Bahnhof Seitschen. Bahnhofsansicht auf einer vier­feldrigen Ansichts­karte, vermut­lich 1920er Jahre. Verlag Oswald Schäbitz, Dresden.

Eisenach 1919

Als Freicorps die Stadt besetzten und eine Propagandaente erfanden

Im Mai 1919 besetzte ein Freicorps-Regiment unter General Maercker das von revolutionären Arbeitern und Soldaten beherrschte Eisenach. Es galt, die bei der Führung der Mehrheits-Sozialdemokratie (MSPD) anzutreffende Vision von Zucht und Ordnung mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Dabei geriet ein Teil des Güterbahnhofs in Brand. Schnell wurden die revolutionären Kräfte, vereinfacht als „Spartakisten“ bezeichnet, als Brandstifter ausgemacht. Die Meinungsmacht lag bei der in Berlin herrschenden Ordnung und der erlaubten, meist rechten Presse. Folgerichtig geistert seit einhundert Jahren eine erfundene Version der Geschehnisse durch die Literatur. Passend aufgemachte Fotografien dienten dieser Propaganda. Dabei war es ganz anders. Zum Glück ist ein Zeitungsartikel erhalten, in dem ein Zeitzeuge 1969 eine vollkommen andere und viel plausiblere Darstellung gibt.


Zerstörter Güterbahnhof.

Abbildung 1: Zerstörter Güterbahnhof in Eisenach, Mai 1919. Die Aufnahme wird kommentiert mit den Worten: „Der von den Kommunisten niedergebrannte Güterbahnhof in Eisenach. Große Mengen von Lebensmitteln wurden durch das Feuer vernichtet.“ [1]

Die Novemberrevolution hatte verschiedene Protagonisten. Während die Repräsentanten der alten Ordnung abtreten mußten oder zunächst zurücktraten, bildeten sich unter den revolutionären Arbeitern und Soldaten verschiedene Fraktionen heraus. Teilweise waren diese Fraktionen schon durch die Kriegsereignisse entstanden, und es wäre sehr unvollständig, nur von Sozialdemokraten (MSPD und USPD) sowie Kommunisten bzw. Spartakisten als handelnde Akteure zu sprechen. Schon die Ausrufung der Räterepublik ist mit einer Aura des Manipulativen umgeben. Allenfalls richtig ist, daß sowohl Philipp Scheidemann als auch Karl Liebknecht parallel zueinander die Republik ausriefen [2]. Die Mehrheits-Sozialdemokratie führte in gewisser Weise ihren Kurs fort, der sie im August 1914 den Kriegskrediten zustimmen ließ. Folgerichtig bemühte sie sich von Anfang an, eine bürgerliche Ordnung durchzusetzen, wenn nötig mit Gewalt. Unter der Führung von Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Gustav Noske paktierte sie hierzu mit Teilen des Heeres und Freischärlern und schreckte auch vor politischem Mord nicht zurück. „Einer muß der Bluthund werden“, ist als geflügeltes Wort in die Geschichte eingegangen. Nicht nur Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Leo Jogiches wurden brutal ermordet, sondern auch unzählige streikende, demonstrierende und die neue sozialistische Republik verteidigende Arbeiter und Soldaten, worunter sich sicher auch nicht weniger Arbeiterinnen befunden haben mögen [3]. Daran anschließend gehen Regierungstruppen und Freicorps im Auftrag Gustav Noskes daran, das neue Deutschland für die alte Ordnung im republikanischen Gewand quasi zurückzu­erobern. Arbeiter- und Soldatenräte, die sich nicht bedingungslos unterwerfen, werden militärisch zur Aufgabe gezwungen.

Jede „Wiederherstellung der Ordnung“ fußt nicht alleine auf blanker Gewalt. Es bedarf einer zusätzlichen Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Hier ist es dann nützlich, wenn man entweder selbst – wie die Mehrheits-Sozialdemokratie – über eine starke Presse verfügt oder aber die politische Rechte an der Hetze teilhaben läßt. Auf die historische Wahrheit kommt es hierbei nicht an. Schon bei den Kämpfen in Berlin hatten sozial­demokratische und die noch rechtere bürgerliche Presse im Duett mit gezielten Falsch­meldungen gegen die Revolutionäre gehetzt und offen zum Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht aufgerufen.

