine Wagenhalle eingerichtet. Das Anschlußgleis der Straßenbahn ist gleich neben den Staatsbahnanschluß gelegt und so eingerichtet, daß auch von der Staatsbahn direkt in die Straßenbahn umgeladen werden kann, sodaß wir auch in der Lage sind die für Bau und Betrieb mit der Staatsbahn eintreffenden Materialien mit der Straßenbahn abzufahren.
Es wurden insgesamt für die Milch- bezw. Güterbeförderung 5 Güterwagen beschafft.
Der Verkehr mit den Post- und Milchwagen hat sich bisher gut abgewickelt.“
Während Bürnheim/Burmeister auf den Güter- und Brennstofftransport als Grund der Einrichtung des Stichgleises verweisen, spielt selbiget in der Begründung der HEAG-Geschäftsberichte nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr wird auf die Milchversorgung der Stadt, insbesondere – so wäre zu ergänzen – der Kinder, abgehoben. Laut Geschäftsbericht des Folgejahres hab es keine Beanstandungen; die gefahrene Leistung wuchs von 8.171 auf 13.230 Wagenkilometer, wobei nicht mehr Milch, sondern mehr Strecken befahren wurden. 1920/21 waren es dann 14.675 Wagenkilometer. Im Elektrizitätswerk II wurde ein drittes Straßenbahngleis (eine dritte Schiene parallel zum Normalspurgleis ?) verlegt. Im Wagenpark werden jetzt zwei Milchwagen und fünf Güterwagen aufgeführt. 1921/22 blieb die Beförderungsleistung gegenüber dem Vorjahreszeitraum gleich, ab 1922/23 finden sich hingegen keine Angaben mehr zur Milchbeförderung, 1926 werden auch die Milchwagen nicht mehr aufgeführt. Ein weiterer Hinweis darauf, wann und weshalb die Milchtransporte eingestellt wurden, ist den Geschäftsberichten nicht zu entnehmen. Rechnete sich der Transport angesichts einer galoppierenden Inflation nicht mehr? 1929 wurde die Straßenbahnlinie 3 an beiden Enden verlängert, womit erstmals auch Fahrgästinnen und Fahrgäste aus der und in die Waldkolonie befördert wurden.
„Am 1.7.1929 wurde die Linie 3 vom Hauptbahnhof durch den Dornheimerweg nach dem Elektrizitätswerk II um 495 m verlängert. Neubauten waren hierdurch nicht erforderlich, da die Gleisanlage einschließlich Oberleitung als Anschlußgleis nach dem E.W. vorhanden war.
Weiterhin wurde diese Linie am 1.11.1929 von der Ecke Moosbergstraße bis Ecke Landskronstraße um 123 m verlängert. Auch hier waren die Gleissnlagen bereits vorhanden.
Am 5.11.1929 erfolgte die Inbetriebnahme der Neubaustrecke der Linie 3 vom E.W. II nach dem Rodensteinweg mit 165 m Länge.“
Abbildung 2: Ausschnitt aus dem Gleisplan für das Anschlußgleis der HEAG (1955). Auch wenn der Plan auf den Bundesbahnanschluß fokussiert war, so erkennen wir die gestrichelt eingetragenen Straßenbahngleise und die Abstellhalle für die Motorwagen. Der Plan ist geostet.
Was zu beachten ist
„Hauptbahnhof bis Rodensteinweg. Die Wagen, die nach dem Rodensteinweg fahren, fahren die Strecke der Linie 1 und 2 bis Otto-Wolfskehlstraße [heute: Goebelstraße] usw.
Bismarckstraße. Der in der Otto-Wolfskehlstraße an der Oberleitung angebrachte Weichenstellkontakt, Abzweigung nach Rodensteinweg, wird, wenn die Weiche für die Fahrt richtig liegt, ohne Strom befahren. Die eingleisige Strecke nach Rodensteinweg ist vorsichtig zu befahren und auf entgegenkommende Wagen zu achten.
Rodensteinweg. Die Abfahrtszeit ist möglichst einzuhalten. Bei Betrieb mit Anhängerwagen erfolgt besondere Anweisung.“
Auszug aus den Fahrdienstvorschriften der HEAG von 1932, hier: Linie 3 Landskronstraße – Hauptbahnhof – Rodensteinweg.
In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre stellte die HEAG den Bezug von Kohle auf ihrem Gleisanschluß ein. Das hierfür vorgeshene Anschlußgleis wurde daraufhin aufgegeben und nachfolgend auch die Verbindung zur Straßenbahnstrecke am Rodensteinweg. Folgerichtig mußte das Unternehmen, als es die ersten Gelenkfahrzeuge anschaffte, eine neue Gleisanbindung vom Bundesbahngleis auf das Straßenbahnnetz herstellen. So entstand die bis 2008 genutzte Gleiskurve von der Bismarckstraße in die Kirschenallee, die im August 1961 fertiggestellt wurde.
Bild 3: Luftbild der Endhaltestelle der Linie 3 am Rodensteinweg und der ehemaligen HEAG-Gleisanlagen vom Dornheimer Weg her. Mit freundlicher Genehmigung durch das Vermessungsamt Darmstadt.
1962 sind einige Straßenbahn- und Eisenbahngleise schon abgebaut. Auf dem Dornheimer Weg (D) verläuft noch die Straßenbahnlinie zum Rodensteinweg (R) mit einem Umsetzgleis (U) am Ende. Die Straßenbahn wurde 1918 neben das Gleis 3 eingeführt (E) und endete in einer Wagenhalle (H).
Heute ist von der ganzen Anlage nur noch dann etwas zu erahnen, wenn man oder frau die Zusammenhänge kennt und die Bebauung zu deuten weiß. Selbst die Straßenbahnrosette, die am HEAG-Umspannwerk auf einem aus 1963 stammenden Bild (angebildet bei Höltge/Köhler) noch zu erkennen ist, wurde entsorgt.