Als der Freicorps-General Georg Maercker im Mai 1919 in Eisenach einzog, wußten die revolutionären Kräfte vor Ort, was sie erwartete. Sie hatten Kunde von den von der Sozialdemokratie geduldeten, wenn nicht geförderten oder gar angeordneten Massakern der Konterrevolution in Berlin, München und anderswo. Maercker hatte im Dezember 1918 sein Freicorps „Landesjäger“ in Westfalen mit Unterstützung von Gutsbesitzern und Großbauern aufgestellt. Die sozialdemokratische Regierung griff gerne darauf zurück, um in Thüringen und den sächsischen Gebieten die aufmüpfigen Arbeiter- und Soldatenräte in ihre Schranken zu weisen. Als er Anfang März in Halle einzog, wehrten sich die revolutionären Kräfte gegen den Vertreter der alten Ordnung. Maerckers Truppen hinterließen 29 tote Revolutionäre. Der Anführer der Hallenser Matrosenkompanie, der Kommunist Karl Meseberg, wird tot in der Elbe treibend gefunden. Hingegen dient sich ein Bürgerssohn aus Halle den Landesjägern als Meldeläufer an. Sein Name war Reinhard Heydrich[4].

Schon im Februar 1919 beteiligten sich Eisenacher Arbeiter an den Versuch thüringischer Kräfte, die National­versammlung in Weimar zu bewachen und die dazu abgesandten konterrevolutionären Landesjäger zu vertreiben. Der Versuch scheiterte. Als Maercker anschließend nach Gotha zog, war die Wirkung seines Auftretens derart groß, daß ein erbittert geführter Streik in Eisenach in sich zusammenfiel und das Bürgertum obsiegte. Die Eisenacher Arbeiter wußten also, daß militärischer Widerstand sinnlos war und katastrophale Konsequenzen zeitigen konnte. Deshalb versuchten sie, als Maerckers Truppen in Mai einmarschierten, zu verhandeln und gaben der geballten Macht der Gegenseite nach. Maercker erwähnt an anderer Stelle, seine Truppen hätten ab Februar Einheitszüge genutzt, die sich „sehr bewährt“ haben. Drei Züge fuhren im Blockabstand von 15 Minuten hintereinander in die zu besetzende Stadt. Der erste bestand aus elf Personenwagen mit 550 Mann, der zweite aus dreizehn Pferdewagen für 78 Pferde und der dritte aus zehn Plattformwagen für 20 Fahrzeuge. [5]

Das Feuergefecht, das den Güterbahnhof in Brand setzen sollte, ist eine Erfindung der Kriegs­propaganda der siegreichen Kräfte. Georg Maercker schreibt hierzu:

„Nachts 1 Uhr erfolgte ein Angriff mit Schußwaffen vom Goldberge her auf den Panzerzug, der in der Nähe des Güterschuppens stand. Ein Güterwagen mit leicht brennbaren Gegenständen ging in Flammen auf, anscheinend in Brand gesetzt durch eine von den Aufrührern geworfene Handgranate. Das Feuer pflanzte sich auf einen daneben stehenden 100achsigen Güterzug und den Güterschuppen fort. Die von der Besatzung des Panzerzuges sofort unternommenen Rettungsmaßnahmen wurden sehr erschwert. Eine Anzahl Sauerstofflaschen, die auffallender­weise auf dem Bahnhofe verteilt lagen, explodierte; der Hydrant im Güterschuppen gab kein Wasser; der zweite auf der Laderampe war so verschmutzt, daß er erst nach längerem Suchen gefunden wurde. Die Anschlußstelle für den Schlauch war mit Schmutz bedeckt! Dorthin reichten die Schläuche nicht, und als endlich nach einer Stunde die Feuerwehr mit 10 Mann erschien, stellte sich heraus, daß ihre Schläuche nicht zu denen das Bahnhofes paßten. Alle diese Mißstände sind für den damaligen Zustand unseres Eisenbahn­wesens bezeichnend. Als es endlich doch möglich war, zu spritzen, setzte erneut das Gewehrfeuer der Aufständischen ein und zwang die Feuerwehr­leute, Deckung zu suchen. Der Brandschaden war sehr erheblich. 12 Güterwagen und der Güterschuppen mit allen Waren und sämtlichen Papieren fielen dem Feuer zum Opfer.

Viele Anzeichen deuteten darauf hin, daß die Inbrandsetzung der Güterwagen verabredet war, daß das Gewehrfeuer nur zur Ablenkung dienen sollte, und daß an dem Anschlag auch Eisenbahn­arbeiter beteiligt waren.“ [6]

Gewiß hatten die Eisenbahner, um die Wirkung der Verschwörung gegen die Invasoren zu vervollständigen, den zweiten Hydranten absichtlich mit Schmutz überzogen und die Feuer­wehrleute mit Vorsatz die falschen Schläuche mitgebracht, um die Wirkung des Feuers besser zur Entfaltung bringen zu können. Insbesondere ist dieses Verhalten dann sinnvoll, wenn angeblich in den Güterwaggons Lebensmittel gelagert hatten, die dringend zur ohnehin kärglichen Versorgung der Eisenacher Bevölkerung benötigt wurden. Arbeiter, die lieber mit dem Feuer spielen und für die gute Sache hungern, ernsthaft? Doch alles, was uns Maercker bieten kann, sind interesse­geleitete Vermutungen. Könnte es demnach auch ganz anders gewesen sein?

Das weltweite Datennetz bietet eine Reihe weiterer Aufnahmen und daran anknüpfend entstellende Hintergrund­informationen, beispielsweise:

Daß der Brand teilweise in die Tage des sogenannten Spartakus­aufstandes vom Januar 1919 verlegt wird, ist nur ein Teil der hier betriebenen geschichtlichen Desinformation.

Fünfzig Jahre nach den Ereignissen erinnert sich der 1892 geborene Motorenschlosser Georg Bruno Kurz an die damaligen Ereignisse. Am 9. Mai 1919 hatten die Eisenacher Arbeiter mit einer Demonstration und anschließenden Kundgebung zum wiederholten Male eine vessere Versorgung Eisenachs mit Lebensmitteln gefordert. Die in bürgerlicher Hand befindlichen städtischen Behörden hatten diese Versorgung durch Mutwillen oder Inkompetenz hintertrieben. Die Versammlung lief aus dem Ruder, als einige empörte Einwohner Akten vor dem Amtsgericht verbrannten, während eine Gruppe Jugendlicher dem Oberbürger­meister Schmieder eine rote Fahne in die Hand drückten, mit der er gezwungen wurde, durch die Stadt zu gehen. Dies lieferte den bürgerlichen Kräften einen willkommenen Anlaß, Truppen zu ihrem Schutz anzufordern und die verhaßten aufmüpfigen Arbeiterinnen und Arbeiter in ihre Schranken zu weisen. [7]

„In der Nacht vom 19. zum 20. Mai 1919 besetzten Landesjäger des Generals Maercker die öffentlichen Gebäude in Eisenach, darunter das Rathaus, die Räume des Arbeiter- und Soldatenrates und das Direktionsgebäude der Fahrzeugfabrik.

Am 20. Mai wurde über Eisenach der Belagerungszustand verhängt. Öffentliche Umzüge und das Erscheinen der Arbeiterzeitungen ‚Eisenacher Volkszeitung‘ und ‚Der Kommunist‘ wurden verbiten.

Kurz nach der Verkündung des Belagerungs­zustandes zogen die Fahrzeugwerker in den Morgenstunden des 20. Mai unter dem Geheul der Werksirenen aus dem Betrieb. Die General­streikleitung der Eisenacher Betriebe schickte eine Abordnung zum Hotel ‚Rautenkranz‘ am Markt, in dem sich der Stab der Maerckertruppen festgesetzt hatte. Dem General wurden die Forderungen der Arbeiterschaft überbracht.

Die bürgerlichen Kreise der Wartburgstadt, an der Spitze der Oberbürger­meister und die Direktoren der Fahrzeugwerke, suchten die führenden Arbeitervertreter von der werktätigen Bevlkerung zu isolieren. Schnell schien eine günstige Gelegenheit gefunden, die Einheitsfront der Werktätigen durch eine Provokation zu zerschlagen!

In der Nacht zum 20. Mai war auf das Abstellgleis des Güterbahnhofes ein Panzerzug der Maerckertruppen eingefahren. Er stand zwischen dem langgestreckten Lagerschuppen und dem Restaurant ‚Stadtpark‘, das am Fuße des Goldberges lag. Bereits in der ersten Nacht war es am Güterbahnhof zu Schießereien gekommen. Die hölzerne Dachkonstruktion der Lagerhalle hatte Feuer gefangen, und die Halle war bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Ein Güterzug auf dem Ladegleis war in Brand geraten. Starke Detonationen erschütterten die Umgebung des Güterbahnhofes und waren bis gegen vier Uhr morgens bis weit in die Stadt zu hören.

Gerüchte jagten durch Eisenach: Spartakisten hätten den Panzerzug mit Granatwerfern beschoissen und den Güterbahnhof in Brand gesetzt. Der Angriff auf Eisenach wäre jedoch von der Panzerzug­besatzung erfolgreich abgeschlagen worden. Das war die Taktik der Konterrevolutionäre: Unter dem Deckmantel der staatlichen Legalität sollten die Merckertruppen die revolutionäre Arbeiterschaft niederhalten und sie von der Bevölkerung isolieren. Die bürgerliche Presse begann sofort mit einer üblen Hetze gegen die Arbeiterschaft.

Unter dem Zwang des Belagerungszustandes mußte ein neuer Arbeiter- und Soldatenrat gewählt werden. Die Mehrheit der revolutionären Arbeiter blieb dieser Zwangswahl fern. So kamen nur ganze 1767 Stimmen zusammen. Das war eine deutliche Abfuhr an das Besatzungsregime der Maerckertruppen! [8]

Die Arbeiterzeitung ‚Der Kommunist‘ aber schrieb am 21. Mai 1919 in einem Eigenbericht über die Vorgänge am Güterbahnhof: ‚Es ist offenbar, daß die Regierungstruppen das Gefecht fingiert haben, um die Gefechtszulage zu bekommen; daß dabei Millionenwerte vernichtet werden, spielt für das „reiche‘ Deutschland der Ebert-Noske keine Rolle.‘

Die Mitglieder der General­streikleitung erhoben bei General Maercker Einspruch gegen die unwahren Bahauptungen. Der aber erklärte, er werde mit den Arbeitern erst verhandeln, wenn die Arbeit in den Betrieben wieder aufgeommen sei. Die Arbeiter forderten jedoch vor Beendigung des Generalstreiks: Versammlungs­freiheit, Erscheinen der Arbeiter­zeitungen, Zurückziehung der Truppen aus der Stadt, Wiederhissung der roten Fahne auf dem Schloß und Freilassung der inhaftierten Arbeiter. Die Arbeiter konnten sich darauf berufen: Ruhe und Ordnung waren vor dem Einmarsch der Maerckertruppen durch den 1918 gewählten Arbeiter- und Soldatenrat und durch die Arbeiter­wachkompanie stets aufrechterhalten worden. Erst die Landesjäger unter General Maercker hatten Ruhe und Sicherheit gestört, bedeutende Schäden am Güterbahnhof angerichtet und wollten jetzt dafür die Arbeiter verantwortlich machen. Die Fraktion der USPD nahm zu Protokoll, was der Wirt des Restaurants ‚Am Stadtpark‘ über die nächtlichen Schießereien und den Brand des Lagerschuppens selbst miterlebt und welchen Schaden dabei auch sein Restaurant erlitten hatte. General Maercker aber weigerte sich, den Kommandeur des Panzerzuges zur Verantwortung zu ziehen.“

Nachdem auch der Wirt beim General eine Abfuhr erhalten hatte, wandte er sich an den Sprecher der Arbeiter im Stadtparlament. Dieser beantragte beim Stadtrat die Bildung einer Kommission aus zwei Arbeitern und zwei Kriminalbeamten, die der Sache auf den Grund gehen sollten. Die Kommission stellte zunächst fest, daß der Brand der Lagerhalle durch feuergefährliche Flüssigkeiten verursacht worden war. Diese waren in Glasballons verpackt gewesen und durch die Schüsse aus dem Panzerzug in Brand gesetzt worden. Der auf dem Ladegleis stehende Zug war durch zweihundert mit Gas gefüllte Flaschen zerstört worden. Die Hitze hatte das Gas ausgedehnt, die Flaschen zerborsten und zu den anhaltenden Detonationen geführt. Einen Schuß auf den Panzerzug hingegen hatte es nicht gegeben; die Panzerzug­besatzung selbst hatte durch ihre wilde Ballerei den Güterbahnhof in Brand geschossen.

Die Panzerzugbesatzung behauptete weiterhin, sie sei in der fraglichen Nacht beschossen worden, und die Feuerüberfälle würden sich fast jede Nacht wiederholen. Die Kommission wartete deshalb Ende Mai in einem Versteck auf eine erneute Schießerei und staunte nicht schlecht, als ein Leutnant und zehn bis auf die Zähne bewaffnete Panzerzug­soldaten schnaufend an ihnen vorbeischlichen. Diese hatten die gerade gehörten Schüsse abgegeben. Damit war die Angelegenheit geklärt. Daß die bürgerliche Presse keine Gegendarstellung druckte, versteht sich von selbst.

Maercker erwähnt derartige Schießereien in seinen autobiografischen Aufzeichnungen übrigens nicht. Allerdings – hätten sich diese nächtlichen Feuerüberfälle wirklich ereignet, hätte er sicherlich zu härteren Maßnahmen gegriffen. Dazu kam es jedoch nicht.

Die linkssozialdemokratische Leipziger Volkszeitung steht unter Vorzensur und meldet am 20. Mai 1919:

„Ueber Eisenach wird berichtet:

Truppen des freiwilligen Landesjägerkorps unter Führung des Generalmajors Maercker sind heute früh, ½2 Uhr, von Leipzig kommend hier eingerückt. Als erster traf der Panzerzug des Leutnants Maetschke ein, dessen Mannschaft den Hauptbahnhof und die wichtigsten öffentlichen Gebäude besetzten. Sieben Führer der hiesigen Spartakisten wurden in ihren Wohnungen verhaftet, ohne daß Widerstand geleistet wurde. Später trafen Panzerautomobile. Infanterie und Maschinengewehre sowie Kavallerie, Artillerie und Minenwerfer ein. Die Flieger warfen einen Befehl des Generalmajors Maercker ab, wonach über Eisenach und die Gemeinde Ruhla der Belagerungszustand verhängt wird. Die Stadt ist ruhig.

Wie uns ein weiteres Telegramm meldet, sind die Truppen kampflos eingerückt. Die besetzten das Schloß und entfernten dessen rote Fahne.

Wie wir hören, wird General Maercker nach Leipzig zurückkehren. Er wird während seiner kurzen Abwesenheit durch Generalleutnant Frhr. von Oldershausen vertreten.“[9]

Zur Lage in Eisenach heißt es in einer amtlichen Verlautbarung vom 20. Mai 1919:

„Heute vormittag 1 Uhr wurde der Güterschuppen auf Bahnhof Eisenach von Spartakisten durch Angriff vom angrenzenden Waldrand aus in Brand gesetzt. Güter­schuppenhalle und Umladehalle mit 16 Güterwagen sind vollständig ausgebrannt. Personen sind nicht verletzt. Die Rettungsarbeiten wurden durch Angriffe der Spartakisten und Explosionen von Säureflaschen erschwert.

Eine Arbeiterversammlung beschloß auf Vorschlag der Arbeitervertreter einstimmig, die Arbeit morgen früh in allen Betrieben wieder aufzunehmen. Es herrscht Ruhe. Die Berichte von Toten und Verwundeten gelegentlich der Vorfälle der letzten Nacht entbehren jeder Begründung.

In einem Bericht der Leipziger Neuesten Nachrichten heißt es: ‚Die hiesige Arbeiterschaft ist bisher nicht in den Streik getreten, sondern hat sich zum Teil mit passiver Resistenz „begnügt“. Sie hat General Maercker die Forderungen unterbreitet, daß er die Truppen aus Eisenach zurückziehen, den Belagerungs­zustand aufheben, die verhafteten Gefangenen entlassen und die rote Fahne auf dem Schloß wieder hissen lassen solle. Diese Forderungen sind selbst­verständlich mit Rücksicht auf die Lage abgelehnt worden. Dagegen hat General Maercker anerkannt, daß Unruhe und Erregung in Eisenach im wesentlichen auf die vollständig unzulänglichen Ernährungs­verhältnisse zurückzuführen sind. Er hat deshalb den Belagerungs­zustand über den gesamten Verwaltungs­bezirk Eisenach ausgedehnt, hat die Landwirte aufgefordert, ihrer Ablieferungs­pflicht selbstloser als bisher nachzukommen, und hat angekündigt, daß Schleichhändler und Geheimschlächter vor das Kriegsgericht gestellt werden. Ferner hat er an den Reichswehr­minister ein Telegramm gesandt, in dem er die Sachlage darstellt und anfragt, ob die für Eisenach bestimmten 10.000 Zentner englische Kartoffeln bereits von Köln abgesandt seien. General Maercker hat die Hoffnung, binnen kurzem mit den hiesigen Arbeitern zu einem Einvernehmen zu kommen.‘“ [10]

Was endlich das Treiben der Spartakisten in Eisenach betraf: vermutlich gab es diese nicht. Eisenach war wie Gotha eine Hochburg der Unabhängigen (linken) Sozialdemokraten. Wenn sich unter ihnen Kommunisten befunden haben sollten, dann dürften sie aufgrund ihrer verschwindenden Anzahl keine Rolle gespielt haben. Doch auf die Wahrheit kommt es bei Propaganda nicht an. Das Ziel war die Zerschlagung der Errungenschaften der November­revolution, und hierzu gehörte die Selbst­organisierung der Arbeiterinnen und Arbeiter. Das Ziel wurde erreicht, und 1922 ordnete die von der Sozialdemokratie mitgetragene Weimarer Koalitions­regierung an, den vor dem Ersten Weltkrieg als Losung ausgegebenen Achtstundentag wieder zu kassieren. Länger arbeiten für weniger Geld, das ist die Devise. Kein Wunder, daß sich die Weimarer Republik bei den Arbeiterinnen und Arbeitern wenig beliebt gemacht hat.

 

ANMERKUNGEN

 

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»» [1]   Die Herkunft dieser Aufnahme ist unbekannt. Der mir über ein Auktionsportal angebotene Ausschnitt enthält keinerlei Angaben zur Zeitung oder Zeitschrift, in der die Aufnahme veröffentlicht worden war.

»» [2]   Vergleiche Jörg Albert : Und ewig grüßt der Scheidemann, in: Telepolis vom 20. Oktober 2018 [online].

»» [3]   Zur schändlichen Rolle der Mehrheits-Sozialdemokratie um Ebert, Scheidemann und Noske siehe Sebastian Haffner : Die verratene Revolution [1969], Klaus Gietinger : Eine Leiche im Landwehrkanal [2. Auflage 2018], sowie Peter Nowak : Am Beginn der Weimarer Republik standen Staatsmassaker, in: Telepolis am 13. März 2019 [online].

»» [4]   Zu der Episode in Halle siehe Leo Schwarz : Die materielle Bestätigung, in: junge Welt vom 17. November 2018 [online, Bezahlschranke]. Maerckers autobiografische Aufzeichnungen sind in seinem Buch Vom Kaiserheer zur Reichswehr. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Revolution [1921, online] enthalten.

»» [5]   Maercker Seite 118.

»» [6]   Maercker Seite 270.

»» [7]   Wiedergegeben nach den Erinnerungen von Georg Bruno Kurz im Zeitungsartikel „Das Einrücken der Maerckertruppen vor fünfzig Jahren in Eisenach“, in: Das Volk, 23. Mai 1969. An der zeittypischen Diktion des Blattes sollten wir uns nicht stören; hier interessiert der Inhalt.

»» [8]   Bei den Wahlen zum National­versammlung am 19. Januar 1919 hatten Mehrheits-SPD und USPD zusammen 10.467 Stimmen errungen.

»» [9]   Leipziger Volkszeitung vom 20. Mai 1919.

»» [10]   Leipziger Volkszeitung vom 21. Mai 1919.


 
 
 
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